Das Außen bleibt draußen - Sarah Peters - E-Book

Das Außen bleibt draußen E-Book

Sarah Peters

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Sarah Peters mit 21 nach Berlin kommt, sollte das der Startschuss für ein neues Leben sein. Aber erste Ängste und Panikattacken, zunächst bei Begegnungen mit anderen Menschen, beginnen, langsam ihren Alltag einzuschränken. Eine "Phase", die schon wieder vorbei gehen wird. Doch sie geht nicht vorbei. Im Gegenteil, die Angststörung breitet sich in ihrem Leben aus, wird immer stärker. Zunächst kämpft Sarah dagegen an, bis die Kraft schwindet und sie aus Erschöpfung und Angst die Wohnung nicht mehr verlässt. Ganze vier Jahre, in denen sie auch noch 80 Kilo zunimmt. Doch schließlich findet sie einen Weg hinaus. Sarah Peters erzählt schonungslos offen, wie sie die Stärke und den Mut fand mithilfe einer ursachenorientierten Hypnosetherapie ihre Ängste und Panikattacken zu überwinden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 344

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SARAH PETERS

DAS AUßEN BLEIBT DRAUßEN

SARAH PETERS

DAS AUßEN BLEIBT DRAUßEN

WIE ICH AUS ANGST JAHRELANG DIE WOHNUNG NICHT VERLASSEN HABE – UND HYPNOSE MICH HEILTE

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Mitarbeit: Julia Heyne

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung und Foto auf S. 271: Jennifer Sanchez

Satz: Digital Design, Eka Rost

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN Print 978-3-7474-0105-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-449-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-450-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Prolog

TEIL I EIN RÜCKBLICK

1 Irgendwie ein Fremdkörper

2 Fallen gelassen

3 Glücksbärchengefühle

TEIL II DIE ENTWICKLUNG MEINER ANGSTSTÖRUNG

4 Restart – jetzt wird alles gut

5 Irgendwas stimmt nicht

6 Die Angst siegt immer

7 Kraftlos

8 Ein letzter Versuch

TEIL III STILLSTAND

9 Der einzige sichere Ort – meine Wohnung

10 Umgeben von Angst

11 Jetzt ist Schluss!

12 Die Hypnoanalyse

13 Das therapeutische Gegenstück

TEIL IV EIN HOCH AUF DIE HYPNOSE

14 Der Samen ist gesät

15 Es ist auch Arbeit

16 Emotionen

17 Das Pflänzchen wächst

Epilog

Über die Autorin

PROLOG

Game over. In meinem Kopf nichts, außer hin und wieder ein Gedanke: Du hast es an die Wand gefahren, Sarah. Vermasselt.

Ich wusste weder vor noch zurück.

Und das erste Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke: Du beendest es jetzt. Jetzt und hier. Was soll das noch werden? Sonst war ich immer jemand gewesen, der eine Lösung findet, auch im Schlechten das Gute sieht. Nun war ich an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich keine Lösung mehr finden wollte. Jede Lösung hätte Kraft und Energie gekostet. Die wollte ich nicht mehr aufbringen. Lebensmüde, das war ich.

Mir das Leben zu nehmen, erschien mir am einfachsten. Einfach. Ja, es sollte einfach mal einfach sein! Rational, ohne jegliche Emotion, wägte ich ab. Wie soll ich es machen? Am einfachsten und schmerzlosesten erschien mir die Möglichkeit, Tabletten zu nehmen. Aber welche – und wie viele? Wenn, dann richtig und mit Plan, Sarah! Nicht, dass du am Ende noch in der Klapse landest, sollte es nicht klappen. Ich war zu erschöpft, zu leer, um selbst diesen Plan zu durchdenken. Musst du nachher noch mal alles in Ruhe überlegen. Hat ja Zeit, rennt dir ja nicht weg.

Und so lag ich dort. Ohne Gedanken, ohne Gefühle.

Einer der ruhigsten Momente, die ich in meinem Leben je hatte.

