Von Schneekugeln und Pariser Weihnachtsmuffeln - Melissa Mai - E-Book

Von Schneekugeln und Pariser Weihnachtsmuffeln E-Book

Melissa Mai

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Beschreibung

Von viel zu viel Gemütlichkeit und Romantik, einer Quarter-Life-Crisis und dem Zauber der Stadt der Lichter Keine Bescherung. Bloß ein, zwei Gläser Rotwein und Ruhe. Das wünscht sich Pariserin Laure-Anne für Weihnachten dieses Jahr. Da können ihre Arbeitskollegen und Freunde noch so sehr von der glückseligen Adventszeit schwärmen. Aber Laure-Annes Plan hat keine Rechnung mit Maël gemacht. Maël, der immer da war, wenn Weihnachten mal wieder schiefgegangen ist. Maël, auf dessen Gute Laune sie immer zählen konnte. Maël, der von einen Tag auf den anderen verschwunden ist und jetzt, ohne mit seinem mysteriösen Geheimnis rauszurücken, wieder Kontakt knüpfen möchte … Ein weihnachtlich-magischer Wohlfühlroman in Paris Einzelband in 24 Kapiteln. New Adult Romance mit magischen Elementen

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VON SCHNEEKUGELN UND PARISER WEIHNACHTSMUFFELN

MELISSA MAI

INHALT

1. Dezember

2. Dezember

3. Dezember

4. Dezember

5. Dezember

6. Dezember

7. Dezember

8. Dezember

9. Dezember

10. Dezember

11. Dezember

12. Dezember

13. Dezember

14. Dezember

15. Dezember

16. Dezember

17. Dezember

18. Dezember

19. Dezember

20. Dezember

21. Dezember

22. Dezember

23. Dezember

24. Dezember

25. Dezember

Danksagung

Three Chances Till Christmas

The Never Ending Christmas

Über die Autorin

1. DEZEMBER

Die Kaffeemaschine surrte laut, während sie mir den vierten Kaffee des Tages und eventuell noch nicht den letzten bereitete. Der warme Duft hüllte mich so verlockend ein, dass ich gegen die Küchentheke des Büros gelehnt einschlafen konnte. Nur dass um acht Uhr das Sicherheitssystem des Gebäudekomplexes anspringen würde und ich meine Arbeit nicht mit nach Hause nehmen wollte. Ich seufzte und nahm meine Tasse mit zurück zum Vierertisch, wo eine Ecke mir gehörte. Die warme Keramik kribbelte dabei unter den Fingerspitzen.

Priya, eine Junior Buchhalterin, die mir gegenübersaß, streckte den Rücken durch und schaute mich über die Abtrennung zwischen uns hinweg an.

»Sicher, dass ich dir meine Arbeit aufbrummen kann? Ich habe jetzt schon ein schlechtes Gewissen.«

Die Ernsthaftigkeit ihrer Worte ging in der Tannengirlande verloren, die sich um die Abtrennung zog und alle paar Zentimeter mit einer Weihnachtskugel dekoriert war. Die energisch blinkenden Glühlämpchen des Tannenbaums wenige Meter von uns entfernt schimmerten auf Priyas hellbrauner Haut und rahmten sie, mitsamt der Weihnachtskugeln, romantisch ein. Völlig unpassend zu den Rechnungen, die ich Priya vor einer halben Stunde abgenommen hatte. Manche Vertriebspartner schickten ihre Fakturen immer noch mit der Post, wodurch einige reichlich spät für den Monatsabschluss reingekommen waren. Der mal wieder weder gestern noch heute stattfand, sondern hoffentlich morgen. Damit blockierten wir die fiskale Eröffnung des Dezembers, der in den Küchen bereits mit einem riesigen Adventskalender angekündigt worden war.

Über Nacht war unser Büro plötzlich zur weihnachtlichen Traumfabrik geworden und ließ beinahe vergessen, dass wir in einer vermutlich langweiligen B2B-Branche tätig waren. Wir schlossen Kaffeeabonnements mit Firmen ab und organisierten den Vertrieb der geliehenen Kaffeemaschinen, Kaffeebohnen oder beliebten Kaffeekapseln und des Zubehörs dieser.

Treppengeländer und Abgrenzungen des Büros waren mit Tannengirlanden verhangen und zwischen Treppenhaus und Aufzug jedes Stockwerks stand ein niedlicher Weihnachtsbaum. Aufgesprühte Schneeflocken zierten die Fenster und in den Küchen gab es Teesorten und Sirup mit Zimt. Und direkt daneben Kekse, die einer der Personalmanager mit seinen Kindern gebacken hatte. Es sorgte für Motivationsschübe in der so dunklen, nasskalten Jahreszeit. Außer bei Priya heute. Was trotz der Deadline im Nacken okay war. Auch wenn das Büro für mich eher zur Albtraumfabrik mutiert war.

»Klar, mach dir keine Sorgen. Letzten Monat hast du mir geholfen, als das Computerprogramm gestorben ist, direkt nachdem ich die neuen Preise eingepflegt habe. Diesen Monat helfe ich dir. Außerdem ist dein Abend wichtiger.« Ich lächelte ihr zuversichtlich zu. Sie brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben. Mit dem Finger strich ich an der inzwischen gewellten Ecke des Papierstapels entlang. Es waren ein paar Dutzend Rechnungen. Nichts, was ich nicht bewältigen konnte. Hoffte ich. Priya schob die buschigen Brauen zusammen, bis ich Richtung Aufzug nickte. »Geh. Dein Mann wartet bestimmt schon auf dich.«

Nach kurzem Zögern nickte sie und fuhr ihren Computer herunter. Priya hatte ein Date mit ihrem Mann, der für zwei Wochen auf Dienstreise gewesen war, und freute sich wahnsinnig auf das Wiedersehen.

Sie stand auf, warf sich ihren dicken Mantel über, zog mit zusammengebissenen Zähnen den langen dunklen Zopf hervor, der sich mal wieder verhakt hatte, und trat für zwei Abschiedsküsse zu mir. Nervös pfriemelte sie am Stoff ihres Alpaka-Schals. Sie war so dick eingemummelt, als ginge sie Skifahren, dabei fror sie einfach sehr leicht.

»Ich erzähl dir morgen, wie es war«, versprach sie und ging zum Aufzug.

Die Lichterkette flackerte sogar auf die Rechnungen vor mir, was mir ein Seufzen entlockte. So romantisch und gemütlich diese Zeit des Jahres auch war, mit all den hoffnungsvollen Gesichtern und sich festigenden Beziehungen, so wenig passte ich hinein. Aber es war bloß ein Monat. Weniger. Vierundzwanzig Tage. Plus Brunch am Fünfundzwanzigsten und dann kehrte wieder Ruhe ein. Zumindest was den allseits geliebten Weihnachtstrubel anging. Aber danach … Was war eigentlich danach? Daran wollte ich nicht denken und widmete mich der ersten Rechnung.

