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Wie weit würdest du gehen, um die Wahrheit herauszufinden?
Mit farbig gestaltetem Buchschnitt – nur in der gedruckten Ausgabe
Die introvertierte Lucia will durch einen Kletterkurs an der Eliteuniversität Corvina Castle ihre Komfortzone verlassen und trifft dabei ausgerechnet auf ihren Ex-Freund Ben. Lucia passt es gar nicht, dass es erneut zwischen ihnen funkt. Denn Ben ist Mitglied der Studentenverbindung
Fortuna, von der Lucia annimmt, dass sie in den Tod ihrer Mitbewohnerin verstrickt ist. Kann sie mit seiner Hilfe der Wahrheit auf die Spur kommen? Und gibt es für ihre Liebe eine zweite Chance, wenn nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft zwischen ihnen steht? Lucia und Ben müssen sich entscheiden: füreinander oder für ihre persönlichen Ziele.
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Seitenzahl: 456
Das Buch
Die introvertierte Lucia will durch einen Kletterkurs an der Eliteuniversität Corvina Castle ihre Komfortzone verlassen und trifft dabei ausgerechnet auf ihren Ex-Freund Ben. Lucia passt es gar nicht, dass es erneut zwischen ihnen funkt. Denn Ben ist Mitglied der Studentenverbindung Fortuna, von der Lucia annimmt, dass sie in den Tod ihrer Mitbewohnerin verstrickt ist. Kann sie mit seiner Hilfe der Wahrheit auf die Spur kommen? Und gibt es für ihre Liebe eine zweite Chance, wenn nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft zwischen ihnen steht? Lucia und Ben müssen sich entscheiden: füreinander oder für ihre persönlichen Ziele.
Die Autorin
Julia Hausburg wurde 1998 geboren und studierte Bildungswissenschaften, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Katzen in Südbayern, liebt warmen Sommerregen und Schreibnachmittage im Café. Wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Buch arbeitet, findet man sie mit einem spannenden Liebesroman in ihrer eigenen kleinen Bibliothek.
Lieferbare Titel
Dark Elite – Revenge
JULIA HAUSBURG
Roman
Band 2 der Dark-Elite-Reihe
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich am Ende des Buches eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Julia Hausburg und der Heyne Verlag
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Originalausgabe 02/2024
Copyright © 2024 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Nina Bellem
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-30822-3V001
www.heyne.de
Für alle, die die richtige Person zum falschen Zeitpunkt gefunden haben
Maischnee, wohin das Auge reicht. Lächelnd betrachte ich das Feld zu meinen Füßen. Die unzähligen weißen Narzissen, die sich bis ins Tal erstrecken. Hummeln umschwirren die Blütenkelche. Am Horizont zeichnen sich der Genfer See und das Alpenpanorama ab. Für mich gibt es keine schönere Zeit im Jahr.
Ich lasse mich rücklings auf die Picknickdecke sinken und starre in den wolkenlosen Himmel. Er ist blau und klar, die Sonne wärmt mein Gesicht. Ich schließe die Augen, lasse mir die Nase von den Strahlen wärmen und lausche dem Brummen der Insekten.
Wo bleibt Ben nur? Wir kommen jedes Jahr zum Maischnee her. Wenn die Narzissenfelder erblühen und der Frühling wirklich angebrochen ist. Für mich bedeutet er Aufatmen. Einen Neuanfang. Schönheit. Für mich bedeutet er Ben.
Ich setze mich wieder auf, lege mir eine Hand wie einen Schirm an meine Stirn und blinzle den Wanderweg hinunter. Wir hätten gleich zusammen herkommen sollen, aber Ben wollte vorher noch seine kleine Schwester von einer Freundin abholen. Darum bin ich allein hinaufgewandert. Habe den Picknickkorb und die Decke hochgeschleppt. Doch mittlerweile sollte er Lotte nach Hause gebracht haben.
Nervös zupfe ich an meinem luftigen Kleid mit Blumenmuster. Ich weiß, wie sehr es Ben gefällt. Wenn ich es trage, dauert es nie lange, bis er mir die dünnen Träger von den Schultern streift. Mich aus dem weichen Stoff schält und jeden Millimeter meiner Haut küsst. Sie erkundet, als sähe er sie zum ersten Mal, dabei kennt er sie mittlerweile, nach zwei Jahren Beziehung, in- und auswendig.
Mein Herz schwillt in meiner Brust an wie ein Luftballon. Ben in der zehnten Klasse diese Tür gegen die Nase zu schlagen, hat sich wie Schicksal angefühlt. Von ihm geliebt zu werden, bedeutet Zuhause. Mehr, als es die Villa meines Vaters je sein könnte.
Ich höre Schritte und schrecke auf. Sofort verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Da ist er! Sein rotes Haar kann ich schon von Weitem sehen. Aber es ist nicht die Art von Rot, die fast schon orange ist, sondern diese verruchte kupferfarbene. Viele Leute behaupten, Ben würde sie an Archie aus Riverdale erinnern. Ich sehe die Ähnlichkeit zu dem Seriencharakter nicht. Für mich ist Ben einzigartig.
Ich hebe eine Hand und winke, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Während er näher kommt, bemerke ich es. Ich sehe es in seinem Gesicht. An der Art, wie er die Stirn runzelt. An der Form seiner Lippen, die nicht wie sonst in meiner Gegenwart zu einem Lächeln, sondern zu einem schmalen Strich verzogen sind. Und an seinen Augen. Dem Bedauern darin, dem fehlenden Glanz.
Irgendetwas stimmt nicht.
Mein Lächeln erlischt. Sofort zieht sich mein Magen zusammen. Ich springe von der Decke auf, stoße dabei beinahe den Picknickkorb um. Ich laufe auf ihn zu, greife nach seinem Arm, doch er weicht aus.
»Ben.« Meine Stimme klingt erstickt. »Ist etwas passiert?«
»Komm, wir setzen uns.« Fast schon zögerlich greift er nach meiner Hand und zieht mich zur Decke. Die Schönheit der weißen Narzissen rückt vollkommen in den Hintergrund. Auf einmal kann mich die Sonne nicht länger wärmen. Mir ist kalt. Mein Magen verkrampft sich immer mehr. Ich habe Angst. Was ist geschehen? Heute Morgen haben wir noch ganz normal telefoniert. Am Hörer Späße gemacht, uns auf den Tag gefreut. Und jetzt? Er kommt mir vollkommen verändert vor.
»Lucia«, beginnt Ben. Er wirkt resigniert. So sehr wie zuletzt vor zwei Jahren. Ich war fünfzehn Jahre alt, morgens zu spät dran für den Unterricht und habe die Eingangstür der Schule mit voller Wucht aufgestoßen. Nur um einen Widerstand zu treffen. So viel Blut, wie aus Bens Nase schoss, habe ich noch nie zuvor gesehen. Er schwankte, und ich griff nach seinem Arm. Im selben Moment habe ich es gewusst. Dass ich ihn und nur ihn will. Nach dem Türvorfall hat er meine sorgfältig geplanten Avancen an sich abprallen lassen. Schließlich hatte ich ihm fast die Nase gebrochen. Dennoch habe ich nicht aufgegeben und seine harte Schale irgendwann doch geknackt.
»Es tut mir leid. Aber ich glaube nicht, dass das zwischen uns funktioniert.«
Ich falle aus allen Wolken. Sofort schießen mir Tränen in die Augen. »Wie bitte? Warum?«
»Wir sind zu unterschiedlich, Lu. Ich kann das nicht mehr. Du begleitest mich nie zu meinen Hockeyturnieren oder auf Partys, weil es dir keine Freude bereitet, manchmal sogar Angst macht. Das ist okay, aber ich will nicht länger darauf verzichten. Ich will mein Leben mit all seinen Facetten leben, verstehst du? Ich will nichts auslassen, sondern Spaß haben und meine Ziele erreichen.«
»Wie meinst du das? Ich verstehe es nicht. Bisher haben wir doch immer einen guten Kompromiss gefunden. Deine Turniere habe ich mir online in der Liveübertragung angesehen, und wenn du auf Partys warst, bin ich extra wach geblieben, damit du danach noch zu mir kommen konntest. Außerdem sind wir gar nicht so unterschiedlich, wir wollen beide studieren und …«
»Du könntest alles haben und wirfst es einfach so weg.«
»Geht es jetzt wieder darum, dass ich kein Interesse an einem Wirtschaftsstudium habe und das Unternehmen meines Vaters nicht übernehmen möchte? Ich dachte, das hätten wir geklärt.«
»Es ergibt für mich keinen Sinn. Wahrscheinlich werde ich es nie verstehen.« Er holt tief Luft. »Meine Karriere steht an erster Stelle. Daher werde ich nicht in Genf studieren.«
Ich glaube mich verhört zu haben. Es stand seit Monaten fest, dass wir beide in Genf studieren werden. Hat er sich ohne mein Wissen noch woanders beworben?