TEIL IEIN RÜCKBLICK

1IRGENDWIE EIN FREMDKÖRPER

Mein Leben verlief zunächst recht »normal«: Mama, Papa, jüngerer Bruder, das nette Einfamilienhaus in einer gepflegten Siedlung, in der die Kinder draußen vor den Häusern auf der Straße spielten. Meine Eltern bekamen mich kurz nach der Ausbildung, sprich: recht jung. Es folgte der Hausbau. Das klassische Familienkonzept, das sie selbst zu Hause vorgelebt bekommen hatten. Ob sie jemals miteinander glücklich waren? Ich weiß es nicht. Ob wir als Familie jemals glücklich waren? Ich weiß es nicht. Meine Mutter, die anfangs eigentlich einen anderen Mann in ihrem Herzen hatte, mein Vater, der früh spürte, dass sie nicht die »Richtige« für ihn war. Und dann kam ich!

Meine Eltern arrangierten sich mit der Situation, kauften das Grundstück in der schönen Einfamilienhaussiedlung, bauten das Haus. Wir lebten Familie. Der Vater, der das Geld verdient, und die Mutter, die sich zu Hause um den Haushalt und die Kinder kümmert – das war die Idee. Nur war die Mutterrolle nicht die Rolle, die meine Mutter erfüllte, das Familienmodell nicht das Modell, das sie glücklich machte. Deshalb suchte sie für mich einen Kindergartenplatz mit Ganztagsbetreuung. Das hieß: Um 7:30 Uhr sammelte mich der Kindergartenbus zu Hause auf, um 17 Uhr lieferte er mich wieder ab. Praktisch. Aber das Gefühl, nach einem Tag im Kindergarten aufgeregt mit roten Wangen und zerzausten Haaren nach draußen zu rennen, wo Mama wartet, die mich in den Arm nimmt und sich auf dem Heimweg die Erlebnisse des Tages anhört, das lernte ich nicht kennen.

Als ich vier Jahre alt war, wurde mein Bruder geboren. Er komplementierte nach außen hin das schöne Familienbild. Großer Garten, die Beete hübsch gemacht, die Hecke gestutzt. Tolle Familienurlaube, nette Familienfeste. Man muss ja zeigen, was man hat … Nach außen hin machten wir bestimmt einen glücklichen Eindruck. Ja, das Außen, das, was andere über sie – über uns – denken, war meiner Mutter immer recht wichtig. Stets darauf bedacht, was andere denken könnten.

So war das auch, wenn sie mich nachmittags mit zu Kaffee und Kuchen zu ihren Freundinnen nahm. Auf der Rückfahrt zählte sie mir jedes Mal auf, wo ich mich nicht »passend« verhalten hätte. Ich hätte zu wenig mit den anderen Kindern gespielt, den Erwachsenen am Rockzipfel gehangen und zu viel Kuchen gegessen, sei zu gierig gewesen, hätte nicht gerade gesessen, sei zu vorlaut gewesen und nicht dankbar genug. Sie würde sich für mich schämen. Wieder und wieder musste ich mir diese Vorwürfe auf den Fahrten nach Hause anhören. Ich fürchtete sie, wusste, sobald der Motor startete, würde sie damit anfangen und so schnell auch nicht verstummen. Die Kinder ihrer Freundinnen waren dagegen immer ganz besonders toll. Genau dieses Was-andere-von-mir-denken-Könnten, gepaart mit der Angst, negativ bewertet zu werden, wird später noch eine ganz zentrale Bedeutung in meinem Leben spielen.

Mit der Geburt meines Bruders wuchs die Überforderung meiner Mutter. Plötzlich waren da zwei Kinder. Zwei Kinder, für die fehlten ihr einfach die Nerven. So lief ich irgendwie nebenher, wurde nicht wirklich gesehen, es hieß: »Sarah, die macht das schon, ihr Bruder ist ja noch so klein.« Ja, ich machte es schon. Ich lernte, Sachen zu tun, die in meinem Alter nicht üblich waren, und ich lernte, sie besonders gut zu machen, um gesehen zu werden, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich übernahm, weil das funktionierte, immer mehr Aufgaben, immer mehr Verantwortung, und wurde sehr früh sehr eigenständig. Zu früh. So bekam ich Lob, Zuwendung und Liebe – die Liebe, die ich so vermisste. Ich verknüpfte Liebe mit Leistung und mit Perfektion. Passte immer häufiger auf meinen Bruder auf, während meine Mutter unterwegs war. Sie suchte ständig nach Möglichkeiten, in denen sie einfach nur eine junge Frau sein konnte. Ob sie nun mit Freundinnen ausging, auf Schönheitsfarmen fuhr oder mit dem Kegelklub unterwegs war – sie fand genügend Gründe, nicht zu Hause sein zu müssen.