Konzentriert gab ich alle Zahlungen in Auftrag, die ich aus Sicherheitsgründen zusätzlich einscannte und mit einer Nummer versah, während es im Büro immer ruhiger wurde. Der Bewegungsmelder des Flurs registrierte nichts mehr, sodass ich, abgesehen vom Monitor und den Stimmungslichtern, im Dunklen saß. Ganz bewusst ignorierte ich mein Handy, dessen Display ich nach unten gedreht hatte. Auf der Rückseite glitzerten pastellfarbene Blumen. Meine Mitbewohnerin Lou fragte sich bestimmt bereits, wo ich blieb. Sechs Uhr war nicht unbedingt eine Uhrzeit, zu der viele noch am Schreibtisch saßen. Wenn man das tat, hatte man den falschen Job. Oder war Praktikantin. Wie ich hier bei Professional Beans. Aber ich wollte mich nicht beschweren. Zahlenkram in der Finanzabteilung war nur halb so trocken, wie es einem im Studium vermittelt wurde, und wozu hatte ich denn schließlich meinen Wirtschaftsmaster?

»Laure-Anne? Was sitzt du hier denn noch?«, ertönte eine helle Stimme. Ich blickte auf. Carmen, die Praktikantin, die seit dem Sommer half, neue Mitarbeiter anzuwerben, trat auf klackernden Stiefeln auf mich zu. Das abgetrennte Büro der Personalabteilung befand sich am anderen Ende des Ganges und hatte seine eigene Küche. Mit einer Pobacke setzte Carmen sich auf Priyas Tisch und legte die Arme auf der Tannengirlande ab, die dabei knisterte. Eine der roten Kugeln wackelte gefährlich, als wollte sie hinter meinem Bildschirm in tausend schimmernde Einzelteile zerspringen, aber sie hielt sich wacker.

»Du doch auch!« Ich lachte. »Weihnachten ist bestimmt stressig für euch? Ihr habt auf jeden Fall ganze Arbeit geleistet!« Ich hob den Schoko-Weihnachtsmann, den jeder heute Morgen bekommen hatte, an und schwenkte ihn, bevor ich ihn wieder hinter meinen Monitor schob.

Carmen winkte ab. »Ich kam mir vor wie eine lebendig gewordene Weihnachtselfe, die nachts heimlich in Büros herumturnt. Du hättest uns sehen müssen, als wir den Weihnachtskranz im Eingangsbereich aufgehängt haben. Es wäre leichter gewesen, eine Lichterkette über den Kronleuchter zu werfen, statt dieses Monstrum daneben aufzuhängen. Aber es hat sich gelohnt.«

»Definitiv«, bestätigte ich. »Hätte nicht gedacht, dass das ganze Team da mithilft.«

Ich klopfte die Dokumente zusammen und öffnete den weißen Ordner, in den ich sie einheften wollte. Er quoll über, aber den letzten Tag würde er noch überstehen.

»Ach, Ende des Jahres bedeutet Gehaltsbesprechungen, Personalpläne erneuern und Evaluationsgespräche einplanen. Kann zermürbend sein, wenn Kollegen gehen müssen, die man auf persönlicher Ebene ins Herz geschlossen hat.«

Ich schaute auf und blickte Carmen an, die eine Strähne ihrer lockigen blonden Haare um den Finger zwirbelte und wieder löste. »Wer geht?« Im Kopf ratterte ich die Personen ab, deren Leistung in den letzten Monaten nicht zufriedenstellend gewesen sein könnte, aber als Praktikantin bekam ich nur die Hälfte mit. Und was für ein Weihnachtsgeschenk war das bitte, jemanden rauszuschmeißen? Die Betroffenen taten mir jetzt schon leid.

»Kann ich nicht sagen, aber weißt du, was ich auch mitbekommen habe?« Sie rutschte näher. Kurz sah Carmen sich im leeren Großraumbüro um, beugte sich dann über meinen Monitor, um flüstern zu können. Ihr Atem roch nach der Zuckerglasur der Kekse. »Die wollen dich übernehmen.«

Ich blinzelte, meinte, mich verhört zu haben. »Was?« Meine Stimme schreckte eine Oktave in die Höhe, brachte Carmen dazu, den Finger an die Lippen zu legen.

»Psst. Es ist noch nicht offiziell, aber deine Abteilung sucht einen weiteren Junior Accountant und ist super zufrieden mit dir. Weißt du selbst.« Klar wusste ich das. Genau deswegen hatte man mir angeboten, mein Praktikum nach Studiumsende fortzusetzen. Und ich war froh gewesen, mich nicht in den Jobmarkt stürzen zu müssen, wo ich hätte wissen müssen, was ich nach dem Studium anstellen möchte. Dies war eine tolle Firma mit noch tolleren Kollegen, wo ich alles bereits kannte. Ideal. Aber dass sie mich als feste Buchhalterin einstellen wollten, hatte ich nicht erwartet. Wow.

»Ist das nicht wunderbar?« Carmen griff nach meinen Händen und quietschte. Und weil ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, stimmte ich mit ein und strahlte sie an. Ihre Wangen wurden so rosig, dass ich sofort eine Vermutung hatte.

»Moment, übernehmen sie dich auch?«

Sie nickte.

»Wie cool! Gratuliere! Das müssen wir demnächst feiern.«

»Definitiv. Gib mir Bescheid, wenn du plötzlich eine unerwartete Besprechung im Kalender hast. Bonne soirée,meine Liebe.« Damit sprang Carmen galant auf und huschte nach draußen.

Ich sackte auf meinem bequemen Stuhl zurück, verschränkte die Arme über dem Kopf und schaute mich um. Das leere Büro, die Dekorationen, die Blume zwischen meinem und Hamzas Arbeitsbereich, die Glückwunschkarte von meinem Chef Jules Martel von vor zwei Monaten zum Geburtstag. All das war wunderbar. Aber auch so plötzlich. Ich als Festangestellte in einer Firma? Es war so unwirklich. Irgendwann in den letzten Jahren war ich erwachsen geworden. Aber ohne Gebrauchsanleitung wie genau das funktionierte. War ich bereit für den nächsten Schritt?

Ich seufzte und beschloss, zu gehen.