Bevor ich nachhaken kann, fährt Ben fort. »Für eine Fernbeziehung habe ich keine Zeit. Das Studium ist wichtig, du weißt, warum. Ich muss alles geben, und ich kann nicht … Ich kann nicht mit einem Bein immer noch zu Hause stehen, Lu. Ich brauche einen freien Kopf und die Wochenenden zum Lernen.«
Ich bin ein Klotz, wird mir bewusst. Ein Klotz an seinem Bein. Die ersten Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln. Laufen über meine Wangen, landen als Tropfen auf meinem Kleid. Wie Regen. Nur nicht so schön, nicht so reinigend, nicht so heilend.
»Es sind noch ein paar Monate bis zu deinem Studium.«
»Ich weiß, aber ich denke, so ist es besser. Ich muss mich auf die Abiturprüfungen konzentrieren. Wenn mein Schnitt absackt, nimmt mich die Uni nicht.«
»Welche Uni? Und warum nicht Genf? Du wolltest doch hier studieren. Wir wollten das.«
Ben schüttelt den Kopf. »Ich … Die Entscheidung ist gefallen. Es tut mir wirklich leid. Es hat nichts mit dem zu tun, was ich für dich empfinde.«
Auf einmal verwandelt sich mein Schmerz in Wut. »Das ist Bullshit! Wenn deine Gefühle für mich stark genug wären, würden wir es schaffen. Wir würden einen Weg finden, dieses eine Jahr zu überbrücken, bis ich auch mit dem Abitur fertig bin. Mich hält nichts in Genf, das weißt du.«
»Ich kann keine Ablenkung gebrauchen.«
»Dann bin ich nur das für dich? Eine Ablenkung?«
»Nein, du …«
»Warum jetzt?«, unterbreche ich ihn. »Dass du ein Jahr eher als ich anfangen würdest zu studieren, weißt du nicht erst seit gestern. Was hat sich geändert?«
Ich kann förmlich dabei zusehen, wie er dichtmacht. Sein Gesicht verschließt sich. Er sperrt mich aus, entfernt sich von mir, zieht sich zurück. Er hat entschieden. Für uns beide. Und ich kann absolut nichts dagegen tun. Ich schluchze auf, als mich die Erkenntnis mit voller Wucht trifft.
Alles hat ein Ende. MeinAlles hat ein Ende. Auf einmal bekomme ich keine Luft mehr, meine Kehle fühlt sich so eng an, als hätte Ben ein Lasso darum geschlungen. Das war’s, er trennt sich von mir. Er wirft die letzten zwei Jahre mit wenigen Worten hin.
»Es tut mir leid«, wiederholt er. So leise, so voller Schmerz. Auch in seinen Augen stehen Tränen. Tränen, die mich noch wütender machen. Denn es ist seine Entscheidung. Er tut mir das an. Er hat kein Recht zu weinen.
Ben erhebt sich von der Decke, blickt auf mich hinab. »Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass es funktioniert. Doch wir sind zu verschieden.«
Zu verschieden. Die Worte hallen in meinem Kopf nach, setzen sich fest, überziehen mein Inneres mit tiefer Dunkelheit. Ich bin nicht richtig für ihn. Mit mir stimmt etwas nicht. Deswegen kann er nicht mehr mit mir zusammen sein.
»So ist es für uns beide besser. Weniger Schmerz, weißt du? Vielleicht nicht in diesem Augenblick, aber in Zukunft.«
Eine Entscheidung aus Vernunft, so will er mir das Ganze jetzt verkaufen? Ehrlich?
»Ich … Danke für alles, Lu. Irgendwann wirst du es hoffentlich verstehen.«
In diesem Augenblick reicht es mir. Es tut so verdammt weh, und dieser Schmerz muss raus. Er bricht förmlich aus mir hervor wie Lava aus einem Vulkan. »Nein, Ben. Ich werde es nie verstehen! Nie. Weil ich dich liebe! Unsere Beziehung einfach so wegzuwerfen, wäre das Letzte, was ich tun würde. Schon gar nicht über deinen Kopf hinweg. Ich würde um uns kämpfen, alles für unsere Liebe geben. Weil ich weiß, dass wir es schaffen würden. Gemeinsam.«
Mein Puls hämmert wie verrückt, während ich voller Hoffnung auf seine Reaktion warte. Doch er lächelt nur traurig und schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht, tut mir leid, Lu.« Und dann geht er. Entfernt sich mit jedem Schritt ein bisschen mehr von mir, und ich sitze da wie festgefroren. Ein bunter Fleck in einem Meer aus Weiß.
Er läuft den Wanderweg hinunter, verschwindet zwischen einer Baumgruppe, ist fort. Meine Sicht verschwimmt. Dann passiert es. Mein Herz zerspringt in tausend Teile. Ich bin mir sicher, es ist für immer. Die Teile sind so klein, sie können nicht geklebt werden. Nie mehr. Sie verirren sich in meiner Brust, bohren sich in meine Lunge, verschwinden zwischen den Flügeln, sodass mein Herz für immer unvollständig sein wird.
Weil etwas fehlt. Weil Ben fehlt.
Der Mensch, der kein bisschen ist wie ich und deswegen umso besser zu mir passt. Er ist meine zweite Hälfte. Ich dachte immer, das läge daran, dass ich sehr jung war, als ich ihn kennengelernt habe. Ich bin es noch immer. Aber ich weiß, es ist einmalig, jemanden wie Ben zu finden. Einen Partner, der mich versteht, wie ich bin. Der mich mit all meinen Facetten liebt. Oder geliebt hat?
Ich schluchze auf. Drücke mir meine Hände auf die Brust, weil die Herzsplitter mein Inneres zerfetzen. In dem Moment, in dem ich Ben zum ersten Mal berührte, habe ich es gespürt. Dass da etwas zwischen uns ist. Eine Verbindung, obwohl wir einander nicht kannten. Sie hat nur darauf gewartet, sich zu festigen. Ben zu finden, war das Beste, was mir bisher passiert ist. Aber jetzt? Ich sitze hier, umgeben von diesen trügerischen Blumen, und wünsche mir, ihn nie kennengelernt zu haben. Nie erlebt zu haben, wie sich solches Glück anfühlt.
Weil ich mir sicher bin, dass ich nie wieder jemanden wie Ben finden werde.
Maischnee, wohin das Auge reicht. Die Blüten sind über das gesamte Feld verstreut. Aber auf einmal kommen sie mir nicht mehr schön vor. Sondern wie ein Spiegel zu den Abermillionen Trümmerteilen in meinem Inneren.
Drei Jahre später
Ich atme tief durch. Meine Finger schweben über der Türklinke. Ich kann das nicht. Ich habe hier nichts verloren. Aber … Alles in mir drängt mich in dieses Zimmer. Es ist, als würde ich an unsichtbaren Fäden hängen, die mich immer wieder herziehen. Wie oft stand ich in den vergangenen Wochen bereits vor dieser Tür? Ich kann es schon gar nicht mehr zählen.
Aber ich habe mich nie dazu durchringen können, sie zu öffnen. Jedes Mal bin ich eingeknickt. Habe mich nicht getraut. Obwohl ich weiß, das Zimmer dahinter ist leer. Dass es nur das ist: ein Zimmer. Vier Wände, eine Kommode, ein Bett, ein Schreibtisch. Genau wie meins, bevor ich es mit Büchern, Pflanzen und Postern des Hieroglyphen-Alphabets oder mit dem Zeitstrahl der Weltgeschichte gefüllt habe.
Soll ich es machen? Die Fäden müssen endlich verschwinden. Es ist albern, dass sie da sind, es ergibt keinen Sinn. Meine Mitbewohnerin Sara ist tot. Drei Monate sind seit ihrem schrecklichen Autounfall vergangen. Ihre Eltern haben das Zimmer längst ausgeräumt. Im nächsten Semester bekomme ich vielleicht schon eine neue Mitbewohnerin. Jemanden, der in diese vier Wände zieht, sie dekoriert, sie zu einem Zuhause macht.
