Daresh – Im Tal des Kalten Feuers - Katja Brandis - E-Book

Daresh – Im Tal des Kalten Feuers E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Seitdem Rena und ihre Freunde Daresh den Frieden gebracht haben, sitzt Rena als Mitglied des Gildenrates in der Felsenburg. Doch dann wird ein Bote der Feuergilde vergiftet — auf seinen Lippen die Warnung vor dem Propheten des Phönix, dem immer mehr Feuerleute folgen. Gemeinsam mit ihrem Freund Rowan zieht Rena los, um Alix zu finden, die seit über einem Winter verschollen ist. Denn nur die Schwertkämpferin kann Rena in das Tal des Kalten Feuers einschleusen, in dem der gefährliche Prophet sein Hauptquartier errichtet hat ... Band 2 der faszinierend-phantastischen Trilogie von Bestsellerautorin Katja Brandis

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Seitenzahl: 422

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Katja Brandis

Daresh

Im Tal des Kalten Feuers

 

 

 

 

Biografie

 

 

Katja Brandis, geb. 1970, studierte Amerikanistik, Anglistik und Germanistik und arbeitete als Journalistin. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Romane und Sachbücher für junge Leser*innen veröffentlicht, darunter die Bestsellerserien »Woodwalkers« und »Seawalkers«. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

I. TeilSchatten

Die Nachricht

Berühmt zu sein stellen sich viele lustig vor, dachte Rena gequält. Aber das ist es nicht. Jedenfalls nicht wenn man als jüngstes Ratsmitglied in der Felsenburg sitzt. Dann ist es einfach nur öde.

Heute war schon wieder eine Sitzung. Seit einem halben Sonnenumlauf hockten sie im prächtigen Hauptsaal des Rates und diskutierten irgendwelche Formalitäten.

»Wir müssen diesen Punkt noch klären«, sagte Ennobar gerade, der wichtigste Vermittler der Regentin und einer von Renas Freunden. Er war ein selbstsicherer, weltgewandter, manchmal arroganter Mann mit dem empfindsamen Gesicht eines Künstlers. Vor einem Winter, als Rena in die Felsenburg gekommen war, hatte er sie unter seine Fittiche genommen und vieles gelehrt. »Aus der Provinz Vanamee gab es eine Anfrage: Ist es ein Verstoß gegen den Pakt, wenn Menschen verschiedener Gilden sich gegenseitig beleidigen? Das ist zwar kein tätlicher Angriff, aber es stört auch den Frieden.«

»Kommt drauf an, was gesagt wird«, antwortete einer der anderen Delegierten, eine ältere Frau der Erdgilde. »Irgendwo muss man die Grenze ziehen.«

»Ja, der Rat sollte eine Liste nicht akzeptabler Wörter zusammenstellen«, meinte ein anderer.

Rena hatte schon aufgehört, zuzuhören. Sie sehnte sich danach, durch den Weißen Wald zu streifen, etwas mit Rowan zu unternehmen oder sich mit den Iltismenschen zu unterhalten. Irgendetwas mit Menschen zu tun zu haben, statt hier sitzen zu müssen. Ihre Augenlider wurden immer schwerer. So sehr sie sich bemühte, sie wurden unwiderstehlich nach unten gezogen …

Verdammt, du kannst jetzt nicht einfach bei der Sitzung einschlafen, schalt sich Rena und riss die Augen wieder auf. Du hast schließlich einen Ruf zu verlieren! Seit sie es auf ihrer gefährlichen Reise durch die Provinzen mit ihren Freunden Alix und Rowan geschafft hatte, die verschiedenen Gilden zum Frieden zu überreden, kannte in Daresh jeder ihren Namen. Das war auch der Grund, warum sie im Rat saß, obwohl sie erst siebzehn Winter alt war. Doch wenn sie geahnt hätte, was das für eine Quälerei werden würde, hätte sie gleich abgelehnt.

Rena überlegte, ob sie nicht behaupten sollte, sie hätte Erdfieber. Dann hatte sie ein paar Tage Ruhe vor diesen Sitzungen. Nein, ein Fall von Schattenmilben war besser. Dann brauchte sie sich nicht ins Bett zu legen und konnte in den Wald, denn Sonnenlicht ließ Schattenmilben abfallen.

Gerade, als Rena darüber nachgrübelte, wie sie ein paar Milben zum Mitmachen überreden konnte, bemerkte sie den Tumult im Gang vor der Ratskammer. Dort rumpelte und rumorte es, als wütete eine Bande von Iltismenschen.

»Sofort!«, brüllte jemand. »Sofort, nicht erst später!«

Von der Antwort war nicht so viel zu verstehen. »Ihr könnt jetzt nicht rein … Ratssitzung … nicht stören …«

»Die Räte werden euch an den Zehen aufhängen, wenn ihr mich nicht sofort einlasst! Ich … Ja, verdammt, das müssen sie … Nein, jetzt!«

Ein dumpfer Schlag folgte, dann klirrte Metall auf Stein. Jemand schrie etwas von den Barbaren der Feuergilde.

Die Delegierten hatten ihre Diskussion unterbrochen und blickten nun alle zur Quelle des Aufruhrs hinüber. Ennobar seufzte, schritt zur Tür und riss sie auf. »Was beim Erdgeist ist hier los?«

Rena lehnte sich vor, um besser sehen zu können, und stieß mit einem Delegierten der Luftgilde zusammen, der den gleichen Gedanken gehabt hatte. Im Gang wälzten sich drei Wachen, ein Diener und ein Mann, den niemand von ihnen je gesehen hatte. Es war ein bärtiger Schmied in der schwarzen Tracht seiner Gilde; im groben, nach Schweiß und Rauch riechenden Stoff seines Umhangs waren viele kleine Brandlöcher, wahrscheinlich von umherfliegenden Funken. Als die Wachen Ennobars Stimme hörten, versuchten sie sich schwankend aufzurichten und Haltung anzunehmen. Auch der Fremde stand auf.

»Wer seid Ihr?«, fragte Ennobar mit einer Spur seiner alten Arroganz. »Ihr stört uns bei der Besprechung wichtiger Fragen!«

Wichtiger Fragen, dass ich nicht lache, dachte Rena.

Der Schmied blickte Ennobar misstrauisch an. »Ich will den Frieden erhalten helfen«, sagte er schließlich. »Aber ich kann nur sprechen, wenn ich weiß, dass das Wissen nicht in falsche Hände gerät.«

»Hier ist der Rat der vier Gilden versammelt, er hört Euch zu«, entgegnete Ennobar ungeduldig. »Wenn Ihr kein Vertrauen in den Rat habt, in wen dann? Nun sagt schon, was Ihr so Wichtiges zu sagen habt, und haltet uns nicht länger auf.«

Der Mann in der schwarzen Tracht lachte. Es war ein sprödes, nicht besonders heiteres Lachen. »Was ich Euch zu sagen habe, wird Euch noch länger aufhalten, Höfling.«

Rena wusste, ohne hinzusehen, dass Ennobar bei dieser Bezeichnung die Lippen zusammenkniff. Er hatte zwar der Regentin Treue gelobt und für sie seiner Gilde, den Erdleuten, abgeschworen, aber das ließ er sich nicht gerne unter die Nase reiben.

»Ich komme gerade aus Tassos«, begann der Schmied. »Hätte die Provinz beinahe nicht mehr verlassen. Sie wollten nicht, dass ich rauskomme.«

»Wen meint Ihr mit sie?«, fragte Ennobar. Es war still geworden im Rat, seine Stimme hallte von den Steinwänden des Sitzungsraumes wider.

»Meine Gildenbrüder. Ja, es ist schwer zu glauben. Aber wahr. Etwas … Seltsames geht mit ihnen vor. Ihnen brennt das Blut in den Adern, ihr Kopf ist voller Rauch. Sie haben sonderbare Ideen, sie sind begeistert von Dingen, die düster sind und gefährlich.«

»Fahrt fort«, sagte Ennobar und wies auf einen leeren Platz in der Runde. Erschöpft ließ sich der Mann in einen der Stühle sinken. Ein Diener brachte einen Krug Cayoral, und Aron, einer der Delegierten der Feuergilde, schenkte ihm ein. Der herbe Geruch des Kräutergetränks wehte zu Rena hinüber. »Hier, tanu, Bruder, trink.«

»Auch mich hat es mitgerissen«, fuhr der Schmied mit heiserer Stimme fort. »Wir haben geredet, viel geredet, davon, dass Tassos so wichtig werden würde wie nie eine Provinz zuvor. Wie Daresh durch das Feuer des Propheten gereinigt werden würde. Es war eine Idee, wie sie nur einmal in tausend Wintern die Welt erobern kann.«

Die Delegierten begannen wild durcheinanderzureden.