* * *

Paris vibrierte. Bei Tag und bei Nacht, aber seit heute früh in einem anderen Rhythmus. Bereits als ich die zwei Stufen des Bürogebäudes hinab trat, passierte ich Buchsbäume, die mit warmen gelben Lichterketten verhangen waren. Die Menschen trugen dunkle Jacken, nur hier und da blitzte ein rosafarbener Schal oder eine hellblaue Einkaufstüte überraschend bunt hervor. Die wie magisch aufgetauchten Dekorationen bestachen dafür umso mehr. Schon an normalen Tagen war die Stadt voll. Vor allem Touristen bewunderten die Gebäude im Haussmann-Stil. Sie hetzten zu Sehenswürdigkeiten, wo sie sich Schnickschnack als sentimentale Erinnerung andrehen ließen, der dennoch so viel mehr wert war, als er gekostet hatte, weil ein schöner Urlaub damit verbunden war. Pariser Straßen und Plätze waren schmal, oft ausgelegt mit Backsteinen. Die Wohnungen klein und nicht zu bezahlen, aber jeden Cent wert. Der Platzmangel im Haus trug einfach dazu bei, dass die Cafés sich füllten.

An Weihnachten wurde es noch enger, was niemanden störte. Als die Ampel auf Rot sprang, blickte ich in die Gesichter derjenigen, die mit mir warteten. Sie waren entspannt, bewunderten die funkelnden Lichter, die über den Straßen gespannt worden waren, sowie die Dekorationen der Schaufenster und Gaststätten. Blickten so lange in die mit Lichterketten eingepackten Bäume, bis sie das Grün der Ampel bloß am Rande wahrnahmen und beim ersten Schritt in die Lücke eines fehlenden Bordsteins stolperten. Sie lachten darüber, statt zu fluchen. Die Frau vor mir stützte sich an ihrer Freundin ab und ging sofort weiter. Mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen, welches nur die gemütliche Weihnachtszeit hervorlocken konnte. Weil ich die Frau beobachte, verpasste ich selbst beinahe das Ampelgrün und beeilte mich, es noch zur gegenüberliegenden Straßenseite zu schaffen.

Das Lächeln der Frau lenkte mich von meiner eventuellen Festanstellung ab, die schwerer in mir wütete, als ich es erwartet hatte. Bloß weil Weihnachten mich nicht glücklich stimmte, sondern mir Bauchschmerzen bereitete, musste dies nicht für andere Menschen gelten. Ich war froh für die anderen, die sich mit Zuckerstangen und cremigem Kakao berauschen konnten. Hätte ich auch gern.

Ich schlotterte, obwohl ich meine dicke Winterjacke mit Kunstschaffell an der Innenseite angezogen hatte, und beschleunigte mein Tempo, die Nase tief in meinem Schal begraben, der noch ein bisschen nach Lagerraumstaub roch. Bis zum Restaurant, wo Lou mit einigen Freunden auf mich wartete, waren es nur wenige Blocks, dessen Weg dorthin ich auswendig kannte. An der ersten Ecke holte ich mittags öfter mein belegtes Baguette, wenn wir draußen aßen, direkt daneben im Bistro trafen wir uns manchmal nach der Arbeit.

Noch bevor ich die Terrasse erreichte, sah ich Lous unordentlichen Dutt beim Sprechen wild auf und ab wippen. Es war eine der mit Plexiglas umhüllten Außenbereiche, sodass man weiterhin draußen speisen und gesellig rauchen konnte. Orange glühende Heizstrahler und Decken hielten einen warm, Lichterketten und eine Schneeflockengirlande sorgten für Stimmung, sowie das durch Glühwein erweiterte Menü, der praktisch eine Lösung für alles war.

»Laure-Anne, Chérie, wo warst du?«, begrüßte mich Lou. Reihum gab ich ihr, Yvette und Sacha einen Luftkuss auf beide Wangen und setzte mich auf den freien Stuhl.

»Monatsende. Da landen Dinge auf dem Tisch, von denen man noch nie gehört hat.«

Sacha schnalzte missbilligend mit der Zunge. Er arbeitete für ein Start-up. Und obwohl er dadurch mehrere Positionen einer Firma verkörperte, hatte er seinen Feierabend gut im Griff. Ich normalerweise auch.

Lou goss mir ungefragt Sauvignon ein, den ich dankend annahm.

»Santé, meine Lieben.« Prost!

Wir quatschten über die Dekorationen, verglichen diese mit den letzten Jahren, und Sacha gestand, dass er Weihnachten noch gar nicht auf dem Schirm gehabt hatte. Ich auch nicht. Weil ich mich seit zwei Wochen davor versteckte. Gemeinsam leerten wir eine Weißweinflasche, während sich die umliegenden Tische füllten. Gegen acht Uhr warfen wir das erste Mal einen Blick in die Speisekarte und wechselten, außer Sacha, zu Rotwein.

»Habt ihr schon Geschenke?«, fragte Lou und Yvette kicherte. Eventuell trug der Wein, der lilafarben in unseren Gläsern schimmerte, seinen Beitrag dazu bei. Das Gelächter hallte zwischen uns und den anderen Brasseriebesuchern, sprang von einem zum nächsten und verdrängte jeden Funken Tristheit. In netter Gesellschaft konnte es einem bloß gut gehen.

»Bis ich heute Morgen im Büro fast in den Weihnachtsbaum gelaufen bin, wusste ich nicht einmal, dass die Adventszeit begonnen hat. Jetzt habe ich das Gefühl, mit den Geschenken spät dran zu sein.« Sacha zog die Stirn kraus und versteckte sie gespielt beschämt hinter der flachen Hand. »Meine Eltern bekommen Wein. Mein Bruder auch … ihr auch. Ihr bekommt alle Wein. Hörst du, Laure-Anne? Du auch.« Letztes Jahr war ultrapeinlich gewesen, weil Yvette mir eine Schmuckdose für Tee geschenkt und ich nicht an sie gedacht hatte. Das peinliche Schweigen wäre unerträglich gewesen, hätte sie es mir aufgrund meines grausamen Weihnachtens nicht als Versehen verziehen.

Ich schob den Gedanken an letztes Jahr beiseite und mischte mich wieder in das Gespräch ein, in dem alle über Lou kicherten, die etwas Selbstgemachtes verschenken wollte.

»Gib es auf«, empfahl Yvette, zwirbelte dabei an ihrem geflochtenen roten Zopf, der ihr über die Schulter hing. »Niemand will etwas Gestricktes oder Gemaltes oder Fotografiertes. Oder meine Blumen. Dann behaupten immer alle, ich würde verwelkende Restbestände verwerten. Deswegen verschenke ich gemeinsame Zeit. Oh, unser Essen. Merci.« Ein Kellner balancierte gekonnt vier Teller auf dem Arm, die er vor uns abstellte, und versprach, mit den Beilagen zurückzukommen. Sacha hatte Dorade bestellt, Lou und ich Steak-Tatar, und Yvette Magret de Canard, Entenbrust. Pommes und Baguette teilten wir untereinander auf, weil es egal war, wer was aß.

