Dare Us - Melissa Mai - E-Book

Dare Us E-Book

Melissa Mai

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Beschreibung

Trauen wir uns?
Amber, Remington und Asher waren einst unzertrennlich, doch seit einem Schicksalsschlag sind sie nur noch zu zweit. Amber füllt ihre Tage am White Mountain College mit Hobbys und Unternehmungen und kann doch die Lücke ihres Herzens nicht schließen.
Plötzlich steht Asher wieder vor ihr, der vor über einem Jahr bei einem Brand ums Leben gekommen sein sollte. Aber ihr bester Freund ist verändert – voller Wut und fest entschlossen, mit immer gefährlicher werdenden Dares seine Vergangenheit zu bewältigen.
Amber kämpft darum, hinter der Fassade des "Gott der Extreme" den wahren Asher wiederzufinden. Inmitten von Chaos und Schmerz entdecken sie eine tiefe Verbindung, doch um ihre alte Freundschaft und neue Liebe zu retten, müssen sie sich erst der traumatischen Vergangenheit stellen…

"Dare Us" ist das fesselnde Finale der Limits-of-Love-Dilogie voll Herzklopfen und Thrill.

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DARE US

LIMITS OF LOVE

BUCH 2

MELISSA MAI

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Melissa Mai

Cover: Zeilenfluss

Satz: Zeilenfluss

Korrektorat:

TE Language Services – Tanja Eggerth, Johannes Eickhorst

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-9671-4465-9

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen,

Ambers und Ashers Geschichte enthält potenziell triggernde Inhalte.

Für den Fall, dass du sie brauchst,

findest du die Triggerthemen unter zeilenfluss.de/trigger,

da sie Spoiler für das ganze Buch enthalten.

1

AMBER

Ich schaffe das. Ein vernünftiges Gespräch und das ist geklärt. Ich. Schaffe. Das.

Wieder und wieder wiederholte ich die Worte auf dem eingeschneiten Weg zu Ashers Haus. Meine Hände zitterten so stark, dass ich kurz davor war, mein Handy in den Schnee fallen zu lassen. Der Bildschirm war bereits zerbrochen, obwohl eine Schutzhülle drauf klebte, aber anscheinend gehörte ich zu der Sorte Mensch, die alles vergeigte.

Asher und ich waren einst Freunde gewesen, beste Freunde. Er würde mir doch zuhören?

Mit jedem Schritt wuchsen meine Zweifel daran und ich wünschte, ich wäre wieder bei meinen Eltern in Albany, wo ich mir während der Weihnachtsferien eingeredet hatte, dass alles in Ordnung war. Mom und ich hatten Cookies gebacken, mit meinem jüngeren Bruder Joshy und Dad kitschige Weihnachtsfilme gesehen und Brettspiele gespielt. Meine Mutter hatte sogar ein Holiday-Karaoke organisiert, wodurch sich am 26. Dezember über 20 Leute in unser Wohnzimmer gequetscht hatten. Die Erinnerung an den Abend war unscharf, weil ich den Eierlikör unterschätzt hatte, was Mom zwinkernd als Lebenslektion abgetan hatte. Gerade würde ich alles dafür geben, als größtes Problem einen Kater zu haben.

Ich schlang meine dunkelblaue Winterjacke enger um mich und versteckte meine Nase in dem bunten Schal, den eine Freundin meiner Mutter für mich gestrickt hatte. Er roch nach Zimt und Gebäck oder zumindest bildete ich mir das ein.

Northfield war, verglichen mit meiner Heimat, eine geradezu eingeschlafene Kleinstadt, und ich kam mir auf den drei Straßen zu Asher etwas verloren vor. Er wohnte in einer parallel liegenden Seitenstraße meines Hauses, und ich wusste jetzt bereits, dass wir einander auf dem kleinen Waldstück zum Campus des White Mountain College häufiger begegnen würden.

Schneeflocken tanzten um mich zum Boden und schufen ihr Winterwunderland, das ich hier nicht fühlte. Mit jedem Schritt, dem ich mich seinem Haus näherte, wurde ich langsamer, bis ich neben dem Briefkasten stand – und umdrehen wollte. Konnte ich? Sollte ich?

Meine Hände spielten nervös mit dem Krimskrams in meiner Jackentasche: links mein Schlüsselanhänger, rechts ein Stück Wachs, das von einer Kerze abgefallen war. Seit dem Midnight Market steckte es darin, und jetzt krümelte ich es versehentlich kaputt. Mein Kopf wollte einfach nicht wahrhaben, dass Asher wirklich hier war. Dass er lebte. Und das nach den schrecklichsten anderthalb Jahren meines Lebens. Erst die Polizeiermittlungen nach dem Brand, dann die Trauergruppe und meine Therapie, die ich abgebrochen hatte. Ich hatte meinem Therapeuten von unseren letzten gemeinsamen Momenten erzählt, um die Emotionen an ihn abzugeben, damit sie nur noch in seinen Notizen steckten – ohne Erfolg. Und in all der Zeit hatte Asher gelebt. Wie war dies möglich? Und wieso hatte er uns nicht einfach kontaktiert, statt uns so lange leiden zu lassen?

Meine Knie wackelten, als ich die letzten Schritte bis zur Haustür ging. Ich zog meine Mütze tiefer in den Nacken, als könnte sie mich schützen. Lautes Rufen ertönte und ich zuckte zusammen. Oder war es Gebrüll? Panische Schreie? Scheiße, verdammt.

Gänsehaut kroch über meine Haut, obwohl ich nicht erahnen konnte, was sich in diesen vier Wänden abspielte. Asher war … Asher hatte … Ich schüttelte den Kopf. Mein bester Freund war immer ein furchtloser Draufgänger gewesen, der Ideen nicht bloß aussprach, sondern sie umsetzte. Asher war der Grund, warum ich mich getraut hatte, mein Kerzen-Business zu starten – er hatte mir den ersten Stand bezahlt, Remington genötigt, einen Banner und Visitenkarten zu designen und derweil einen Instagram-Account erstellt. Seitdem verdiente ich damit Geld. Doch wenn Asher wütend wurde, kannte er keine Grenzen.

Die Rufe wurden lauter, unkontrollierter und dazwischen: Ashers helles Lachen. Meine Haut kribbelte unter der bekannten Stimme und ich fasste all meinen Mut zusammen, um bei ihm zu klingeln. Das Geräusch ertönte kurz und schrill.

Hatten sie es gehört?

Inzwischen stand ich so dicht, dass ich die Rufe verstand: ›Mehr! Mehr! Mehr‹ und ein wehleidiges ›Es brennt!‹.

Ich presste die Lippen aufeinander, drehte mich zur Straße, wo eine feine Schicht Schnee meine Fußspuren benetzte. Wie konnte diese Welt gleichzeitig so friedlich und so chaotisch sein?

Die Tür öffnete sich hinter mir und ich wirbelte herum.

»He, du bist …«

Ich kniff die Augen zusammen. Taylor. Ich hatte keine Ahnung, warum, aber er war Ashers neuer bester Freund. Während der Weihnachtszeit, in der ich logischerweise Ashers neu erstelltes Instagramprofil gestalkt hatte, war er ständig auf den Fotos abgelichtet gewesen. Auf einer Silvesterparty, in einem Heimkino, noch mal beim Feiern und dann vor Laptops, weil sie etwas ausheckten. Die Atmosphäre, die in unruhigen Wellen bis zu mir drang, hatte etwas von Onyx’, Miles’ und Remingtons nun still gelegten Dares gehabt, mit denen sie anderthalb Jahre lang dem College einen neuen Takt gegeben hatten. Auch diese Zeiten wünschte ich mir jetzt zurück. Wie unfassbar harmlos sie doch gewesen waren.

»Amber.«

»Kenne ich nicht.«

Taylor sah mich irritiert an und machte Anstalten, die Tür in mein Gesicht zu klatschen. Schnell streckte ich meine Hände aus, legte sie auf den abblätternden Lack und schob die Brauen zusammen. Ich mochte ihn nicht, seitdem ich das Piercing in seiner Nase gesehen hatte, weil es mir absurderweise so vorkam, als wäre ich dadurch ersetzt worden. Als ob mich bloß mein Septum ausmachte.

