Fighting Through Deep Waters - Julia Hausburg - E-Book

Fighting Through Deep Waters E-Book

Julia Hausburg

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Beschreibung

Auf hoher See zieht ein Sturm auf, der alles verändert ..

Meeresbiologiestudentin Henriette hat einen der begehrten Plätze auf der Segeljacht Sapient Sailor ergattert und verbringt ein exklusives Auslandssemester auf hoher See. Endlich hat sie die Chance, sich aus dem Schatten ihrer Schwester zu lösen. An Bord des Großseglers stößt Henriette auf Lukas, ihren besten Freund aus Kindertagen, der ihr inzwischen jedoch fremd ist. Das erste Wiedersehen ist eisig, aber zwischen Studienprojekten und gemeinsamen Tauchgängen im Südpazifik funkt es gewaltig. Bis ein verhängnisvoller Kuss, alte Wunden und ungesagte Wahrheiten drohen, ihr neues Glück im Keim zu ersticken. Als ein Sturm die Jacht in Gefahr bringt, müssen sie kämpfen: gegen ihre Vergangenheit und um ihre Liebe.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 568

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Meeresbiologiestudentin Henriette hat einen der begehrten Plätze auf der Segeljacht Sapient Sailor ergattert und verbringt ein exklusives Auslandssemester auf hoher See. Endlich hat sie die Chance, sich aus dem Schatten ihrer Schwester zu lösen. An Bord stößt Henriette auf Lukas, ihren besten Freund aus Kindertagen, der ihr inzwischen jedoch fremd ist. Das erste Wiedersehen ist eisig, aber zwischen Studienprojekten und gemeinsamen Tauchgängen im Südpazifik funkt es gewaltig. Bis ein verhängnisvoller Kuss, alte Wunden und ungesagte Wahrheiten drohen, ihr neues Glück im Keim zu ersticken. Als ein Sturm die Jacht in Gefahr bringt, müssen sie kämpfen: gegen ihre Vergangenheit und um ihre Liebe.

Die Autorin

Julia Hausburg wurde 1998 geboren und studierte Bildungswissenschaften, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Katzen in Bayern, liebt warmen Sommerregen und Schreibnachmittage im Café. Ihre »Dark Elite«-Reihe landete auf Anhieb auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Wenn die Autorin nicht gerade an ihrem nächsten Buch arbeitet, findet man sie mit einem spannenden Liebesroman in ihrer eigenen kleinen Bibliothek.

Lieferbare Titel

Dark Elite – Revenge

Dark Elite – Regrets

Dark Elite – Redemption

Julia Hausburg

Fighting

Through

Deep

Waters

Roman

Band 1 der Deep Waters-Reihe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 03/2025

Copyright © 2025 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-32020-1V003

www.heyne.de

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Julia Hausburg und der Heyne Verlag

Kapitel 1

Henriette

Vor mir liegen 162 Meter Freiheit.

Ich verrenke mir den Hals und drücke die Nase gegen die Fensterscheibe des Shuttlebusses, um die beste Aussicht auf mein neues Zuhause zu erhaschen. In den nächsten sechs Monaten werde ich zwar noch genug Zeit dafür haben, aber dieser Augenblick ist einmalig. Ich bin mir sicher, mich für immer an dieses Gefühl zurückerinnern zu können. Eine Mischung aus kribbelnder Vorfreude und einer Ergriffenheit, die mir beinahe Tränen in die Augen treibt. Das hier passiert wirklich.

Der weiße Rumpf der Sapient Sailor glänzt wie frisch poliert, die Bullaugen liegen wie Perlen an einer Kette in drei Reihen an- und übereinander. Darüber befindet sich das Oberdeck mit seinen fünf großen Segelmasten. Schier endlos ragen sie in den Himmel hinauf, so eindrucksvoll, dass das Brennen in meinen Augen zunimmt. Fieberhaft überlege ich, wie die einzelnen Masten bezeichnet werden, komme aber nicht darauf. Das werde ich hoffentlich bald lernen.

Der Bus hält ein paar Meter vor dem Segelschiff auf dem Cruise-Terminal von Los Angeles. Die junge Frau in der ersten Reihe steht auf und dreht sich zu uns um. Sie hat sich uns vorhin am Flughafen als Elisa, die studentische Hilfskraft, vorgestellt. Ihre braunen Haare reichen ihr bis über die Schultern, die Curtain Bangs kleben ihr in der Stirn. Kein Wunder bei der Hitze draußen. Selbst die Klimaanlage des Busses kommt nur schwer dagegen an.

»Alle mal herhören!«, ruft Elisa, und die knapp zwanzig Studierenden, die mit mir im Bus sitzen, verstummen. »Wenn ihr ausgestiegen seid, nehmt bitte euer Gepäck und geht über die Gangway an Bord. Oben werdet ihr dann für die Einschiffung in Empfang genommen.«

Tumult kommt auf, und da ich hinten sitze, bin ich eine der Letzten, die den Bus verlässt. Manche Studierende wirken genauso verloren und nervös wie ich, andere scheinen sich bereits zu kennen und quatschen miteinander.

Elisa wartet, bis wir alle unsere Koffer geholt haben, und steigt dann wieder in den Bus ein. Sicher, um am Flughafen die nächsten Studierenden in Empfang zu nehmen.

Auf der Gangway bildet sich eine Schlange. Das Metall federt unter unseren Schritten, und ich blicke über den Handlauf hinweg ins Hafenbecken. Im trüben Wasser schwimmt Müll. Enttäuscht über die Sorglosigkeit mancher Menschen verziehe ich das Gesicht.

Langsam rücke ich in der Schlange auf, bis ich ganz oben auf der Gangway stehe. Ein letzter großer Schritt, und ich betrete das Deck der Sapient Sailor. Ein Schauer rieselt mir über den Rücken. Ich bin wirklich da. Während ich zum Münchner Flughafen gefahren bin und auf dem Zwölf-Stunden-Flug die meiste Zeit geschlafen habe, ist es mir vorgekommen wie ein Traum. Als könnte ich jederzeit aufwachen und realisieren, dass ich das begehrte Auslandssemester im Südpazifik doch nicht ergattert habe. Jetzt, in genau diesem Moment, fühlt es sich zum ersten Mal real an. Sicherheitshalber zwicke ich mich unauffällig in den Arm. Ja, absolut real, stelle ich fest, als die Haut ordentlich zwiebelt.

»Willkommen auf der Sapient Sailor«, begrüßt mich ein junger Mann in Borduniform, bestehend aus einer dunkelblauen Hose und einem weißen Hemd. Er hat hinter einem hüfthohen Pult Position bezogen. »Darf ich bitte Ihren Reisepass sehen?«

Ich reiche ihm das Dokument. Er scannt es ein und weist mich an, in eine kleine Standkamera zu schauen, ähnlich wie die am Flughafen bei der Passkontrolle.

»Vielen Dank«, sagt er und gibt mir meinen Pass zurück. Ich rutsche zur nächsten Station auf, an der sich wieder eine kleine Schlange gebildet hat. Die Studentin vor mir seufzt genervt und trommelt ungeduldig mit den manikürten Fingernägeln auf ihren goldenen Hartschalenkoffer. Mich stört die Wartezeit nicht, weil sich mir dadurch die Gelegenheit bietet, mich auf dem Deck umzusehen.

Der Empfangsbereich mit den verschiedenen Stationen zur Einschiffung befindet sich zwischen dem zweiten und dritten Mast. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um die Spitzen sehen zu können. Die Segel sind nicht gespannt, sondern hängen gerollt an den runden Zwischenbalken. Wenn meine Google-Recherche zu Hause korrekt war, sind das die Rahen.

Die Sonne knallt mit aller Kraft auf das Oberdeck herunter. Schweiß steht mir auf der Stirn, mein Shirt klebt mir unangenehm am Rücken. Als eine sanfte Brise über meine nackten Unterarme streicht, atme ich kurz auf. Ab morgen wird sie nach salziger, klarer Meeresluft riechen, nicht nach dem schmutzigen L. A. Ich kann es kaum erwarten.

An der nächsten Station muss ich meine Personaldaten in ein Dokument eintragen und meinen Impfnachweis vorzeigen. Für das Auslandssemester gab es eine Liste mit Pflichtimpfungen, die mir einen angeschwollenen Oberarm beschert haben. Eine ganze Woche lang schien ein unsichtbares Gewicht daran zu hängen, und das Mitschreiben in den Vorlesungen wurde zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Denn die Ärztin ging davon aus, dass ich wie die meisten Menschen Rechtshänderin wäre, und hat, ohne nachzufragen, die Spritze an den linken Arm angesetzt. Es passierte so schnell, und ich war ohnehin nervös wegen der Nadel, dass ich es viel zu spät realisiert und mich dann nicht mehr getraut habe, etwas zu sagen. Wie automatisch schüttle ich über mich selbst den Kopf.

Mein Handy vibriert, und ich ziehe es hervor, während ich an der nächsten Station warte.

Annelie:

Wo zur Hölle bist du?

Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis meiner Schwester auffallen würde, dass ich weg bin. In meinem Bauch breitet sich ein mulmiges Gefühl aus, und ich beiße mir auf die Unterlippe. Eine zweite Nachricht trudelt ein.