»Ich wünschte, meine Familie würde sich beschenken, wie Sacha es macht«, gestand ich zwischen zwei Bissen. »Meine Schwester will morgen mit mir Weihnachtsshopping machen. Ich fühle mich dem nicht gewappnet.« Und dann noch im gefürchtetsten Einkaufszentrum der Stadt. Was Hauptgrund für Sophie war, um mich dorthin zu zerren. Ich war der Grinch, den man bekehren musste. Aber konnte sie es mir nach letztem Jahr übel nehmen? Inzwischen musste sogar sie mir recht geben. Und vielleicht, wenn ich mit ihr über Alternativen zu Weihnachten sprach …

»Mon Dieu, Laure-Anne, deine Stimmung ist echt auf Knopfdruck miserabel. Ich bekomme dich also nicht zum gemütlichen Weihnachtsfilmabend überredet?«, fragte Yvette, aber Lou fuhr dazwischen, bevor ich antworten konnte.

Noch mit zwei halb zerkauten Pommes zwischen den Zähnen verkündete sie: »Ich hab’s dir gesagt, oder? Ich glaube, Laure-Anne verursacht diese schlechte Stimmung selbst. Gibt es da nicht so ein Phänomen, dass man selbst bestimmt, was einem widerfährt?«

»Oui! Wie hieß das?«, fragte Sacha.

Selbsterfüllende Prophezeiung hieß das, aber das war bei mir ganz sicher nicht der Fall und so verriet ich das Wort nicht. Lou würde es mir die restlichen dreiundzwanzig Tage mehrmals täglich an den Kopf werfen, bis ich mich selbst infrage stellte. Normalerweise eckte ich selten an. Beim Thema Weihnachten dafür umso mehr und ich wurde dessen müde. Das Fest war für mich einfach nicht gemütlich. Musste es doch auch nicht.

Ich konzentrierte mich auf mein Essen, das wirklich himmlisch schmeckte. So frisch und saftig. Das Hack zerschmolz auf der Zunge, wie ich es seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Dabei kamen wir öfter hierher und ich kannte die Küche. Irgendetwas war heute anders. Ich konnte den weichen Geschmack spüren, es kitzelte bis in die letzten Nervenzellen meines Gehirns. Ganz komisch. Ganz wunderbar.

So wie der Abend.

Bis wir gegessen hatten und Lou genug getrunken hatte, um von ihrem neuesten Date zu sprechen. Entsprechend dem pariser Klischee ging sie regelmäßig mit wechselnden Menschen aus auf der ewigen Suche nach dem Einen. Ich hatte diese Geschichte bereits mehrmals gehört und eine klare Meinung dazu, aber sie würde mich bloß wieder den Grinch schimpfen. Natürlich wünschte ich mir für sie, dass es klappte. Aber ich hatte auch meine Zweifel.

»Marcel und ich waren in diesem neuen italienischen Restaurant bei Sacha um die Ecke essen. Und alles war perfekt. Alles.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas, was mich zum Schmunzeln brachte. Lou vertrug nichts und provozierte es trotzdem regelmäßig. Ausschließlich in Gesellschaft von Freunden trank sie mehr, als sie sollte, wurde dann anhänglich oder schlief schlimmstenfalls auf dem Sofa ein, weil sie es nicht zum Bett schaffte. »Wir hatten keine Gesprächspausen. Er war aufmerksam, wollte sehen, was ich auf meinem iPad immer doodle, und das interessiert ja nicht einmal euch. Bis die Rechnung kam. Er war auf Toilette und ich dachte, ich zahle. Dann muss er mir versprechen, erneut mit mir auszugehen.« Sie starrte auf ihr Glas, schien den Moment bildlich vor Augen zu haben. »Er ist wütend geworden. Und laut. Bis die anderen Restaurantgäste uns angestarrt haben. Was mir einfallen würde, ihm die erste Rechnung wegzunehmen. Wie unhöflich von mir.« Mein Wein schmeckte plötzlich bitter und legte sich komisch auf meiner Zunge ab. Ich stellte das Glas auf dem Tisch ab, nicht bereit, den Rest auszutrinken. Das eben noch so feine Essen lag schwer im Magen und ich hielt mir den Bauch. Ich hätte nicht so schlingen sollen. Was gelang dem Koch auch einfach heute so eine fantastische Kreation? Aber er konnte ja nicht wissen, dass mir Unmut auf den Magen schlug, und Lous katastrophale Dates mich an … sich als doof entpuppende Menschen aus meinem Leben erinnerten.

»Er wollte eben ein Gentleman sein«, warf Sacha ein. »Ist altmodisch, aber er hat es nicht böse gemeint.«

Damit machte er Lou Hoffnung, aber der Typ schien doch wirklich nicht gut für sie. Sollten wir warten, bis er ihr das Herz brach? Ich biss mir auf die Zunge. Es war meine Meinung, die musste nicht richtig sein. Und alle anderen würden mir nicht zustimmen. Weil sie nicht wie ich auf die Nase gefallen waren.

»Ich würde noch ein zweites Date probieren«, schlug Yvette vor und strich eine Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht. Im Schein der Glühstäbe wirkte ihre Haut noch rosiger als sonst. Wobei das inzwischen ebenso am Wein liegen könnte. Ihr Arbeitspensum stresste sie in letzter Zeit mehr als sonst, obwohl die Arbeit in ihrem Geschäft nicht zugenommen hatte. Manchmal nervte der Job eben. Dass sie ein zusätzliches Glas Wein am Abend brauchte, verstanden wir alle.

Vorsichtig räusperte ich mich. »Wenn er wegen ein bisschen Geld aus der Haut fährt, würde ich vorsichtig sein. So was kann doch unmöglich sein Ego kränken. Was passiert, wenn ihr richtigen Streit habt?« Lou zog eine lange Miene und ich bereute meine Worte sofort. Dabei wollte ich sie nur schützen. Sie war so geknickt von meinen Worten – meinen allein – dass sie ihr Glas in einem Zug leerte und froh wirkte, als ich vorschlug, nach Hause zu gehen. Die anderen stimmten mit ein, obwohl sie ohne mich als Stimmungskiller bestimmt noch eine Stunde geblieben wären. Das musste ich wiedergutmachen.