Dann werde ich keine Gelegenheit mehr haben, das Zimmer zu betreten. Ich weiß nicht einmal, warum ich es so unbedingt will, doch da ist dieses drängende Gefühl in mir, es zu brauchen. Für meinen Frieden. Ich muss hinein, ich muss mich verabschieden, ich muss loslassen. Selbst wenn ich Sara mehr als unrecht getan habe. Vielleicht schaffe ich es dort, sie um Verzeihung zu bitten. Für mein scheußliches Verhalten, das ich auf ewig bereuen werde.
Ich atme tief durch und … weiche zurück. Ich kann das nicht. Nie zuvor war ich in diesem Zimmer. Nicht einmal, als Sara gelebt hat. Wir hatten keine gute Beziehung zueinander. Nein, eigentlich hatten wir überhaupt keine Beziehung zueinander. Wir sind uns aus dem Weg gegangen, haben jede unser eigenes Ding gemacht und uns höchstens in der Küche über Banalitäten ausgetauscht.
Weil sie zu Fortuna gehörte, diesen Heuchlern. Sie ziehen alles und jeden in ihren Bann, nur um denjenigen dann zu zerstören. Ich kann nur hoffen, meine Stiefschwester Elora ist stärker. Dass sie es schafft, sich in der Studentenverbindung zu behaupten. Sie …
Nein, jetzt ist nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken. Ich will endlich diese verdammte Tür öffnen. Ich muss sie öffnen.
»Reiß dich zusammen, Lucia«, murmle ich zu mir selbst. Es ist albern, wie oft ich vor dieser Tür stehe, nur um am Ende doch wieder zu kneifen. Ich muss endlich über meinen Schatten springen.
Entschlossen strecke ich die Hand aus und schließe meine Finger um die kühle Klinke. Sie zittern, aber ich bleibe standhaft. Mein Pulsschlag beschleunigt sich.
Ich öffne die Tür und betrete Saras Zimmer.
Stille erwartet mich. Leere Wände, kühl und grau. Durch das Sprossenfenster fällt ein einsamer Sonnenstrahl. Staub flirrt darin wie tanzende Glühwürmchen. Ich mache einige vorsichtige Schritte, die mahagonifarbenen Bodendielen knarren unter meinen Slippern.
Wie in einem Gruselfilm, schießt es mir durch den Kopf. Schnell schüttle ich den Gedanken ab. Nichts hieran ist gruselig. Sara ist längst fort.
Und doch … Es ist, als könnte ich sie noch immer spüren. Ihr glockenhelles Lachen hören, das manchmal durch die Tür gedrungen ist. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sie durch das Zimmer stolziert. Das dunkle Haar, das mich ein bisschen an Schneewittchen erinnerte, zurückwirft und den Rücken durchstreckt. Sie wirkte immer stolz. Immer taff. Immer ein wenig … verrucht. Ich habe ihr nicht getraut.
Aus gutem Grund.
»Es tut mir leid, Sara«, flüstere ich dennoch in das Zimmer hinein und streiche intuitiv über die Narbe auf meinem Handteller. Meine Stimme hallt von den Wänden wider, wird durch den Raum getragen und klingt viel lauter, als sie ist. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Aber jetzt, da ich hier bin, will ich es durchziehen. Egal, wie bescheuert ich mir dabei vorkomme. »Es tut mir leid, wie schlecht ich über dich gesprochen habe. Es tut mir leid, dass ich dich nicht gefragt habe, was los ist. Wahrscheinlich hättest du es mir nicht gesagt, aber … Na ja, ich hätte immerhin gefragt. Ich war keine gute Mitbewohnerin. Ich meine, du auch nicht, aber …«
Okay, nein, das ist total albern. Ich schüttle den Kopf über mich selbst, das hier bringt gar nichts. Es war eine blöde Idee, überhaupt ins Zimmer zu gehen. Ich habe sie viel zu lange in meinem Inneren aufgebauscht, sie größer gemacht, als sie ist. Immerhin habe ich es jetzt hinter mich gebracht und kann mich in den kommenden Wochen wieder auf das fokussieren, was wirklich wichtig ist. Mein Geschichtsstudium, für meinen besten Freund Gabriel während seiner Therapie da zu sein und meine Stiefschwester endlich besser kennenzulernen.
Seufzend drehe ich mich um, will das Zimmer verlassen. Unter meinem rechten Fuß sackt eine Bodendiele ab. Ich stutze, trete von der Diele, und sie springt wieder an ihren Platz. Ich trete erneut darauf, und sie bewegt sich. Was …? Ich gehe in die Hocke, taste nach den Rändern. Ich wusste ja, dass die Wohngebäude auf Corvina Castle eine Sanierung nötig haben, aber fällt jetzt wirklich alles auseinander? Das sollte ich dringend dem Hausmeister melden, bevor ich eine neue Mitbewohnerin bekomme.
Ich strecke die Finger aus und zögere. Wer weiß, was unter dieser losen Diele haust? Spinnen? Ratten? Ich schüttle mich. Aber meine Neugier ist größer. Sie kribbelt in mir wie Brausepulver und bringt mich dazu, einen Finger unter die Diele zu schieben. Sie langsam hochzudrücken, bis ich das Ende ergreifen und sie abheben kann.
Im Boden kommt ein Loch zum Vorschein.
Mein Puls schnellt in die Höhe. Es ist dunkel und wenig vertrauenswürdig. Nur so groß wie ein Schuhkarton und … Moment. Liegt da etwas?
Ich schiebe den Ekel von mir, beiße die Zähne zusammen und greife hinein. Meine Finger schließen sich um einen festen Gegenstand. Ein Buch?
Tatsächlich. Sobald ich es herausgeholt habe, entpuppt es sich als ein schmales, mit rotem Stoff bezogenes Buch. Ich klopfe den Staub vom Einband und erstarre. Meine Eingeweide verkrampfen sich, mein Herz setzt einen Schlag aus.
Ein krächzender Laut löst sich aus meiner Kehle. Ich lasse das Buch fallen, als hätte ich mich daran verbrannt. Noch bevor es dumpf am Boden aufprallt, bin ich schon zurückgewichen.
Mein Rücken trifft gegen die Wand. Ich spüre den Aufprall kaum. Mein Herz rast, weil ich nur an die vier weißen Buchstaben denken kann, die mittig auf dem Buchdeckel stehen.
SARA.
Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Ich atme gleichmäßig ein und aus, und erst nachdem ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt habe, kommen die Fragen. Warum liegt ein Buch, auf dem der Name einer Toten steht, versteckt unter einer losen Holzdiele in ihrem Zimmer? Gehörte es Sara? Oder war es eine Botschaft für Sara? Haben ihre Eltern es hineingelegt, nachdem sie im September das Zimmer ausgeräumt haben? Als eine Art … Gedenken an sie? Wie ein Schrein?
Ich schüttle mich. Himmel, ist das gruselig. Aber irgendwie auch spannend. Deswegen stoße ich mich von der Wand ab und gehe langsam wieder auf das Buch zu. Vorsichtig, als könnte es mich beißen, sollte ich eine zu schnelle Bewegung machen. Was natürlich Schwachsinn ist, aber trotz der Neugier zögere ich. Weil ich es spüre. An der Sache ist was faul, und ich stehe kurz davor, etwas zu entdecken, das ich eigentlich nicht wissen will.
Der Einband fühlt sich rau unter meinen Fingern an. Ich schlage es auf und blätterte durch die vergilbten Seiten. Wie lange liegt das Buch schon dort unten? Seit Saras Tod? Länger? Auf den Seiten erkenne ich blaue, geschwungene Buchstaben. Darüber steht jeweils ein Datum. Ich bin mir jetzt sicher, es handelt sich um ihr Tagebuch.
Soll ich lesen, was sie geschrieben hat? In diesem Buch stecken ihre geheimsten Gedanken. Es wäre falsch, derart in ihre Privatsphäre einzudringen. Dennoch spüre ich den Drang, zu erfahren, was sie vor ihrem Tod gedacht hat. Kurz vor dem Unfall hat sie nächtelang geweint und jemanden angeschrien. Bis heute weiß ich nicht, wen. Ob im Buch etwas über den mysteriösen Streit steht?
Das geht dich nichts an, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf. Aber eine viel lautere hält dagegen: Was, wenn doch? Wenn ich dadurch endlich Frieden mit der Vergangenheit schließen kann? Die Reue loswerde, die sich seit Monaten wie ein Schwarm Piranhas in meinem Inneren festgebissen hat?