Annelie:

Du bist nicht im Ernst geflogen, oder? Das halbe Jahr auf See wirst du niemals durchhalten! Dafür bist du doch viel zu schüchtern, dir fehlt ja sogar der Mut, dich zu verabschieden. Du solltest dich schämen!

Ihre Worte treffen mich mit gezielten Stichen. Sie kennt mich. Besser als irgendwer sonst auf dieser Welt. Vielleicht sogar besser als ich mich selbst?

Annelie hat sich vor einem halben Jahr ebenfalls auf dieses Auslandssemester für deutschsprachige Studierende beworben, nachdem sie erfuhr, dass ich dabei sein will. Es hat noch nie etwas gegeben, das ich für mich allein hatte. Seit ich denken kann, laufe ich ihr hinterher, schließe mich ihren Plänen an, stehe in ihrem Schatten. Aber dann wurde ich angenommen und sie nicht. Seitdem bombardiert sie mich mit verletzenden Kommentaren und ständigen Vorhaltungen, ich hätte es nicht verdient. Ich weiß, wie meine Schwester manchmal sein kann. Und warum sie so ist. In den meisten Fällen kann ich damit umgehen, aber so schlimm wie in den letzten Wochen war es noch nie. Sie drängte mich, von meinem Platz zurückzutreten, und ich fragte mich nicht nur einmal, ob sie vielleicht recht hat. Bin ich zu feige und zu schwach für ein halbes Jahr auf See? Habe ich es nicht so sehr verdient wie sie oder andere Studierende? Die Zweifel bohrten sich förmlich in mein Inneres, prallten dort aber immer wieder auf meine Leidenschaft für Meeresbiologie. Schon als Kind war ich fasziniert von der Welt unter der Wasseroberfläche. Ein verborgener, stiller Ort voller Leben, an dem es unzählige Geheimnisse zu entdecken gibt. Besonders die Korallenriffe haben es mir angetan. Sie sind viel mehr als schöne Unterwasserlandschaften – sie sind das Herz des Ozeans und beeinflussen die gesamte Umwelt, weit über die Grenzen des Meeres hinaus. Mehr als alles andere will ich die Zeit auf der Sapient Sailor nutzen, um den Südpazifik zu erforschen und Korallenriffe zu studieren. Vielleicht wird es hart werden, aber die Erfahrungen, die ich in den nächsten sechs Monaten machen werde, sind einmalig. Wäre da nur nicht die Tatsache, dass er auch hier sein wird …

Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Ich war fertig mit ihm, nachdem er ohne Abschied aus meinem Leben verschwunden war und unsere langjährige Freundschaft einfach so weggeworfen hatte. Zumindest habe ich mir das immer eingeredet. Stattdessen sind da jetzt Neugier und Aufregung, wenn ich mir unser erstes Aufeinandertreffen nach all der Zeit ausmale. Wird er sich endlich für sein mieses Verhalten entschuldigen? Werden wir anschließend in Erinnerungen an unsere Kindheit und Jugend schwelgen? Die Vorstellung ist schön, aber ich glaube nicht, dass es etwas daran ändern würde, wie wütend und verletzt ich wegen der Geschehnisse vor sechs Jahren bin.

Mein Handy vibriert erneut und reißt mich aus meinen Gedanken.

Annelie:

Wie bist du überhaupt an deinen Pass gekommen?

Sofort verdüstert sich meine Laune. Der Reisepass, den sie heimlich aus meinem Zimmer entwendet hat. Damit ich nicht fliegen kann. Ich habe es nur bemerkt, weil ich am Abend vor dem Abflug noch mal alles akribisch durchgegangen bin. Die halbe Nacht lang habe ich den Pass gesucht und ihn schließlich im Müll gefunden. Bittere Enttäuschung keimt in mir auf. Niemals hätte ich gedacht, dass meine Schwester so weit gehen würde. Ich bin sofort abgereist, obwohl mein ursprüngliches Taxi mich erst viele Stunden später hätte holen sollen. Aber ich traute Annelie nicht mehr über den Weg. Was hätte sie noch versucht, um meine Abreise zu verhindern? Um mir diese Chance zu verwehren?

Fahrig lösche ich ihre Nachrichten und stelle mein Handy auf Stumm. Ich will nicht mit ihr reden. Soll sie schmoren und toben, nichts anderes hat sie nach der Aktion mit dem Pass verdient. Im Müll, ernsthaft? Das ist nicht mal ein besonders originelles Versteck!

Jemand stößt unsanft gegen mich, sodass ich über meinen Koffer stolpere und nur mit Mühe das Gleichgewicht halten kann. Erschrocken schaue ich auf. Ein junger Mann blinzelt mich an, er hat einen sonnengebräunten Teint und dunkle Haare.

»Oh, entschuldige, ich habe dich nicht gesehen«, sagt er, bevor er an mir vorbeiläuft.

Seine Worte hallen auf Dauerschleife in meinem Kopf nach. Ich habe dich nicht gesehen. Nie sieht mich jemand. Sie sehen immer nur Annelie. Die schönere, witzigere, lautere Schwester. Ich verschwinde hinter ihr, fühle mich, seit ich denken kann, oft wie unsichtbar. Aber … Annelie ist nicht hier. Ich will endlich wissen, wie es ist, nicht immer mit ihr verglichen zu werden und dabei permanent den Kürzeren zu ziehen.

»Die Nächste bitte«, reißt mich eine Frauenstimme aus meinen Gedanken.

Röte überzieht meine Wangen, als ich bemerke, dass die Station vor mir längst frei ist. Mist, ich hasse diese Eigenschaft an mir. Es sind die roten Haare und meine helle, am ganzen Körper von Sommersprossen überzogene Haut, die mich ständig noch mehr in Verlegenheit bringen!

Schnell rücke ich auf und trete vor die Frau. Ich schätze sie auf Mitte dreißig, ihre hellbraunen Haare sind zu einem Dutt gebunden, auf ihrer Nase sitzt eine Brille mit großen, runden Gläsern. Ob sie eine Dozentin ist? »Wie ist Ihr Name und was Ihr Studiengang?«

»Henriette Sommerfeldt, Meeresbiologie.«

Vor ihr stehen drei Fächermappen, in denen alphabetisch sortiert Umschläge stecken. Sie greift nach der mittleren und zieht einen unter dem Buchstaben S hervor. Nach einem prüfenden Blick reicht sie ihn mir. »Hier drin ist Ihre Bordkarte, die gleichzeitig auch der Schlüssel zu Ihrer Kabine ist. Eine Kollegin von der Crew wartet an der Treppe und wird Ihnen dabei helfen, das richtige Deck zu finden.«

»Danke«, erwidere ich und umklammere den Umschlag fest mit meinen Fingern, bevor ich mich umdrehe und nach dem Treppenhaus Ausschau halte. Ich entdecke es einige Schritte entfernt hinter dem zweiten Mast. Daneben ist ein weiterer Tisch aufgebaut, auf dem große Glasbehälter mit Getränken und Gläser stehen.

Mein Koffer klackt über die Teakholzbretter des Decks, während ich darauf zulaufe.

»Hallo«, begrüßt mich die Kollegin. »Möchten Sie etwas trinken?«

Ich betrachte die Behälter, in denen man zwischen Wasser mit Zitronenscheiben, Wasser mit Minze und einem Multivitaminsaft wählen kann. »Nein danke«, sage ich. Ich habe noch die Cola light im Rucksack, die ich mir am Flughafen gekauft habe.

»In Ordnung. Dann erkläre ich Ihnen jetzt den Weg zu Ihrer Kabine. Welche Nummer haben Sie?«

Ich blicke zum ersten Mal auf den Umschlag, auf dem mein Name sowie eine dreistellige Nummer stehen. »Kabine 319.«

»Sie gehen einfach die Treppe hinunter bis auf das Meeresbiologiedeck. Das sind zwei Stockwerke, Sie können auch den Fahrstuhl nehmen, wenn Ihnen das mit dem Koffer lieber ist. Von dort wenden Sie sich Richtung Heck, Ihr Zimmer befindet sich auf der Steuerbord-Seite.«

Sofort habe ich die kleine Jacht meiner Eltern vor Augen, auf der mein Vater vor vielen Jahren die Reling mit farbigem Klebeband markiert hat, um uns als Kindern das Erlernen der Begriffe zu erleichtern. Wenn man Richtung Bug steht, ist Backbord links. Daher bekam die Reling auf dieser Seite meine Lieblingsfarbe Blau. Annelie ist Rechtshänderin, und die Steuerbord-Seite wurde auf ihren Wunsch hin lila markiert. Die Markierungen sind bis heute dort, weil meine Mutter und Annelie sich die Gemeinsamkeit einer Rechts-links-Schwäche teilen.

Ich bedanke mich bei der Kollegin, bevor ich das Treppenhaus betrete und mich für den Fahrstuhl entscheide. Dort sind die Knöpfe mit den einzelnen Namen der Decks gekennzeichnet, und ich drücke auf Meeresbiologie. Ruckelnd setzt er sich in Bewegung und fährt tief hinab in den Bauch des Schiffs. Es muss riesig sein, und ich kann es kaum erwarten, jeden Winkel davon zu erkunden.

Ich taumele leicht, als der Fahrstuhl jäh hält. Er öffnet seine Türen auf einen ausgestorbenen Gang, und plötzlich wird mir bewusst, wie allein ich bin.