»Warte! Asher kennt mich.«

Oh, wie wahr diese Aussage war. Oder war mittlerweile das Gegenteil der Fall? Kannte ich ihn noch?

»E daí? Du bist nicht eingeladen. Warte wie alle anderen, bis das neue Semester startet.«

Ich verdrehte die Augen. »Mich interessiert nicht, was für einen Scheiß ihr veranstaltet. Ich bin eine alte Freundin.«

Taylor reagierte kein bisschen verständlicher, zuckte bloß mit den breiten Schultern und blies sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht, die sich aus seinem lockigen Dutt gelöst hatte.

»Taylor, alles klar bei dir?«, rief Asher, wodurch ich automatisch aufrechter stand. Ungewollt durchfluteten mich alte, vergilbte Erinnerungen, wie er im Rahmen der Haustür gelehnt hatte, um etwas zu unternehmen, nachdem ich mein Handy zerstört hatte. Und wie er meinen Namen rief, als wir uns auf einer Party verloren hatten. Wie ich nicht einmal gewusst hatte, dass er auch am Badesee war, bis sein Lachen mich zu ihm geleitet hatte.

»Hier steht irgendeine Studentin, wieder so ein Fan –«

»Ich bin kein Fan«, unterbrach ich streng. Weder war ich von den alten Dares begeistert gewesen, noch würde ich es von den neuen sein.

»Hol sie rein«, blaffte Asher, und mein Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer. Hatte er meine Stimme genauso erkannt?

Taylor machte einen Schritt zur Seite, und ich trat ein, ehe ich meinen Mut verlor. Der Eingangsbereich hatte den typischen Flair eines älteren Hauses mit dunklen Holzdielen und einer Wand, die teils blumig tapeziert, teils mit Holz vertäfelt war. Es war ordentlich, genau wie das Wohnzimmer mit der riesigen beigefarbenen Couch – wenn man den Esstisch ignorierte.

Fünf Studierende saßen daran, alle mit hochrotem Kopf und orange beschmierten Händen. Einer umklammerte einen Eimer, in den er würgend den Kopf steckte, zwei weinten, eine hielt sich die Hand gegen den Mund, und der Letzte sah aus wie kurz vorm Umkippen. Seine Augen fixierten den Teller mit dem Stapel Hähnchenflügel, der um einiges größer war als die Knochenreste auf seinem Teller. Der Geruch von Gebratenem sowie Erbrochenem stieg in meine Nase und ich rümpfte sie. Die Studentin griff nach einer Chili-Soße, womit ich alles wusste, was ich wissen musste.

Kälte wusch über mich, verankerte mich im Türrahmen, während Asher – Asher, Asher, Asher – auf mich zutrat. Groß, muskulöser als in meiner Erinnerung, das blonde Haar so kurz, dass man keine Locken mehr erkannte, wodurch seine graublauen Augen noch intensiver wirkten. Brandnarben lugten aus seinem Shirt, bedeckten teilweise seine Arme und Finger, die Haut selbst war ebenfalls fleckenweise etwas dunkler.

»Hier, mach mit oder hau ab.«

Was?

Offenbar war ich die Einzige, die unser Wiedersehen nach seiner Kampfansage noch verarbeitete und nicht fassen konnte, nun einen selbst ernannten Dare-Gott vor sich stehen zu haben. Er hielt mir einen knusprigen Chicken Wing hin, der in hellrote Soße getunkt war, worauf ich zurückruderte. Jetzt ernsthaft? Ich könnte inzwischen Vegetarierin sein.

Doch ein Blick in Ashers Augen genügte, um zu wissen, dass er auf diese Reaktion gehofft hatte. Meine tränten von der Schärfe, die von dem Geflügel ausging, was die Würgegeräusche, Tränen und Flüche der Studierenden erklärte.

»Du hast mit den Dares schon angefangen?«, wisperte ich und hoffte so sehr, dass er verneinte. Aber was machte ich mir vor? Vor mir stand Asher! Verzögerungen gab es bei ihm nicht.

Sein Mund verzog sich zu einem perfiden Grinsen. »Exakt.«

»Ich bin … ich bin …« Hier, um mit dir über uns zu reden. Unsere Freundschaft, dein Verschwinden, deinen Tod.

»Du bist überflüssig hier. Hast du etwas Bestimmtes zu sagen?« Asher biss in den Hähnchenflügel, ohne mich aus den Augen zu lassen. Die Schärfe ließ ihn völlig kalt und er leckte sogar einen Klecks Soße von seinem Mundwinkel. Er beobachtete mich nicht nur, nein, er durchleuchtete mich. Er sah, was anderen verborgen blieb, und wusste, dass ich kurz vorm Weglaufen war. Mein Atem ging zittrig und ich sah mich im Haus um, auf der Suche nach etwas, was ihn besänftigen würde. Doch nach einer Runde blickte ich abermals zu ihm hoch, und nichts hatte sich geändert.

Und verdammt. Ich hatte vergessen, wie durchdringend Asher war. Wie talentiert darin, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Leute anzuführen. Man spürte seine wilden Pläne, ließ sich davon begeistern und mitreißen – oder hatte Angst vor ihm. Noch nie hatte ich mich vor ihm gefürchtet, jetzt war es das Einzige, was ich fühlte.

Die Studierenden taten, was er wollte. Sie wollten es inzwischen selbst, und so streckte auch Taylor seinen Arm unaufgefordert aus, als Asher nur noch die abgeknabberten Knochen in der Hand hielt.

»Ja … habe ich«, brachte ich schließlich hervor und biss mir auf die Unterlippe. Seine Brauen schossen dabei erwartungsvoll nach oben. Er genoss meine Nervosität. Badete darin. Wann war Asher so hasserfüllt geworden? Wir hatten fünf Minuten vor seinem Verschwinden noch gelacht. »Können wir in Ruhe reden?«

Mit einem ›Pff‹ wandte er sich den anderen zu.

»Wer hält noch durch?« Asher klatschte in die Hände und beugte sich über den Tisch, um jedem einmal in die Augen zu sehen. Seine Ketten fielen dabei aus dem Ausschnitt seines Shirts. Er hatte sie längst wieder weggestopft, als der Zahnradanhänger noch immer vor meinen Augen baumelte. »Ihr wollt Dares ausführen? Witzfiguren seid ihr. Kleine, nichtige Loser.«

»Asher!«, rief ich aus und klatschte die Hände vor den Mund. Ich hielt seiner Grimmigkeit nicht stand und sprach stattdessen zu den Teilnehmenden am Tisch. »Was für eine Belohnung ist es wert, sich zu Tode zu essen?«

»Belohnung?« Der Student mit dem Eimer in der Hand, der inzwischen völlig ermattet aussah, lächelte müde. »Wer sagt, dass wir belohnt werden?«

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Sie schienen ihn wirklich zu vergöttern, anders ergab ihr selbstzerstörerisches Verhalten keinen Sinn.

»Scheiße, ich spüre meine Zunge nicht mehr«, jammerte die Studentin und schaute panisch zu der rot gefüllten Flasche neben dem Berg Chicken Wings. Mein Kopf dachte an Tabasco, aber so, wie das Essen sie auseinandernahm, aßen sie etwas mit einem Vielfachen an Scoville.

»Na, dann wirst du dich freuen, wenn du morgen zur Toilette gehst.« Asher lachte, worauf Taylor hyänenmäßig mit einstimmte. Die anderen hatten keine Kraft mehr dafür.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Weißt du, wie gefährlich diese Mutprobe ist? Hiervon kann man ernsthaft krank werden! Das kann zu Magenbeschwerden, Atemnot und sonst was führen!«

»Kann dir doch egal sein.« Asher grinste und drehte sich im Kreis, geradezu leichtfüßig, als wäre dies eine spaßige Situation und keine Zumutung mit potenziell echt riskanten Folgen.

»Können wir bitte reden?«, bat ich erneut und konnte nicht verhindern, wie meine Stimme abermals zu einem Flüstern schwand.