»Sicher nur einer dieser Kulte! Das braucht man nicht ernst zu nehmen.«

»Aber wie konnte er sich so schnell verbreiten?«

»Von wem kommt die Idee?«, krächzte Rena. »Weiß man das?«

»Ja«, antwortete der Schmied, und auf einen Schlag war es wieder still im Saal. »Man nennt ihn den Propheten des Phönix.«

»Wer ist er? Habt Ihr ihn getroffen?«, fragte Ennobar.

Der Mann in der schwarzen Tracht nickte und nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Niemand kennt seinen wirklichen Namen. Ich stand ihm gegenüber, so nah wie ich Euch jetzt gegenübersitze. Er hat viele Anhänger, sehr viele. Sie reden nur heimlich, aber seine Idee verbreitet sich schnell. Und sie planen etwas Großes. Ich weiß nicht genau, was, aber es hat etwas mit dem reinigenden Feuer zu tun. Ich glaube, dass der Prophet alle töten will, die nicht an ihn glauben.«

Entsetztes Murmeln unter den Delegierten. Ennobar bat um Ruhe und erteilte Dorota, der Delegierten der Erdgilde, das Wort. »Ihr wart selbst auch begeistert«, sagte sie. »Warum jetzt nicht mehr?«

Der Schmied kam nie mehr dazu, die Frage zu beantworten. Seine Augen verdrehten sich, bis man nur noch das Weiße sah. Er rang nach Luft und versuchte zu husten, aber er schaffte es schon nicht mehr. Seine zuckende Hand stieß nach dem Becher Cayoral und fegte ihn zu Boden.

Die Delegierten hatte es auf die Füße gerissen. Einige betteten den von Krämpfen geschüttelten Mann auf den steinernen Fußboden. Ennobar zerrte seinen Kragen auf, damit er besser atmen konnte.

»Den Diener!«, donnerte Ennobar. »Schafft mir den Diener her, der das Cayoral gebracht hat!«

Rennende Füße verschwanden in den Gängen.

»Dagua! Ihr versteht doch etwas von Heilkunst.«

»Lasst mich«, sagte Dagua, der Delegierte der Wassergilde, und drängte sich nach vorne durch. »Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit …« Er legte dem Mann die Fingerspitzen an die Schläfen. Die Sehnen an Daguas Hals traten vor Anstrengung hervor, als er versuchte, den Funken des Lebens, der noch in dem Schmied war, zu halten.

Doch es war zu spät. Nach einigen Momenten richtete sich Dagua auf und schüttelte den Kopf. Beklommen sah Rena auf den Toten hinunter. Sie ahnte, dass ihrer Welt etwas Furchtbares bevorstand.

* * *

Kurz darauf ging die Versammlung auseinander, niemand hatte jetzt noch die Kraft, sich auf die Sitzung zu konzentrieren. Rena umklammerte ihren Talisman, ein Stück Windrad, das ihr Rowan einmal geschenkt hatte, und hastete zu ihren Räumen zurück, um Rowan von dem zu erzählen, was passiert war. Wahrscheinlich hatte er es bereits gehört, der Tumult in der Burg musste sich schnell herumgesprochen haben. Noch suchten alle nach dem Diener, der den Becher Cayoral gebracht hatte, doch er war verschwunden, wahrscheinlich schon außerhalb der Burg und auf der Flucht.

In ihren Räumen war Rowan nicht. Rena ahnte schon, wo sie ihn finden würde. Sie rannte die Treppen hoch und schob sich durch den Gang, der nach draußen führte, zur Flanke des Berges hoch über der Erde. Auf einem Sims ohne jedes Geländer hockte Rowan, die sehnigen Arme um die Knie geschlungen. Im Gegensatz zu Rena war ihm Höhenangst fremd.

Ihr Gefährte hatte ein schmales, kantiges Gesicht und hellblonde Haare, die sich weigerten, dem Kamm zu gehorchen. Gerade blickte er mit zurückgelegtem Kopf zum Himmel hoch – normalerweise war sein Blick kühn und oft ein bisschen rebellisch. Doch nun waren seine Züge friedlich, seine blauen Augen spiegelten den blassvioletten Himmel.

Rena presste sich mit klopfendem Herzen und zitternden Knien an die Felswand. Sie zwang sich, nicht an den Abgrund unter ihnen zu denken und blickte ebenfalls hoch. Über ihren Köpfen wirbelten die Wolken in Formen, die es in der Natur nie gegeben hatte. Wie viele Menschen der Luftgilde konnte Rowan das Wetter beeinflussen, und er vertrieb sich die Zeit damit, aus den Wolken kunstvolle Muster zu bilden.

»Und, gefallen sie dir?«, fragte Rowan, wandte den Kopf und lächelte sie an. Er hatte also doch gemerkt, dass sie da war.

Als er ihren Gesichtsausdruck sah, stutzte er, und sein Lächeln verlor sich. »Was ist los? Ist etwas passiert?«

»Ja, es gab einen Zwischenfall … bei der Ratssitzung … ein Schmied, er …« Vor lauter Aufregung lockerte sich Renas Griff um ihren Talisman, er rutschte ihr aus der Hand. Verdammt! Sie schnappte danach, versuchte das Metallstück zu packen, bevor es in den Abgrund fallen konnte, und geriet dadurch selbst aus dem Gleichgewicht.

Rowan reagierte sofort. Geschmeidig kam er auf die Füße, zog sie gleichzeitig in eine Umarmung und drückte sich mit ihr gegen die Felswand, damit sie beide einen festen Stand hatten.

»Danke«, sagte Rena atemlos und krallte die Hand in den Stoff seines hellen Hemdes und die dunkelbraune Lederweste darüber. Dann steckte sie das Stück Windrad wieder in die Tasche, wo es sicher war.

»Also, was ist los?«, wiederholte Rowan. Besorgt blickte er auf sie herab.

Rena atmete ein paarmal tief durch, bevor sie antwortete, und genoss die beruhigende Wärme von Rowans Körper an ihrem.

Sie hatten sich im letzten Sommer ineinander verliebt, als er sie aus den Fängen der Menschenhändler befreit hatte und sie zusammen durchs Grasmeer gereist waren. Als Rena ihr Ziel erreicht und die Gilden Frieden geschlossen hatten, konnte Rowan nicht mehr ins Grasmeer zurückkehren – es war bei den Kämpfen zwischen den Gilden abgebrannt. Seit einem Jahr lebten sie nun gemeinsam in der Felsenburg der Regentin.

Rena richtete den Blick starr auf Rowans Gesicht, auf keinen Fall wollte sie nach unten blicken. Er verstand und nickte. »Komm, lass uns reingehen, dann kannst du mir alles erzählen.«

Sie atmete erleichtert aus. Die Höhe war einfach nichts für einen Menschen der Erdgilde. Gewöhnlich lebten ihre Gildenbrüder und -schwestern in Erdhäusern oder Tunneln.

Als Rowan und sie wieder im Inneren der Burg waren, sprudelte Rena hervor, was geschehen war. Erschrocken schloss er sie noch einmal in die Arme. »Gut, dass dir nichts passiert ist. Wenn du auch von dem Cayoral getrunken hättest …«

»Oder du.« Rena legte die Hand auf sein Hemd, versuchte, seinen Herzschlag zu fühlen. »Es hätte jeden treffen können.«

Es war ein Moment der Nähe, wie sie ihn in letzter Zeit vermisst hatte. So viel ihr Rowan bedeutete … manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie trotz ihrer Liebe immer etwas trennte. War es die Tatsache, dass sie verschiedenen Gilden angehörten?