Die Konsequenz: Ich war sehr weit für mein Alter und hatte kein Interesse an Gleichaltrigen. Auch deshalb, weil ich im Kontakt mit anderen Kindern zunehmend die Gefühle empfand, die ich bereits von zu Hause kannte und die mit meiner Geschwisterrolle zu tun hatten. Missgunst, Neid, vielleicht sogar Eifersucht auf andere Kinder. Ich wollte auch unter ihnen die Beste sein. Wann immer ich mit Gleichaltrigen zusammen war, bedeutete es für mich, in einem Wettbewerb zu sein. Andere Kinder merkten das, wollten nicht mit mir spielen. Sie mieden mich. Mein Gefühl der Andersartigkeit, des Ausgegrenzt-Werdens, des Nicht-gut-genug-Seins verstärkte sich. Ich, der Fremdkörper, der Fremdkörper, der nirgendwo reinpasst? Für Gleichaltrige zu alt, für Erwachsene zu jung.

Dieses Empfinden, dass irgendetwas anders an mir ist, die Unsicherheit, die ich unter Menschen spürte, das Gefühl, nicht dazuzugehören, nirgends richtig reinzupassen, aber auch nicht reingehören zu wollen – all das wird sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen, ähnlich wie die Tatsache, Sachen nicht nur gut machen zu wollen, sondern möglichst perfekt, um gesehen zu werden. Um Anerkennung und Liebe zu bekommen.

Ich empfand meine Mutter als emotional abwesend, spürte ihre Unzufriedenheit. Vielleicht war das der Grund, warum ich nie eine Bindung zu ihr aufgebaut habe? Mit sieben Jahren backte ich ihr zum Muttertag meinen ersten Kuchen, mit einer Backmischung, aber immerhin. Ich war so stolz und gestaltete den kleinen runden Fernsehbeistelltisch kurzerhand zum Geschenketisch um. Ich schmückte ihn mit einer bunten Decke, massig rosa Streuglitzer und Schokoherzen. Ich hatte alles ganz genau geplant. Auf diesen wundervoll geschmückten Tisch stellte ich meinen Kuchen und Geschenke: Ich hatte ihr viele Bilder gemalt und Mandalas gebastelt. Ganz aufgeregt stand ich an diesem Sonntagmorgen davor und freute mich auf ihre glänzenden Augen. Sie betrat den Raum und reagierte völlig nüchtern. Sie gab sich zwar Mühe, Freude zu zeigen, aber es fühlte sich nicht ehrlich an. Ich spürte einfach keine Wärme, keine glücklichen Muttergefühle und keine Herzlichkeit – die glänzenden Augen vermisste ich sowieso. Ich hatte auch den Frühstückstisch gedeckt, und beim anschließenden gemeinsamen Essen nahm sie nur eine kleine Gabel von meinem Kuchen.

»Schmeckt er dir nicht?«, fragte ich.

»Doch, doch Mäuschen. Aber er ist schon eine echte Kalorienbombe.«

Den restlichen Kuchen aß ich in den nächsten Tagen selbst. Die vielen Bilder, die ich ihr gemalt hatte, klebte sie nicht wie andere Mütter an den Kühlschrank oder rahmte sie ein, ich fand sie später im Papierkorb. Oder sie verwahrte sie in einer Kiste auf dem Speicher.

Ich orientierte mich daher zunehmend an meinen Vater. Er war zwar nicht oft zu Hause, arbeitete viel, aber die Zeit, in der er da war, genoss ich in vollen Zügen. An den Wochenenden begleitete ich ihn zu geschäftlichen Terminen. Wie eine Prinzessin saß ich auf dem Beifahrersitz neben ihm im Cabrio oder unternahm mit ihm eine Motorradtour. Manchmal gingen wir auch einfach nur ein Eis essen oder auf den Rummel. Ich war so glücklich! Ich, das Papa-Kind. Papa war mein Held. Da wusste ich noch nicht, dass sich das sehr bald ändern würde. Dass auch Helden vom Sockel stürzen können.