Du bist nicht mutig genug dafür, habe ich sofort wieder Annelies Stimme in meinem Ohr. Sie begleitet mich bei jedem Schritt, den ich durch den mit blauem Teppichboden ausgelegten Gang mache. Kleine weiße Sterne sind darauf gedruckt. Die Wände sind bis ungefähr auf Oberschenkelhöhe mit braunen Holzvertäfelungen verziert und darüber weiß. Rechts gehen Türen ab, links gibt es einen glänzenden Handlauf.

Ich muss nicht weit laufen, bis ich Kabine 319 erreiche. Hier werde ich in den nächsten Monaten viel Zeit verbringen. Ich atme einmal tief ein und aus, um mich zu sammeln.

Ob meine Mitbewohnerin bereits angekommen ist? Sofort klopft mein Herz schneller. Was, wenn sie mich nicht leiden kann? Uns keine Gemeinsamkeit verbindet und wir nichts haben, worüber wir uns unterhalten können? Wenn sie mich ignoriert? Wenn die nächsten sechs Monate der Horror werden?

Annelie wüsste genau, was zu tun ist. Ihr fällt es immer leicht, auf neue Leute zuzugehen. Durch ihre offene Art will jeder gerne mit ihr befreundet sein. Sie ist wie das Licht, von dem alle Motten angezogen werden. Sie …

Die Kabinentür öffnet sich. Vor mir steht eine Frau in meinem Alter, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Kiara aus Outer Banks hat. Um ihren Hals liegt eine bunte Perlenkette, und sie trägt ein olivfarbenes Top mit Spaghettiträgern zu kurzen Shorts.

Sie streicht sich eine gelockte Strähne ihrer dunklen, voluminösen Haare aus dem Gesicht. »Hi. Alles gut bei dir? Ich habe dich durch den Spion gesehen. Du stehst da jetzt schon ziemlich lange rum.«

Sofort werde ich rot. Wie peinlich. »Ich … ich bin Henriette«, stammele ich. »Deine Mitbewohnerin.«

»Abigail, aber nenn mich bitte einfach Abi.« Sie grinst. »Und jetzt komm endlich rein, die Kabine ist der absolute Wahnsinn!«

Abi tritt zur Seite, sodass ich an ihr vorbeispähen kann. Mir bleibt der Mund offen stehen. Wow, das ist tatsächlich der Wahnsinn!

Kapitel 2

Lukas

Das Leben ist eine Ansammlung von Abenteuern, verkündete mir mein Vater, als ich fünfzehn Jahre alt war. Ich legte in Gedanken eine Kette an, sammelte besondere Momente, die ich wie Perlen darauf fädelte. Mein erster Triathlon, die Auszeichnung bei »Jugend forscht« oder die laue Sommernacht, in der ich mit meinen Freunden und einer Flasche Kirschlikör um die Häuser gezogen bin. Ein Jahr später erfuhr ich, was mein Vater wirklich mit den Abenteuern gemeint hatte, und versuchte, die Kette zu unterbrechen.

Wann immer ich nicht schnell genug bin, sortiert mein Kopf auch heute noch danach. Wie jetzt. Denn hier zu sein, fühlt sich wie ein weiteres Abenteuer an. Womöglich das größte jemals. Das Abenteuer meines Lebens.

Ich halte meine Bordkarte an das Schloss der Kabinentür. Es klickt, dann lässt sich die Klinke herunterdrücken.

»Hallo?«, rufe ich, falls mein Mitbewohner schon hier ist. Rechts von mir ist eine zweite Tür, hinter der ich Wasserrauschen höre. Das Badezimmer?

Ich ziehe den Koffer über die Schwelle und schließe die Kabinentür hinter mir. Dann sehe ich mich um. Mein Schlafplatz für die nächsten Monate ist rechteckig und nicht besonders groß. Ich schätze, ich kann drei Ausfallschritte in der Breite machen und zehn in der Länge. An der Außenwand sind zwei Einzelbetten mit Nachtschrank und Lämpchen platziert, jeweils unter einem Bullauge. Kabine 338 befindet sich auf der Backbordseite, wo jetzt am Nachmittag die Sonne steht. Ihre Strahlen fallen direkt auf die Betten, so einladend und hell, als wollten sie mich und meinen Jetlag willkommen heißen. Schnell lasse ich den Blick weiterwandern, bevor ich noch in Versuchung gerate.

An der rechten Kabinenwand steht ein anthrazitfarbener Zweisitzer, der perfekt zum Teppichboden in derselben Farbe passt. Das Muster aus kleinen goldenen Knoten darauf ist gewöhnungsbedürftig. Die Wände sind wie auf dem Flur holzvertäfelt, was eine edle Atmosphäre schafft, die mir gut gefällt. Neben den beiden Bullaugen hängt jeweils ein Vorhang und über dem Zweisitzer ein gold gerahmtes Bild der Sapient Sailor. Ich drehe mich nach links, wo zwei Stühle an einem Tisch stehen, auf dem …

Ich zucke erschrocken zurück. »Scheiße, da liegt ein Arm!«, stoße ich entgeistert aus.

»Ja, das ist meiner«, ertönt eine Stimme hinter mir, und ich fahre erneut zusammen, bevor ich herumwirbele.

Vor mir steht ein Mann in meinem Alter, mit dunklen Haaren und nackter Brust, über die noch Wassertropfen perlen. Um die Hüften hat er ein Handtuch geschlungen. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass das Wasserrauschen verstummt ist. Mit der rechten Hand zupft er das Handtuch zurecht, während sein linker Arm am Ellbogen in einem Stumpf endet. Das erklärt die Prothese auf dem Tisch.

»Schleich dich doch nicht so an«, sage ich und grinse, damit er weiß, dass es ein Scherz ist.

Er erwidert es. »Sorry, alte Gewohnheit. Ich bin mit einem kleinen Bruder aufgewachsen und dank ihm Meister im Erschrecken.«

»Gut zu wissen.« Ich halte ihm meine Hand hin. »Ich bin Lukas, dein Mitbewohner.«

Wir schlagen ein, und mir fällt auf, dass er einen festen Händedruck hat. Kein Wunder bei dem breiten Bizeps, den trainierten Schultern und dem Waschbrettbauch. Scheint, als hätten wir unsere Leidenschaft fürs Krafttraining gemeinsam.

»Kai.«

Nachdem wir einander losgelassen haben, greift er nach der Prothese. Sie sieht hochmodern aus und hat fast den Farbton von Kais sonnengebräunter Haut.

»Entschuldige meine Reaktion eben. Auf den ersten Blick sah er verdammt echt aus«, sage ich und versuche, Kai nicht zu neugierig anzustarren, während er die Prothese anlegt. Ich habe noch nie eine in Echt gesehen und würde am liebsten Hunderte Fragen stellen. Wie funktioniert sie? Wofür sind die Elektroden? Wo befindet sich der Antrieb? Welche Technik ist darin verbaut? Meine Mutter sagt heute noch manchmal mit einem spielerischen Augenrollen, dass ich sie früher mit meinen Warum-Fragen und dem Interesse für technische Spielereien halb in den Wahnsinn getrieben hätte. Wenn mein Herz nicht für Meeresbiologie schlagen würde, hätte ich womöglich Elektrotechnik oder Maschinenbau studiert.

»Das will ich auch hoffen, meine Eltern haben eine ordentliche Stange Geld dafür hingeblättert.« Prüfend bewegt er die Finger, und ich bin beeindruckt, wie lautlos und flüssig das funktioniert. »Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich mir bereits einen Schrank und ein Bett ausgesucht habe?«

»Nein, gar nicht. Wie lange bist du denn schon hier?«

»Vielleicht eine Stunde? Ich war so verschwitzt, nachdem ich bei der Einschiffung eine halbe Ewigkeit in der prallen Sonne anstehen musste, dass ich erst mal unter die Dusche gesprungen bin. Die ist übrigens gewöhnungsbedürftig.«

Ich werfe einen Blick ins Bad. Wasserdampf schlägt mir entgegen, und der Boden ist nass. Der fensterlose Raum ist winzig und besteht aus Toilette, Waschbecken und einer schmalen, bodentiefen Dusche. Die Armaturen und Handtuchhalter sind goldfarben, die Wände ziert eine Marmoroptik. Alles wirkt hochwertig und ist – da dies das erste Auslandssemester ist – nigelnagelneu. »Okay, ja, es ist vielleicht ein bisschen klein.«

»Mit seinen One-Night-Stands duschen zu gehen, fällt also aus.«

Ich drehe mich zu ihm um und hebe eine Braue. »Willst du eine Socken-Regel einführen?«

»Ich habe was viel Besseres.« Kai geht an mir vorbei und öffnet eine der beiden Schranktüren, die in dem schmalen Gang gegenüber der Badezimmertür in die Wand eingelassen sind. Er zieht etwas hervor und hält es mir grinsend unter die Nase.

Es ist ein Anhänger für die Türklinke, die es auch in Hotels gibt. Darauf steht über der Silhouette eines Pärchens Do not disturb.

»Dreh mal um«, sagt Kai.

Auf der anderen Seite sind drei Personen mit ineinander verschränkten Gliedmaßen zu sehen, und die Überschrift lautet Welcome to join. Ich muss lachen. »Das ist wunderbar geschmacklos.«

»Oder? Ich habe es bei meinem letzten Urlaub auf Ibiza in einem Souvenirshop entdeckt und konnte nicht widerstehen.« Er nimmt mir das Türschild wieder ab und hängt es an einen der drei Haken neben der Badezimmertür. »Also, du weißt Bescheid«, meint er und zwinkert mir zu.