Ich hole tief Luft und klappe das Tagebuch am Anfang auf. Der erste Eintrag ist von August 2019. In diesem Jahr kam Sara nach Corvina Castle. Kurzerhand überblättere ich die Seiten, bis ich beim letzten Eintrag ankomme.
Mit den Fingern streiche ich über das Papier, die mit Füllfederhalter geschriebenen Buchstaben zeichnen sich darauf ab. Mein Herz schlägt schneller. Wegen der unmoralischen Situation? Oder einer miesen Vorahnung? Ich ignoriere meine Gänsehaut und beginne zu lesen.
12. September 2022
Ich bin gefangen in einer Welle. Sie türmt sich immer höher vor mir auf. Ich bin machtlos dagegen. Ich kann sie nicht aufhalten. Sie wird über mich hereinbrechen. Wahrscheinlich eher früher als später.
Mein Geheimnis ist bald keins mehr. Jeder wird von meiner Dummheit wissen. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Habe den falschen Personen vertraut und damit mein Todesurteil unterschrieben. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das ist das Ende. Alles, was ich jemals wollte, ist unwiderruflich zerstört. Was habe ich nur getan? Wie konnte ich so unachtsam sein? Wie konnte ich mir in einer einzigen Nacht meine gesamte Zukunft verbauen?
Ich habe einen Fehler gemacht. Jetzt muss ich dafür büßen.
Nein, das kann nicht sein. Es … Ich kann nicht mehr klar denken. Da ist nur noch Watte in meinem Kopf. Vielleicht schützt sie mich. Vor der Erkenntnis, die ich eine Sekunde zuvor erlangt habe. Ich drücke das Buch gegen meine Brust, muss es beschützen.
Und dann renne ich. Weil es das ist, was ich am besten kann. Es hilft mir. Es erdet mich, wenn mir alles zu viel wird und meine Gedanken zu schwer. Ich renne und renne. Ich weiß nicht mal, wohin, nehme es kaum wahr. Mein einziges Ziel ist es, die Watte zu vertreiben. Oder davonzulaufen?
Auf einmal finde ich mich vor dem Hauptgebäude wieder, die dunklen Zinnen ragen vor den schneebedeckten Gipfeln auf. Ein Auto fährt vorbei. Das ist Gabriels! Es biegt auf den Parkplatz ab, und ich renne ihm nach. Bin langsamer, erschöpft, aber ich muss zu ihm. Sonst drehe ich durch, ganz sicher.
Gabriel und Elora steigen aus, ich sehe, wie sie miteinander kabbeln. Ich erreiche sie, und meine Beine tragen mich nicht länger. Vor ihnen sacke ich zu Boden.
»Ich glaube nicht, dass Saras Tod ein Unfall war«, presse ich mit letzter Kraft hervor, während sich mein Inneres schmerzhaft verkrampft. »Ich glaube, sie sollte aus einem ganz bestimmten Grund sterben.«
»Beruhig dich erst mal«, sagt Gabriel.
Mittlerweile sind wir nicht mehr auf dem Parkplatz, sondern in meiner Wohneinheit. Ich kann mich kaum an den Rückweg erinnern. Er ist verschwommen zwischen Tränen, Panik, Reue und Angst. Jetzt sitze ich auf dem Sofa, Elora kocht in der Küche Tee. Das Tagebuch liegt vor mir auf dem niedrigen Beistelltisch. Ich kann es nicht ansehen, ohne dass mir wieder der Schweiß ausbricht.
»Wie soll ich mich beruhigen? Meine Mitbewohnerin wurde vielleicht ermordet!«
Gabriel zuckt zusammen, und ich würde mir am liebsten auf die Zunge beißen. Erst jetzt fällt mir auf, wie merkwürdig er aussieht. Hat er geweint? Unter seinen blauen Augen liegen tiefe Schatten. Seine Haare sind wirr.
»Was ist los mit dir?«, frage ich vorsichtig.
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Erst einmal müssen wir herausfinden, was passiert ist. Hast du noch mehr gelesen?«
»Nein, nur den letzten Eintrag.«
»Wo hast du das Buch gefunden?«, fragt Elora, die mit einem Tablett mit drei Teetassen aus der Küche kommt. Sie verteilt sie an uns, und ich schließe meine Finger um das warme Porzellan.
»Unter einer losen Bodendiele, in Saras Zimmer.«
Gabriel runzelt die Stirn. »Was hast du in Saras Zimmer gemacht?«
»Ich …« Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Ich war neugierig, okay?«
»Da kenne ich noch jemanden.« Er sieht zu Elora. Sein Blick ist so liebevoll, dass sich mein Herz vor Sehnsucht zusammenzieht. Ich wurde auch einst so angesehen. Mittlerweile ist das lange her, aber ich werde nie vergessen, wie ich mich damals gefühlt habe.
Schnell schüttle ich den Gedanken ab. Seit drei Jahren verbiete ich mir mehr oder weniger erfolgreich jede Erinnerung an ihn.
»Zeigst du uns, wo?«, fragt Elora.
Ich nicke und erhebe mich vom Sofa. Die Tasse nehme ich mit, sie ist wie ein Rettungsanker, an den ich mich klammern kann. Die Tür zu Saras Zimmer steht noch offen, weil ich vorhin Hals über Kopf hinausgestürmt bin. Selbst die Bodendiele habe ich nicht wieder zugedeckt, fällt mir auf. Das dunkle Loch klafft mitten im Zimmer.
Elora geht daneben auf die Knie, untersucht die Diele aufmerksam. Gabriel bleibt neben mir stehen.
»Du solltest nicht in diesem Zimmer sein, Lucia. Das tut dir nicht gut.«
»Ich weiß.«
»Falls an deiner Vermutung wirklich etwas dran ist …« Er lässt den Satz unvollendet und betrachtet seine Freundin. Ich erkenne die Sorge darin. Die letzten beiden Jahre hat er geglaubt, Fortuna wäre schuld am Tod seiner Schwester. Er hat die Verbindung gehasst, darunter gelitten und einige falsche Entscheidungen getroffen. Erst vor wenigen Wochen hat er erfahren, dass die Verbindungsmitglieder unschuldig sind, und eine Therapie begonnen, damit es ihm wieder besser geht. Und ausgerechnet jetzt finde ich dieses verdammte Buch?
»Vielleicht ist es nichts«, fügt er hinzu. »Oder die Verbindung hat nichts damit zu tun.«
»Ja, vielleicht. Aber … Die Dark Elite hat überall ihre Finger im Spiel. Sara war ein Teil von ihnen. Ich habe ein richtig mieses Gefühl bei der Sache.« Ich nippe an meinem Tee, der mir ein bisschen Wärme zurückgibt. Leider hält sie nicht lange an. »Wenn ich mehr herausfinden will, muss ich das ganze Tagebuch lesen«, stelle ich fest.
Gabriel zögert. »Bist du dir sicher, dass du das möchtest? Dass du das kannst?«
Ich nicke. Vielleicht stehen noch mehr Hinweise darin?
Ein Ratschen ertönt, Elora hat das Loch im Boden wieder verschlossen. »Hier ist nichts weiter.«
Sie kommt zu uns herüber.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du jetzt auch zu Fortuna gehörst«, sage ich. »Das macht mir Sorgen.«
»Ab dem Wochenende ganz offiziell.«
»Ich dachte, du wärst schon aufgenommen?«
»Auf dem Papier, ja. Aber meine Initiation findet diesen Samstag statt. Ich bin ein bisschen nervös.«
»Wenn sie für Saras …«, beginnt Gabriel, doch Elora unterbricht ihn. »Du weiß nicht, ob beides zusammenhängt oder ob es nicht doch nur ein Unfall war. Außerdem solltest du nicht vorschnell urteilen. Erinnerst du dich, wie das beim letzten Mal geendet hat?«
Mit ihr im OP-Saal, schießt es mir durch den Kopf. Gabriels verbissener Miene nach zu urteilen, hat er vermutlich denselben Gedanken.
Ich denke, Elora irrt sich. Egal, was auf diesem Campus passiert, Fortuna hat immer irgendwie die Finger im Spiel. Für den Tod von Gabriels Schwester Annabelle waren sie nicht direkt verantwortlich. Aber der Unfall, der dazu geführt hat, ist auf einer ihrer Partys geschehen. Doch ich bin schlau genug, es nicht auszusprechen. Das würde nur zu einer Diskussion führen, für die ich gerade weder Zeit noch Nerven habe.