Asher straffte die Schultern und tänzelte wieder auf mich zu. Er kam mir so nahe, dass ich sein Parfum roch. Es war das Gleiche wie früher, das wie ein warmer Sommertag roch, genau so, wie sich Zeit mit Asher anfühlte.

 »Und warum sollte ich das tun?« Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch anscheinend war die Frage rhetorisch gemeint. »Hm, was könntest du mir erzählen, was ich wissen muss? Dass du eine verräterische Freundin bist, der ich zu lang auf den Leim gegangen bin? Dass du lange, lange geplant hast, mich zu hintergehen, mich im Stich zu lassen und jetzt wäh, wäh, ganz, ganz traurig bist, das gleiche Schicksal zu erfahren? Dass du ja soooo in Schock bist, weil ich noch lebe? Wahrscheinlich hast du es geliebt, Rem ganz für dich zu haben. Na, wie war die Zeit hier allein mit ihm?«

Mein Mund klappte auf, und was auch immer ich hatte sagen wollen, verpuffte. So dachte er? Was für ein Verrat? Wann hatte ich ihn im Stich gelassen? Wie konnte er jemals denken, ich würde –

»Ich habe dich bereits vor Weihnachten gewarnt, Am-Bear. Und wenn du nicht noch mehr Tränen vergießen willst, rate ich dir, mir aus dem Weg zu gehen. Aber willst du ein Geheimnis hören?«

Er beugte sich noch weiter vor, kitzelte mein Ohr beim Atmen, während ich mich nicht rühren konnte. Asher lebte, Asher war hier! Meine Haut kribbelte durch den warmen Hauch, machte ihn so unfassbar echt. Und doch war es so, als hätte eine aggressive Persönlichkeit seinen Körper übernommen. Eine Kälte war in seine Augen getreten, vor der ich mich regelrecht fürchtete. All meine Muskeln spannten sich an, während er wartete. Vielleicht auf meine Angst oder dass ein Schluchzen auf meine Tränen folgte, deren fließen ich nicht einmal bemerkt hatte.

»Das ist unser kleines Geheimnis, okay? Egal, wo du dich versteckst und dir einredest, du wärst das nette Mädel von nebenan. Ich. Werde. Dich. Finden. Und deine Illusionen zerstören.«

Jedes Wort war ein Hauchen an meinem Hals, so sanft und so messerscharf.

Meine Intention, das unerwartet geschwungene Kriegsbeil zu begraben und wie vor dem Unfall befreundet zu sein, löste sich in Luft auf. Ich duckte mich von Asher weg und sprintete zur Haustür, die ich aufriss. Keine Ahnung, ob sich die Tür hinter mir schloss oder nicht. Meine Stiefel zerstampften den Schnee knackend, während ich keinen Blick zurück wagte.

Ich hatte mich angelogen. Furcht war nicht meine einzige Emotion bei Asher. Da war noch eine stärkere: eine, die mich in die Knie zwingen wollte und meine Gedanken durcheinanderbrachte.

Die Tränen gegen meine Augen drückte.

Die ich nicht zurückhalten konnte.

Wie Eispickel brannten sie auf meinen Wangen und ich wischte sie weg, was meine von der Kälte empfindliche Haut nur noch lauter aufschreien ließ. Ja, ich fürchtete mich vor Asher, aber noch viel, viel mehr vermisste ich die Bindung, die wir früher gehabt hatten. Früher hatten wir jeden Tag miteinander verbracht, und er war der Sonnenschein in meiner Regenwolkenwelt gewesen. Jetzt war er der Blitz, der einschlug.

Und trotzdem schaffte ich es nicht, ihn nicht zu vermissen.

2

AMBER

»Amber, alles in –«

Ich machte eine wegwischende Handbewegung, bei der Harlow sofort verstummte. Sie streckte ihre Arme aus, als ich Chloés und meine Küche betrat, während Chloé Tee aufsetzte.

Es brauchte mehrere tiefe Atemzüge und drei voll geheulte Küchenpapiere, bis ich mich beruhigt hatte. Meinen Freundinnen stand die Sorge ins Gesicht geschrieben und alles in mir schrie danach, mich zurückzuhalten, um sie nicht zu belasten. Ich war keine Heulsuse, sondern die, auf die man zählen konnte. Es war ja nichts passiert! Asher hatte mich abgewiesen, so wie er es vor den Weihnachtsferien angekündigt hatte. Nach über drei Wochen inklusive Prüfungen und Familienzeit konnte ich mich doch wohl damit abfinden? Ganz zu schweigen von den anderthalb Jahren, die ich ohne ihn verbracht hatte?

Nein, einfach nein.

Meine Wangen waren gerade wieder trocken, da flossen neue Tränen an ihnen hinab. Ich mied jeden Blick zum Toaster hinter Chloé, weil er so stark spiegelte, dass nur eine Fratze mit blondem zerzaustem Haar, rot unterlaufenen Augen und vermutlich ähnlichfarbener Haut zurückschauen würde.

»Scheiße, sorry. Gebt mir ein paar Minuten.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, das hoffentlich überzeugender aussah, als es sich anfühlte. Bevor ich noch etwas sagte, musste ich mich in den Griff bekommen. Ein bisschen durchatmen und dann war alles bestimmt gar nicht mehr so schlimm.

»So viel Zeit, wie du brauchst«, versicherte mir Chloé und legte einen schlanken Arm um mich. Ihr tief ausgeschnittener Pullover war so flauschig, und wirkte perfekt, um sich reinzukuscheln. »Wir hatten ja vermutet, dass er so reagieren würde.«

Aber nicht gehofft!

Außerdem kannte weder Chloé noch Harlow Asher und sie wussten dementsprechend auch nicht, wie groß die Wunde meines Herzen klaffte. Ich hatte mich seit seinem Tod so angestrengt, weiterzuleben, um meinen Eltern keine Sorgen zu bereiten. Und um Remington bei Sinnen zu halten, und jetzt war … alles für die Katz?! Ich knüllte das Küchenpapier in meiner Faust zusammen.

»Ja. Ja, ich weiß. Was für Tee kochst du?«

Ich warf einen Blick in den Kochtopf, von dem aus ein wohltuend warmer Duft nach Apfel und Zimt durch den Raum strömte.

Chloé strich sich das lange schwarze Haar hinter die Ohren und beugte sich über den Herd. »Ich hoffe, er wird nicht zu süß. Schwarztee, Chilischoten, Apfel, Anis, Zimt und Honig. Die perfekte Mischung Winter, wenn man sich nach den freien Tagen zurücksehnt«, versprach sie und schaute mich von der Seite an.

»Du kennst mich zu gut. Wie war die freie Zeit für dich? Darüber hatten wir noch gar nicht gesprochen.« Wir hatten uns bloß zwischen Tür und Angel gesehen, als ich auf dem Weg zu Asher gewesen war und ich versehentlich die Haustür gegen ihren Koffer gerammt hatte.

Ich lehnte mich mit verschränkten Armen gegen die Holztheke und musterte meine Mitbewohnerin, die heute Morgen wieder angereist war. Chloé und ich wohnten seit dem Freshman Year zusammen und seit diesem Jahr in diesem Haus, dessen Miete dank der Lage – irgendwo im Nirwana New Hampshires – bezahlbar war. Für mein College hatte ich drei Kriterien gehabt: Remington musste auch dort angenommen werden, die Miete human und Ingenieurwissenschaften Teil des Curriculums sein.

»Ereignislos. Ich habe Weihnachtsmusik aufgedreht, mit meiner Mutter Kekse gebacken und verschenkt, aber vor alles andere hat mein Vater einen Riegel gelegt. ›Du wohnst hier im Hause Zhang, nicht in der Mansion von Miss America.‹« Sie zuckte mit den Schultern und rührte im Kochtopf, bevor sie die Teebeutel rausnahm. »Ich verstehe ja, dass er Angst hat, seine eigene Identität zu verlieren. Deswegen müsst ihr jetzt herhalten.«

Damit zog sie drei Tassen aus dem Schrank, die sie nacheinander mit ihrer Teekreation füllte.