Ich öffne die linke Schranktür und erspähe eine Garderobenstange und fünf Fächer. Unten ist Platz, um meinen Koffer zu verstauen. Oder Schuhe, wenn ich den Koffer unter das Bett schiebe.

»Wo kommst du eigentlich her?«, frage ich Kai und beginne, meine Klamotten einzuräumen.

»Aus Bremen. Und du?«

»Hamburg«, antworte ich.

»Du bist aber nicht über Frankfurt geflogen, oder saßen wir unwissentlich im selben Flugzeug?«

»Nein, Direktflug aus Hamburg.«

»Ah«, macht er und lässt sein Handtuch schwungvoll zu Boden fallen. Vollkommen schamlos zieht er sich neben mir um und wirft dabei Klamotten auf das Sofa und sein Bett. Ich kann mir jetzt schon bildlich vorstellen, in was für ein Schlachtfeld sich unsere Kabine binnen kürzester Zeit verwandeln wird. Ich bin ebenfalls nicht der Ordentlichste.

»Hast du von dem Icebreaker-Abend gehört? Er findet nach dem Abendessen auf dem Horizontdeck statt. Es soll Cocktails und Musik geben. Hast du Lust, hinzugehen?«

»Klar, gerne«, antworte ich und sortiere meine Jeans und Shorts in den Schrank.

»Perfekt.« Er sammelt sein nasses Handtuch vom Boden auf und gähnt. »Um achtzehn Uhr gibt es Abendessen. Ich lege mich noch ein Stündchen hin, damit ich nachher fit bin.«

»Mach das, aber … Woher weißt du das überhaupt?« Mir wurde bei der Einschiffung nicht viel gesagt. Das Personal hatte gut zu tun, die Schlangen waren zu lang, um mehr Fragen als nötig zu stellen.

Seine dunklen Augen blitzen durchtrieben. »Ich habe im Bus mit der hübschen studentischen Hilfskraft geflirtet und allerhand in Erfahrung bringen können.«

»Du scheinst ein Casanova zu sein. Muss ich mir Sorgen machen, dass der Anhänger jeden zweiten Abend an der Türklinke hängen wird?«

»Keine Ahnung. Vielleicht? Ich will in den nächsten Monaten einfach Spaß haben.« Kurz huscht sein Blick zu seiner Prothese und verdüstert sich. Ich frage mich, was hinter seinen Worten steckt. Was ihm passiert ist. Aber im nächsten Moment setzt er wieder sein Grinsen auf, salutiert und schmeißt sich aufs Bett. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie er sich schwarze Kopfhörer über die Ohren zieht.

Kai wirkt wie ein lebensfroher Spaßvogel. Aber ich ahne, dass viel mehr in ihm steckt. Ich bin gespannt, ob wir irgendwann so weit sein werden, darüber zu reden. Menschen sind nicht ohne Grund so, wie sie sind. Unsere Vergangenheit prägt uns. Kai und ich scheinen uns ähnlich zu sein. Deshalb vermute ich, dass es hinter diesem Sonnyboy-Image Schatten gibt. Dass er etwas verbirgt.

Genau wie ich.

Und eines weiß ich aus Erfahrung: Irgendwann holen mich die Schatten immer ein.

Kapitel 3

Henriette

Die Sapient Sailor liegt ruhig im Hafen. Nur ganz leicht kann ich den Wellengang durch ein schwaches Schaukeln spüren, wenn ich mich darauf konzentriere. Es kommt mir vor wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Ich warte auf Wellen, die sich höher türmen, Böen, die an mir reißen, den großen Knall. Den Moment, in dem ich ihn endlich wiedersehe. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

Mein Herz flattert nervös in meiner Brust, während ich mich im Speisesaal umschaue. Ich kann ihn nirgendwo entdecken, dabei muss er hier sein.

»Alles okay?«, fragt Abigail, die neben mir am Tisch sitzt.

Ich verhalte mich albern. Schnell nicke ich und senke den Blick auf meine Spaghetti Bolognese. In den nächsten sechs Monaten werde ich meinen ehemaligen besten Freund wahrscheinlich täglich sehen, da wir dasselbe studieren. Da kommt es jetzt auch nicht mehr darauf an, ob wir uns hier oder später beim Icebreaker zum ersten Mal begegnen.

Das Abendessen findet jeden Tag um achtzehn Uhr im großen, zweistöckigen Saal in der Mitte des Segelschiffs statt. Wie in der Mensa meiner Uni gibt es eine Essensausgabe mit einem Fleischgericht und einer vegetarischen Alternative. Daneben stehen eine Salatbar sowie ein Büfett mit Desserts in kleinen Gläschen und einer großen Obstauswahl.

Die Essensausgabe befindet sich auf dem untersten Deck, dem Sprachdeck. Dort stehen außerdem einige Tische. Der Saal ist in der Mitte nach oben hin offen, weiße Säulen tragen die zweite Ebene, auf der es weitere Tische in unterschiedlichen Größen gibt. Hinauf gelangt man über eine geschwungene Treppe mit schwarzem Geländer.

Abi und ich haben erst nach dem Hinsetzen auf der zweiten Ebene bemerkt, dass es hier, auf dem Meeresbiologiedeck, ebenfalls einen Eingang in den Speisesaal gibt. Von unserer Kabine aus ist der Weg so viel kürzer. Nur die Nautiker, die auf dem Deck über uns untergekommen sind, haben beim Essen Pech gehabt. Dafür befindet sich auf ihrer Ebene der Gemeinschaftsbereich mit Sitzecken, Baratmosphäre und einem Billardtisch.

Die Namen der einzelnen Decks kann ich mir zum Glück auf Anhieb merken. Dass unsere Kabinen und Lehrräume auf den nach Studienrichtung benannten Decks liegen, macht die Orientierung leichter. Nur das oberste Horizontdeck, auf dem ich heute angekommen bin, tanzt ein bisschen aus der Reihe. Da es unter freiem Himmel liegt, finde ich den Namen trotzdem passend. Wahrscheinlich werde ich in den nächsten Monaten viel Zeit oben an der Reling verbringen. Das Meer beobachten, Sonnenuntergänge genießen, mir die Seeluft um die Ohren wirbeln lassen. Dort findet nachher auch der Icebreaker-Abend statt.

Abi und ich haben uns einen Vierer-Tisch ausgesucht, und ich bin froh, dass die übrigen Plätze bisher leer geblieben sind. Dadurch kann ich mich ganz auf sie konzentrieren. Ich habe so schon ständig Angst, mich zu blamieren. Was, wenn ich etwas Komisches sage? Mir eine Nudel in den Schoß fällt? Ich Soße am Kinn kleben habe und es nicht bemerke? Nein, eine einzelne Person reicht für den Anfang.

Obwohl Abi mir sympathisch ist, wechsele ich ständig die Position auf meinem Stuhl und zupfe an der Serviette herum. Wahrscheinlich liegt es an dem bevorstehenden Wiedersehen mit Lukas, das ich einfach nicht ausblenden kann. Sechs Jahre sind vergangen, und es tut immer noch fast genauso weh wie damals. Vielleicht hätte ich ihn nicht heimlich auf Instagram stalken sollen. Ihm und unserer verlorenen Freundschaft hinterher zu trauern, hat nichts besser gemacht. Ganz im Gegenteil.

Sofort sind meine Gedanken wieder bei Annelie, und mein Griff um die Gabel wird fester. Mit ihr will ich mich jetzt ganz bestimmt nicht auseinandersetzen! Ein Glück, dass sie nicht hier ist. Ich hoffe, sie hockt zu Hause in München in ihrem Zimmer und ärgert sich, weil ich ihre Flut von Nachrichten nicht beantwortet habe.

»Ich bin gespannt auf den Icebreaker-Abend«, sagt Abigail. Sie trägt noch immer ihr olivfarbenes Spaghetti-Top und dazu eine lange schwarze Hose. Ich habe mich ähnlich angezogen und die Leggings vom Flug gegen Jeans und ein schwarzes Top mit Spitzenverzierung am Dekolleté getauscht. »Vor allem auf die anderen Meeresbiologiestudenten. Wir lernen zusammen, schlafen auf demselben Deck. Irgendwie sind wir sechs Monate lang wie eine große Familie, oder?«

Familie. Dieses Wort ist trügerisch. Familie kann dir ein Messer in den Rücken stechen, dich boykottieren und dein größter Konkurrent sein. Dich davon abhalten, deine Träume zu verwirklichen.

Ich merke selbst, wie verbittert meine Gedanken sind, und seufze. »Ich bin ein bisschen nervös«, gebe ich zu. Konversationen zu beginnen und Freunde zu finden, ist mir noch nie leichtgefallen. Auf der Schule war Annelie die Beliebte, jeder wollte mit ihr befreundet sein, während es in meinem Leben nur Lukas gab.

Bis er mich fallen gelassen hat …

»Das ist okay. Aber es wird sicher toll. Allein für die Cocktails lohnt es sich doch, hinzugehen.«

Ich grinse. »Ja, da hast du recht.«

Abigail ist nett. Ich hoffe nur, dass sie mich immer noch mag, wenn sie die anderen Studentinnen unseres Jahrgangs kennengelernt hat, die mit Sicherheit offener, witziger und gesprächiger sind als ich.