Ich seufze. »Ich muss jetzt in die Vorlesung. Aber heute Abend werde ich weiter im Tagebuch lesen.«
»Vielleicht sollten lieber Elora oder ich das Buch nehmen?«, meint Gabriel zögerlich.
»Nein«, knurre ich sofort. »Sara war meine Mitbewohnerin. Ich werde es lesen.«
»Du weißt, dass die Verbindung in den letzten beiden Jahren versucht hat, dich in die Finger zu bekommen. Über Sara. Mir wäre es lieber, wenn wir dich von Fortuna fernhalten.«
»Das ist Schwachsinn, Gabriel. Elora ist jetzt in der Verbindung und ich damit aus dem Schneider. Sie haben einen Sündenbock gefunden und brauchen mich nicht mehr.«
Elora schnaubt. »Na danke.«
»Ist doch so.« Ich drehe mich zu ihr, betrachte ihre dunklen Haare und die kleine Gestalt. Sie ist das komplette Gegenteil von mir. Wüsste ich nicht, wie viel Feuer in ihr steckt, würde ich sie womöglich für eine graue Maus halten. Am Anfang habe ich das auch. Für eine falsche graue Maus. Dabei war immer nur mein Vater das Problem.
Womit wir beim zweiten Thema wären, an das ich partout nicht denken will. Leider habe ich keine andere Wahl, denn ich treffe ihn am Montag zum Essen. Das erste Mal seit zwei Jahren. Allein der Gedanke daran setzt meinen Körper unter Strom.
»Na gut«, sagt Gabriel, um das Blickduell zwischen mir und Elora zu unterbrechen. Wahrscheinlich hat er Sorge, wir könnten uns streiten. Vor einem Monat wäre es noch so gewesen. Wir wären einander an die Gurgel gegangen. Aber jetzt? Wir kommen uns langsam näher. In kleinen Schritten, doch ich bin zuversichtlich, dass sich unsere Freundschaft festigen wird. »Sei vorsichtig, Lucia, ja?«
»Klar, bin ich immer«, antworte ich und verlasse Saras Zimmer. Die beiden folgen mir und verabschieden sich an der Tür der Wohneinheit. Sobald sie fort sind, senkt sich Stille über den Raum. Ich atme tief ein und aus. Vor Saras Tod war es nie leise. Bei ihr lief immer Musik, was ich gehasst habe. Sie hatte einen schrecklichen Geschmack, die dröhnenden Bässe haben mich vom Lernen abgelenkt. Nicht selten sind wir deswegen in Streit geraten. Aber jetzt … Ich vermisse ihre nervtötende Musik beinahe.
Als sie noch lebte und ständig versuchte, mich für Fortuna anzuwerben, wusste ich, woran ich war. Jetzt habe ich das Gefühl, in die Dunkelheit zu marschieren. Ich tappe blind umher, laufe Gefahr, jede Sekunde zu stolpern, auf Widerstand zu treffen oder eine Sackgasse zu erreichen.
Was, wenn Saras Tod kein Unfall war?
Eines weiß ich ganz sicher, ich werde es herausfinden. Ich habe monatelang nach einer Möglichkeit gesucht, die Reue wegen meines schrecklichen Verhaltens loszuwerden. Jetzt ist sie da.
Doch zuerst laufe ich in mein Zimmer, schnappe mir meine Pradatasche und verlasse Lily Hall, mein Wohnheim. Ich werde zu spät zu Allgemeine Geschichte kommen. Aber da die ersten Prüfungen bald anstehen, kann ich es mir nicht leisten, eine Vorlesung zu schwänzen. Zumal ich Bestnoten schreiben muss. Um meinem Vater zu beweisen, dass es die richtige Entscheidung war, Geschichte zu studieren. Er soll endlich einsehen, wie vernünftig es von mir war, meinen eigenen Kopf durchzusetzen und wie falsch von ihm, auf seinem Willen zu beharren. Unser Streit hat zwei Jahre Funkstille nach sich gezogen. Es ging nicht nur um mein Studienfach, das war lediglich der Aufhänger. Oder vielmehr: der Anfang vom Ende.
Ich seufze, während ich über den Campus eile. Wie viele Enden braucht es noch, bevor sich alles wieder zum Guten wendet?
»Die Entschlüsselung der Hieroglyphen war ein langer und schwieriger Prozess. Erst im Jahr 1799, als der Rosetta-Stein entdeckt wurde, konnte ein erster Schritt zur Entschlüsselung unternommen werden«, referiert Professor Bauer und ruft eine Abbildung auf der interaktiven Tafel auf. »Hier können Sie besagten Stein sehen. Er enthielt denselben Text in drei Schriftformen: Griechisch, Demotisch und in Hieroglyphen. Durch die Übersetzung des griechischen Textes konnten Forscher die Hieroglyphen und die demotische Schrift allmählich entschlüsseln.«
1799, notiere ich auf meinem iPad. Mein Kopf raucht von all den Jahreszahlen, die Professor Bauer uns in der letzten Stunde einzuprägen versucht hat. Normalerweise lausche ich seinen Ausführungen über die Entstehung der antiken Hochkulturen in Ägypten gerne. Doch obwohl die Ägyptologie eins meiner liebsten Themen ist, kann ich mich heute nicht konzentrieren. Stattdessen muss ich immer wieder an Saras Tagebuch denken. Daran, dass ich es vor meinem überstürzten Verlassen des Wohnheims nicht in mein Zimmer gebracht, sondern auf dem Tisch im Wohnbereich liegen lassen habe. Ich werde die Angst nicht los, es könnte fort sein, sobald ich zurückkomme. Einfach weg. Alles, was heute Vormittag geschehen ist, wäre dann nur noch eine Erinnerung. Mein eventueller Beweis verschwunden, als hätte er nie existiert.
Mein Puls hämmert mir laut in den Ohren. Sara hat ihr Tagebuch sicher nicht ohne Grund versteckt. Zumindest gehe ich davon aus, dass sie es war. Alles andere ergibt keinen Sinn.
Sobald Professor Bauer die Stunde beendet, springe ich auf und eile aus dem Saal. Normalerweise würde ich mich unauffällig verhalten und als eine der Letzten gehen, doch heute zählt jede Sekunde. Ich muss nachschauen, ob das Buch noch da ist. Die Tür zur Wohneinheit ist zwar abgeschlossen, aber sollte mein Verdacht stimmen … Fortuna ist alles zuzutrauen, da bin ich mir sicher. Selbst wenn Gabriel in seiner Annahme, sie wären am Tod seiner Schwester schuld, falsch lag. Die Mitglieder, die von allen nur die Dark Elite genannt werden, sind mir nicht geheuer. Sie sind unnahbar, arrogant, halten sich für etwas Besseres. Sie glauben, ihnen gehöre der Campus und sie könnten machen, was sie wollen. Wie weit würden sie gehen, um etwas zu vertuschen, für das selbst sie Konsequenzen fürchten müssten?
Den Weg nach Lily Hall lege ich in Rekordzeit zurück. Im Treppenturm überspringe ich jede zweite Stufe. Leicht außer Atem, komme ich vor meiner Tür an, öffne sie mit zitternden Fingern und hechte sofort zum Tisch.
Erleichtert atme ich auf. Das Buch ist noch da.
Ich verstaue es in meiner Tasche, bevor ich mir Schuhe und Jacke ausziehe. Anschließend mache ich mir in der Küche ein Avocadobrot.
Was ich an der Villa Salvari vermisse, ist die Haushälterin. Da mir das campuseigene Restaurant schnell zu viel wird und ich sowieso lieber für mich bleibe, musste ich in den letzten beiden Jahren lernen, mich selbst zu versorgen. Ab und an schafft Gabriel es, mich zu einem Mittagessen im Seaside zu überreden. Außerdem neigt er zum Glück dazu, Wetten zu verlieren, sodass ich oft etwas bei ihm gut habe und ihn dazu verdonnere, meinen persönlichen Lieferanten zu spielen. Ich lächle leicht. Er hasst das natürlich. Und versteht nicht, wieso ich nicht einfach zum Telefon greife und selbst bestelle.