»Und du, Harlow?«, bohrte ich bei ihr nach, um mich zu beruhigen – und da sie so still war. Vermutlich, weil sie und Chloé einander kaum kannten, obwohl ich inzwischen davon träumte, Harlow in unserem freien, dritten Zimmer einziehen zu lassen. Nachdem Chloé und ich monatelang alle Bewerbenden abgelehnt hatten, da niemand zu uns passte, hatte ich Harlow einmal flüchtig gefragt, es sich zu überlegen. Wenn wir etwas anderes taten, als gemeinsam zu lernen, vielleicht einen Ausflug, eine Übernachtung bei uns, kam sie bestimmt auf den Geschmack. Oder wir konnten im Schnee spazieren und … boom, alte Erinnerungen rasten auf mich zu. Asher, wie er Schneebälle gegen mein Fenster warf, weil ich auf dem Handy nicht antwortete. Und Asher, der um Mitternacht entschieden hatte, dass zu meinen frisch gebackenen Chocolate-Cookie-Cupcakes Marshmallows gehörten, damit sie wie S’Mores schmeckten.

Ein warmes Objekt berührte meine Finger und ich blinzelte mehrmals. Chloé hielt mir meine Tasse entgegen, deren Aroma sich wohlig bis in meine Nase schlängelte. Nichts konnte mich ablenken. Weder nachfragen, was meine Freundinnen während der Ferien gemacht hatten, noch mich über meinen neuen Stundenplan beschweren, durch welchen ich jeden Tag Vorlesungen hatte, statt wie im letzten Semester Glück und einen freien Donnerstag zu haben.

Aber vielleicht konnte ich ja indirekt beim Thema bleiben. Mich selbst trösten und gleichzeitig Harlow helfen.

»Wie geht es Remington mit Ashers … Auferstehung?«, fragte ich und nickte ins Wohnzimmer. Harlow presste die Lippen aufeinander und folgte meiner Aufforderung, ehe sie antwortete. Das sagte mir bereits alles, was ich wissen musste: Remington war komplett durcheinander und alle Fortschritte, die er während der vergangenen Monate gemacht hatte, waren … nun ja, bestimmt etwas weniger fortschrittlich.

»Wo soll ich anfangen? Es hat ihn komplett aus den Angeln gehoben. Sein bester Freund lebt nicht nur, er benimmt sich auch noch so wie in ›Friedhof der Kuscheltiere‹«.

Chloé riss im völlig falschen Moment eine Packung Kekse auf und entschuldigte sich kleinlaut. »Sorry, ignoriert mich.«

»Asher ist nicht anders als früher«, widersprach ich und merkte, wie ich mich um einen ruhigen Tonfall bemühte. Immerhin hatten die Tränen aufgehört, nur noch das Salz brannte auf meiner Haut. »Asher ist Eis und Feuer in einem. Er ist dein bester Freund, aber auch echt verletzt. Er meinte, Rem und ich hätten ihn verraten. Nur weiß ich nicht, wann oder wie oder wieso das gewesen sein soll.«

Harlow nickte und fuhr sich nachdenklich durch das kinnlange braune Haar. Sie griff nach einem Keks, den sie in ihren Tee tunkte. »Rem meinte dasselbe. Ihm fällt nichts ein und er überlegt weiterhin, weil es etwas geben muss. Ich … ich verstehe Asher einfach nicht. Warum nimmt euch seine Wut beinahe stärker mit, als sein Verheimlichen, dass er den Brand überlebt hat?«

Weil es nicht so überraschend ist, wie es sollte. Es ergab lediglich keinen Sinn, dass Asher uns nicht mehr liebte.

»Lange Geschichte.«

Eine ganze Jugend lang.

Ich nippte von meinem Tee, der mir erst die Zunge verbrannte und dann perfekt winterlich schmeckte. Chloé und Harlow blickten mich wartend an, damit ich weitersprach. Aber was sollte ich sagen? Ich konnte doch nicht zugeben, dass ich Angst vor Asher hatte. Sie würden sich um mich sorgen und ihn missverstehen. »Ich habe den ersten Dare mitbekommen«, sagte ich schließlich, worauf beide verblüfft den Mund öffneten.

»Jetzt schon?!«

Jedes Mal, wenn sie schlecht über Asher sprachen, versetzte es mir einen Stich, obwohl ich sie verstand. Immerhin musste ich ihn als Thema nicht verdrängen, so wie ich es monatelang getan hatte, da sein Tod noch zu stark geschmerzt hatte. Eigentlich tat es sogar gut, seinen Namen zu hören. Und manchmal seine Stimme. Schmerzhaft und schön zugleich: eine Wortkombination, die nur zu Asher passte.

»Erzähl!«, forderte Chloé mich auf und gestikulierte mit einem Cookie.

»Sollen wir Remington nicht hinzuholen, damit er vorbereitet ist?« Ich holte mein Handy hervor, öffnete unseren Chat und hielt bei der letzten Nachricht inne.

Rem

Wann fährst du wieder nach Northfield?

Mist, das hatte er vor drei Tagen geschrieben, und ich noch nicht darauf geantwortet. Vielleicht hätte ich es getan, wenn unser Chat innerhalb eines Tages nicht so tief gerutscht wäre, dass ich ihn nicht mehr sah …

»Rem kommt heute Abend erst. Er … zögert die Rückkehr ein wenig hinaus«, erklärte Harlow und überkreuzte die Beine. »Er war über Silvester bei mir und war kurz davor, in mein Zimmer einzuziehen. Ich glaube, ich werde ihn morgen zu seiner Vorlesung schubsen müssen.«

Obwohl Remington und ich in der gleichen Stadt wohnten, hatten wir uns dieses Mal nicht gesehen. Früher hätte es mich verwundert, jetzt war es Normalzustand. Wir waren befreundet, aber nicht so gut wie zu Schulzeiten. Asher hatte uns anscheinend erneut auseinandergetrieben. Das musste ich ändern.

Amber

Ich bin jetzt zurück. (Sorry, deine Nachricht war weggerutscht.) Komm vorbei, wenn du reden magst – egal ob über Asher oder bewusst nicht.

Und für dein Weihnachtsgeschenk ;)

Ich atmete tief durch. Okay, einfach raus mit der Wahrheit, und dann fanden wir schon eine Lösung. Doch bevor ich den Mund öffnen konnte, blinkte mein Handybildschirm auf. Bei der Uhrzeitanzeige hielt ich inne. So spät?

Rem

Hat Harlow dich auf mich angesetzt? Alles gut, ich schaue morgen nach meinen Vorlesungen bei dir vorbei.

Ich glaubte ihm kein Wort und unterdrückte das Bedürfnis, ihn auszuquetschen. Das war jetzt Harlows Aufgabe. Ihr hörte er eher zu als mir – und dem riesigen schwarzen Pullover nach zu urteilen, lieh er ihr seine Kleidung, was ich ihn noch nie hatte tun sehen.

Mich räuspernd suchte ich nach den richtigen Worten. »Okay, also … keine Ahnung, ehrlich gesagt, was das für ein Dare war. Die von Onyx, Miles und Remington waren individuell bis auf Gruppenevents, aber Asher hatte fünf Leute gleichzeitig da, die beinahe zusammengeklappt sind, weil sie abartig scharf gewürzte Chicken Wings essen mussten.«

»Chicken Wings?«, kam es synchron von Chloé und Harlow.

»Ja! Einer hing über einem Eimer und die anderen sahen auch nicht besser aus«, beschrieb ich die Situation, die immer noch gemeinsam mit dem beißenden Geruch im Raum durch meine Erinnerung zog.

»Was geht mit Asher ab?«, fragte Chloé und verzog das Gesicht. »Also zielen die Dares auf Konkurrenzkampf ab? Damit wird das gesamte College aufgejagt.« Chloé spuckte die Worte aus, und ich kam nicht umhin, an ihre und Onyx’ kürzlich geendete Beziehung zu denken. Sie hatte zu Recht Schluss gemacht, worauf er komplett ausgeflippt war und unmenschliche Dares ausgeteilt hatte – was entfernt wie das klang, was Asher abzog.