Mein Grinsen verblasst. Annelie muss sich nicht einmal anstrengen, um neue Leute kennenzulernen. Ich habe sie stets genau beobachtet. Ihr sympathisches Lächeln, ihre aufmerksamen Komplimente und wie sie anderen das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein. Vielleicht bekomme ich das ja auch hin? Was, wenn ich während meiner Zeit auf der Sapient Sailor ein bisschen mehr wie sie bin?

Ein warmes Rieseln durchläuft mich. Das ist die Idee!

Was würde Annelie jetzt zu Abi sagen? Ich denke über all die Situationen nach, in denen sie wie eine Elfe durch die Schulflure geschwebt ist. Wie sie mit den Mädchen umgegangen ist, die zu ihr aufgesehen haben.

Schritt 1: Lächeln

Schritt 2: Komplimente verteilen

Schritt 3: Interesse zeigen

»Ich mag deine Kette«, sage ich und imitiere dabei die Honigstimme meiner Schwester. Warm, freundlich, charmant. Ich habe sie unzählige Male vor dem Spiegel geübt. Mich gefragt, warum niemand sieht, dass Honig vor allem klebrig und zäh ist.

Abigail strahlt. »Danke! Sie ist ein Erbstück meiner Großmutter. Jede Perle wurde von einer meiner Vorfahrinnen handgefertigt und repräsentiert deren Lebensgeschichte. Vor ihrem Tod hat meine Großmutter diese hier gemacht.« Sie zeigt auf eine große rote Perle in der Mitte der Kette, die direkt über ihrem Brustbein liegt. »So trage ich meine Familie und meine südafrikanische Herkunft immer bei mir.«

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, und eine peinliche Stille entsteht. Was würde Annelie antworten? Ich muss schneller in die Rolle meiner Schwester schlüpfen können, wenn das hier funktionieren soll!

»Sie ist wunderschön«, sage ich und lächele. »Und durch die Bedeutung etwas Einmaliges.«

»Besitzt du auch ein besonderes Erbstück?«

Ich überlege kurz. »Meine Eltern haben eine Standuhr, die innerhalb der Familie weitergegeben wird.«

»Ich muss zugeben, ich habe eine Schwäche für alte Dinge, in denen so viele Geschichten stecken. So viele Leben. Manchmal schlendere ich durch die Antiquariate in meiner Heimatstadt Bremen und male mir aus, woher die Gegenstände stammen oder wem sie früher gehört haben.«

Ich erinnere mich an Annelies Schritt 3. »Was war das Verrückteste, was du jemals in einem Antiquariat entdeckt hast?«

Abis Gesicht leuchtet auf, und ich freue mich darüber, offenbar genau die richtige Frage gestellt zu haben.

»Ich habe mal ein Fotoalbum mit Schwarz-Weiß-Fotografien einer Frau entdeckt. Sie zeigten sie in unterschiedlichen Lebensphasen, nie hat sie in die Kamera gesehen. Aber noch verrückter wurde es, als ein vergilbter Liebesbrief zwischen den Seiten herausfiel. Darin schrieb der Verfasser von unerfüllter Liebe aus der Ferne. Ich glaube, die Frau hatte keine Ahnung, wie oft sie fotografiert wurde.« Sie runzelt die Stirn und pikst ein Stück Zucchini aus ihrer vegetarischen Lasagne auf ihre Gabel. »Romantisch oder gruselig?«, fragt sie und schiebt sie sich in den Mund.

»Definitiv gruselig«, sage ich und schüttele mich.

Abi stimmt mir lachend zu, und ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Mich an Annelies Verhalten zu orientieren, hat funktioniert! Die Zweifel verblassen, ich werde sicherer, fühle mich längst nicht mehr so ängstlich und unbeholfen wie zu Beginn des Abendessens.

Zehn Minuten später bringen wir unsere leeren Teller zurück auf das Sprachdeck, wo sich neben der Essensausgabe ein Geschirrband befindet, das in die Küche führt.

Dann machen wir uns auf den Weg zum Horizontdeck. An der frischen Luft ist es noch immer warm, aber längst nicht mehr so unerträglich heiß wie bei der Einschiffung, da die Sonne bereits tief steht. Mein Blick wird vom Hafen von L. A. angezogen. Bei der Anreise war ich zu aufgeregt und fokussiert auf die Sapient Sailor. Jetzt erkenne ich die ikonische Vincent Thomas Bridge, davor zwei gigantische Kreuzfahrtschiffe und die Containerterminals, an denen Kräne unermüdlich Lasten heben und senken. Ein leichter Geruch von Diesel liegt in der Luft, in der Ferne dröhnen Schiffsmaschinen und ein Nebelhorn. Möwen kreisen über den Frachtern, deren bunte Container wie Bauklötze aufeinandergestapelt sind. Trotz der Abendstunde herrscht emsige Betriebsamkeit. Die Größe des Hafens ist faszinierend, aber mir gefällt die gegenüberliegende, zum Pazifik hin ausgerichtete Seite besser. Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich eine abgelegene ruhige Insel immer einem aufregenden Städtetrip vorziehen.

Auf dem Deck wartet Elisa, die studentische Hilfskraft aus dem Bus. Sie trägt Jeansshorts und ein weißes T-Shirt, über ihrer Schulter hängt eine Aktentasche, an der ein ganzes Knäuel verschiedenfarbiger Gummi-Armbänder baumelt. »Willkommen beim Icebreaker-Abend«, begrüßt sie uns. »Welcher Studiengang seid ihr?«

»Meeresbiologie«, antworte ich.

Sie löst zwei blaue Armbänder und reicht sie uns. »Die sind dazu da, damit ihr euch leichter untereinander erkennt. Blau steht für Meeresbiologie, Grün für Sprache, Rot für Nautik.«

Wir bedanken uns und schlingen die Bänder um unsere Handgelenke.

»Viel Spaß heute Abend«, ruft Elisa uns zu, bevor sie sich einer Gruppe aus vier Frauen zuwendet, die hinter uns aus dem Treppenhaus auf das Deck tritt.

Die Tische von der Einschiffung sind fort, und die Fläche zwischen dem zweiten und dritten Mast ist jetzt frei. Hinter dem Treppenhaus schließt sich ein Barbereich mit Tanzfläche an, der vom vierten bis zum fünften Mast reicht. Es gibt mehrere Stehtische, aber auch Loungemöbel an der Reling. Hinter dem fünften Mast, am Heck, befindet sich ein Pool, der gerade groß genug ist, um ein paar Bahnen zu schwimmen. Rechts und links davon stehen verlassene Sonnenliegen. Kein Wunder, über den Pool ist ein schwarzes Netz gespannt. Vermutlich dürfen wir ihn nur zu bestimmten Zeiten nutzen.

In der Horizontbar ist schon einiges los. Cocktails werden ausgeschenkt, im Hintergrund läuft Pop-Musik, Studierende wiegen sich im Takt dazu auf der Tanzfläche oder unterhalten sich an den Stehtischen.

»Holen wir uns zuerst was zu trinken?«, fragt Abigail.

»Gerne.« Vielleicht hilft etwas Alkohol, meine Nerven zu beruhigen. Während des Gesprächs mit Abi konnte ich das bevorstehende Wiedersehen mit Lukas eine Zeit lang erfolgreich ausblenden. Aber jetzt trifft mich die Bedeutsamkeit der Situation mit voller Wucht. Meine Hände sind schweißnass. Bereut er, dass unsere Freundschaft damals zerbrochen ist? Wird er sich freuen, mich zu sehen? Und was ist mit mir? Werde ich vor Wut kochen oder ihm sein Verhalten verzeihen können? Werde ich endlich einen Schlussstrich ziehen können, nachdem er ihn mir damals verwehrt hat?

Ich folge Abi zur Bar und schaue mich dabei um. Die Sonne ist fast untergegangen, sodass es aussieht, als würde der Himmel über dem Meer brennen. Ein atemberaubendes Farbenspiel aus Gelb, Orange und Pink, das alles in ein warmes Licht taucht. Einige Studierende stehen an der Reling und machen Fotos von dem Naturschauspiel, aber von Lukas ist keine Spur zu sehen. Was, wenn er überhaupt nicht auf der Sapient Sailor ist? Wenn ich seinen Instagram-Post falsch verstanden habe?

An der Bar gibt es kein Gedränge, wie ich es aus den wenigen Besuchen in Münchner Clubs kenne, sondern eine ordentliche Schlange. Sobald wir an der Reihe sind, bestelle ich einen Mojito bei der Barkeeperin, Abigail einen Cosmopolitan. Während Essen, die Kabine, die Nutzung der Sporteinrichtungen und der Semesterbeitrag im Vorfeld durch einen Pauschalbetrag zu entrichten waren, sind alkoholische Getränke kostenpflichtig. Die Bezahlung funktioniert über unsere Bordkarte, die wie eine EC-Karte an das Kartenlesegerät gehalten wird, um den entsprechenden Betrag abzubuchen. Kabinenschlüssel, Personalausweis, bezahlen: Ich sollte meine Bordkarte auf keinen Fall verlieren.

Mit dem Mojito in der Hand drehe ich mich um und lasse beinahe mein Glas fallen.

Da ist er. Direkt vor mir.