Nachdem wir bezahlt hatten, nahm ich Lou in den Arm und zog sie aus der Lokalität. Sobald wir die Glühstäbe hinter uns ließen, wurde es schlagartig kalt und unser Atem sichtbar. Die Luft klatschte wie kleine Ohrfeigen auf die Haut und ich schob meinen Schal höher, um meine Wangen zu schützen. Lou tat, nicht mehr ganz so flink, das Gleiche mit ihrer Bommelmütze, die sie nicht tief genug über ihren Kopf bekam, weil ihr Dutt so groß war. Ich half ihr, den Reißverschluss bis an das Kinn hochzuziehen, und legte den Arm erneut um sie. Wir schwiegen, waren beide in unseren eigenen Gedanken versunken. Sie vermutlich bei ihrem Date und ich … überall. Weihnachten hatte einen komischen Effekt auf mich.

Plötzlich meinte ich, im Augenwinkel jemanden zu sehen, der mich beobachtete. So was spürte man. Wie wenn man im Auto saß und jemand auf der Autobahn einen überholte und der Beifahrer einen ansah. Aber als ich den Kopf herumriss, war da niemand. Nur ein Weihnachtsbaum geformt aus dicken Drahtsträngen und mit bläulichen Lichterketten umwoben. Er blinkte nicht einmal. Trotzdem hatte ich eine Regung gesehen, die ich mir nur als Hirngespinst erklären konnte. Ich schüttelte den Kopf und brachte uns nach Hause.

2. DEZEMBER

So. Viele. Menschen.

Verfrüht von der Arbeit kommend, weil der Monatsabschluss so gut geglückt war, trat ich die Stufen der Métro zu Galeries Lafayette am Boulevard Haussmann hinauf, wo mich ein rappelvoller Eingang mit vielen Grüppchen erwartete. Als wäre heute der letzte Tag für Weihnachtsgeschenke. Aber an den seligen Gesichtern und dem Staunen über die glitzernde Schneedecke, die am Überdach befestigt war, wurde deutlich, dass der Geschenkekauf für viele eine lang ersehnte Aktivität war. Das extra Fünkchen Weihnachtsspirit. Jedes kleine LED-Licht symbolisierte die innere Wärme, die jedes Gefühl des kalten Wetters schmelzen ließ, bis nur noch Gemeinsamkeit zurückblieb.

Anhand der Glitzerdecke, die sich um das gesamte Gebäude spannte, war die Galerie bereits von Weitem zu erkennen. Vermutlich sogar vom Himmel aus. Mit Unterstützung der Bäume, die tapfer dem nahenden Winter trotzend ihre letzten Blätter festhielten, und mit sternenregenförmigen Lichterketten dekoriert waren. Trotz der untergegangenen Sonne war es hell, eventuell sogar mehr als tagsüber bei Nebelwetter. Und definitiv romantischer. Kinder warfen auf den Rücksitzen, wenn ihre Eltern am Zebrastreifen warteten, sehnsuchtsvolle Blicke zwischen die parkenden Autos auf die Schaufenster, die alle ihr eigenes kleines Märchen zeigten. Die Schaufenster, les vitrines des galeries Lafayette, waren ein Kunstwerk für sich, sodass man das Einkaufszentrum selbst nicht unbedingt zu betreten brauchte. Riesige Plüschbienen flogen um ein ausgestelltes Kleid in das Zentrum einer großen Blüte, die wie eine Teetasse geformt war. Andere fleißige Bienen standen neben den ausgestellten Schuhen und trugen einen Eimer voll Honig. Es war wunderschön absurd. Sophie dagegen blickte suchend nach mir durch die Menge.

Ich eilte an Menschengrüppchen vorbei, durch eine Zigarettenwolke und begrüßte meine Schwester mit zwei Bisous. »Hast du das Bienenvolk gesehen? Wer hat sich das ausgedacht?«, teilte ich meine Freude, worauf Sophies Mundwinkel amüsiert zuckten. Ihr langes dunkelbraunes Haar war unter ihrem Schal versteckt, ihre Augen nicht geschminkt, und trotzdem ähnelte sie Maman so sehr. Maman und ich hatten die gleiche Kurzhaarfrisur, nur dass mein Pony wuschiger war und meist so tief in meinem Gesicht hing, dass meine Augenbrauen verschwanden. Welche Maman wiederum für ihren ausdrucksstarken Blick nutzte, um Kunden zu bezirzen. Sophie konnte das genauso gut, was der einzige Grund war, warum ich hier stand.

»Ich denke nicht, dass wir Maman damit beeindrucken können«, erinnerte Sophie mich an unsere Geschenksuche. »Ein Fenster weiter tanzen übrigens zwei Bären auf dem Rücken eines Flugzeugs.«

»Bitte?« Ich huschte ein paar Schritte hinter Sophie und bestaunte die Plüschbären. Ein Pärchen tanzte wirklich. Darunter lagen Bären im Schnee und versuchten, Geschenke wie wegfliegende Luftballons festzuhalten. Es war goldig. Und so leicht auszublenden, dass das Thema all dieser Geschäfte eigentlich Weihnachten war. Der Businessaspekt machte mich nicht wütend, dafür war ich Maman dann doch zu ähnlich. Bloß der Gedanke, dass wir damit auf Weihnachten zusteuerten, behagte mir nicht.

»Komm. Wir werden uns in die Geschäfte kämpfen müssen. Lass uns gehen.« Sophie hakte sich freudig bei mir ein, aber es hatte wie eine Drohung geklungen. Obwohl sie so zart gebaut war wie ich, weil Maman sich geweigert hatte, ihre Kurven an uns zu vererben, zog sie mich energisch durch die Eingangstüren. »Ich habe ein paar Ideen für Maman«, erklärte sie. »Und danach zeige ich dir das Bienenvolk, das Cupcakes auf einer Etagere dekoriert und Zuckerguss auf eine Torte spritzt.«

Abrupt blieb ich stehen und starrte Sophie mit offenem Mund an, aber sie zog mich kichernd weiter. Ich folgte. Quer durch das Erdgeschoss mit seinem Überangebot an Parfum, Schmuck, Uhren und Luxuskosmetik. Je schneller diese Tortur hinter mir liegen würde, desto besser.