So lebten wir also. Zusammen und irgendwie aneinander vorbei. Trost und aufmunternde Worte bei einem aufgeschlagenen Knie? Nähe und Umarmungen beim ersten Liebeskummer? Gemeinsames Rumalbern, sich gegenseitig vom Tag erzählen? Ich habe keine einzige Kindheitserinnerung, in der wir gemeinsam um einen Tisch sitzen und zusammen malen oder mir jemand etwas vorliest. Gefühle wie Nähe und Geborgenheit lernte ich nicht kennen.

Perfektion und Leistung spielten auch in Bezug auf das Aussehen und das Gewicht eine große Rolle. Mit meiner Einschulung, also so mit sechs Jahren, begann ich zuzunehmen. Ich war zunächst kein dickes Kind, sondern hatte lediglich ein bisschen Babyspeck. Meine Mutter war gertenschlank, mein Vater hatte schon immer mit seinem Gewicht zu kämpfen gehabt – das wollte er mir ersparen. So erklärte er Abnehmen zu einem Gemeinschaftsprojekt von Vater und Tochter.

An einem Freitagabend – das war immer unser Fernsehabend, mein absolutes Highlight in der Woche – saßen wir zu zweit am Küchentisch und mein Vater erklärte mir, er habe sich etwas überlegt. »Heute Abend hauen wir noch mal so richtig rein, ab morgen machen wir dann eine Diät.« Mein Vater, der Süßigkeiten liebte, brauchte für seine Diätphasen einen partner in crime, einen Komplizen, und der war also ich. Sein Plan: Am Wochenende geht’s auf die Waage, und sobald ich zwei Kilo los bin, darf ich mir was wünschen. Ich hatte zwar absolut keine Lust, mit ihm zu joggen oder ihn auf dem Fahrrad zu begleiten, wenn er joggte, aber ich zog mit, das war schließlich unser Projekt, zumal ich auch keine andere Wahl hatte … Zum Glück hielt mein Vater die Diäten nie auf Dauer durch, und jede Pause war eine Erlösung für mich. Bis die nächste Abnehmphase kam und es von vorne losging.

Die Folge? Klar, der Jo-Jo-Effekt. Durch die ständige Kontrolle und die ewigen Verbote übten Süßigkeiten einen großen Reiz auf mich aus; ich naschte heimlich. Letztendlich wurde ich mit jeder Diät übergewichtiger. Essen, Übergewicht, Abnehmen, Zunehmen – all das wird von diesem Zeitpunkt an eine weitere zentrale Rolle in meinem Leben spielen.

In der Schule wurde ich ebenfalls nie wirklich Teil der Gemeinschaft, ich tat mich schwer damit, feste Beziehungen aufzubauen. Mobbing? Gehörte vielleicht dazu. Ich hatte eine fürchterliche Jungsfrisur, mit der ich rumrennen musste, dazu wurde ich immer übergewichtiger. Beliebt war ich nicht. Ich war die, die im Sport bei Gruppenaufteilungen jedes Mal zuletzt aufgerufen wurde. Über die gelästert wurde. Mit der sich auf der Klassenfahrt keiner gern das Zimmer teilte.

Dann kam dieser eine Tag, ich war zwölf. Es war ein Samstagmorgen, wir alle saßen am Frühstückstisch. Die Stimmung war seltsam gedrückt, Mama, Papa, keiner redete, jeder aß still vor sich hin. Nach dem Frühstück wurde mein damals achtjähriger Bruder aufs Zimmer geschickt, und ich zermarterte mir den Kopf, was denn los sein könnte. Hatte ich etwas angestellt? Warum guckten die so ernst? Mit klopfendem Herzen sah ich meine Eltern an. Mein Vater erklärte mir sachlich, ich hätte ja sicher bemerkt, dass sich in letzter Zeit etwas geändert hätte. Nein, hatte ich nicht. Ich saß da, war völlig ahnungslos und wusste beim besten Willen nicht, worauf er hinauswollte. Er meinte, er und meine Mutter seien bereits seit einiger Zeit nur noch freundschaftlich verbunden, würden nicht mehr wie Mann und Frau zusammenleben und wollen sich nun trennen.