Ein kleiner Trupp Soldaten kam eilig durch den Gang geschritten und drängte sich grob vorbei. Rowan und Rena mussten sich an die Steinwände pressen, um sie vorbeizulassen, dann verklangen die Geräusche ihrer Stiefel. Einer der Soldaten hatte einen Leuchttierchen-Käfig angestoßen, er prallte gegen die steinerne Wand und warf flackernde Schatten in den Gang. Rowan hielt den schwankenden Käfig an und spähte besorgt hinein. »Alles in Ordnung, Kleiner?«

Das Leuchttierchen zirpte bestätigend, und sie gingen zu ihren Räumen zurück, um den Wachen bei ihrer Suche nicht im Weg zu stehen. Als sie die dicke Holztür hinter sich schlossen, atmete Rena tief durch. Selbst wenn der Verräter sich noch in der Burg befand, hier waren sie sicher.

Die Regentin hatte Rena und ihrem Freund ein weitläufiges Zimmer hoch in einem der Felsflanken des Berges zugewiesen. Es war ein geschickter Kompromiss zwischen den Bedürfnissen von Erdleuten wie Rena, die sich unter der Oberfläche wohlfühlten, und Leuten der Luftgilde, die nur mit Mühe ein festes Dach über ihren Köpfen ertrugen: Schmale, hohe Fenster ließen Licht und Luft herein, aber die Wände aus meterdickem, dunkelgrauem Fels wirkten auf Rena beruhigend. Gildenmeister aus allen Provinzen hatten ihnen als Zeichen ihrer Bewunderung Möbel aus weißem Colivar-Holz gespendet, und das eine oder andere Stück hatte Rena auch selbst geschnitzt. Rowan hatte Matten aus geflochtenem Gras und luftige, blaue Stoffe beigetragen. Trotzdem hatte Rena noch immer das Gefühl, dass Rowan die dunkle Enge der Burg kaum aushielt – er war oft draußen an der Felswand in letzter Zeit. Doch jetzt war nicht der Augenblick, ihn danach zu fragen. »Glaubst du denn, dass es wahr ist, was der Schmied euch erzählt hat?« Unruhig ging Rowan zwischen den großen Stühlen in ihrer Ruhezone umher und ließ die Fingerspitzen über das glatte Holz gleiten.

»Ja, was er sagte klang sehr überzeugend.« Rena zögerte. »Du meinst, die Feuergilde könnte ihn geschickt haben, um den Rat zu verunsichern? Nein, ich glaube nicht. Der Mann war echt.«

»Wie haben die Leute der Feuergilde reagiert, die im Rat saßen?«

»Völlig verblüfft. Sie waren nicht eingeweiht, da bin ich sicher. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie lange nicht mehr in ihrer Provinz waren.«

»Sicher weiß die Regentin Bescheid. Sie hat überall ihre Späher. Ihr entgeht nicht viel.«

»Du meinst, sie hat von diesem Propheten erfahren, aber den Mund gehalten?«

»Vielleicht.« Rowan strich sich nachdenklich durch die widerspenstigen hellblonden Haare. »Weißt du, wer so etwas wissen könnte?«

»Nein, wer?«

»Alix.«

Der Name stand im Raum wie eine Beschwörung, hallte in der Stille nach.

Renas Gedanken flogen zu der Freundin zurück, mit der sie im letzten Sommer so viel erlebt hatte. Sie gehörte zur Feuergilde und war eine der besten Schwertkämpferinnen Dareshs. Alix mit ihren langen kupferfarbenen Haaren. Alix, die in ihrem Leinenkleid immer wirkte, als könnte sie kein Wässerchen trüben – bis jemand den Fehler machte, sie zu bedrohen oder anzugreifen. Die Provinz Tassos, das Kernland der Feuergilde, war ihre Heimat, dort kannte sie jeden Stein und Phönixbaum.

»Ja«, sagte Rena. »Vielleicht weiß sie etwas. Schließlich ist sie eine ehemalige Agentin ihrer Gilde. Gewohnt, die Augen offenzuhalten.«

Auf einmal war Rena den Tränen nahe. Zu Anfang hatte sie viel an Alix gedacht. Doch seit ihre kriegerische Freundin die Felsenburg verlassen hatte, war keine Nachricht mehr von ihr gekommen. Wahrscheinlich waren wir doch nicht so gut befreundet, wie ich gedacht habe, sagte sich Rena. Sonst hätte Alix wenigstens einmal von sich hören lassen! Auch wenn es nur ein kurzes Lebenszeichen gewesen wäre. Zu Anfang hatten Rowan, sie und Dagua, ihr verschmitzter Reisegefährte aus der Wassergilde, noch ab und zu über Alix gesprochen. Doch als die beiden Männer gemerkt hatten, dass Rena dann jedes Mal traurig wurde, hatten sie damit aufgehört.

»Wie es ihr jetzt wohl geht?«, sagte Rena und blickte aus den Fenstern über die Ebene hinaus.

»Schade, dass sie es hier nicht lange ausgehalten hat«, meinte Rowan. »Diese grässlichen Verhandlungen lagen ihr nicht. Zu wenig Geduld, zu viel Energie.«

»Mag sein. Aber warum meldet sie sich nicht?« Rena gestand sich ein, dass sie das verletzte. Schließlich waren Alix und sie einmal so etwas wie Waffenschwestern gewesen.

»Ich wette, die Leute der Regentin haben sie im Auge behalten.«

Rena schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe bei den Spähern nachgefragt, habe ich dir das nicht erzählt? Es war ihnen ziemlich peinlich, sie wollten es erst nicht sagen. Schließlich haben sie zugegeben, dass Alix sie schon nach ein paar Tagen abgeschüttelt hatte.«

»Wahrscheinlich ist sie zurück nach Tassos und hat dort eine Waffenschmiede aufgemacht.«

»Sie wollte wieder reisen, keine Schmiede aufmachen«, beharrte Rena … und wunderte sich über den plötzlich so verbitterten Zug um Rowans Mund, den seltsamen Ausdruck in seinen Augen. Vermisste er das Reisen? Es war sein Leben gewesen ehe sie sich hier niedergelassen hatten.

Doch bevor sie ihn fragen konnte, ergriff Rowan das Wort. »Du hast recht – das mit der Schmiede hätten wir bestimmt erfahren.«

»Hoffentlich ist Alix nichts passiert!«

»Alix und was passiert?« Rowan blickte skeptisch. »Glaube ich nicht. Sie kann gut auf sich aufpassen.«

Einen Moment lang war Rena ärgerlich. Begriff er nicht, dass Alix kein Übermensch war, sondern eine normale Frau, der es auch hin und wieder schlecht gehen konnte? Rena hatte Alix schon einmal an der Schwelle des Todes erlebt, und nur mit viel Glück hatte die Schmiedin es damals geschafft, von dort zurückzukehren.

Da klopfte es, und der Misston zwischen ihnen war wieder vergessen. Rowan ging öffnen. Ein Bote stand auf der Schwelle und verbeugte sich vor ihnen. »Ennobar läßt Euch zur Eilsitzung in seine Räume bitten.«

»Wir kommen gleich«, versicherte Rena, warf sich ihren guten Umhang über die Schulter und steckte sich Messer und Schwert in den Gürtel. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie beides in der Felsenburg noch einmal brauchen würde. Doch wenn sogar im Rat jemand ermordet werden konnte, war niemand sicher.

* * *

In Ennobars schlichten Räumen hatten sich der Kommandeur der Farak-Alit, der Elitetruppe der Regentin, und ein halbes Dutzend Ratsmitglieder eingefunden. Er will den Kreis klein halten, damit wenig nach außen dringt, dachte Rena und führte eine schnelle Bestandsaufnahme durch. Zwei Leute von der Erdgilde: Sie selbst und Dorota, die trotz ihrer schlichten Kleidung und ihrer einfachen Art eine hervorragende Diplomatin war. Dagua von der Wassergilde. Rowan und der Offizier Okam von der Luftgilde.

Von der Feuergilde hatte Ennobar eins der wichtigsten Ratsmitglieder rufen lassen: Aron, ein immer schwarz gekleideter Meister vierten Grades, versank oft in düsterem Schweigen, doch sein Verstand war messerscharf.

Die Männer und Frauen standen unruhig herum – Stühle gab es nur wenige.