Wie es nicht anders sein konnte, landeten wir zunächst im Herzstück des Warenhauses. Um uns herum standen Pop-up-Stores von Dior, Chanel, Givenchy und Guerlain, die ihr teures Sortiment präsentierten. Aber wir alle schauten nach oben auf den geschmückten Weihnachtsbaum. Jedes Jahr fand eine Kooperation mit einem anderen Designer statt – in vergangenen Jahren mit Piaget und auch Swarovski –, um in monatelanger Planung dieses Kunstwerk zu kreieren. Wo man auch hinblickte, gab es jemanden, der mit dem Finger darauf wies und staunte, wie dieses Monstrum, das mehrere Stockwerke bis zur Gebäudekuppel in die Höhe ragte, nicht zu Boden stürzte. Jedes Weihnachten schien der Sapin de Noël, der Weihnachtsbaum, noch eindrucksvoller zu werden. Glitzerregen hing an der Unterseite hinab, jeder Zentimeter des Baumes schimmerte individuell im Licht und anstatt überwältigt von all den Farben, Lichtsprenkeln und auch Parfumwolken der Pop-up-Marken zu sein, konnte ich mich nicht sattsehen. Für mehrere Minuten sog ich den Anblick auf, ohne mich zu regen. Der Baum war nicht weihnachtlich, sondern hatte sein eigenes Thema. Pinkfarbene Blümlein und rosafarbene Ranken, riesige weiße Kugeln, die mich an den Froschkönig erinnerten, neben großen Blüten, die aus Federn oder tropischen Muscheln kreiert zu sein schienen, brachten ihren eigenen Zauber mit sich. Der Baum musste dem Schlaraffenland entsprungen sein.

Das Gebäude selbst fügte sich perfekt in das romantische Kunstwerk ein. Jedes Stockwerk wirkte wie ein Balkon eines Schlosses, wo Interessierte standen, und war umzogen mit einem kleinen Bogen, in den Ornamente gezogen waren.

Lichter begannen an der Kuppel und am Baum zu erglimmen, hell klingende Flöten und Glocken erklangen sanft wie fallender Schnee. Innerlich bereite ich mich darauf vor, tanzende Lebkuchenmänner durch den Himmel fliegen zu sehen, weil das Ambiente dafür sorgte, dass man sich selbst wie in einem Märchen vorkam. »Bleiben wir für die Lichtershow?«

Sophie machte große Augen und schüttelte langsam den Kopf. »Nope. Die findet eh alle dreißig Minuten statt und vielleicht haben wir währenddessen ein bisschen mehr Platz in den Geschäften.«

»Hey! Du wolltest hierher«, erinnerte ich sie.

»Weil Maman hier wohnen würde, wenn sie könnte.« Womit sie recht hatte. Unsere Mutter war gelernte Innenarchitektin und lebte in einer Welt, in der Teppiche über dreitausend Euro kosteten. Damit konnte selbst ich fast drei Monate Miete bezahlen. Aber Maman hatte sich ihr Leben hart erkämpft. Es hatte Jahre gedauert, bis sie sich langsam ein Image aufgebaut hatte. Dass sie aussah, als wäre sie direkt aus dem Chanel-Flag-Store in der Rue Cambon marschiert, hatte sicherlich beim Branding geholfen.

Ich warf noch einen Blick zu den Balkonen der einzelnen Stockwerke, wo Menschen sich am Geländer versammelten, und folgte dann Sophie in den ersten Stock zu Damenluxus- und Designerkram und noch mehr Parfum. Insgeheim war ich froh, dass sie wusste, was Maman gefallen könnte. Lafayette hatte viele Stockwerke, sodass ich problemlos verloren gehen konnte. Das Finden eines Geschenks für Maman war eine Herausforderung obendrauf. Zudem konnte sie sich eh alles leisten, was ihr gefiel, und hatte vermutlich bereits die neuen Kollektionen von allem entdeckt. Der einzige Vorteil war, dass Maman immer einen vollen Terminplan hatte und nicht alle Geschäfte in ihrer Nähe das gesamte Sortiment führten. Wie Chanel war sie der Meinung, dass man Luxusgüter nicht online zu kaufen hatte. Da ging ein Teil der Erfahrung verloren. Für sie oder die Person, von der sie beschenkt wurde.

Sophie würde wissen, was Maman bisher nicht hatte ergattern können.

Wir wuselten durch die Geschäfte, bestaunten die schöne Kleidung und prüften alles auf Mamans Geschmack. Sie liebte Farbtupfer und fand es schrecklich, im eintönigen Einheitsbrei unterzugehen, sodass wir jedes farbenfrohe Kleidungsstück und jede Designerhandtasche einer Limited Edition – denn die waren tendenziell bunter – in den Händen hielten. Vieles kostete so viel, dass es einen faden Beigeschmack hatte. Mein Praktikum war bezahlt, meine Miete wurde trotzdem von Mamans Konto abgebucht. Da Sophie noch studierte, übernahm Maman alle Kosten. Alles Gekaufte war also nur indirekt ein Geschenk.

»Vielleicht sollten wir einfach etwas basteln, kreieren oder backen? Keine Ahnung.« Ich seufzte und hing einen smaragdgrünen Blazer wieder an den Haken zur Kollektion. Der kritische Blick der Verkäuferin ruhte auf uns. Bestimmt hatte sie gerade zur Weihnachtszeit regelmäßig straßenarme Studenten in der Boutique, die von der Zukunft träumten. Die Raumluft hatte etwas von Kirsche und Tannen und lockte neben den glitzrigen Schneeflocken am Fenster zu den Waren. Was offensichtlich funktionierte.

»Maman würde mit den Augen rollen«, widersprach Sophie mir. »Was soll sie mit einer Torte, die wir leckerer in der Patisserie bekommen, oder einer Batikdecke, bei dessen Anblick sie Hautausschlag bekommt? Sofern dir nichts Blumiges einfällt, gibt es etwas Materielles. Und Zeit. Und ein Lächeln.« Sie strahlte mich übertrieben an, während sie an den Kleidern vorbeischritt und alle paar Meter etwas hervorzog. Ich musste Sophie zustimmen. Vor allem weil meine Blumenleidenschaft eben nur das war: eine Leidenschaft. Ein kleiner Zeitvertreib am Wochenende, eine Ausrede, um Yvette zu sehen. Weil jeder frische Blumen im Haus mochte. Aber er war genauso vergänglich. Einen neuen Blazer konnte Maman die nächsten zehn Jahre tragen, falls er nicht aus der Mode geriet. Blumen würden verwelkt sein, bevor das Jahr vorbei war. Und Maman verdiente etwas Langlebiges.

»Hey, ist das nicht dieser grässliche Schal, den du so schön findest?«, rief Sophie und senkte die Stimme, als sie bemerkte, wie schlecht sie über das Accessoire sprach. Ich trat zu ihr und schaute auf den Glastisch, wo Schals, Mützen und Handschuhe ordentlich drapiert waren. Immer farblich passend beieinander. Meine Schwester deutete auf einen senfgelben Schal. Diesen Schal. Vor ein paar Wochen, als Sophie und ich gemeinsam frühstücken und danach bummeln gewesen waren, hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen. Und war bei dem Preis gedanklich hintenübergekippt. Der Schal war so weich, wie sich eine Wolke am Himmel anfühlen musste, sodass man die ganze Zeit mit der Hand drüber streichen wollte. Ganz schlicht in Senfgelb. Meiner Lieblingsfarbe. Fröhlich wie die Sonne, bloß nicht so blendend, sondern heimelig. An beiden Enden hatte der Schal gezwirbelte Fransen, die ich ständig flechten und wieder auseinanderzupfen würde, besäße ich ihn.