Mein erster Gedanke: Ach so! Und deswegen muss ich jetzt hier sitzen? In mir regten sich keinerlei Gefühle, schließlich kannte ich kein gemeinschaftliches Familienleben, was sollte sich also groß ändern? Die nächste Frage, die mir durch den Kopf schoss: Wie verhält man sich denn in so einer Situation? Müsste ich jetzt nicht weinen? Fix und fertig sein, so wie ich es von den vielen Scheidungskindern in meiner Klasse kannte? Scheidungskind sein, wie geht das überhaupt?

Meine Eltern erzählten mir dann, dass sich für meinen Bruder und mich erst einmal nichts ändern würde, außer dass mein Vater zunächst in den Keller ziehen würde. Also, eigentlich alles wie gehabt, wir würden weiter miteinander aneinander vorbeileben und nach außen die perfekte Familie geben. Meine einzige Sorge war: Was mach ich, wenn Papa irgendwann auszieht? Dann bin ich mit der Mama allein.

Ich bekam in den darauffolgenden Wochen mehr und mehr mit, wie für meinen Vater eine Welt zusammenbrach, wie er litt. Aus der Traum von Haus, Kindern und Hund, von der heilen Familie! So hatte er sich das nicht vorgestellt.

Irgendwann zog er aus. Für ein paar Monate lebten wir zu dritt in dem Haus, meine Mutter, mein Bruder und ich. Meine Mutter war völlig überfordert mit dem Haus, in dem wir vorher Familie gespielt hatten, mit den Erinnerungen und ihren zwei Kindern, um die sie sich kümmern sollte. Unser Verhältnis war unterkühlt. Sie glänzte durch emotionale Abwesenheit und war auch physisch so oft wie möglich unterwegs – eigentlich nur noch.

Es war sogar so, als ich mit einer vereiterten OP-Wunde und 40 Grad Fieber auf unserer schönen Ledercouch im Wohnzimmer vor dem Fernseher lag. Wenige Tage zuvor waren mir ambulant alle vier Weisheitszähne gezogen worden. Meine Mutter hatte mich morgens zum Zahnarzt gefahren und mich im Anschluss wieder abgeholt. Suppe, Tee und Trost gab es im Anschluss nicht. Meine Mutter war nun mal keine Mutter, die Hühnersuppe kocht. Ich spürte, wie die Wunde links oben mehr und mehr schmerzte, heiß wurde und anfing zu pochen. Es war ein Freitag, und zum Abend hin wurde es immer schlimmer.

»Mäuschen, das ist nicht so schlimm«, sagte sie. »Du gehst am Montag zum Zahnarzt, ich bin gleich verabredet.«

Sie ließ mich allein und ging an diesem Abend feiern. Mein Vater rief an und erkundigte sich, wie es mir ging, ich erzählte ihm von meinen starken Schmerzen und dem Fieber. Er kam sofort vorbei und fuhr mit mir zum Notdienst – die Wunde hatte sich stark entzündet und musste aufgeschnitten werden.

Letztendlich funktionierte dieses Konzept für uns alle nicht, und so einigten sich meine Eltern darauf, dass mein Bruder und ich bei meinem Vater leben sollten. Daraufhin zog meine Mutter aus. Das Sorgerecht gab sie gleich mit ab, so konnte sie endlich ihr Leben leben. Lebte von da an ihr glückliches Single-Leben.

2FALLEN GELASSEN

Mein Vater zog wieder ein, mit neuer Lebensgefährtin. Ein dunkles Kapitel in meinem Leben begann. Es war ein fliegender Wechsel: meine Mutter mit ihren Kartons und ihrem Kram raus, mein Vater mit seinem Kram, neuer Lebensgefährtin und deren dreijährigem Sohn rein. Ein Gewusel war das! Da stand sie, die neue Frau in unserem Haus. Die neue Frau an der Seite meines Vaters. Sie war acht Jahre jünger als mein Vater, immer perfekt gestylt und durch und durch modern. Mit ihren blonden Haaren und ihrer offenen, flippigen Art war sie so ganz anders als meine Mutter. Anfangs kamen wir wunderbar miteinander klar. Ich mochte sie. Sie war fürsorglich und nett. Allerdings hatte ich sie bis dahin nur alle zwei Wochen am Wochenende gesehen, wenn ich meinen Vater besucht hatte. Jetzt stand sie da! In unserem Haus. Im Austausch für meine Mutter. »Wir sind jetzt eine Patchworkfamilie«, hieß es.