Manchmal verstehe ich es selbst nicht. Ich habe jedes Mal das Gefühl, mein Herz springt mir aus der Brust, sobald ich irgendwo anrufen will. Meine Kehle wird mir eng, ich weiß nie, was ich sagen soll, egal, wie lange ich mir die Worte vorher zurechtlege. Nein, allein auf das grüne Hörersymbol zu drücken, ist eine Hürde, zu der ich mich nicht überwinden kann. Ich weiß nicht, wieso ich so bin. Das war schon immer so, und egal, wie oft ich mir sage, dass es unnötig ist, sorgen solche Aufgaben bei mir für Panik. Genauso wie die meisten Menschen. Nein, ich bleibe lieber hier auf meinem Zimmer. Außerdem habe ich Gabriel und jetzt Elora. Das reicht mir. Ich brauche nicht viele Freunde. Keine Menschen, die mich verletzen oder ausnutzen können. Die nur meinen Nachnamen sehen und die große Chance, die sich für sie dahinter verbirgt. Das Geld und den Erfolg meines Vaters. Mich sehen sie nie, denn wer bin ich schon? Die Tochter, die sich abkapselt. Die Tochter, die Geschichte studiert. Die Tochter, die kalt und hart ist, die keiner versteht.
Schnell vertreibe ich die düsteren Gedanken, bevor sie mich in einen Strudel ziehen können. Stecke ich einmal darin, fällt es mir schwer, ihm wieder zu entkommen. Dann zieht er mich unaufhaltsam tiefer und tiefer, bis ich mir fremd erscheine und mir die ganze Welt grausam vorkommt.
Ich binde mir meine blonden Haare zu einem Dutt, schlüpfe aus meiner schwarzen Jeans in meine weichen Kaschmirjogginghosen von Prada und mache es mir mit dem Tagebuch in meiner Leseecke bequem. Sie besteht aus einem dunkelblauen Ohrensessel mit breiten Armlehnen, einem schwarzen Buchregal, das mittlerweile beinahe überquillt, und einer Stehlampe mit rundem Schirm, die ich jetzt einschalte.
Unschlüssig drehe ich das Buch in meiner Hand. Soll ich den Anfang überblättern und erst mit Saras Eintritt bei Fortuna beginnen? Nein, ich denke, ich werde das Buch komplett lesen. Ich habe sie kaum gekannt, und wenn ich sie und ihre Gedanken im letzten Eintrag verstehen will, muss ich alles nutzen, was mir zur Verfügung steht.
Daher schlage ich die erste Seite auf und fange an.
29. August 2019
Ein neues Kapitel beginnt. Darauf habe ich all die Jahre hingearbeitet. Ich kappe die Seile und segele los! Na ja, ich segele nicht wirklich. Emil bringt mich nachher zur nächsten Bahnstation, und von dort aus muss ich mit dem Zug fahren, aber was soll’s.
Ich weiß alles über Corvina Castle. Die gesamten Sommerferien habe ich damit verbracht, jedes Wort über die Eliteuniversität zu lesen, das ich finden konnte. Ich kann es kaum erwarten, endlich aus diesem Loch rauszukommen. Erst heute Morgen musste ich meine Mutter mal wieder unter die kalte Dusche schleifen, damit sie nachher vielleicht nüchtern genug ist, um sich von mir zu verabschieden. Aber das hat jetzt endlich ein Ende. Ich bin nicht länger für sie verantwortlich. Ich werde eine erfolgreiche Anwältin werden und nie wieder hierher zurückkehren müssen.
30. August 2019
Ich bin da. Wirklich und wahrhaftig angekommen. Und die Sterne stehen gut. Bei meiner Ankunft bin ich praktisch einem heißen Kerl in die Arme gelaufen. Der hatte Oberarme, ich dachte, ich sehe nicht richtig. Jedenfalls habe ich direkt meine Mission durchgezogen. Bei Fortuna, der Studentenverbindung, in die ich unbedingt will. Ich bin also zu ihnen rüber-marschiert – die haben ein krasses Gebäude, alt, aber voller Charme, total cool –, habe geklopft und mich vorgestellt. Und ich glaube, es ist ganz gut gelaufen. Ich habe ein Bewerbungsformular bekommen, und daran werde ich mich gleich nachher setzen. Erst mal gehts raus in die Sonne, vielleicht sehe ich den Kerl wieder. Wünsch mir Glück!
Bei dem Kerl UND Fortuna. Ist doch klar!
Ich schließe die Knöpfe meines Jacketts. An der Tasche für das Einstecktuch baumelt mein Zipfelbund – ein silberner Schmuckanhänger, an dem ein breites Stoffbändchen befestigt ist. Dazu trage ich eine Schärpe und eine Schiffermütze mit flachem Schirm. Alles in den Farben Schwarz und Gold. Die klassische Festtracht für offizielle Veranstaltungen meiner Studentenverbindung.
Stolz betrachte ich mich im Spiegel. Seit drei Jahren gehöre ich zur Dark Elite. Meine Verbindungsschwestern und -brüder sind wie eine zweite Familie für mich. Heute nehmen wir ein neues Mitglied in unsere Reihen auf.
Als ich in das geräumige Esszimmer des Verbindungshauses komme, ist für das feierliche Aufnahmeritual bereits alles vorbereitet. Der Kronleuchter an der Decke funkelt, überall stehen Kerzen und tauchen den Raum in einen warmen, flackernden Schein. Banner in unseren Farben zieren die Wände und die Mitte des gedeckten Esstischs. Die Flagge unserer Verbindung, auf der auf schwarz-goldenem Grund ein Wolf, der die Zähne fletscht, zu sehen ist, hängt über dem Kamin. Im Hintergrund spielt leise klassische Musik.
Ich blicke mich um und lächle. Ich freue mich auf den Abend. Auf das Beisammensein, die Initiation und die Party danach. Sie ist mein Ausgleich zum Elektrotechnikstudium. Mein Loslassen, wenn die unzähligen Bücher und Berge aus Lernstoff zu viel werden.
»Ben!«
Ich drehe mich zu der Stimme um und entdecke meinen Freund Jasper, der gerade den Raum betritt. Er trägt dieselbe Aufmachung wie ich, nur dass sein blondes Haar unter der Mütze hervorquillt, während mein roter Kurzhaarschnitt vollständig davon bedeckt ist.
»Alles klar?«, frage ich ihn. Er bleibt neben mir stehen und betrachtet die gedeckte Tafel. Die Kristallkelche funkeln im Licht, die Stühle sind mit schiefergrauen Hussen umhüllt. An der einen Stirnseite steht ein größerer Stuhl, der für den Vorsitzenden gedacht ist.
»Ja, alles bestens. Ich freue mich mega auf den Abend. Das Studium macht mich echt fertig.«
»Gleichfalls«, entgegne ich. »Man merkt, dass die Prüfungen bald anstehen.«
»Total, aber davon lassen wir uns heute Abend nicht runterziehen. Die nächsten Stunden haben wir einfach nur Spaß. Okay?«
»Klingt perfekt.«
»Ich kann es kaum glauben, dass Elora heute ein offizielles Mitglied wird. Die Salvaris halten sich eigentlich von allem fern.«
Der Name jagt mir einen Schauer über den Rücken. Doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Niemand kennt meine Verbindung zu den Salvaris. Niemand weiß, dass ich in ihren Augen ein Geächteter bin. Aber ich musste mich damals entscheiden. Und ich habe mich für meine Karriere entschieden. Ich würde es immer wieder tun. Meine berufliche Zukunft, meine Träume, stehen an erster Stelle. Egal, ob Lucia das versteht oder nicht.
Vor zwei Jahren habe ich vom Vorsitzenden erfahren, dass sie nach Corvina Castle kommt, und konnte es zunächst nicht glauben. Es hat sich angefühlt, als hätte mir jemand ein Messer in den Rücken gerammt. Mich hält hier nichts. Ihre Worte geistern mir noch heute durch den Kopf. Genauso wie die Bedeutung dahinter. Sie wäre nur wegen mir in Genf geblieben. Anfangs dachte ich, sie ist doch zur Vernunft gekommen und übernimmt nach einem Wirtschaftsstudium die Salvari Group. Aber nein, sie studiert Geschichte und war wenig überraschend von Anfang an gegen Fortuna.
Zum Glück habe ich Lucia bisher kaum an der Uni gesehen. Manchmal sind wir uns im Hauptgebäude auf dem Weg zur Vorlesung begegnet, aber wir haben immer einen großen Bogen umeinander gemacht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt bemerkt hat. Sie hat sich zumindest nichts anmerken lassen. Aber sie war schon immer gut darin, jemandem die kalte Schulter zu zeigen.