»Ah, Rena, Rowan, gut, dass ihr kommt. Wir sind hier, um die ersten Maßnahmen zu besprechen«, sagte Ennobar. Er gab sich keine Mühe, seine Unruhe zu verbergen. »Wir müssen jetzt schnell handeln. Es kann jeden Tag zu Angriffen gegen Garnisonen oder Siedlungen kommen. Angriffe mit Feuer. Die Regentin hat auf meinen Wunsch hin bereits Nachricht an ihre Späher gesandt, dass sie auf ungewöhnliche Vorkommnisse achten sollen.«

»Ich bin dafür, dass wir zusätzlich noch einige Leute ausschicken«, sagte Dorota. »Dieser Kult ist mir nicht geheuer. Nicht nur deshalb, weil meine Gilde das Feuer fürchtet. Es gefällt mir gar nicht, dass er Spione selbst hier in die Felsenburg einschleusen konnte. Haben wir den Mörder inzwischen gefunden?«

Der Kommandeur der Farak-Alit nickte verlegen. »Ja und nein. Einer meiner Leute hat ihn zu fassen bekommen, als er versuchte, ins Labyrinth unter der Burg abzutauchen. Es gab ein Handgemenge … und bevor wir es verhindern konnten, hat der Frevler den Dolch gegen sich selbst gewandt. Er ist tot.«

Auf Ennobars Stirn ballten sich Sturmwolken. »Das heißt, wir sind auch nicht schlauer als vorher. Was wissen wir über den Mann?«

»Er arbeitete noch nicht lange in der Felsenburg, erst seit einem Winter. Aber er stammt aus einer Familie, die der Regentin schon seit Generationen loyal dient und hier wohnt.«

»Man hat ihn also bei uns eingeschleust«, sagte Okam. Sein melancholisches Gesicht war noch eine Spur bitterer geworden.

»Wir könnten versuchen, den Spieß umzudrehen und jemanden in diesen Kult einzuschleusen«, schlug Dagua vor.

»Wie wäre es mit Alix ke Tassos?«, fragte Okam, und einen Moment lang herrschte wieder diese Stille.

Dagua nickte. »Alix hätte das Zeug dazu. Ohne sie hättet ihr damals den Verräter in euren Reihen nie gefunden, nicht wahr, Aron?«

Aron stieß ein Grunzen aus, das wohl Zustimmung ausdrücken sollte. »Sie war unsere beste Agentin. Das Problem ist: Niemand weiß, wo sie sich aufhält. Seit einem Winter schon nicht. Womöglich folgt sie selbst diesem gefährlichen Propheten.«

»Das tut sie sicher nicht«, widersprach Rena wütend. »Solche Allmachtsphantasien waren nie ihre Sache.«

»Deine Loyalität in allen Ehren, Rena, aber wir müssen leider mit allem rechnen«, sagte Ennobar. »Wir können niemandem mehr vertrauen.«

Soso, dachte Rena. Und wieso vertraut er dann den Menschen in diesem Raum? Oder lässt er auch uns bespitzeln, um sicher zu sein, dass wir nichts von dem weitertragen, was hier gesprochen wird?

Rowan schien denselben Gedanken gehabt zu haben. »Richtig: Wir können niemandem vertrauen – außer den Ratsmitgliedern«, sagte er ruhig. »Meister, die schon seit vielen Wintern in der Felsenburg sind, können kaum mit diesen gefährlichen Lehren in Kontakt gekommen sein. Anscheinend ist dieser Prophet ja noch nicht lange in Tassos.«

»Irgendetwas ist da draußen passiert, das wir nicht mitbekommen haben. Trotz unserer Späher«, sagte Dorota traurig. »Trotz der vielen Menschen, die herkommen, um uns Bericht zu erstatten.«

»Das heißt, wir müssen uns vor allen Angehörigen der Feuergilde in Acht nehmen«, sagte Dagua.

Aron knurrte: »Blödsinn! Dann wäre es ja unmöglich, jemanden von unseren Leuten in den Kult einzuschleusen.«

»Ich bin auch dafür, dass wir versuchen, Alix zu finden«, sagte Ennobar. »Jemand muss losreisen und sie suchen. Jemand, der nichts mit dem Kult zu tun haben kann, der sich aber mit den Bräuchen der Feuergilde auskennt.«

Alle Augen richteten sich auf Rena. Sämtliche Delegierte wussten, dass sie versucht hatte, die Gilde zu wechseln, und dass Alix sie in den Bräuchen und Techniken der Feuerleute unterrichtet hatte. Rena zählte zu den wenigen »Zwischengängern« in Daresh, Menschen, die mehreren Gilden angehörten. Sogar ein Feuergilden-Amulett hatte sie, auch wenn sie es sorgfältig vor Blicken verbarg und offen nur die Symbole der Erdleute trug.

Rena starrte zurück. Sie wusste noch nicht recht, was sie von dem Vorschlag halten sollte.

»Ihr könntet inkognito reisen – zwar kennt jeder in Daresh Euren Namen, aber nur wenige wissen, wie Ihr ausseht«, sagte Aron, offensichtlich angetan von der Idee.

»Während du Alix suchst, könntest du dir vor Ort einen Eindruck von der Situation verschaffen«, meinte Ennobar. »Dich umschauen, das Ganze ein bisschen auskundschaften.«

»Soll ich sie begleiten?«, fragte Rowan und fragte Rena mit einem Blick, ob sie damit einverstanden war. Sie lächelte ihm zu. Vielleicht würden sie sich wieder stärker verbunden fühlen, wenn sie zusammen reisten.

Dorota nickte. »Das ist keine schlechte Idee. Wir könnten noch ein paar Leute gebrauchen, die die Augen offenhalten.«

Gute Gelegenheit, endlich mal wieder aus dieser muffigen Burg rauszukommen, dachte Rena. Keine Ratssitzungen mehr, mindestens ein paar Wochen lang! »In Ordnung«, sagte sie. »Ich mach’s.«

»Aber sei vorsichtig«, knurrte Ennobar. »Gerade in Tassos wird es zurzeit ziemlich turbulent zugehen. Nimm ein paar unserer Leute mit. Und schick uns regelmäßig Nachricht. Wann wollt ihr aufbrechen?«

Rena schaute zu Rowan hinüber. Sein Gesicht war ausdruckslos, er gab keinen Hinweis darauf, was ihm recht war. Also antwortete sie »In den nächsten Tagen«, und spürte, wie Aufregung sie durchflutete. Daresh war in Gefahr, wieder einmal … und sie wusste, dass es richtig war, was der Rat plante. Sie musste es fertigbringen, Alix zu finden – irgendwie.

Aufbruch

Rowan wirkte niedergeschlagen, als sie zu ihren Räumen zurückgingen.

»Was ist los?«, fragte Rena und nahm seine Hand. »Warst du mit irgendetwas nicht einverstanden?«

»Nein … doch …« Er seufzte. »Warum sind Ennobar und die anderen eigentlich nicht selbst auf die Idee gekommen, dass es nützlich sein könnte, wenn ich mitreise? Ich bin schließlich ein Händler, bis vor einem Jahr war ich ständig unterwegs!«

»Tut mir leid«, sagte Rena und verzog das Gesicht. »Sie wollten dich bestimmt nicht absichtlich kränken. Der Rat weiß, was du kannst – Organisieren, Verhandeln, Erkunden …«

Ihr Gefährte zwang sich ein Lächeln ab. »Aber du bist die Retterin Dareshs. Wenn es ein wichtiges Problem zu lösen gibt, wenden sie sich an dich und vergessen, dass es mich gibt.«

»Du warst auch daran beteiligt, wir waren gemeinsam auf unserer großen Reise, alle wissen das!«

»Schon gut. Ich hätte es gar nicht erst erwähnen sollen.« Rowan winkte ab. »Wichtig ist, dass wir herausfinden, was mit der Feuergilde los ist.«

»Ja. Das ist es.« Rena fragte sich, wie sehr ihn Alix’ Schicksal interessierte. Zunächst waren die Schmiedin und er sich immer in die Haare geraten, beinahe hätten sie sich duelliert. Später hatten sie sich schätzen gelernt, doch wirklich gute Freunde waren sie nie geworden.