Der Schal war reduziert.

»Wieso ist der rabattiert? Es ist kurz vor Weihnachten und in ein paar Wochen wird alles leer gekauft sein«, wunderte ich mich. Aber Sophie zuckte mit den Schultern.

»Ist doch egal. Hol ihn dir. Ist deine Farbe.«

Vorsichtig, weil er nicht mir gehörte und die Kleidung in dieser Boutique dadurch noch kostbarer wirkte, strich ich mit den Fingern über den Stoff. Genauso weich wie in meiner Erinnerung. Perfekt zum Einkuscheln. Und eine nette Abwechslung zu dem Ding um meinen Hals, das inzwischen mehr aus Knötchen als aus Stoff bestand. »Wirst du ihn dir ausleihen und nie wieder zurückgeben?«

Abwehrend hob Sophie die Hände. »Ich kann nichts versprechen. Dieses komische Senfgelb steht eben uns allen.« Unsere Haut hatte einen leichten Olivstich, der durch dieses vermeintlich komische Gelb strahlte.

Ich zögerte. Ja, ich brauchte einen Schal. Aber nur weil der jetzt zufällig reduziert war? War bestimmt ein Etikettierfehler. »Vielleicht später. Lass uns erst mal etwas für Maman finden.«

Hinter mir erklang ein Seufzen und ich wirbelte herum. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzte mein Blick mit dem eines Mannes. Er hatte dunkle, lockige Haare, die an allen Seiten aus seiner Mütze herausdrängten, und wahnsinnig dunkle Augen. Aber dann war der Blickkontakt auch schon wieder vorbei und er stürmte mit den Händen in den Taschen aus dem Geschäft. Er hatte ohnehin nicht so ausgesehen, als würde er sich inmitten der Designerkleidung wohlfühlen. Eher in einem Spielzeuggeschäft. Weil seine Mundwinkel trotz des genervten Tons doch noch ein Schmunzeln umspielt hatte. Ich wand mich wieder Sophie zu, die mich verwundert anblickte.

»Was ist?«

»Hast du den Mann gerade gesehen?«

»Den Mann, der offensichtlich kein Verständnis dafür hatte, dass du einen fast geschenkten Schal nicht wertschätzen kannst? War er attraktiv? Hätte ich früher aufschauen müssen?«

»Ja, der.« Obwohl er längst verschwunden war, wusste ich noch haargenau, wie er aussah. Groß gewachsen, ungefähr in meinem Alter, zumindest biologisch. Denn wer trug in unserem Alter eine bunt geringelte Mütze zum Shoppen? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn kannte. Warum sonst hatte ihn meine Meinung zum Schal interessiert? Komisch, dass mir seine Anwesenheit nicht aufgefallen war, bis er fast neben uns gestanden hatte.

»Ach, ist doch egal. Vielleicht findet er keine Weihnachtsgeschenke und du hast ihm aufgezeigt, wie kompliziert wir alle sind.«

Ich nickte, war aber nicht überzeugt. Was mich selbst ein wenig nervte. »Lass uns noch mal in den anderen Laden, wo du diesen Seidenschlafanzug gesehen hast. Der war bisher am besten, oder?«

»Okay, ich folge dir. Aber ich muss kurz noch mal zur Kasse. Schau weg«, raunte Sophie und streckte bereits die Hände nach dem Schal aus, was mich zum Kichern brachte. Wir waren zu alt, um voreinander geheim zu halten, was wir uns schenkten. Dass Sophie trotzdem so ein Tamtam veranstaltete, gehörte zum Geschenk dazu.

Ich trat aus dem Geschäft und schlenderte langsam zu der Boutique mit dem Seidenschlafanzug. Er würde zu dem Nacht-Set bestehend aus Kopfkissenspray, Schlafbrille, Ohrstöpsel und Haartuch passen, das wir Maman letztes Jahr geschenkt hatten.

Weihnachten versprach immer eine gewisse Hektik. Der Kaufrausch wurde jährlich in allen Medien kritisiert, aber irgendwie konnte ich mich da nicht einklinken. So schön, wie es hier geschmückt war. Als wäre jeder Zentimeter mit einem Fünkchen Liebe versehen worden. Manche Geschäfte waren in Weiß dekoriert, andere versprachen kuschlige Momente und hatten ihre Ware unter einem verzierten Weihnachtsbaum als Geschenke präsentiert. Damit man auch ja die richtige gedankliche Verknüpfung machte. In einem Laden hingen mit Baumwolle umwickelte Äste mit durchsichtigen Kugeln von der Decke. Musste spaßig gewesen sein, alles zu dekorieren. Im Hintergrund erklang erneut die Musik des Sapin du Noël und wie automatisch füllten sich die Balkone nahe diesem. Der Anblick, wie fremde Menschen plötzlich Schulter an Schulter auf eine riesige Deko-Konstruktion blickten und wieder die kindliche Freude in sich entdeckten, brachte mich zum Schmunzeln.

Als wir das Geschäft mit Mamans Geschenk betraten, nahm ich großzügig Abstand von den Stechpalmenzweigen, an denen ich mich beim vorigen Betreten der Boutique gepikst hatte. Sophie suchte den Schlafanzug, ich blieb nahe des Eingangs stehen, weil mein Handy klingelte.

Maman. Als ob sie spürte, dass es gerade um sie ging.

»Hi, Maman, alles gut?«

»Laure-Anne, Schatz, du hast noch nicht auf meine Nachricht geantwortet, wie viele Leute du an Weihnachten mitbringst. Ich muss planen.« Ich schmunzelte über Mamans direkte Worte. Sie war im Arbeitsmodus und kam sofort zum Punkt. Erst im Nachhinein fiel ihr häufig auf, wie kurz angebunden sie gewesen war.

»Ich werde vermutlich niemanden mitbringen.« Die Frage wollte ich so sehr umgehen, wie den Abend, den Maman geplant hatte. Es war jedes Jahr ein Fiasko, aber letztes Jahr hatte ich höchstpersönlich dem Ganzen die Krone aufgesetzt und allen Weihnachten vermiest.

»Wieso denn? Was ist mit Lou? Sie war vor zwei Jahren schon mal bei uns, oder …«

Jetzt war ich diejenige, die seufzte. »Weil sie Streit mit ihrer Familie hatte. Inzwischen ist alles wieder gut und sie feiert natürlich dort.« Eventuell. Sie fand meine Alternatividee gar nicht so doof. Aber wie sollte ich Maman darauf vorbereiten? Weihnachten ohne Weihnachten.