Jedem außer mir.
Ein Stich fährt in meine Brust, und ich schüttle die Gedanken an Lucia hastig ab. Das liegt hinter mir. Weit hinter mir. Sie und ich … das hätte niemals funktioniert. Ich habe uns beiden eine Menge Schmerz erspart.
»Keine Ahnung«, antworte ich ausweichend. »Ich kenne Elora nicht wirklich. Habe vielleicht drei Worte mit ihr gewechselt.« Ich stoße Jasper spielerisch mit der Schulter an. »Im Gegensatz zu dir, Casanova.«
Er grunzt. »Nicht witzig, Mann. Sie hat mich abserviert. Und für wen? Gabriel Zürcher. Ehrlich, was findet sie an dem?«
Ich lache laut auf. »Komm drüber weg, Jas-Bär.«
»Hör auf, mich so zu nennen. Der Spitzname ist doch albern.«
»Okay. Sobald du es schaffst, dass eine ganze Nacht vergeht, in der ich dich nicht durch die Wand hindurch schnarchen hören kann.«
»Die Wände sind eben zu dünn.«
»Schwachsinn. Das ist massiver Stein.«
Hinter uns erklingt ein Schnauben. »Hat Jasper dich heute Nacht schon wieder mit seinem Schnarchen wachgehalten?«, fragt Fabian.
Jasper stöhnt nur. Ein endgültiger, kapitulierender Laut, der absolut befriedigend ist. Er ist einer meiner engsten Freunde, aber sobald er anfängt, zu schnarchen, würde ich ihn am liebsten verfluchen.
Fabian schlendert an uns vorbei und betrachtet pfeifend den gedeckten Tisch. »Die neue Haushälterin hats echt drauf.«
»Schlimm genug, dass wir schon wieder eine Neue einstellen mussten«, ertönt eine Stimme rechts von uns. Nico tritt von der Küche her ins Esszimmer, die Schultern zurückgenommen, aufmerksam wie immer. Seine Schärpe ist breiter als unsere und überspannt fast sein komplettes Jackett. Auf seiner Mütze ist eine imposante Adlerfeder befestigt. »Irgendwann kommen sie alle auf die Idee, in unserem Haus an Orten herumzuschnüffeln, die sie nichts angehen.«
»Zum Glück habe ich sie erwischt«, meint Fabian.
»Ihr wisst doch gar nicht, ob sie wirklich geschnüffelt hat«, mischt sich Jasper ein. »Vielleicht hatte sie sich auch nur verirrt?«
Wie einstudiert heben wir alle drei die Brauen.
»Es gibt Regeln«, sagt Nico. »Nur so funktioniert unsere Verbindung. Nur so haben die restlichen Studierenden Respekt vor uns.«
»Nicht nur Respekt«, lacht Fabian und lässt endlich vom Tisch ab. »Sie wollen so sein wie wir.«
Nico lächelt nicht. Macht er fast nie. Er wirkt immer ernst, immer streng, muss immer alles unter Kontrolle haben. Er spielt meistens den stillen Beobachter. Vielleicht gehört das zu seinen Aufgaben.
»Ich gehe die anderen zusammentrommeln. Hoffentlich kommen die Frauen auch bald, damit wir pünktlich anfangen können.« Er stolziert aus dem Esszimmer.
Jasper sieht aus, als wäre er durch seine Anatomieprüfung gefallen. »Mach dir nichts draus«, muntere ich ihn auf und klopfe ihm auf die Schultern. »Du hast ein viel zu gutes Herz, Jas-Bär.«
»Ja, ich weiß. Trotzdem hat Elora Gabriel gewählt.«
»Ach komm schon, stört dich das wirklich so sehr? Ich hatte nicht das Gefühl, du hättest ernsthaftes Interesse an ihr.«
»Ich werde darüber hinwegkommen«, sagt er nur.
Immer mehr Mitglieder betreten das Esszimmer, sodass es sich schnell füllt und schon bald vor Gesprächslärm summt. Das vorfreudige Flattern in meiner Brust mischt sich mit Stolz, während ich den Blick schweifen lasse. Wir Männer sind alle in dunkle Anzüge gekleidet, die Frauen tragen festliche Kleider. Diese müssen mindestens bis zu den Knöcheln reichen, die Schultern sollten bedeckt und der Ausschnitt nicht zu tief sein, so schreibt der Dresscode es vor. Aber auch ohne viel Haut zu zeigen, sehen sie fabelhaft aus.
Schon bald finde ich mich in Gesprächen mit meinen Schwestern und Brüdern wieder. Ich lächle und genieße die vertraute Atmosphäre. Das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Unter Gleichgesinnten, denen ich vertrauen kann.
»Darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?«, ruft Nico, und sofort verstummen jegliche Gespräche im Raum. Wir alle wenden uns ihm zu. Er steht hinter seinem Stuhl und blickt so lange durchdringend in die Runde, bis er sicher ist, jedes einzelne Augenpaar ruht auf ihm. Manchmal ist er mir nicht ganz geheuer, aber es gibt keinen Besseren für seinen Job. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger beherrscht er sein Amt. Er ist wie ein Hirte, der seine Schäfchen unter Kontrolle hält. Zudem hat er immer ein offenes Ohr für uns. Er zeigt uns, dass er nichts Besseres, sondern genauso ein Teil von Fortuna ist wie wir.
»Simona hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie und Elora jeden Augenblick hier sein werden. Ich bitte daher um Aufstellung im Flur, um unser neues Mitglied zu begrüßen. Die Initiationszeremonie findet wie geplant statt. Anschließend werden wir uns hier im Esszimmer zusammenfinden, um ein festliches Mahl zu genießen.« Nico spricht immer ein bisschen gestelzt bei allem, was mit der Verbindung zu tun hat.
Wir laufen in den Flur, wo wir uns zu einem Spalier aufstellen. Ich stehe zwischen Jasper und Fabian, der feixt und leicht schwankt. Vermutlich hat er auf seinem Zimmer schon den ersten Schnaps gekippt. Als Sportstudent sollte er es eigentlich besser wissen. Aber seit diesem Semester ist sein Alkoholkonsum noch extremer geworden. Es vergeht kein Wochenende, an dem ich ihn nicht komplett betrunken erlebe. Wann immer ich versuche, mit ihm darüber zu reden, blockt er ab.
»Achtung!«, unterbricht Nico meine Gedanken. Dann öffnet sich die Tür.
Simona tritt ein, in einem engen schwarzen Kleid. Sie ist absolut nicht mein Typ, aber selbst ich muss zugeben, wie gut sie aussieht. Ihre Haare hat sie zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt, die jedoch keineswegs streng, sondern wild und sexy wirkt. Kein Wunder, dass Fabian ihr verfallen ist. Zumindest bis sie sich im Herbst getrennt haben. Vielleicht trinkt er deshalb in letzter Zeit so viel?
Bevor ich noch weiter darüber nachgrübeln kann, tritt Simona zur Seite, um sich in das Spalier einzureihen. Dahinter kommt Elora zum Vorschein. Sofort klopft mein Herz schneller, weil sie mich unweigerlich an Lucia erinnert. Egal, wie oft ich mir sage, dass die beiden nicht wirklich miteinander verwandt sind und sich daher auch nicht ähnlich sehen können.
Elora schaut sich scheu um, wirkt jedoch auch neugierig. Ihr Blick wandert an unserer Spalierreihe entlang, huscht über Nico hinweg und …
»Du?«, keucht sie und weicht einen Schritt zurück. »Du bist es doch. Du bist der Vorsitzende.«
Nico lächelt. »Willkommen zu deinem Initiationsritual, Elora.«
Elora wirkt nicht begeistert. Ihre Bewerbung im September kam mir ohnehin wie ein Wunder vor, bedenkt man, wie abweisend sich ihre Stiefschwester uns gegenüber verhält.
Wieso finden meine Gedanken eigentlich immer wieder zu Lucia zurück? Jede Kleinigkeit erinnert mich an meine Ex-Freundin. Ich hasse es, dass ich noch immer etwas dabei empfinde. Dass da keine Leere, keine Gleichgültigkeit in mir ist. Wie lange muss ich noch kämpfen, bis Lucia aus meinem Herzen verschwunden ist?
Ich schlucke gegen meine trockene Kehle an und konzentriere mich wieder auf das Geschehen. Elora hat ihren Schock über die Identität des Vorsitzenden offenbar überwunden.