»So, ich gehe schon mal unsere Sachen packen«, sagte Rowan, und wieder wirkte sein Lächeln nicht ganz natürlich. Er strich mit dem Finger über ihre Wange, und Rena versuchte es zu genießen, doch plötzlich fühlte sie sich einsam.

Nachdem Rowan gegangen war, versuchte sie noch eine Weile, die Landkarten zu studieren, doch sie merkte, dass sie dafür zu unruhig war. Also beschloss sie, den Iltismenschen, die in der Burg lebten, einen Besuch abzustatten. Als Rena und ihre Freunde sie vor einem Winter aus ihrer Knechtschaft befreit hatten, indem sie die Quelle unschädlich gemacht hatten, waren sie geflohen. Ihre wilden Jubelschreie würde Rena nie vergessen. Doch einige, denen es nicht gelungen war, sich draußen in den Wäldern einem Clan anzuschließen, waren zurückgekehrt und wieder – diesmal freiwillig – in den Dienst der Regentin getreten.

Die Iltismenschen waren die gefährlichsten der vielen Halbmenschenarten, die in Daresh lebten. Doch Rena brauchte ihre Fangzähne nicht mehr zu fürchten, seit ihr alter Freund, der Iltismensch Cchranlo, ihr die geheimen Worte geschenkt hatte. Deshalb gehörte sie zu den wenigen Menschen, die es wagen konnten, in ihre Räume in den Kellern der Burg zu marschieren. Aber auch die anderen Halbmenschenarten verehrten Rena als Retterin. Rena fand es furchtbar schade, dass Rowan nie mit ihr hierhergekommen war … Er mochte die Halbmenschen und bewunderte die Art, wie Rena mit ihnen umging. Doch sie hatte nicht das Gefühl, dass er nachvollziehen konnte, was sie und diese Wesen verband.

Bevor Rena die dunklen, nach Raubtier riechenden Räume betrat, stieß sie einen leisen Ruf aus, die höfliche Ankündigung, die ihr junger Freund Cchrlanho sie gelehrt hatte. Im Halbdunkel sah sie, dass fünf Köpfe sich ihr zugewandt hatten. Ihre Gesichter wirkten fast menschlich, obwohl sie in eine kurze Schnauze ausliefen und die Ohren pelzige Lauscher waren. Doch ihre geschmeidigen Körper waren unverkennbar nicht menschlich, schmal und mit braun- und cremefarbenem Pelz bedeckt. Die Vorderpfoten ähnelten zierlichen daumenlosen Händen.

»Chrena, ssei willkommen, willkommen ssseist du!«, maunzte einer der fünf, und Rena erkannte einen ihrer speziellen Freunde, Cchrneto, er arbeitete in den Ställen der Regentin. Praktischerweise konnte er recht gut Daresi. Zwar verstand Rena die Sprache der Halbmenschen, seit sie die Quelle berührt hatte, doch sprechen konnte sie sie nicht – ihre Zunge schaffte es nicht, die Fauchlaute zu erzeugen.

Rena setzte sich im Schneidersitz zu den Iltismenschen. »Was gibt es Neues von euch?«

»Wir sssind traurig, dass du bald die Burg verlassen wirssst, Chrena, bald«, sagte Cchrneto.

Rena musste lachen. So war es mit den Geheimnissen des Rats. Die Iltismenschen hörten und sahen alles; es machte keinen Sinn, etwas vor ihnen verbergen zu wollen.

»Habt ihr gewusst, dass sich ein Feind eingeschlichen hat?«

»Ein Feind, ja, ein Feind. Wir haben ihn gewittert. Giftige Gedanken hatte er, giftig!«

»Verdammt, wieso habt ihr denn nichts gesagt!« Fassungslos blickte Rena die fünf Iltismenschen an. »Habt ihr es schon lange gewittert?«

Verlegen begann Cchrneto zu erklären. Rena reimte sich zusammen, dass er vor ein paar Wochen gemerkt hatte, dass mit diesem Diener etwas nicht in Ordnung war. Aber er hatte nicht geglaubt, dass es ernst sei – ein schlechter Mensch eben, und von denen gab es ja reichlich. Und da es kaum jemanden gab, mit dem man reden konnte und sie sich sowieso nicht in die Angelegenheiten der Menschen einmischten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, hatten sie niemandem etwas gesagt.

»O je«, stöhnte Rena. »Gibt es noch mehr Feinde in der Burg? Sagt’s mir besser gleich. Sonst hat das nächste Mal eins der anderen Ratsmitglieder Gift im Becher.«

»Einer von den anderen ist nicht gut. Er versucht vieles zu sehen, was nicht seine Sache ist, vieles. Aber er sieht wenig, denn im Kopf hat er auch nicht viel. Vielleicht ist er ein Feind. Aber vielleicht auch nicht.«

Rena ließ sich den Mann beschreiben – braunhaarig, stark und zweimal so alt wie sie selbst – und stand dann auf. »Das muss ich gleich melden. Seid vorsichtig, ja?«

»Sei sicher und sei stark, Frau der tausend Zungen«, knurrten die Iltismenschen im Chor. Rena verbeugte sich kurz und eilte die Treppen zu den Ratsgemächern hoch. Doch dann entschied sie sich, direkt beim Kommandeur der Farak-Alit vorbeizugehen, und schlug den Weg zu den Dienstbotenräumen ein. Ohne einen Blick hastete sie an den Wandskulpturen vorbei, die die Gänge in ein Panorama versteinerter Bilder verwandelten. Sie kannte die Motive sowieso alle: Links die Jagdszene, rechts ein Relief zu den Feierlichkeiten einer längst vergangenen Sonnenwende, weiter vorne war eine vergessene Gildenfehde festgehalten, die sich vor hundert Wintern zugetragen haben mochte.

Doch bevor Rena die Wachen erreichte, stockte sie. Das war doch Rowans Stimme! Unverkennbar. Jetzt lachte er. Wie ausgelassen es klang. Rena hätte viel darum gegeben, mal wieder gemeinsam mit ihm zu lachen. Aber was machte Rowan hier eigentlich? Normalerweise gab es für ihn keinen Grund, in diesen Trakt der unterirdischen Burg zu kommen.

Vorsichtig setzte Rena einen Fuß vor den anderen und hasste sich gleichzeitig dafür, dass sie den Mann ausspionierte, den sie liebte. Aber die Neugier war doch stärker. Denn eine zweite Stimme antwortete ihm, die Stimme einer Frau. Jemand sprach mit ihm, lachte mit ihm. Nun war Rena so nah, wie sie herankommen konnte, ohne entdeckt zu werden. Sie stand verborgen hinter einer Biegung des Gangs.

»… gibt es angeblich sogar ein Wunderkraut, durch das man sein Schicksal selbst bestimmen kann«, erzählte Rowan gerade. »Auf meinen Handelsreisen habe ich versucht, was von dem Zeug in die Finger zu bekommen, aber es gab immer nur die Gerüchte darüber.«

»Das ist bestimmt gut so«, sagte die Frauenstimme heiter. »Sonst wären ja alle Leute schön, reich, berühmt, glücklich verliebt … und dadurch wahrscheinlich unerträglich!«

Würde Rowan nun etwas über sie sagen? Übers Verliebtsein? Renas Körper spannte sich an.

»Vielleicht war das mit dem Wunderkraut auch nur ein Witz – schließlich kann man sein Schicksal bestimmen, indem man etwas anpackt. Meistens jedenfalls.« Wieder Rowans Stimme. »Außerdem wäre das Zeug so teuer, dass ich es mir bestimmt nicht leisten könnte.«

»Ich denke, Händler sind reich?!«

»Nicht alle. Was ich hatte, ist im Grasmeer geblieben und dort in Rauch aufgegangen. Aber zum Glück ist der Rat großzügig.«

»Scheint mir auch so – jemand, der Not leidet, sieht irgendwie anders aus. Echte Hirschwolle, deine Tunika, oder? Und sind das nicht Perlen?«

»Ach wo, das sind Schneebeeren! Eine Notration für harte Zeiten …«

Zwei Stimmen lachten fröhlich.

Die Versuchung war groß, um die Biegung im Gang zu lugen und zu schauen, mit wem sich Rowan unterhielt. Aber Rena widerstand dem Drang. Auf unbestimmte Art enttäuscht zog sie sich auf leisen Sohlen zurück und wählte einen anderen Gang, der sie zu den Räumen der Wachen brachte.