»Das ist wahrscheinlich nur der Anfang«, murmelte ich und sah zwischen den beiden umher. Harlow sagte gar nichts mehr, sondern klammerte sich an ihre Teetasse, die inzwischen aufgehört hatte, zu dampfen.

»Wie nur der Anfang?« Chloé schob die Brauen zusammen und richtete sich auf, wobei Kekskrümel von ihrem Rock fielen. »Können die nicht alle mit dem Scheiß aufhören? College ist anstrengend genug.«

»Wir müssen da nicht mitmachen. Ich habe das die letzten Jahre nicht getan und nichts wird sich daran ändern«, verkündete ich und meinte es genau so.

»Geht das denn?«, fragte Harlow kleinlaut und nippte an ihrem Tee. Ich hatte meinen noch kaum angerührt.

»Bestimmt. Asher ist nicht Rem, und außer Taylor hat er niemanden, um alles zu koordinieren. Als Freshman, der sich noch orientieren muss, fehlt ihm bestimmt die Zeit, um richtig was in Gang zu setzen. Und er wird mit den Dares erstmal rumprobieren müssen. Er belohnt die Teilnehmenden bisher auch gar nicht. Komisch, oder?«

»Hä?« Chloé legte den Kopf schief. »Warum sollte dann irgendjemand mitmachen? Also je mehr du von eurem Asher erzählst, desto unsympathischer wird er mir. Gefährliche Dares, Leute gegeneinander hetzen, Remington und dir aus unerklärlichen Gründen den Marsch blasen … Der Typ ist toxisch hoch zehn.«

Ich lächelte müde, und weil ich nicht erklären konnte, dass Asher genauso der beste Freund überhaupt sein konnte, ging ich auf ihren letzten Punkt ein. »Du klingst so, als wärst du über deine Trennung hinweg und bereit für das Singleleben?«

Chloé verzog gequält das Gesicht. »Nur wenn das kein Dating beinhaltet. Ich möchte keine neue Beziehung, sondern mein Leben als dramafreie Chloé genießen.«

Mein Herz zog sich zusammen, beneidete sie um ihr klassisches Collegeleben. Prüfungen und einfach ich sein, waren schon lange nicht mehr meine größten Probleme gewesen. Eigentlich noch nie.

»Da klinke ich mich ein«, meinte Harlow und zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Also nicht beim Singleleben. Nach dem unnötig dramatischen Semester will ich einfach nur Mädelskram machen und vielleicht so ein cooles Hobby wie Amber entdecken.«

»Meine Kerzen?«, fragte ich ungläubig. Ja, die waren eine Leidenschaft, aber auch so viel mehr, als Harlow erahnte.

»Ja, genau.«

»Wenn du willst, hole ich dich zur nächsten Session dazu, um deine kreative Energie zu beflügeln. Jetzt muss ich eigentlich los.«

»Was?« Chloés Mund klappte auf. »Du hast deinen Tee nicht einmal getrunken und kaum erzählt, was bei Asher war.«

Betreten presste ich die Lippen aufeinander, richtete mich gleichzeitig jedoch ganz langsam auf, weil ich zu spät dran war. Mein Handybildschirm blinkte in mehreren Nachrichten von Jace auf, da ich ihm versprochen hatte, beim Streichen seiner Wände zu helfen – ganz nach dem Motto: neues Jahr, neues Ich.

»Ja … Ihr werdet es eh auf dem Campus sehen. Haltet euch von ihm fern.«

Lasst euch nicht wie ich euer Herz brechen.

Wer brauchte Beziehungsdrama, wenn Freundschaften regelmäßig schon so rigoros scheiterten? Ein Grund mehr, Jace zu helfen. Mit Asher hatte ich es verbockt. Mit Rem auch irgendwie, wer stand als Nächstes in der Reihe?

Alles, was ich versuchte, scheiterte doch eh.

3

AMBER

Meine privaten Probleme hielten mich nicht davon ab, mich auch vor gewissen Vorlesungen zu fürchten. Ausgerechnet meine allererste im neuen Semester war bei Professor Nelson, bei dem ich es mir letztes Semester verscherzt hatte. Ich hatte eine Vorlesung versäumt, war ein paarmal zu spät gekommen und ab da hatte ich verloren gehabt. Für seine Prüfung in ›Construction Engineering & Management‹ hatte ich am längsten von allen gebüffelt, bloß damit er mir im Management-Teil für jeden Scheiß Punkte abzog. Er mochte mich nicht, das wusste ich, und da wir in noch drei weiteren Fächern aufeinanderstoßen würden, musste ich daran etwas ändern. Ich hatte Rylee, eine gute Freundin von mir, gefragt, ob sie eine Idee hätte. Sie studierte Engineering in einem höheren Semester. Beneidenswert. Klar war die Collegezeit ein wichtiger Abschnitt im Leben, voller neuer Freunde, Partys und dem Entdecken seiner eigenen erwachsenen Persönlichkeit, aber genauso fieberte ich auf das Berufsleben hin, um endlich Geld zu verdienen. Meine Eltern hatten schon so viel Geld in mich investiert … Es war Zeit, dass ich ihnen etwas zurückgab.

»Hey, Amber, wie geht’s?«, rief Adrian über den Campus und holte schlitternd zu mir auf. Er schwenkte einen Pappbecher mit dem Logo des Campuscafés. Ich streckte meinen Arm aus und wir umarmten einander, wobei unsere Winterjacken kurz quietschten.

»Gut, solange wir noch nicht bei Professor Nelson sitzen.«

»Ah ja.« Adrian machte ein betretenes Gesicht und rieb sich über seinen kurzen Afro. Seine Mütze hielt er in der Hand, mit einem Sandwich darin. Eine Sekunde später blitzten seine weißen Zähne wieder.

Wir setzten uns wieder in Bewegung und liefen weiter zum Vorlesungssaal, der bereits zwischen den kahlen Bäumen hervorlugte. Der Campus des White Mountain College war weitläufig und verschnörkelt. Sobald die Bäume spätestens hoffentlich im April blühten, verschwanden die Gebäude hinter farbenfrohen Knospen und Blättern, was automatisch die Stimmung hob. Man besuchte keinen Betonklotz, der einen jeglicher Energie beraubte. Im Gegenteil, unser College war geradezu gemütlich, schaltete einen Gang runter und scherte sich nicht darum, auf irgendwelchen Bestenlisten zu landen. Das machte den Unterricht keinesfalls weniger qualitativ, aber weitaus interaktiver, weil man weniger Stress hatte.

»Ich habe auch nur so gerade bei ihm bestanden. Er benotet echt hart. Setzen wir uns dieses Jahr wieder zum Lernen zusammen? Ein bisschen Motivation ist immer super.«

Die dünne Eisschicht knisterte melodisch unter unseren Füßen, gerade so, als wären wir nicht auf dem Weg zu unserer Hassvorlesung, sondern zum See, um die Stille dort aufzusaugen. Wenn jemand das gebrauchen konnte, dann ich.

»Was, du auch? Du warst doch immer in der Bib!«, erinnerte ich mich und schaute zu Adrian, der von seinem Tomatensandwich abbiss.

»Ja! Aber irgendwie habe ich falsch gelernt. Ich gehöre einfach zu denjenigen, die das ganze Jahr über lernen und am Ende trotzdem Scheißnoten haben, weil sie es einfach nicht richtig machen. Wohingegen andere, wie Rylee, Bestnoten erlangen. Dabei lernt sie bloß während der Prüfungsphasen. Sind das deren tolle Gehirne oder meine schlechten Methoden?«

Ich schnaubte und zog meine Bommelmütze tiefer, weil der Wind eisig an meinem Nacken vorbeiwehte. »Vergiss nicht, die Antipathien, die Dozierende gegen einen hegen können.«

Adrian pfiff durch die Zähne. »Hat er dir sogar in einem Fach, wo man nichts reininterpretieren kann, eins reingewürgt?«

Eine Freundin lief an uns vorbei und grüßte knapp, sodass ich mit meiner Antwort wartete.