»Und deine anderen Freunde?«, bohrte sie weiter. Sophie stand an der Kasse und stöberte im Krimskrams, der dort angeboten wurde. Irgendwie fand sie immer etwas. Maman kannte die Namen von Lous Freunden nicht, weil ich sie nie erwähnt hatte. Auch wenn ich die Leute seit ein paar Jahren kannte, würde ich sie niemals zu Maman nach Hause einladen. Was komplett Mamans Meinung widersprach. Sie fand, dass man an Weihnachten so viele Familien wie möglich zusammenbringen musste. Aber war das nicht nur die Kompensation für unsere halbe Familie? Damit der leere Stuhl nicht auffiel, nur weil Pobacken anderer Menschen sich draufquetschten?

»Feiern auch mit ihren eigenen Familien. Und wenn wir schon dabei sind: Brauchst du Sophie und mich wirklich an beiden Tagen? Reicht der Fünfundzwanzigste nicht eventuell?« Aus Angst vor der Reaktion meiner Mutter hielt ich die Luft an.

»Was hat das mit Sophie zu tun?«

»Ach, sie steht neben mir. Wir sind bei Lafayette«, erklärte ich.

»Oh, wie schön. Dann möchte ich euch gar nicht weiter aufhalten. Geht unbedingt auf das Dach. Das Wetter ist hinreißend heute«, empfahl Maman und legte nach kurzem Verabschieden auf. Sie wusste, dass sie noch keine zufriedenstellende Antwort aus mir bekommen würde.

Während Sophie auf mich zutrat, ging mir erst auf, dass meine Mutter meine Frage nicht beantwortet hatte. Ganz bewusst nicht. Statt wütend zu werden, ignorierte sie meinen schrägen Vorschlag einfach.

Aber war es so ungewöhnlich? Lou und ich hatten letztens darüber gesponnen und je öfter ich die Gedanken kreisen ließ, desto besser fand ich die Idee. Weihnachten in Paris. Ohne Familie. Mit Freunden und Bekannten. Mit ganz viel Rosé. Und bestelltem Essen von einem Restaurant bei uns im Block. Bei einigen davon waren wir so oft zu Besuch, dass die selbst an Weihnachten unsere Bestellung dazwischenschieben würden. Klang das nicht gemütlich? Ganz ohne konventionellen Zwang und Traditionen, die man vergeblich aufrechterhalten wollte, nicht realisierend, dass nur der Krampf geblieben war. Bloß in einer neuen Konstellation.

»Du ziehst so eine Schnute, muss ich den Schal umtauschen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte Maman am Telefon und wir haben unterschiedliche Meinungen zum Weihnachtsabend.«

»Weil du auf das Thema scheißen möchtest, weil dein Typie dich letztes Jahr direkt davor verlassen hat. Schon klar.« Autsch. Sophie rollte mit den Augen. Für sie war der Grund nicht ausreichend genug. Es war eher ein Argument, um es sich dieses Jahr noch gemütlicher zu machen. Von meinem Ex wollte ich nichts mehr wissen, aber dieser Gegensatz aus Gefühlen für ihn und seinem neutralen Tonfall, als es geendet hatte, hämmerte immer mal wieder auf mich ein. Einen Moment lang brauchte ich, um mich zu sammeln und die Erinnerung an die mentale Ohnmacht zurückzudrängen.

»Quatsch. Nicht deswegen. Weihnachten ist eben generell nicht mein Ding. Jedes Jahr nicht. Letztes Jahr war bloß die Kirsche auf der nicht fest gewordenen Sahnetorte. Und vielleicht würde ich dieses Jahr gerne …« Der Satz blieb in meinem Hals stecken, traute sich nicht hervor.

Sophie hakte sich wieder bei mir ein und zog mich aus dem Geschäft. »Deine Lieblingsfarbe sollte grinchgrün sein. Wäre das nicht passend?« Mit dem Ellenbogen stieß sie mir in die Seite, aber mir war das Lachen vergangen. Plötzlich nervte mich diese aggressive Massendeko. Überall sprangen einem Schilder mit »Joyeux Noël!« und »Bonne fêtes!« entgegen, als ob man noch nicht wüsste, dass man auf diesen grausigen Tag zusteuerte. Das war doch für jeden ein Schlag ins Gesicht, der das Fest der Liebe dieses Jahr anders als erwartet feiern musste. Aber nein, alle dachten an die potenziellen Heiratsanträge, plötzlich trugen alle Diamanten und Hoffnungen an den Fingern und am Dekolleté. Leere Versprechen, die man derzeit einfach noch nicht durchschaute.

Meine Meinung stieß gegen die der Mehrheit an, aber so war es nun mal. Weihnachten war doof. Jedes Jahr aufs Neue. So oft hatte ich mir große Hoffnungen gemacht, mich wahnsinnig drauf gefreut. Und jedes Jahr wurde ich erneut getäuscht. Angefangen mit Papa, der zu seiner Kollegin zog und uns als Familie stehen ließ, und endend bei meinem Ex-Freund. Am ersten Advent letztes Jahr hatte er erkannt, dass er noch in seine Ex verliebt war, die er in den drei Jahren Beziehung mit mir nicht gesehen hatte. Oder vielleicht ja doch. War inzwischen auch egal.

Die Gedanken wollten nicht von allein verschwinden, sodass ich Sophie an die Eisbahn auf dem Dach erinnerte, die sie dadurch wie erwartet sehen wollte. Ich nicht, aber die Suche nach dem Weg nach oben lenkte ab. Die Bahn war nicht groß, rund hundertsechzig Quadratmeter bestehend aus irgendeinem gekühlten Plastik, das energiesparend war. Es war sehr voll, aber man konnte gratis ein paar Runden drehen, sich Schlittschuhe ausleihen und generell die frisch-knackige Luft genießen. Und sich hoffentlich nicht daran erinnern, dass das Kaufhaus Printemps direkt nebenan war.

Die Dekorationen hier oben waren geradezu unscheinbar. Nur ein paar Weihnachtsbäume, die lediglich mit einer Lichterkette bekleidet nackt wirkten. Wir beobachteten ein paar Minuten, wie fremde Menschen jeden Alters ihre Runden auf dem Eis drehten, dann genossen wir die Aussicht. Vom Boulevard Haussmann, den erleuchteten Straßen, über das Sacre-Cœur oder Grand Palais bis natürlich zum Eiffelturm. Wie allabendlich zu jeder Jahreszeit war er erleuchtet.

---ENDE DER LESEPROBE---