Sie glaubte zu wissen, wem die zweite Stimme gehörte: Einer der Dienerinnen, Derrie war ihr Name. Ein mageres, dunkelblondes Mädchen, höchstens ein oder zwei Winter älter als Rena, das durch die Gänge huschte wie ein Herbstwind. Wenn man ihr etwas auftrug, war sie manchmal ein bisschen zu freundlich, manchmal übertrieben unterwürfig. Rena wurde nicht schlau aus ihr.

Im Wachzimmer war nur ein junger Bursche. Rena berichtete, was die Halbmenschen ihr erzählt hatten.

»Aber die Iltisse wissen seinen Namen nicht?«, sagte die Wache skeptisch, nachdem er sich ihre Angaben notiert hatte. »Das wird es schwer machen, ihn zu finden.«

»Ich weiß – von diesem Typ Mann gibt es in der Burg Dutzende«, sagte Rena. »Vielleicht ist es auch gar nicht wichtig. Sie waren nicht sicher, ob er gefährlich ist oder nicht.«

»Tja. Wir werden nachforschen.«

Als Rena zu ihren Räumen zurückging, war ihr nicht ganz wohl zumute. Ihre Gedanken kreisten noch um das, was die Iltismenschen gesagt hatten, und um den toten Schmied. War es genug gewesen, so Bescheid zu sagen? Würden die Wachen wirklich gründlich nachforschen? Oder hätte sie sich besser an den Kapitän der Wache selbst wenden sollen? Nein, nach dem Zwischenfall mit dem Schmied würden sie die Sache sicher sehr ernst nehmen.

Ihre Gedanken kehrten zu Rowan und der Dienerin zurück, und sie fühlte sich einsamer denn je.

Abwesend begann sie, Sachen zu packen, die sie auf die Reise mitnehmen wollte. Viel war es nicht, denn das Zeug musste ja in eine einzige geflochtene Tasche passen. Schließlich entschied sich Rena für eine Decke, eine schlichte weiße Ersatz-Tunika, das Messer und das Schwert, die ihr Alix einmal geschmiedet hatte, ein paar Kochutensilien und ein Pfund frische Viskarienblätter als Proviant. Sie reiste gerne mit leichtem Gepäck. Eigentlich hatte sie auch wenig Lust, die Wachen mitzunehmen. Das wäre doch etwas: Nur sie und Rowan, auf dem Weg ins Unbekannte. So wie früher. Aber sie gehörte jetzt, obwohl sie erst siebzehn Winter alt war, zu den Beratern der Regentin, da konnte sie nicht mehr ohne Eskorte reisen.

Sie hob den Kopf, als sich die Tür öffnete und Rowan hereinkam. Ihr Gefährte wirkte abwesend, distanziert. Nichts war davon zu merken, dass er eben noch mit dieser Dienerin gescherzt hatte.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Rowan. »So primitiv wie früher möchte ich nicht mehr reisen. Lass uns eine Dienerin und ein paar Wachen mitnehmen. Und ordentlichen Proviant.«

Von wegen Bequemlichkeit, dachte Rena säuerlich. Er will diese Derrie dabeihaben! Also würde aus dem romantischen Trip zu zweit nichts werden. Aber gut. Es war besser, als die beiden hier in der Burg allein zu lassen. Sie konnte nicht vergessen, wie sie miteinander gelacht hatten.

»Einverstanden«, sagte Rena. »Wie wäre es, wenn wir heute Nachmittag losziehen?« Sie wusste selbst nicht, wieso sie es auf einmal so eilig hatte.

Rowan lächelte. Plötzlich stand er ganz nah vor ihr, so nah, dass sie seinen Atem an ihrem Gesicht spüren konnte. Sie fühlte seine Hand zärtlich über ihren Nacken streichen, und einen Moment lang war alles wie früher. Rena fuhr mit den Fingern durch sein widerspenstiges Haar, schloß die Augen und ließ sich küssen.

»Glaubst du, dass wir auch am Grasmeer vorbeikommen? Inzwischen sollte es nachgewachsen sein …«

»Soso, hast du Heimweh?«

»Ja, habe ich … schon lange. Es waren gute Zeiten damals – du, ich, Alix und Dagua …«

Also hatte sie recht gehabt, es ging ihm nicht gut in der Felsenburg. »Vielleicht kommen sie wieder, diese Zeiten.«

Doch dann klopfte es an der Tür, und einen Atemzug später stand eine Dienerin auf der Schwelle. Verlegen ließen Rena und Rowan ihre Hände sinken.

Die Dienerin war Derrie. Rena nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten: Kurze dunkelblonde, lockige Haare, ein ovales, hübsches Gesicht, ausladende Hüften unter der einfachen Bediensteten-Tracht. An ihrem Hals baumelte das Amulett der Luftgilde – also war sie eine von Rowans Gildenschwestern. Verstanden sie sich nur deswegen so gut?

Derrie ließ sich nicht anmerken, dass sie sie gerade bei Zärtlichkeiten ertappt hatte, ihr Gesicht blieb völlig regungslos. Rena schaffte es nicht, in ihren grünen Augen zu lesen. Auf ihren Lippen lag ein unverbindliches Lächeln. »Der Meister wünschte, dass ich packen helfe …«

»Du könntest dich um die Lebensmittel kümmern«, sagte Rowan schnell. »Wir brauchen Proviant für etwa fünf Leute, es könnte eine längere Reise werden.«

»Sehr wohl«, sagte Derrie, verbeugte sich und zog sich zurück.

»Nettes Mädchen«, sagte Rena, um Rowans Reaktion zu testen.

»Sehr nett. Und zäh. Sie hat eine schwere Kindheit gehabt, ihre Eltern sind in einer Gildenfehde getötet worden. Danach wurde sie von einem Verwandten zum anderen weitergereicht und musste sich ihr Essen oft genug aus Abfallhaufen klauben.«

»Beim Erdgeist«, sagte Rena erschrocken. »Wie ist sie dann zu ihrer Arbeit in der Felsenburg gekommen?«

»Durch pure Hartnäckigkeit. Wer den Willen hat, nach oben zu kommen, schafft es meist auch.«

Die zärtliche Stimmung zwischen ihnen war verflogen. Rowan machte sich geschäftig daran, eine Landkarte und weitere Ausrüstung zusammenzupacken. »Was ist eigentlich unser erstes Ziel? Oder marschieren wir einfach ins Nirgendwo?«

»Als ich damals mit den Spähern gesprochen habe, meinten sie, Alix hätte sie irgendwo im Weißen Wald abgeschüttelt, in der Nähe von Canda. Sie war in Richtung Tassos unterwegs. Aber das ist schon einen ganzen Winter her.«

»Also geht’s erst mal nach Canda. Vielleicht weiß dort jemand etwas von ihr.«

»Hoffentlich«, meinte Rena. »Wir brauchen sie, Rowan. Wie sollen wir es ohne sie schaffen, es mit diesem mysteriösen Propheten aufzunehmen?«

»Ich weiß«, sagte Rowan.

 

* * *

 

Zu ihrem Abschied hatte sich eine richtige kleine Volksmenge eingefunden. Selbst die Iltismenschen der Burg waren gekommen und drückten sich schüchtern am Rand der Menge herum. Rena wurde warm ums Herz, als sie es sah. Wir scheinen richtig beliebt zu sein, dachte sie, als sie mit ihrer Gruppe die hohen hölzernen Tore in die Außenwelt durchquerte. Nur eine hatte sich nicht von ihnen verabschiedet, wohl weil der Anlass nicht wichtig genug war: Die Regentin, die offizielle Herrscherin über Daresh. Zwar war die Felsenburg ihr Sitz, doch seit der Rat der vier Gilden ihr einen großen Teil ihrer Macht genommen hatte, begnügte sie sich meist damit, Symbol zu sein.

Renas Herz schlug schnell, als sie hinaustraten in den Weißen Wald – ihre wahre Heimat, der magische Ort ihrer Kindheit. Es war ein klarer Tag. Sonnenlicht strömte durch die weißen und cremefarbenen Blätter der Bäume und brachte das Laub zum Leuchten. Nicht umsonst hatte Rena für die Reise eine weiße Tunika ausgewählt – in dieser traditionellen Kleidung der Erdgilde war sie in dieser Umgebung perfekt getarnt.