»Jep.«

»Oh Mist.« Adrian legte kurz seinen Arm um mich, um mich zu drücken. »Aber ich habe etwas, was dich ablenken wird.«

»Was? Erzähl.« Nach zwei Wochen, in denen ich mich komplett abgeschottet hatte, um bei meiner Familie zu sein, hatte ich so einiges verpasst. Hatte Adrian jemanden kennengelernt? Oder nein, er hat vor den Ferien einen Schnitzkurs belegt, vielleicht hatte sich da etwas ergeben?«

»Campus-Gossip«, lautete jedoch seine Antwort.

Ich verdrehte die Augen.

»Adrian! Für sowas habe ich keine Zeit.«

»Für sowas hat man immer Zeit. Also, willst du was zum neuen Studenten hören oder nicht?«

Ich blieb erneut stehen. »Was?!«

Schneeflocken rieselten zwischen uns zu Boden, sammelten sich auf Adrians Locken und schmolzen auf seinen Ohren, was er nicht zu spüren schien. Adrian fror nie.

»Aha, wusste ich doch, dass ich dich damit kriege. Du kennst Asher, oder?«

Ich neigte den Kopf von links nach rechts und zurück, ging dann langsam weiter. »Ich weiß, wer er früher war, und wie du, dass er es auf mich abgesehen hat. Inzwischen haben wir keinen Kontakt mehr.« Die Worte schmeckten verräterisch auf der Zunge, aber ich konnte es nicht beschönigen! Der gesamte Campus hatte es gehört. Es fühlte sich sicherer an, es ab und zu anzusprechen, damit andere auch Acht gaben. Das College selbst würde nichts tun, bevor etwas schiefgegangen war. Wofür sollte man Asher belangen? Übermotiviertes Redenschwingen?

»Keinen Kontakt mehr?«, wiederholte Adrian langsam und hob die Brauen.

»Was?«

Wir hatten inzwischen unser Vorlesungsgebäude erreicht, wo eine Studentin uns die Tür aufhielt. Wir bedankten uns und huschten an ihr vorbei in den leicht erdig-holzig riechenden Raum.

»Was, Adrian?«, zischte ich und zuckte bei meinem unfreundlichen Ton selbst zusammen. »Sorry, du hast meinen Schwachpunkt getroffen.«

Er grinste. »Wir werden direkt an der Quelle aller Campusskandale sein dieses Jahr. Ich habe heute Morgen erst davon erfahren und ganz ehrlich? Es wird jede einzelne Vorlesung aufpeppen. Engineering ist unfassbar logisch, aber manchmal will ich eine Prise Spice darin.« Adrian fuchtelte mit den Armen, als wollte er das Drama jetzt schon einfangen.

»Jetzt sag. Worum geht’s?« Uns verband das gemeinsame Studium sowie ellenlange Lernnächte. In anderen Bereichen waren wir vollkommen unterschiedlich. Und ich mochte das. Für jedes Interesse, jede Lebenslage und Uhrzeit kannte ich jemanden. Man musste mit Freunden und Freundinnen nicht in allem übereinstimmen; es reichte, wenn einen mindestens eine Sache verband.

Er rieb seine Hände aneinander wie ein fieser Disneybösewicht und lachte, als ich meine Brauen hob. »Na gut. Warte.« Adrian sprintete zwei, drei Schritte voraus, wodurch einige Studierende ihn ansahen, und drückte die Tür zum Auditorium auf. Wie automatisch wanderte mein Blick erst zur Uhr über dem riesigen Whiteboard. Fünf vor neun Uhr, ich war nicht zu spät.

Dann schaute ich dorthin, wo Adrian mit beiden Zeigefingern über seinen Rücken hinweg grinsend deutete.

Nein.

Nein. Nein. Nein.

Ich starrte auf das blonde, raspelkurze Haar. Das konnte nicht sein. Mein Mund klappte auf und ich drängte mich an Adrian vorbei, der leise gluckste.

»Wusste ich doch, dass dich das interessiert.«

»W-was?«, stammelte ich, obwohl nichts an Ashers Anwesenheit verwunderlich sein sollte. Er tat, was er wollte, und das ziemlich erfolgreich.

»Asher Huxley studiert mit uns. Falls Professor Nelson dich auf dem Kieker gehabt haben sollte, wird er jeglichen schlechten Eindruck vergessen, weil er hier sitzt. Und wir sind gleichzeitig an der Informationsquelle, was auf dem Campus abgeht, in geschützter Umgebung dank Nelson. Win-win.«

Asher stand mit verschränkten Armen in der zweiten Reihe an eine Stuhllehne gelehnt und redete mit einer Kommilitonin von mir. Von mir. Nicht von Asher. Hatte er mit seinen Verletzungen nicht eher im Krankenhaus gelegen, statt studieren zu können? Die Brandnarben schimmerten rötlich gegen den petrolfarbenen Hoodie, dessen Ärmel er hochgeschoben hatte. Die Studentin war hypnotisiert von seiner Präsenz, was mich nicht verwunderte; Asher hatte diesen Effekt. Aber was machte er in Structural Engineering Principles? Es war ein Sophomorefach, und wenn jemand keine grünen Freshmen in seinem fortgeschrittenen Fach akzeptierte, dann Professor Nelson.

Skeptisch blickte ich zu ihm, wie er hinter dem Pult seinen Laptop mit dem Projektor verband, wodurch Sekunden später die Titelseite seiner meist recht kurzen Slideshows aufblinkte. Kurz, da er bevorzugt am Whiteboard rechnete und wir den Rest im Lehrbuch nachschlagen sollten.

Wäre jetzt nicht der Moment, den unerhörten Freshman rauszuschmeißen?

Entgegen meiner Hoffnung geschah nichts dergleichen. Asher plauderte mit der Studentin, gestikulierte, um seine Worte zu untermalen, und gab sich genauso wie mir gegenüber früher.

Arsch.

Ich würde auch zuhören, egal, was er gerade erzählte.

Der Dozent räusperte sich um Punkt neun Uhr ins Mikrofon, worauf alles im Saal augenblicklich verstummte. Alles bis auf meine Gedanken.

Während Nelson das Fach erläuterte, starrte ich Ashers Hinterkopf an, den er nach einer halben Stunde unter der Kapuze seines Hoodies versteckte. Wusste er überhaupt, dass ich hier saß? Das musste er doch. Vor seinem Unfall hatten wir das Fächerangebot gesichtet, uns gemeinsam an allen möglichen Colleges beworben, und Asher zigmal über unsere Essays geschaut, um das Beste aus ihnen rauszuholen.

Ich schüttelte den Kopf. Asher war kein witziger Tratsch, wie Adrian es fand, sondern eine Bedrohung für meine Note, die ohnehin auf der Kippe stand. Ich hatte einen Plan, wie ich mich retten konnte, und genau den würde ich dem Dozenten am Ende der Stunde vorlegen.

Adrian sprach plötzlich, und ich zuckte zusammen. Verwirrt schaute ich zu ihm, brauchte mehrere Sekunden, um zu registrieren, dass er eine Frage beantwortete. Scheiße. Meine Wangen glühten auf und ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, ab und zu nickend, bis Adrian gesprochen – und ich nichts begriffen – hatte.

»Das stimmt, Mr Baker. Ich danke Ihnen. Wie Sie sehen, können Sie sich auf so einige Konzepte aus dem letzten Semester stützen, und ich erwarte dies auch.«

Adrian lächelte mir zu, ehe er sich wieder nach vorne wandte. Ich tat es ihm gleich und hielt erneut jäh inne. Denn Asher blickte zurück. Seine Miene war ausdruckslos, aber ich kannte ihn gut genug, um ein Zucken an seinem Kiefer zu vermuten, bevor es auftauchte.

Augenblicklich wurde mir kälter und ich machte mich kleiner in meinem Stuhl. Ich wollte nicht einmal nachgeben, wollte ihm nicht das Gefühl geben, zu gewinnen, was auch immer er da am Spielen war.

Verdammt. Vielleicht brauchte ich auch eine Therapeutin.