Die Welt scheint stehen zu bleiben, bevor sie sich umso schneller weiterdreht. Mein Herzschlag dröhnt mir überlaut in den Ohren, während ich ihn anstarre. Er sieht älter aus. Mit definierten Wangenknochen, einem Bartschatten am Kinn und einer ordentlich gegelten Frisur. Er war schon früher sportlich, doch jetzt ist er regelrecht muskulös. Immerhin blitzen seine dunklen Augen noch genauso schalkhaft, wie ich es in Erinnerung habe.

»Lukas«, entfährt es mir.

Erst jetzt richtet sich seine Aufmerksamkeit auf mich. Er starrt mich an, und ich warte auf das Wiedererkennen, warte auf ein Lächeln, eine Entschuldigung, vielleicht die eine oder andere Träne von mir. Wir haben fast unsere gesamte Jugend miteinander verbracht, wussten alles voneinander.

Stattdessen hebt er eine Braue. »Äh … hi?«

Es klingt wie eine Frage, und ich kapiere, er erkennt mich nicht. Er hat weitergemacht, mich vergessen. Schmerz flammt in meiner Brust auf und raubt mir den Atem. Ich komme mir so naiv vor. Habe ich wirklich etwas anderes erwartet? Nachdem er Hals über Kopf aus meinem Leben verschwunden ist, ohne sich zu verabschieden?

Lukas steht ein paar Schritte vor der Bar an einem Stehtisch, neben ihm ein zweiter Mann, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Aber ich widme ihm nicht lange genug meine Aufmerksamkeit, um näher darüber nachzudenken. Ich bin ganz auf Lukas fokussiert. Auf das Messer, dass er mir gerade mit zwei eigentlich unbedeutenden Wörtern in die Brust gerammt hat. Wie zur Hölle soll ich es herausziehen, ohne auf dem hellen Holz des Decks zu verbluten?

Abi tritt zu uns, in ihrer Hand ein langstieliges Glas mit rosaroter Flüssigkeit und einer Limettenscheibe am Rand. »Hi, ich bin Abigail.« Sie hebt ihr Handgelenk mit dem blauen Armband hoch. »Meeresbiologie.«

Der Student neben Lukas grinst. »Das trifft sich perfekt, wir ebenfalls. Ich bin Kai, freut mich, dich kennenzulernen.«

Dann passiert es. Dasselbe wie immer. Ich werde unsichtbar. Kais gesamter Fokus richtet sich auf meine Mitbewohnerin. Unsicherheit mischt sich mit dem Schmerz in meiner Brust.

Ich schaue zu Lukas, aber er ist ebenfalls auf Abigail fixiert. Meine Finger zittern. Ich komme mir so unglaublich blöd vor. Es wird sich nie etwas ändern, ich werde nie …

Kai sieht zu mir und streckt mir seine Hand entgegen. »Und du?«

Ich rufe mich zur Vernunft. Das hier ist nicht wie immer. Eine neue Situation, in der ich sein kann, wer ich will. In der ich nicht hinter Annelie oder Abi oder irgendwem sonst verblasse.

Entschlossen straffe ich die Schultern, setze dieses Lächeln auf, das ich schon oft an meiner Schwester gesehen habe. Sexy, geheimnisvoll, fesselnd. »Henriette.«

Wieder huscht mein Blick zu Lukas. Zeigt er Erkennen? Aber nein, er zuckt bei meinem Namen nicht einmal mit der Wimper.

»Wir beide sind uns doch heute Nachmittag begegnet, oder?«, fragt Kai. »Ich habe dich angerempelt. Sorry noch mal dafür.«

Ah, deshalb kommt er mir bekannt vor! Es überrascht mich, dass er sich an mein Gesicht erinnern kann, so schnell, wie er verschwunden ist. »Alles gut, ich hatte es schon wieder vergessen.«

Er hebt eine Hand an die Brust und tut so, als hätte er ein Messer zwischen den Fingern. »Vergessen? Uff, das schmerzt. Normalerweise können sich schöne Frauen immer an mein Gesicht erinnern. Ich muss mich heute Abend wohl ins Zeug legen.« Er zwinkert mir zu, aber ich bin vollkommen perplex. Nicht wegen seines miesen Flirtversuchs, sondern weil mir außer meinem Vater noch kein Mann gesagt hat, dass ich schön sei. Er hat mich nie mit Annelie verglichen, mir nie das Gefühl gegeben, in ihrer Gegenwart weniger wert zu sein. Aber er hat mich stets gebeten, geduldig mit ihr umzugehen. Ein Auge auf sie zu haben. Nicht so streng mit ihr zu sein.

Deshalb habe ich mich gegen ein Studium an der Küste entschieden und bin mit Annelie in München geblieben. Meine Eltern haben mich darum gebeten, meine Schwester hat mich förmlich angefleht. Wie hätte ich da Nein sagen können? Egal, was sie mir im Laufe unserer Jugend an den Kopf geworfen hat, ich habe sie trotzdem lieb. Zumal ich weiß, warum oft etwas aus ihrem Mund kommt, das sie überhaupt nicht so meint. Warum sie manchmal austickt. Warum sie es nicht ertragen kann, dass ich etwas habe und sie nicht. Aber ich bin es so verdammt leid, immer hinter ihr zu stehen. Immer zu verzeihen, über ihr Verhalten hinwegzusehen und meinen Platz in der zweiten Reihe zu akzeptieren. Hier auf dem Schiff hat das endlich ein Ende, weil wir zum ersten Mal getrennte Wege gehen.

Ein Windhauch streift angenehm kühl über das Oberdeck. Er liebkost meine nackten Oberarme, bringt etwas in meinem Inneren zum Vibrieren. Das Auslandssemester bietet mir nicht nur für meine berufliche Zukunft eine neue Chance.

Ich hebe die Mundwinkel, suche nach einer passenden Erwiderung für Kai, aber ein dunkles Lachen löscht jeden Gedanken aus. »Glaub mir, Mann«, wirft Lukas ein und klopft Kai auf die Schulter. »Du bist der Letzte, der Henriettes Eisherz erobern kann!«

Eisherz. Überrascht fahre ich zu ihm herum. Die Ader an seiner Schläfe zuckt, und ich weiß plötzlich mit absoluter Gewissheit, dass er sich doch an mich und unsere Freundschaft erinnert.

An alles davon.

Elf Jahre zuvor

Lukas

Meine Freunde erklärten mich für verrückt und zogen mich auf, als sie vorhin nach Unterrichtsschluss gar nicht schnell genug zur Bushaltestelle aufbrechen konnten, während ich freiwillig in der Schule blieb.

Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen, und ich hatte mir über die Sommerferien vorgenommen, eine neue AG zu besuchen. Inspiriert dazu hatte mich der Nordseeurlaub mit meinen Eltern. Wir waren auf einer Wattwanderung, im Ozeanarium, und ich verbrachte jede freie Minute am Strand. Ich sammelte Muscheln, analysierte das Strandgut. Bis mir klar wurde, dass es so viel zu lernen gab. Dass ich mehr herausfinden wollte. Über die Natur. Und vor allem über das Meer.

Die Biologie-AG von Frau Fischer kam mir daher wie gerufen. Sie versprach, dass wir uns bei ihr in unseren liebsten Bereichen weiterentwickeln könnten und sie uns dabei helfen würde.

Jetzt stand ich hier, vor der grünen Tür zum Biologielabor, und war auf einmal nervös.

Die Worte meiner Freunde klangen noch in meinen Ohren nach. Wie uncool. Nur Loser gehen in die AGs. Wirst du jetzt zum Streber?

Aber sie prallten an mir ab. Nur Loser trauten sich nicht, den Dingen nachzugehen, für die ihr Herz schlug.

Ich stieß die Tür auf und trat ein. Eine Handvoll Schüler war bereits dort und Frau Fischer ebenfalls.

»Hallo, Lukas, schön, dass du gekommen bist. Setz dich doch bitte neben Henriette, sie interessiert sich auch für das Meer.« Frau Fischer deutete auf einen Tisch in der ersten Reihe, an dem ein Mädchen saß.

Sie hatte Haare wie Feuer, die ihr wild um den Kopf herum tanzten. Auf ihrem T-Shirt war eine Schildkröte aufgedruckt, und das gefiel mir.

Ich folgte der Anweisung und ließ mich auf den freien Stuhl neben Henriette fallen.

»Hi«, sagte ich.

Sie musterte mich kurz, bevor sie schnell wegsah. Ich hatte genau gesehen, wie sich ihre Wangen röteten. Und ich hatte noch etwas anderes gesehen: Augen, so blaugrün wie das Meer, von dessen Anblick ich in den drei Wochen an der Küste nicht genug bekommen hatte. Es war schwer gewesen, meinen Blick von den Wellen zu lösen. Ich hatte nichts anderes ansehen wollen, hatte mich über Stunden hinweg in der Weite verlieren können, die mir wie Minuten vorgekommen waren. Und in diesem kurzen Augenblick, als ich in die Augen des Mädchens gesehen hatte, hatte es sich angefühlt, als wäre ich wieder dort.

»Ich bin Lukas«, fügte ich hinzu, um sie aus der Reserve zu locken.