Aufgeweckt, quirlig, voller Power rannte sie durchs Haus. Verteilte die Zimmer neu. Ein Tornado, der durch mein Zuhause fegte. Sie wollte die alten Möbel entsorgen, sie waren ihr zu dunkel, zu unmodern. Auch eine andere Küche sollte her, alles musste sie umgestalten, um uns – der Patchworkfamilie – ein neues Nest zu bauen. Mein Vater war völlig verzaubert von seiner neuen Frau. Er war euphorisch, dass das Modell Familie nun wieder bei uns Einzug gehalten hatte. Er war so glücklich, Ersatz für meine Mutter gefunden zu haben.

So standen wir da – mit all unseren Wunden. Mein Vater, der verlassene Ehemann, der sich Jahre für die Familie dumm und dämlich geschuftet hatte, mit seinem Bild von einer Familie und einem Konzept, das gescheitert war. Der nun seine ganze Hoffnung in das Patchworkmodell legte. Seine neue Frau, die von jetzt auf gleich nicht mehr alleinerziehende Mutter in einer kleinen Wohnung war, sondern einen neuen Mann, zwei neue Kinder und ein großes Haus hatte. Und mein Bruder und ich, die frischgebackenen Trennungskinder. Hinzu kam: Ich befand mich mitten in der Pubertät. Halleluja! Wir hatten alle unsere eigenen emotionalen Verletzungen. Es konnte nur so richtig schiefgehen. Und das ging es.

Die neue Frau meines Vaters und ich, wir beide machten uns das Leben richtig schwer. Ich hatte das Gefühl, dass sie die Nummer eins für meinen Vater sein wollte und einen Keil zwischen uns trieb. Ständig gab es Provokationen, Lügen, Eifersüchteleien. Es war fürchterlich anstrengend, immer und immer wieder dagegen anzukämpfen! Kam ich von der Schule nach Hause, lagen auf der Arbeitsplatte To-do-Zettel für mich. Ich sollte das ganze Haus saugen, Wäsche wegräumen, auf ihren Sohn aufpassen ... Ständig auf ihren Sohn aufpassen. Das passte mir natürlich gar nicht! Ich war ein vierzehnjähriger Teenager und hatte andere Sachen im Kopf. Fing an zu rebellieren! Die Zettel beachtete ich nicht, darauf folgte Hausarrest.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nicht meine Mutter!«, wurde zu einem Standardsatz. Das Prinzip war sehr einfach, denn auf jede Aktion folgte eine Reaktion. Ich durfte immer weniger – und umso weniger ich durfte, desto trotziger wurde ich. Umso mehr ich mich widersetzte und mein eigenes Ding machte, umso explosiver und kälter wurde die Stimmung zwischen ihr und mir. Mein Vater stand zwischen den Stühlen und hatte nach einem anstrengenden Arbeitstag keine Lust auf unsere Spielchen, weshalb er sich prinzipiell auf ihre Seite stellte. Was aber wäre die Alternative meines Vaters gewesen? Alleinerziehender Vater zu sein? Ich hatte das Gefühl, dass ihm die Vorstellung Angst machte. Sein Verhalten und dass er ihr prinzipiell mehr glaubte als mir – seiner eigenen Tochter – verletzte mich sehr.

Es tat weh zu sehen, dass die neue Frau, die er gerade mal wenige Monate kannte, einen größeren Stellenwert bekam als die eigenen Kinder. Nicht nur der Frau, auch ihrem kleinen Sohn wurde alles recht gemacht. Als Tochter fallen gelassen zu werden für die neue Lebensgefährtin, das tut weh. Was stimmt mit mir nicht? Bin ich nicht liebenswert? Je mehr ich mich abgelehnt fühlte, desto mehr ging ich mit dem Kopf durch die Wand. Kostete es, was es wolle.

Heimlich feierte ich Partys zu Hause, wenn mein Vater und seine Frau nicht da waren. »Sturmfrei«, das war das Schlüsselwort. Ich ließ es bei den älteren Jungs in der Gegend fallen – und abends standen die Typen mit Whiskeyflaschen vor unserer Tür. So artete das Ganze in eine wilde Party in unserem Saunabereich im Keller aus, bis die Tür aufging und mein Vater im Raum stand. Auch wenn ich den ganzen Abend nur damit beschäftigt war aufzupassen, dass es nicht ausartete, war mein Vater alles andere als erfreut ...