Meine Trauergruppe reichte nicht mehr, wenn sich das Chaos bei jedem Blick in Ashers Gewitteraugen vervielfachte.

Asher durchdrang mich, dachte über irgendetwas nach, was ich nicht mehr aus seinen Augen lesen konnte. Und dann drehte er sich weg und das Gefühl war noch schlimmer. Leer, verloren.

»Mr Huxley, folgen Sie meinem Unterricht noch oder wollen Sie direkt gehen? Ansonsten probieren Sie sich gerne an einer Antwort auf meine Frage«, provozierte Nelson ihn. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Blickwechsel mit mir gereicht hatte, um ebenfalls auf Nelsons Abschussliste zu landen.

»Klar, easy. Statische Belastung bezieht sich auf konstante oder langsam veränderliche Lasten, dynamische Belastung auf plötzliche oder periodische Laständerungen. Höhere Strukturbeanspruchung kann dann zu Ermüdungserscheinungen führen.«

Professor Nelson starrte Asher genauso perplex an, wie ich mich fühlte.

»Richtig«, sagte der Dozent schließlich langsam und setzte seine Vorlesung fort.

Ich bekam nichts mehr mit, sondern bereute es, mittig zu sitzen, wodurch Asher genau in meinem Blickfeld war, bereute mein Studienfach an sich und dass mal wieder ich die Schlechteste im Auditorium war. Ich könnte auf keine einzige Frage antworten, weil sich seit der Prüfungsphase alles von mir verabschiedet hatte.

Als die Vorlesung endlich vorbei war, sprintete ich mit dem Handy in der Hand nach vorne auf Nelson zu, der fragend eine Braue hob.

»Sie haben noch eine Frage, Ms Carter?« Ich bewunderte ihn dafür, dass er sich offenbar die Namen seiner Studierenden merkte. Er war Mitte 40, hatte das dünn gewordene Haar wegrasiert und trug eine Brille mit dickem Rahmen, die immer farblich auf sein Hemd abgestimmt war. Heute beides in Dunkelgrün.

»So ähnlich, ja.« Mein Herz wummerte, weil ich plötzlich Ashers warmes Parfum roch, dessen fruchtig grüne Noten sich von hinten um mich schlängelten. Was wollte er hier? Und warum konnte ich an nichts anderes denken? Ich holte tief Luft, was ich dank Asher sofort bereute, und fokussierte meinen Dozenten. »Ich würde gerne eine Extraleistung einreichen, um prophylaktisch meine Note aufzubessern und direkt tief in einem Thema dieses Faches drin zu sein. Gibt es eines, das Sie bevorzugen würden? Ansonsten habe ich ein paar rausgesucht.«

Vermutlich klang ich forsch, aber ich wollte nie wieder wie nach seiner letzten Prüfung bangen müssen. Er streckte die Hand nach meinem Handy aus und prüfte die Vorschläge, die ich dort notiert hatte. Seine Miene verriet mir dabei nichts. Einmal hatte ich ihn im Campuscafé mit einem anderen Dozenten gesehen, lachend, und ihn verblüfft angestarrt, weil er in den Vorlesungen nichts als trocken war.

»Schicken Sie mir die Liste und lassen Sie mich darüber nachdenken.«

Kein Ja.

Aber auch kein Nein.

Unangenehm flattrig, weil zwischen meinem Hassprofessor und dem Typen, der mich verabscheute, eingeklemmt, nahm ich mein Smartphone zurück und leitete die Liste mit ein paar Floskeln per Mail weiter.

»Vielen Dank. Soll ich einen Termin in Ihrem Büro ausmachen oder –«

»Ich melde mich schon«, schnitt er mir das Wort ab und nickte, womit das Gespräch beendet war. Langsam trat ich zur Seite, weiter als nötig, wie um aus Ashers Einflussfeld zu treten. Seine Augen glitten teilnahmslos über mich, musterten meine blonden Haare, blieben an meinem Septum hängen, bis er bei meinem karierten Pullover angekommen den Kopf schüttelte.

»Amber, kommst du?«, drang Adrians Stimme zu mir durch und gab mir einen Ruck. Ich straffte die Schultern und drehte mich zum Ausgang.

 Hinter mir sprach mein Dozent mit Asher. »Präsenzvorlesungen dürften etwas Neues für Sie sein, wird nach anderthalb Jahren auch Zeit, oder nicht?«

Asher lachte rau. »Ja, kann man so sagen. Ich würde dies aber gerne ausnutzen, wenn …«

Den Rest hörte ich akustisch nicht mehr, doch das Wichtigste hatte ich gehört: Asher und ich waren im gleichen Collegejahr, in den gleichen Fächern und würden einander jeden Tag begegnen.

4

AMBER

»Und sie ist wirklich auf dem Campus?«, hakte ich nach, da ich wirklich keine Lust auf eine Party in der Stadt hatte. In meinem Kopf waren Wohnheimpartys dank der Campussecurity kontrollierter, obwohl ich vom Personalmangel wusste.

»Ja«, versicherte mir Chloé und hielt mir ein dunkelblaues Wollkleid hin, das ich wohl anziehen sollte. Da sie zierlicher war als ich, würde es skandalös kurz an den Beinen enden. »Laut Harlow haben ein paar Studierende aus ihrem Jahr ein kleines Feuer geschürt und braten Marshmallows darüber an. Mehr nicht, okay? Das Problematischste wird wahrscheinlich sein, dass die Tür zu ihrer beheizten Wohnung offen stehen wird.«

Es war der erste Samstag seit Beginn der Vorlesungen, und ich so ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. Alle Reserven, die ich getankt hatte, waren aufgebraucht – größtenteils, weil ich so einen Kampf daraus machte, Asher nicht mehr zu nahe zu kommen. Ich war die Letzte in der Vorlesung und die Erste, die wieder verschwand. Meine Fragen regelte ich per Mails.

Zähneknirschend willigte ich ein, mit zur Party zu gehen. Hauptsächlich, da ich Remington mal länger als zwischen zwei Vorlesungen sehen wollte. Über das Kleid warf ich einen Pullover, weil die Party draußen stattfand, und schlüpfte in eine augenscheinlich durchsichtige Thermoleggings, die tatsächlich gefüttert war. Danach wühlte ich in meinen Accessoires, wählte ein Stirnband mit Schleife sowie lange klimpernde Ohrringe. Wie automatisch wanderten meine Finger zu einem Anhänger und spielten damit. Vielleicht hielt ich mich auch daran fest.

»Warte, wenn Rem dort ist, wird Onyx nicht ebenso dort sein?«, fragte ich und betrachtete Chloé besorgt, die am Boden vor dem Spiegel in meinem Zimmer saß. Sie zog gerade mühelos einen Eyelinerstrich und betonte die Falte unter dem Auge mit Glitzer.

»Wird er nicht. Onyx ist ein Nerd und ohne seine Dares hat er nichts mehr im Leben als seine Mathematik, Rätsel und Internet Deep Dives.«

»Autsch.«

»Er hat’s verdient«, murrte Chloé und betrachtete ihr Werk.

»Sieht gut aus.«

»Ja? Und du auch, wenn du ein bisschen in die Gänge kommst. Was ist mit deinen Haaren? Keine Wellen? Welches Make-up willst du? Da geht noch mehr.«

Schnaubend griff ich nach meiner kleinen Kosmetiktasche. Wenn ich gleich ein Stirnband aufzog, würde ich garantiert nichts mit meinem kurzen Bob anstellen. »Du hast leicht reden. Mit deinen schwarzen Wimpern hast du die Basis immer schon. Ich sehe morgens aus wie ein Nacktmull.«

Chloé verdrehte die Augen. »Dafür hast du lange, die man biegen kann, und musst nicht zu Fakes greifen.«

Ich betrachtete ihre ostasiatischen Gesichtszüge. Wild, wie wir in anderen immer das Positive sehen konnten und uns selbst so fertigmachten. Wenn ich anderen von meinen Unsicherheiten nicht erzählte, kamen sie nicht darauf. Und wenn ich selbst lange genug über das Leben nachdachte, fragte ich mich ohnehin, warum ich schön sein wollte, obwohl ich so viel mehr als äußerliche Vergänglichkeit zu bieten hatte. Ich liebte meine Familie. Allerdings nicht, weil sie genau in mein Schönheitsideal fielen, sondern weil sie tolle Menschen waren.