Strahlend blickte sich Derrie um, und Rena lächelte ihr zu. Wahrscheinlich war es Dienern nicht erlaubt, die Felsenburg zu verlassen, und sie hatte lange unterirdisch gelebt.

Rena schlug ein flottes Tempo an. Sie sehnte sich danach, so wie früher leichtfüßig die Waldpfade entlangrennen zu können, doch das ging nicht. Viel zu würdelos. Jedenfalls, solange sie in Sichtweite der Felsenburg waren.

Mit langen Schritten blieb Rowan an ihrer Seite. Er hatte sich eine der schweren Taschen auf die Schultern geladen, so dass Derrie weniger zu tragen hatte. Die Dienerin ging ein paar Schritte hinter ihnen, die beiden Wachen bildeten den Schluss. Es waren Farak-Alit – darauf hatte Ennobar bestanden. Beide waren sehr muskulös und hatten so kurzes Haar, dass man ihre Kopfhaut durchschimmern sah. Besonders gesprächig schienen sie nicht zu sein, nur manchmal redeten sie leise miteinander. Sie trugen ein beeindruckendes Waffenarsenal, je ein Schwert sowie eine Sammlung von Dolchen, Wurfsternen und leichten Ketten. Dagegen kam sich Rena fast schon nackt vor, obwohl sie Schwert und Messer dabeihatte und Rowan sich seine Armbrust – die traditionelle Waffe der Luftgilde – auf den Rücken geschnallt hatte.

Als sie abends ihr Lager aufschlugen, richtete Rena es so ein, dass sie neben Derrie arbeitete. Ihren Brei aus Viskarienblättern – eine beliebte Speise der Waldleute – bereitete Rena immer noch selbst zu, das überließ sie niemand anderem. Für Rowan, die Wachen und sich selbst grillte Derrie ein paar fette Nerada-Vögel. Rena hatte nicht vor, davon zu probieren: Trotz ihrer Zeit mit Alix aß sie immer noch ungern Tier. »Warst du schon mal in Canda?«, fragte Rena, um ein Gespräch anzufangen. »Besonders gut gefallen wird es dir dort nicht, fürchte ich.«

Derrie hatte wieder dieses Lächeln aufgesetzt – ein Dienstbotenlächeln ist das, dachte Rena unwillkürlich. Freundlich und ohne jede Bedeutung. »Wieso meint Ihr das? Weil es eine unterirdische Stadt ist? Ach, das bin ich von der Felsenburg ja gewohnt.«

»Sag einfach Du zu mir! Wir sind doch fast gleich alt.«

»Wie Ihr wünscht«, antwortete Derrie vorsichtig und drehte den Spieß, an dem die Vögel brutzelten.

Rena seufzte. Außerhalb der Felsenburg, in den Provinzen, war es wieder wichtig, wer welcher Gilde angehörte. Und da Derrie zur Luftgilde gehörte und Rena zu den Erdleuten, gab es kein Band zwischen ihnen – normalerweise wären sie sogar Feinde gewesen. Doch die Stimmung zwischen den Gilden hatte sich entspannt, seit die Macht der Regentin gebrochen war, und im Laufe des letzten Winters war ein vorsichtiger Friede in Daresh eingekehrt.

Während Rena darüber nachdachte, begann sie sich zu ärgern, dass sie ihre Gilde und ihre Verwandten vernachlässigt hatte, seit sie in der Felsenburg lebte. Dabei kannte sie eine Menge Leute in der Umgebung: Ihren Onkel, bei dem sie den Beruf der Holzschnitzerin gelernt hatte, in einem Dorf nordöstlich von hier; ihre Eltern im nördlichen Alaak; eine Tante und eine Menge Cousins, im Dorf Fenimor. Bald werde ich sie wieder besuchen, versprach sich Rena. Wenn das mit diesem Propheten ausgestanden ist.

Am nächsten Morgen rollte sich Rena schon früh aus den Decken. Sie zog sich an und blickte zu den anderen hinüber – von Rowan und Derrie, war nur der Haarschopf zu sehen. Auch einer der Soldaten schlief, der andere stand ein paar Meter entfernt und beobachtete Rena.

»Ich gehe ein paar frische Blätter fürs Frühstück sammeln«, sagte Rena zu ihm und wanderte in den Wald hinaus, in dem noch Nebelschwaden hingen. Seit sie die Quelle berührt hatte, spürte sie die Ausstrahlung der Bäume sehr viel stärker als zuvor. Selbst mit geschlossenen Augen hätte sie die Baumarten allein durch ihre Aura voneinander unterscheiden können.

Sobald sie außer Sichtweite des Lagers war, rannte Rena los, lief ausgelassen den Pfad entlang und fühlte sich sehr kindisch und sehr frei. Das Blut pulste durch ihre Adern, und eine unbändige Lebensfreude quoll in ihr hoch. Vor einem großen Colivar blieb sie stehen und atmete tief, lauschte darauf, wie er im Wind sprach. Lief weiter. Legte die Hände auf die zarte Borke eines jungen Nachtholz-Baumes. Stopfte sich den Keimling einer Frühlingsranke in den Mund und ging weiter. Fast hätte sie vergessen, wirklich wie versprochen Blätter zu pflücken. Sie erledigte es hastig und kehrte dann ins Lager zurück.

Schon von weitem hörte sie die Dienerin lachen, und sie spürte, wie sich der graue Schleier wieder über ihr Herz legte. Rowan und Derrie bereiteten gemeinsam das Frühstück zu.

»He, mach nicht so viel Lonnokraut rein, willst du uns vergiften?«, rief Derrie gerade und wand ihm das kleine Ledersäckchen mit den Gewürzen aus der Hand.

»Das ist nicht viel, sag bloß, du verträgst so ein bisschen nicht?«

»Ich vertrage noch ganz andere Sachen, aber dein zarter Magen … au, hör endlich auf, mich zu kneifen, du Natternmensch!«

»Jetzt mal ehrlich, du bist selbst schuld, weil du …« In diesem Moment bemerkten sie, dass Rena zurück war.

»Na, hast du ein paar leckere Sachen gefunden?«, fragte Rowan, das Lächeln noch auf den Lippen.

»Ja«, sagte Rena kurz und wandte sich ab, um ihr Frühstück zuzubereiten. Es tat weh, den beiden zuzusehen. So hatten Rowan und sie früher zusammen gescherzt. Wieso ging das jetzt nicht mehr? Seit wann war er so vertraut mit Derrie? Vielleicht schon seit Monaten.

Während des Frühstücks sprach kaum jemand, schweigend nagten Rowan und die anderen an ihrem Braten. Rena löffelte in Gedanken versunken ihren Blätterbrei. Besser wäre es wahrscheinlich gewesen, einfach mitzulachen und mitzuscherzen, erkannte Rena, als sich Derrie nach dem Frühstück daran machte, das Essgeschirr mit Sand sauber zu scheuern. Dann wäre ich Teil ihres Lachens gewesen, statt die Stimmung kaputtzumachen. Jetzt bin ich für sie die Spielverderberin, und ich habe Rowan noch ein Stück weiter von mir geschoben.

 

* * *

 

Als sie nach vier Tagesreisen in Canda eintrafen, war Rena wieder einmal beeindruckt davon, wie wenig man von der Stadt sah. Oberirdisch bestand sie nur aus ein paar Hütten aus geflochtenem Gras, die wirkten, als würde der erste Sturm sie platt auf den Boden werfen oder auf Nimmerwiedersehen durch die Luft segeln lassen. Doch das waren nur die Quartiere der Luftgilde, alle anderen Vollmenschen lebten im Ganglabyrinth unter der Erde.

»Aaah, Canda«, sagte Rowan und blickte sich lächelnd um. »Hier habe ich mal die Schwungfeder eines Nebel-Adlers erhandelt, für die ich später in Eolus einen halben Jahreslohn bekommen habe.«

»Im Ernst?« Rena war beeindruckt. »Bin gespannt, ob wir hier diesmal etwas finden, was der Mühe lohnt.« Sie hätte sämtliche Federn eines Nebel-Adlers dafür eingetauscht, etwas über Alix’ Schicksal zu erfahren.