»Was bedeutet das, mein Initiationsritual?«, fragt sie mutig. Das Kinn gereckt, den Kopf erhoben. Von der scheuen Frau ist nichts mehr zu sehen. Jetzt ist sie wieder die Elora, die wir bereits während des Wettbewerbs kennenlernen durften.
»Das wirst du gleich erfahren«, meint Nico mysteriös. Insgeheim glaube ich, er liebt das. Den Undercovervorsitzenden zu spielen, ein riesiges Geheimnis aus allem zu machen und seine leitende Funktion. »Keine Scheu, komm bitte rein, und schließ die Tür hinter dir.«
Elora schaut für den Bruchteil einer Sekunde zu Simona, bevor sie sich einen Ruck gibt, nickt und den Flur betritt. Die Eingangstür fällt hinter ihr ins Schloss.
»Folge mir«, fordert Nico Elora auf. Gemeinsam laufen sie an uns vorbei und bilden die Spitze unserer kleinen Formation. Wir schließen uns ihnen der Reihe nach an, wie Schatten.
Im hinteren Teil des Gebäudes befindet sich ein Zimmer, das wir nur für Rituale benutzen. Dort ist bereits alles für Eloras Initiation vorbereitet. Überall flackern Kerzen, die dunklen Dielen knarren unter unseren Schritten. Auf einem kleinen Beistelltisch steht ein Kelch und dahinter die Verbindungsfahne. An den Wänden hängen Jagdtrophäen und gekreuzte Schwerter. Das Fenster ist von einem schwarzen Vorhang verhüllt. Bei meiner eigenen Initiation hat mich die düstere, ehrfurchtsvolle Stimmung nervös gemacht. Jetzt freue ich mich auf die besondere Zeremonie, die gleich folgen wird.
Wir stellen uns in einem Kreis auf, in dessen Mitte sich Elora und Nico befinden. Sie schaut sich um, und wenn ich raten müsste, würde ich darauf setzen, dass ihr das Prozedere nicht geheuer ist. Ob sie ihre Mitgliedschaft bereut? Was Lucia wohl davon hält?
»Elora Farraro«, beginnt Nico. »Unsere Verbindung wurde 1917 gegründet und blickt zurück auf über ein Jahrhundert an Traditionen. Wir alle leisten denselben Schwur wie schon unzählige Brüder und Schwestern vor uns. Er beinhaltet unsere Regeln, zeigt unsere Werte und formuliert unsere Gesetze. Uns daran zu halten, ist unser höchstes Gut. Um ein offizielles Mitglied zu werden, musst du ebenfalls den Fortuna-Schwur auf unsere Fahne leisten. Ich bitte dich darum, dir eine Hand auf die Brust zu legen und laut und deutlich zu wiederholen, was deine Brüder und Schwestern dir vorsagen.«
Der gesamte Kreis aus Mitgliedern legt sich eine Hand auf die Brust. Genau über dem Herzen. Elora sieht sich um, bevor sie es uns nachmacht. Nico dreht sich um und holt unsere Flagge aus der Halterung an der Wand. Er legt eine Hand auf das Tuch und bittet Elora, ihre freie Hand ebenfalls aufzulegen.
Nico räuspert sich. »Schwörst du, Elora Farraro, die Würden, Verpflichtungen und Tugenden der ehrenwerten Fortuna-Verbindung zu erfüllen? Wir halten zusammen. Wir stehen an erster Stelle.«
»Treue!«, rufen wir Mitglieder im Chor. Das Wort verlässt laut meine Lippen, und eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. »Loyalität!«
»Ich schwöre, treu und loyal zu sein«, sagt Elora mit leicht flatternder Stimme.
»Wir halten uns an Regeln und verhalten uns wie die Elite. Wir fördern die Bildung und intellektuelle Entwicklung.«
»Disziplin!«, rufen wir. »Wissen!«
»Ich schwöre, diszipliniert und wissbegierig zu sein.«
»Wir setzen uns für andere Mitglieder ein und beteiligen uns an der Verbindung. Wir arbeiten zusammen, lernen unsere Brüder und Schwestern kennen und verbringen gemeinsam Zeit.«
»Pflicht! Gemeinschaft!«
»Ich schwöre, pflichtbewusst und gemeinschaftlich zu sein.«
»Wir kennen unsere Geschichte und bemühen uns, unsere Traditionen aufrechtzuerhalten und weiterzugeben. Wir verhalten uns ehrenhaft und schmälern nicht das Ansehen unserer Verbindung.«
»Tradition! Ehre!«
»Ich schwöre, die Traditionen zu wahren und mich ehrwürdig zu verhalten.«
»Wir bleiben mutig und tapfer, ganz gleich, was sich uns auch in den Weg stellen mag. Wir respektieren, dass alles, was bei Fortuna geschieht, bei Fortuna bleibt und wir keinem Außenstehenden darüber berichten.«
»Mut! Geheimhaltung!«
»Ich schwöre, mutig zu sein und Geheimnisse zu wahren.«
»So soll es sein«, schließt Nico. »Du kannst deine Hände jetzt herunternehmen.«
Mittlerweile hat sich die Gänsehaut auf meinen gesamten Körper ausgebreitet. Der Schwur ist jedes Mal ein besonderer Moment.
Nico geht zum Tisch, greift nach dem dicken Buch, das dort neben dem Kelch liegt. Die Fortuna-Ahnen. Er schlägt es auf einer Seite auf und winkt Elora herbei. »In diesem Buch ist jedes Mitglied von Fortuna verzeichnet. Sie alle haben nach ihrem Schwur darin unterschrieben. Nun bist du an der Reihe.«
»Okay. Hast du einen Stift für mich?«
Nicos Lippen verziehen sich zu einem diabolischen Grinsen. »Nein, kein Stift.« Er greift nach einem Messer. »Du unterzeichnest mit deinem Blut.«
»Im Ernst?«
»Absoluter Ernst. Schneid dir in die Handfläche oder einen Finger und nutze dein Blut, um einen Fingerabdruck auf das Dokument zu drücken.«
Ich kann Elora nicht verübeln, dass sie aussieht, als würde sie weglaufen wollen. Genauso habe ich mich damals ebenfalls gefühlt. Ein bisschen verängstigt. Ein bisschen zögerlich. Aber auch aufgeregt.
Elora strafft die Schultern und nimmt Nico das Messer ab. »Ist das desinfiziert?«
»Ja.«
Ohne weiter zu zögern, schneidet sie sich in den linken Daumen. Dabei verzieht sie keine Miene, wie ich beeindruckt feststelle. Sobald Blut hervorquillt, drückt sie ihn auf das Ahnenbuch. Ich stehe zu weit entfernt, um Genaueres zu sehen, aber von meiner eigenen Initiation weiß ich, dass ihr Name, das Datum sowie der Fortuna-Schwur auf dem Dokument stehen.
Nico reicht ihr ein Wattepad zum Abtupfen und ein Pflaster.
»Bevor wir dir nun unsere Farben überreichen, besiegeln wir deinen Schwur zunächst mit einem Schluck aus dem Fortuna-Kelch.« Er dreht sich um, stellt die Fahne zurück und greift nach dem Kelch. In das Gold sind Zeichnungen von Wölfen, Wäldern und abstrakte Symbole eingeritzt, verziert mit einer beachtlichen Menge an Edelsteinen.
Nico hält Elora den Kelch entgegen. »Trink einen Schluck vom Blut deiner Schwestern und Brüder, um deinen Schwur zu besiegeln.«
Elora zuckt zurück. »Blut?«
»Das Blut deiner Schwestern und Brüder«, wiederholt Nico.
»Ich trinke doch kein Blut!«, keucht sie. »Das ist total unhygienisch. Wisst ihr eigentlich, wie viele Krankheiten so übertragen werden?«
Jasper, der neben mir steht, prustet los, wird jedoch mit einem strengen Blick von Nico zum Schweigen gebracht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er krampfhaft seine Lippen aufeinanderpresst, um nicht laut loszulachen. Wahrscheinlich ein Medizinerding.
»Trink«, sagt Nico nur.
Elora schaut Hilfe suchend zu Simona. Diese zeigt keinerlei Regung. Doch etwas in ihrem Blick muss Elora zeigen, es ist okay zu trinken. Sie verstehen sich auch ohne Worte, und meine Brust wird eng, weil ich daran denken muss, dass ich eine ebensolche Verbindung bisher nur mit einem einzigen Menschen hatte. Mit Lucia.