»Okay, ich denke mir was aus«, versprach ich und griff nach der Lidschattenpalette, die verschiedene Farben des Sonnenuntergangs beinhaltete. »Aber wir schicken ein Foto an meine Mom, bevor wir losgehen, und ich will nichts trinken. Ich habe morgen noch was vor.«

Chloé lachte auf. »Hast du das nicht immer? Mach dich fertig. Ich räum hier inzwischen etwas auf, damit sie das Chaos nicht sieht.«

Fragend hob ich eine Braue. »Ich dachte, du willst es zur Party schaffen.« Zur Unterstreichung meiner Worte kickte ich gegen einen Stapel Kleidung, der hier eventuell bereits vor den Semesterferien gethront hatte.

»Und ich dachte, du willst ein schönes Foto.«

»Dann schießen wir es in deinem Zimmer.«

Wir blickten uns an und lachten.

Der platt gestampfte Schnee geleitete uns den Weg. Die ganze Woche über hatte er New Hampshire tiefer unter einer weißen Schicht begraben, sodass wir uns alle inzwischen fragten, ob der Sommer je zurückkehren würde. War der Herbst noch voll raschelnder Blätter dank rasanter Windböen gewesen, verschluckte der Schnee beinahe alles. Ab und an erspähte man Wildspuren und einen Vogel, der über den klaren blauen Himmel zog, meist fühlte man sich allein.

»Ich bereue meine Schuhwahl«, fluchte Chloé und schüttelte ihre Wildlederstiefel erneut aus.

»Wolltest du die kleinen Freshmen beeindrucken?«, spottete ich und zog sie zu mir, weil der Pfad unter meinen Füßen leichter zu laufen war. Wir waren inzwischen auf dem Campus und die Musik der Feierwütigen drang zu uns, irgendein aktueller Popsong.

»Lach nicht über die. Letztes Jahr gehörten wir noch dazu.«

»Und Harlow immer noch«, ergänzte ich. Unfassbar, dass wir einander erst ein halbes Jahr kannten. Ich wollte sie nicht mehr missen.

»Hey, hey«, rief Harlow plötzlich durch die Nacht, als hätte mein Erwähnen sie gerufen. Wir schauten auf – und Chloé rutschte aus.

»Hey! Nein! Hilf –» Sie griff nach meinem Oberarm und riss mich mit. Meine Balance verschwand, ich ruderte mit den Armen – und klatschte mit ihr auf den Boden. Mein Po knallte auf den festen Schnee und sofort durchzog mich ein dumpfer Schmerz. Chloé krümmte sich neben mir, erzitterte dabei.

»Chloé?« Ich streckte den Arm nach ihr aus, nach dem sie eben gegriffen hatte, und legte ihn auf ihre Schulter.

»Alles okay?« Harlows Kopf erschien über uns, wenig später der von Remington, beziehungsweise die zig Kapuzen und Jacken, unter denen er sich versteckte. Man würde nie seine drahtige Statur darunter vermuten.

»Oh Gott, Leute«, jammerte Chloé und hievte sich mit Tränen in den Augen ebenfalls hoch. Unser aller Augen weiteten sich, noch mehr als sie laut schniefte. »Ich bin doch echt blöd. Wieso passiert mir das immer?« Ein Kichern drang durch ihre Schluchzer. »Mann, mein Po.«

»Geht es?« Harlow stützte sie, und Chloé legte den Kopf hin und her.

»Jein? Ich bin gestern nach der Vorlesung auf genau die gleiche Körperstelle geknallt. Jetzt brauche ich mindestens einen Shot.«

Wir waren alle zu jung für Alkohol und ich hatte voriges Semester mal wieder gelernt, wie miserabel es einem ging, wenn man dies vergaß. Heute würde ich auf Chloé aufpassen.

»Organisieren wir dir!«

Ich fischte mein Stirnband vom Boden, das ich anscheinend verloren hatte, und strich mir meine blonden Strähnen aus dem Gesicht. »Wie geht es euch? Habt ihr die Party schon gesehen?«

Harlow und Remington hatten die Arme umeinander geschlungen und sahen richtig süß aus. Vor allem Remington hatte ich noch nie so ruhig erlebt. Harlow weckte in ihm ein Grundvertrauen, das er lange verloren gehabt hatte. Durfte ich das mir zuschreiben? Hatte ich sie verkuppelt, weil ich damals zu viel getrunken hatte?

Remington blickte mich etwas intensiver an als gewöhnlich und antwortete schließlich kopfschüttelnd. »Wir wollten auf euch warten. Die Party klingt lauter, als ich erwartet hatte.«

»Weil du letztes Jahr high auf Adrenalin warst und bloß in deinem eigenen Kopf gelebt hast«, zog ich ihn auf, worauf Chloé der Mund aufklappte.

Harlow blickte ebenfalls zweifelnd zu Remington, der mich mehrere Sekunden lang ausdruckslos anblickte und dann auflachte. »Wieso habe ich das Gefühl, dass ich es wiedergutmachen muss, ehe du mich damit in Ruhe lässt?«

»Was hältst du von einem gemeinsamen Kochabend? Wir vier?«

»Du kannst nicht kochen.«

»Eben.«

Wir lachten los und für einen Moment war es wie früher. Sorgloser, eine Auszeit für die Probleme, die uns das Leben in den Weg stellte. Und mich daran festklammernd, hakte ich mich ebenfalls bei Remington ein und zerrte meine Freunde zur Party.

Es wurde lauter, das Feuer knisterte und hier und da lagen leere Becher und Essensreste im Schnee. Traurig, aber das Zeichen einer jeden Collegeparty. Wir folgten der Geräuschkulisse, die definitiv auf mehr schloss als eine gemütliche Party, hielten hier und da bei Freunden an, denen ich dieses Jahr noch nicht begegnet war. Harlow trank ihren ersten Shot, als sie Kommilitonen von sich entdeckte.

Die Hitze ging langsam, aber sicher auf uns über, verbannte Gedanken, und noch bevor wir das Feuer überhaupt gesehen hatten – Gab es überhaupt eines oder hatte jemand einen Kamin auf einem Fernseher eingestellt? –, tanzten Harlow und ich im Schnee. Oder hampelten herum, wie Remington meinte. Mir kamen vor lauter Euphorie die Tränen, so wie es manchmal bei mir passierte, was Remington schließlich auch zum Schmunzeln brachte. Er wusste bereits, wie nahe am Wasser ich gebaut war. Mit bedeutungsvollem Gesichtsausdruck imitierte er, was wir seiner Meinung nach taten, was so ulkig aussah, dass wir mit einstimmten. Adrian entdeckte uns, Miles, ein guter Freund von Remington stieß ebenfalls hinzu, und irgendwann war uns die Kälte egal. Wir bewarfen uns mit Schnee, formten Schneeengel, und ich trank von Miles’ Tee, den er ernsthaft in einer Thermoskanne mit sich trug. Mit Honig statt Rum, weil er morgen früh laufen gehen wollte.

Meine Wangen glühten und es dauerte nicht lange, bis ich mir meine Mütze vom Kopf riss und sie in meine Handtasche stopfte. Chloé torkelte nach nur einer halben Stunde und entschied, dass wir ein Kinderhüpfspiel veranstalten mussten, was nicht so witzig sein sollte, wie es war.

»Chloé, ich kann nicht mehr.« Ich keuchte, als ich den Parkour bereits zum dritten Mal gehüpft war, und öffnete meine Jacke. Eine frische Brise wehte gegen meinen Hals und ließ mich wieder durchatmen.

Dann zuckte ich durch ein Signalhorn zusammen – und meine Freunde mit mir.

Gleichzeitig drehten wir uns zum Zentrum der Party, das wir nie erreicht hatten. Was ging dort ab?