»Ich auch«, sagte Rowan und küsste sie flüchtig. Sie besprachen sich kurz mit den Farak-Alit. Schließlich einigten sie sich darauf, dass Rowan – der schon oft als Händler hier gewesen war – mit einem der Soldaten auf Erkundung vorausgehen würde. Rena machte es sich auf der Erde bequem; sie wusste, dass es eine Zeitlang dauern würde, bis die beiden zurück waren. Rowan würde bei seinen Gildenbrüdern ein sicheres Nachtquartier für sie auskundschaften und feststellen, was für eine Stimmung im Ort herrschte. In den Zeiten, als die Gildenfehden überhandgenommen hatten, war das lebenswichtig gewesen, jetzt war es mehr Routine.

Der zweite Farak-Alit hielt aufmerksam Wache, sicherte sie nach allen Seiten. Rena zuckte zusammen, als sie sah, dass er das Schwert hob.

»Schaut mal, ein Dhatla«, rief Derrie leise. Tatsächlich, Rena hörte das schlurfende Geräusch schwerer Grabkrallen, und kurz darauf tauchte der Panzer eines Dhatlas aus dem Schatten der Hütten auf.

Sein Reiter versuchte es fluchend in eine andere Richtung zu dirigieren und hieb mit der Faust auf den dicken Schädel seines Transporttieres. »Wirst du wohl folgen, du dreckiges Mistvieh!«

Dhatlas waren massige Reptilien, an der Schulter etwa zweimal so hoch wie Rena groß war, mit säulenartigen Beinen und langen, flachen Schnauzen. Ihr beeindruckendes Äußeres täuschte: Sie waren eher behäbig denn aggressiv. Was sie gefährlich machte, war ausgerechnet ihre Ängstlichkeit. Denn wenn sie sich in Gefahr wähnten, dann gruben sie sich blitzschnell ein, bis sie komplett unter der Erde verschwunden waren. Sprang man nicht rechtzeitig ab, lief man Gefahr verletzt zu werden oder gar zu ersticken. Und wenn man Pech hatte, büßte man durch diese Eskapaden einen Teil seiner Ausrüstung ein.

Sie waren so beschäftigt damit, das Dhatla und seinen zeternden Reiter zu beobachten, dass sie ziemlich spät merkten, dass Rowan und der zweite Farak-Alit zurückgekehrt waren. Lautlos wie ein Schatten mussten sie sich wieder zu ihnen gesellt haben. »Alles in Ordnung?«, fragte Rena, nachdem sie ihren Schreck überwunden hatte.

»Die Stadt scheint sicher zu sein, Meisterin«, sagte der Soldat.

Als Rena Rowans triumphierendes Grinsen sah, schöpfte sie Hoffnung. »Nicht nur das, ich habe auch jemanden gefunden, der uns Auskunft geben kann«, meinte er. »Die Wirtin einer Schänke hat Alix möglicherweise gesehen.«

»Was!« Drei Augenpaare wandten sich ihm zu.

»Vor kurzem?«, fragte Rena und wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort.

»Nein, es ist schon ein paar Monate her. Aber sie kann sich noch gut an sie erinnern.«

Rena marschierte los. »Das will ich selbst hören. Und zwar jetzt sofort!«

Durch einen der Haupttunnel tauchten sie ein in das unterirdische Labyrinth Candas. Die Tunnel bestanden aus festgestampfter Erde und waren so niedrig, dass Rowan gebückt gehen musste. In der Nähe des Eingangs roch es muffig, nach Feuchtigkeit und Wachstum, doch je tiefer sie kamen, desto stärker wurde der Duft von trockener Erde. Rena sog ihn genüsslich ein. Die meisten Angehörigen ihrer Gilde lebten unterirdisch, und dieser Geruch war ihr vertraut und willkommen.

Käfige mit Leuchttierchen, die hier und da angebracht waren, spendeten ein fahles Licht. Einer der Farak-Alit zündete Fackeln an, so dass die Gruppe in ihrem zuckenden Schein besser erkennen konnte, wohin sie ging. Für Rena wäre das nicht nötig gewesen – sie sah als Einzige von ihnen hervorragend im Dunkeln, ihre Augen fingen noch das geringste Restlicht auf. Neugierig betrachtete sie die Schilder an den massiven Holztüren, an denen sie vorbeikam: Es waren Unterkünfte, Schenken – was man auch an dem Lärm merkte, der hinter den Türen hervordrang – Handelsposten oder Wohnungen der hier lebenden Erdgildenmenschen.

Schließlich kamen sie zu der Taverne, in der Rowan herumgefragt hatte. Rena gab es einen Stich: Es war das gleiche Gasthaus, in dem sie Alix damals zum allerersten Mal getroffen hatte. Vielleicht war das ein gutes Omen; ein Zufall war es bestimmt nicht.

Wie damals stank die Luft in der Kneipe nach Rauch und den Ausdünstungen menschlicher Körper, fast alle Tische waren dicht an dicht mit Menschen besetzt und das Gewölbe hallte wider vom Gemurmel und Gelächter vieler Stimmen.

»Ja, doch, ich kann mich an sie erinnern – diese Frau mit den roten Haaren«, bestätigte die Wirtin, eine dünne Frau mit lebhaften Augen. Sie musste fast schreien, um sich über den Lärm verständlich zu machen. »Sie hat ein paar Leute beim Kelo ausgenommen. Das macht sie immer, wenn sie hier ist, ja! Diesmal hat sie mit ein paar Männern der Feuergilde gespielt. Aber die wurden wütend darüber, dass sie ständig gewonnen hat.«

»Gab es einen Kampf?«

»Ja, die Männer schrien etwas von Falschspiel und Betrug. Es gab eine gewaltige Schlägerei, so viel Ärger hatte ich seit Monaten nicht! Zwei Gäste wurden verletzt, zum Glück sind nur ein paar Stühle zu Bruch gegangen.«

»Ist die Frau verletzt worden?«, fragte Rena besorgt.

»Macht Ihr Witze? Der kann keiner was, die weiß, wie man mit einem Schwert umgeht. Selbst zu dritt konnten die Feuerleute ihr nichts anhaben, deshalb haben sie ja vor Wut noch die Stühle zerschlagen. Bevor ich die Frau bitten konnte, mir den Schaden zu bezahlen, war sie schon weg. Und ich hoffe, dass sie sich so bald nicht mehr hier sehen lässt!«

»Ihr wisst nicht zufällig, in welche Richtung sie weitergereist ist?«, fragte Rena ohne viel Hoffnung.

Die Wirtin wiegte den Kopf. »Ich habe zufällig etwas mitbekommen. In der Unterhaltung ging es um Vanamee …«

Sollte sie in Richtung der Wassergilden-Provinz gereist sein? Rena zögerte. Irgendwie sah das Alix gar nicht ähnlich. Wenn sie etwas hasste, dann mehr Wasser, als man brauchte, um sich damit zu säubern. Und Vanamee war das Land der Seen, der endlosen Wasserflächen und Inseln.

»Gut, dann ist es entschieden, wir reisen in Richtung Vanamee«, sagte sie zögernd.

Derrie strahlte. »Ins Seenland? Ganz ehrlich? Ich wollte es schon immer mal sehen!«

Rowan nickte. »Es wird dir gefallen … und seit Dagua uns freies Geleit gegeben hat, werden wir dort auch keine Probleme haben, schnell voranzukommen. Er gehört ja zum Hohen Rat der Wassergilde.«

Die Farak-Alit nickten und ließen sich wie üblich nicht anmerken, was sie dachten.

 

In dieser Nacht träumte Rena von brennenden Bäumen, von einer schwarzen Ebene, auf der viele dunkle Zelte standen wie ein unheimlicher, symmetrischer Wald. Als Rena auf sie zutreten wollte, kam ihr Feuer entgegen. Es floss wie Wasser, es kroch wie ein lebendes Wesen, ein eigenartiger grünweißer Strom. Rena wich zurück, doch das Feuer folgte ihr, schlängelte sich an ihrem Arm hoch. Es hüllte ihren Körper ein …