Zögernd drehte sie den Kopf zu mir. »Henriette.«

»Du interessierst dich auch für das Meer?«

»Ja.«

Es war nicht leicht, sie zu knacken. Normalerweise musste ich die Mädchen nur anlächeln, damit sie mir ihre halbe Lebensgeschichte erzählten. Doch Henriette war kühl und wirkte unbeeindruckt. Eine erfrischende Abwechslung zu den Mädchen aus meinem Jahrgang, von denen viele langsam auf die Suche nach einem Freund gingen.

Ich unterdrückte ein Schaudern. »Du bist in der fünften Klasse, oder?«

»Ja«, erwiderte sie wieder nur.

»Ich gehe in die sechste und …«

»Ich möchte mich nicht unterhalten«, unterbrach sie mich. »Wenn du glaubst, in mir jemanden zum Quasseln gefunden zu haben, irrst du dich. Ich möchte dem Unterricht folgen.«

Ihre blaugrünen Augen blitzten, und in dem Moment war mir klar: Sie konnte mir zwar die kalte Schulter zeigen, doch ich mochte sie. Sie forderte mich auf eine mir ungewohnte Art heraus. Mit ihr konnte ich sicher viel lernen.

Das brachte mich wahrscheinlich auch dazu, die nächsten Worte auszusprechen und ihr, ohne nachzudenken, einen Spitznamen zu verpassen. »Du hast ein Eisherz, aber glaube mir, ich werde es schon noch zum Schmelzen bringen.«

Sie lief knallrot an, und ein unbändiges Glücksgefühl breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Es fühlte sich wie der Anfang von etwas Bedeutsamem an.

Kapitel 4

Lukas

Ich habe mich verraten. Durch meinen alten Spitznamen für sie, der mir wie automatisch über die Lippen gerutscht ist.

Henriettes Augen weiten sich erst, dann leuchten sie auf. Unter dem rechten erkenne ich die kleine Narbe auf ihrem Wangenknochen, die sie sich in der sechsten Klasse zuzog, als wir wetteten, wer schneller einen Baum hinaufklettern kann. Ihre Mutter flippte aus, weil der Zweig ihr um Haaresbreite das Augenlicht genommen hätte. Sie verbot uns daraufhin die Herausforderungen, die wir einander ständig stellten.

Erfolglos.

Henriette hat noch immer diesen Blick. Aufmerksam und weise, es ist unmöglich, irgendetwas vor ihr zu verbergen.

Zumindest war es das früher mal. Aber nach dieser Sache damals habe ich all meine Gefühle in meinem Inneren verschlossen, die Situation heruntergespielt, wollte nicht, dass sie sah, wie schlecht es mir wirklich geht – und sorgte so dafür, dass unsere Freundschaft den ersten Riss bekam. Und wie das so ist bei einem Riss: Er bleibt selten allein. Ich ritt mich immer tiefer hinein, der Riss wurde breiter, weitere kamen dazu. Bis unsere Freundschaft zerbrach.

Ich wollte sie retten, wollte meine Henriette zurück. Das Mädchen, das meine größte Leidenschaft teilte, mich in- und auswendig kannte und immer für mich da war. Das stets die richtigen Worte fand und den besten Rat gab. Mit dem ich genauso gut reden wie schweigen konnte. Das meinen Humor nicht nur verstand, sondern teilte. Das wusste, was ich dachte, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen brauchte. Ein einziger Blick zwischen uns reichte aus, um uns zu verständigen.

Aber herauszufinden, was mein Vater wirklich mit seinen »Abenteuern« meinte, änderte mein gesamtes Leben, und Henriette wurde zu einer Erinnerung.

Bis gerade eben. Jetzt steht sie vor mir wie ein Schatten aus der Vergangenheit. Macht mir mehr denn je bewusst, wie naiv ich damals war, zu glauben, alles wäre gut, friedlich, intakt.

Wir starren einander an. Henriettes Augen haben nach wie vor die Farbe des Meeres. Das Meer, das schon immer eine starke Anziehung auf mich hatte, das seit der weiterführenden Schule einen großen Teil meiner Interessen eingenommen hat. Das mich fasziniert, mich geerdet hat. Und dieses Mädchen mit den blaugrünen Augen und derselben Leidenschaft kam mir bei unserer ersten Begegnung wie meine Seelenverwandte vor.

Ein Gewicht legt sich auf meine Brust, scheint mich zerquetschen zu wollen. Wellen in ihren Augen. Stürmischer als je zuvor. Wellen in ihrem Herzen. Immer noch, schließlich ist sie hier.

Kai räuspert sich und holt mich damit ins Hier und Jetzt zurück. »Ihr kennt euch?«

Er lehnt am Stehtisch, den Arm mit der Prothese hält er leicht hinter seinen Rücken. Ob sie ihm unangenehm ist? Dasselbe habe ich mich vorhin schon gefragt, als wir uns für das Abendessen und die Party umgezogen haben und er in ein langärmliges Hemd geschlüpft ist. Dabei ist es total heiß hier in Los Angeles, und die Nacht wird lau.

»Wir sind zusammen auf eine Schule gegangen«, antworte ich und sehe im selben Moment, wie Henriette zusammenzuckt. Mist. Ich hätte mich besser ausdrücken sollen, aber … Die Freundschaft, sie, was war … das lässt sich nicht einfach bei einem Cocktail mal eben kurz erzählen.

»Ja«, erwidert Henriette gedehnt. »Aber nur bis zur zehnten Klasse. Ist schon eine Ewigkeit her. Kein Wunder, dass du mich zunächst nicht erkannt hast.« Sie schenkt mir ein Lächeln, das ich merkwürdig finde. Irgendwie wirkt es falsch an ihr. Auf den ersten Blick ist es engelhaft, süß, mir meinen Fauxpas verzeihend. Aber es wirkt zu bemüht. Es erinnert mich an jemand anderen.

»Die Welt ist manchmal kleiner, als man denkt«, sagt Kai, bevor ich mir eine Antwort einfallen lassen kann. Denn ich habe sie genau erkannt. Wie könnte ich nicht? Sie mag älter aussehen und noch schöner als früher, aber diese Augen würde ich immer und überall erkennen. Selbst wenn wir alt und grau wären, dessen bin ich mir sicher. Doch nachdem sie plötzlich vor mir stand, habe ich Panik bekommen. Die Vergangenheit hat mich eingeholt, unerwartet und viel schneller, als ich ahnen konnte. Deshalb habe ich im Affekt gehandelt und so getan, als würde ich sie nicht erkennen.

Die Flashbacks überkommen mich, ohne dass ich sie aufhalten kann. Mückenstiche und Sonnenbrand nach Stunden am Tümpel, in denen wir Fische, Frösche und Wasserschlangen analysiert haben. Wir beide klitschnass im Garten meiner Eltern, nachdem wir uns die deutsche Staffel von WipeOut angesehen und gewettet haben, ob wir den Pool überqueren können, indem wir über Luftmatratzen rennen. Unsere erste heimliche Probefahrt nachts auf dem Aldi-Parkplatz mit dem Audi meines Vaters, nachdem ich ihm den Schlüssel entwendet habe, weil Henriette behauptete, ich würde mich das niemals trauen.

Seine dunklen Augen, die markante Kieferpartie und das braune Haar setzen sich in meinem Kopf fest. In meinem Inneren mischen sich Reue, Angst und Abscheu zu einer schmerzhaften Masse. Genau das habe ich befürchtet, wenn ich die Vergangenheit zurück in mein Leben lasse. Meine Finger beginnen zu zittern, bevor sie langsam taub werden. Ich hasse dieses Gefühl, das mir leider viel zu vertraut ist. Ich muss es loswerden. Unbedingt.

»Wie auch immer, ich geh mich mal weiter umsehen.«

Henriette runzelt die Stirn. »Sicher? Wir sind doch gerade erst an euren Tisch gekommen.« Ihre kinnlangen rotblonden Haare sind wellig, und die vordersten Strähnen hat sie hinter ihre Ohren gesteckt. Sie trägt funkelnde Ohrringe in Form von zwei goldenen Fischen, die so typisch sie sind, dass ich beinahe schmunzeln muss. Ihre Haut ist von Sommersprossen überzogen. Ich weiß, sie hasst sie und wollte nie hören, dass ich finde, sie machen sie besonders. Ich glaube, sie hasst sie noch mehr, weil Annelie sie nicht hat. Annelies Gesicht ist kantig und symmetrisch. Sie war das schönste und, wenig verwunderlich, beliebteste Mädchen der Schule. Niemanden hätte es erstaunt, wenn sie nach dem Abitur Model geworden wäre. Bei Henriette ist das anders, sie wirkt wilder, was durch die kürzeren Haare verstärkt wird, oft jünger, als sie eigentlich ist, und ihr rechter Mundwinkel ist leicht schief. Wenn ich sie ansehe, will ich mir alles genau einprägen, statt wie bei Annelie das Gefühl zu haben, in ein perfektes Gesicht zu blicken.

Keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht, wenn wir sechs Monate lang zusammen studieren werden. Vielleicht freunden wir uns wieder an. Vielleicht würdigt sie mich nach heute Abend keines Blickes mehr. Aber eines steht fest: Ich will, nein, kann mich damit jetzt nicht auseinandersetzen.

»Sehr sicher. Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten, und brauche sowieso was Neues zu trinken«, erwidere ich abweisend. Dieses Zwicken in mir wird stärker, drängender. Viel Kraft habe ich nicht mehr, die Vergangenheit in ihrem Gefängnis zu halten. »Kommst du mit?«, frage ich an Kai gewandt.

»Geh du ruhig, meine Aufmerksamkeit wird hier noch gebraucht.« Er schaut vielsagend zu der Studentin neben Henriette, von der ich vermute, dass sie ihre Mitbewohnerin ist. Ihren Namen habe ich nicht mitbekommen. Statt rot zu werden, funkelt sie herausfordernd zurück. »Versuch es ruhig.«

Kais Gesicht leuchtet auf. Ich bin mir sicher, er kann Herausforderungen genauso wenig widerstehen wie ich.

Ich leere meinen Whiskey Cola in einem Zug und wende mich entschlossen vom Tisch ab. Der Alkohol prickelt mir warm in der Kehle, während ich mich auf dem Oberdeck umschaue. Am Tisch hinter uns gibt ein Student mit rotem Armband Karten aus, daneben fallen sich zwei Studentinnen so überschwänglich in die Arme, dass ihre Drinks überschwappen. Ein Kerl im Hawaii-Hemd balanciert beeindruckend viele Shotgläser zwischen seinen Fingern, während er sich einen Weg an der langen Schlange vorbeibahnt, die sich mittlerweile an der Bar gebildet hat. Er steuert auf einen Stehtisch zu, an dem eine Frau lehnt und auf ihrem Handy tippt. So viele Shots für zwei Personen? Mr.-Hawaii-Hemd schwankt ein bisschen, als er seine Fracht auf dem Tisch abstellt. Die Frau schaut auf, wirkt genervt. Fühlt sie sich von ihm bedrängt? Ich sollte nachsehen gehen.

Obwohl ich es lieber vermeiden würde, zuckt mein Blick kurz zu Henriette zurück. Sie wirkt … geknickt. Sofort keimt der Wunsch in mir auf, sie so lange zu löchern, bis sie sich mir anvertraut. Aber nein. Das war einmal. Früher.

Sie hat recht.

Das ist eine Ewigkeit her.

***

Henriette

Fassungslos schaue ich Lukas hinterher, der sich mit schnellen Schritten einen Weg durch die Tanzenden bahnt.

Mir ist schlecht, und ich bin mir sicher, es liegt nicht am Mojito. So abweisend war er auch, bevor unsere Freundschaft zerbrach. Ich dachte, das wäre eine Phase, eine Art Trotzreaktion auf das, was ihm passiert ist. Aber ich schätze, ich habe mich geirrt. Dieser unnahbare Mann, der vorgibt, mich nicht zu erkennen, das ist der echte Lukas.

Happy von Pharrell Williams dröhnt über das Deck. Der Song scheint mich zu verhöhnen. Als ich mir ausgemalt habe, wie Lukas sich bei unserem ersten Wiedersehen bei mir entschuldigen würde, bin ich davon ausgegangen, glücklich zu sein. Stattdessen gab es einen schmerzhaften Wachrüttler.

Abi hat sich in ein Gespräch mit Kai vertieft, Lukas kippt Shots mit einem Studenten im Hawaii-Hemd, und ich komme mir verdammt fehl am Platz vor. Ich will meiner neuen Mitbewohnerin nicht den Flirt vermiesen, ich habe genau das Leuchten in ihren Augen bemerkt, als sie Kai gesehen hat. Sie hat eindeutig Interesse an ihm.

Unauffällig entferne ich mich. Wahrscheinlich bekommt sie es nicht mal mit. Aber ich kann nicht hier stehen bleiben und mich wie das dritte Rad am Wagen fühlen, mit meinem ehemaligen besten Freund im Nacken, der sich lieber betrinkt, statt sich über die letzten sechs Jahre auszutauschen.

Ich umrunde einen Stehtisch, an dem drei Männer Karten spielen, und schlage einen großen Bogen um die Tanzfläche, auf der sich ein paar Studentinnen zum Takt der Musik bewegen.

Mein Ziel liegt dahinter, direkt neben den unzähligen Tauen, die von den Segeln heruntergespannt sind und auf mich wie ein Wirrwarr wirken. Die Reling der zum Pazifik hin ausgerichteten Seite des Schiffs. Das Meer zu beobachten, hat mir schon immer geholfen, mich zu beruhigen.

Ich lehne mich an das weiße Metallgeländer, umfasse mit einer Hand den hölzernen Handlauf, schließe für ein paar Sekunden die Augen und atme tief ein. Salz liegt in der Luft. Eine warme Brise streicht über mich hinweg und lässt die schmaleren Taue neben mir erzittern. Die Sonne ist längst hinter dem Horizont verschwunden, es ist dämmrig und sicher bald dunkel. Auf dem Deck sind bereits die Flutlichtlampen eingeschaltet. Eine Möwe segelt schreiend durch mein Sichtfeld, stürzt sich in die Wellen. Mit dem Blick folge ich ihr. Winzige Schaumkronen tanzen über die schwachen Wellen. Gleichmäßig, immer in Bewegung, beruhigend. Sofort verlangsamt sich mein Puls. Ich kann es kaum erwarten, dass wir morgen früh ablegen und ich die nächsten Wochen nichts außer dem endlos weiten Meer und dem Horizont sehen werde.

Hinter mir ertönt Gelächter, und ich drehe mich um, lehne den Rücken gegen die kalte Reling. Ich entdecke Lukas auf der Tanzfläche, der Hawaii-Hemd-Student ist fort, dafür wiegen sich neben ihm die Studentinnen, die ich gerade eben schon gesehen habe. Eine von ihnen legt die Arme auf seine Schultern, kreist verführerisch mit den Hüften, flüstert ihm etwas ins Ohr.

Meine Finger verkrampfen sich um das Mojito-Glas. Ernsthaft? Er tanzt lieber mit einer Wildfremden, als sich mit seiner ehemals besten Freundin zu unterhalten?

Was erwartest du? Er hat so getan, als würde er dich nicht kennen! Ich bin ihm sicher peinlich. Ob er froh war, mich damals durch den Umzug loszuwerden?

Die Gedanken sind zu viel, zu laut. Ich stelle mein halb volles Glas auf den nächsten Tisch und eile auf das Treppenhaus zu. Mir ist die Lust vergangen. Kurz fühle ich mich schlecht, mich nicht von Abi zu verabschieden oder ihr wenigstens Bescheid zu geben. Aber sie kommt auch allein zurecht, falls sie mich überhaupt vermissen sollte. Ich will sie nicht unterbrechen, und schon gar nicht will ich an Lukas vorbei, um sie zu finden. Ich will einfach zurück in die Kabine. Es ist ohnehin besser, früh ins Bett zu gehen und mich auszuschlafen, damit ich morgen fit für den ersten Unitag bin. Denn dafür bin ich hier. Die Forschung, die Kurse, meine Leidenschaft.

Nicht für Lukas.

Während ich meine Bordkarte an der Kabinentür scanne, habe ich plötzlich Annelie vor Augen. Das lange Haar, genauso rot wie meins. Ihre gehobenen Brauen und die in die Hüften gestützten Hände. Sie würde an meiner Stelle mit der Zunge schnalzen und dramatisch verkünden: Scheiß auf Lukas, diesen Arsch!

Ich lächele. Aber nur kurz. Danach komme ich mir einsam und erbärmlich vor. Tränen brennen in meinen Augenwinkeln und versiegen erst, als ich endlich einschlafe. 

Kapitel 5

Lukas

»Steh auf«, rufe ich Kai zum gefühlt zehnten Mal zu. Er liegt im Bett, das dunkle Haar wirr über seinem Kissen ausgebreitet, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. »In einer Dreiviertelstunde beginnt die Einführungsveranstaltung, und davor müssen wir noch zum Frühstück.«

Murrend dreht sich Kai auf die andere Seite, liegt nun mit dem Gesicht zur Wand.

»Ich meine es ernst«, warne ich ihn. Keine Reaktion. Ich greife nach meinem Kopfkissen, hole Schwung und pfeffere es auf ihn.

Sofort fährt er im Bett auf und funkelt mich an. »Du Arsch!«, ruft er. Aber immerhin ist er jetzt wach.

»Los jetzt«, sage ich. »Die Einführung ist Pflicht.«

»Jaja, aber das Frühstück lasse ich ausfallen. Ich schwöre, ich muss sofort kotzen, wenn ich Essen nur rieche. Wie kannst du so fit sein?«

»Jahrelange Übung.« Nicht nur in den letzten Jahren auf der Uni, sondern auch nach meinem Umzug nach Hamburg habe ich mir in der Oberstufe so einige Nächte um die Ohren geschlagen, um das Gefängnis in meinem Inneren stabil zu halten. »Was ging gestern Abend überhaupt bei dir? Ich habe dich irgendwann nicht mehr gesehen, und als ich auf die Kabine kam, hast du schon geschlafen.«

»Du hast das Türschild verpasst.«

»Warum wundert mich das jetzt nicht?«

Er zuckt mit den Schultern, grinst aber. Doch nur kurz, bevor er das Gesicht verzieht. »Scheiße, mir ist kotzübel. Meinst du, es fällt wem auf, wenn ich schwänze?«

»Definitiv. Sie scannen die Bordkarten. Das Schiff kann erst ablegen, sobald jeder Passagier eine Sicherheitseinweisung absolviert hat.«

»Woher weißt du das?«

»Warst du noch nie auf Kreuzfahrt?«

»Nö. Das machen doch nur Rentner.«