Ein Diebstahl im Drogeriemarkt zählt ebenfalls zu meinen Jugendsünden. Der Höhepunkt war wohl die Alkoholvergiftung an Silvester – mit vierzehn. Meine Freundin und ich haben uns mit gefälschten Ausweisen auf eine Party geschmuggelt, und von dort ging es direkt ins Krankenhaus, nachdem ich zu viel Alkohol getrunken und versehentlich Gras geraucht hatte. Happy New Year!

Mein Vater war nicht gerade in Neujahrsstimmung, als er Silvester im Krankenhaus antanzen durfte. Ich erinnere mich noch, wie ich auf diesem Bett im Krankenhausflur aufwachte, die Augen öffnete, blinzelte und dabei von den hellen Neonstrahlern geblendet wurde. Ich musste mich sortierten – mir selbst war nicht bewusst, wo ich mich gerade befand, wusste nur noch, wie ich ohnmächtig auf der Party zusammenklappte. Im Hintergrund hörte ich die Stimme meines Vaters: »So nehme ich die nicht mit nach Hause.« Er hatte mit einem Arzt gesprochen.

Durch mein aufsässiges Verhalten machte ich es seiner neuen Frau natürlich sehr leicht: Ich bot ihr viel Angriffsfläche und machte mich selbst zum schwarzen Schaf. Diplomatie? Nicht meine Stärke. Ich spürte, wie ich dadurch den Zugang zu meinem Vater verlor, meine Worte nicht mehr zu ihm durchdrangen und wie wir uns dabei immer weiter voneinander entfernten, uns verloren. Ich spürte es! Und viel schlimmer, ich spürte, dass ich den Prozess nicht aufhalten konnte. Ich versuchte es, unzählige Male, in unzähligen Gesprächen. Doch gegen die neue Frau kam ich nicht an. Ich fühlte mich hilflos und allein.

So eskalierte es mehr und mehr. Tagsüber knallten die Türen, Räume wurden abgesperrt, ich wurde eingesperrt; ich fluchte, ich wurde beschimpft. Die Patchworkfamilien-Blase meines Vaters drohte zu platzen. Er wurde zunehmend hilfloser und gereizter, lauter und cholerischer. Auch zwischen seiner Frau und ihm gab es immer öfter Streit, sie schoben es grundsätzlich auf mich. Machten mich zum Feindbild, das schweißte sie zusammen.

Eines Abends kam mein Vater heim, und ich hörte von oben, wie seine Frau ihm mal wieder etwas erzählte. Sie klang hysterisch und wütend, heulte. Ich hatte heimlich ihre Kosmetiksachen benutzt.

»Ich halte es mit deiner Tochter nicht mehr aus! Wäre ich doch besser niemals mit euch zusammengezogen. Das war der größte Fehler meines Lebens. Diese Göre!«

Ich saß in meinem Zimmer, hörte sie schreien. Kurz darauf vernahm ich die schweren Schritte meines Vaters auf der Treppe. Dann stand mein Vater im Türrahmen, mit hochrotem, Gesicht. Er ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen und schlug plötzlich wie im Rausch auf mich ein. Ich krümmte mich und hielt die Hände über den Kopf, um mich zu schützen, aber er schlug immer weiter. So zornig hatte ich ihn noch nie erlebt. In dem Moment schien die Welt stehen zu bleiben, es gab nur ihn und mich. Ich spürte die Schläge, und ich verstand die Welt nicht mehr. Was hatte ich getan?

Von da an schlug mein Vater in seiner Hilflosigkeit immer öfter auf mich ein, immer wieder. Sicher, weil er es in seiner Kindheit selbst so erlebt hatte. Er wurde zu einem Pulverfass. Ein falsches Wort – und es konnte explodieren. Jederzeit. Heftig. Cholerisch. Unberechenbar.

So machte ich erstmals Bekanntschaft mit der Angst, mit dem Gefühl, ausgeliefert zu sein. Den Mann, den ich einst sehr liebte, dessen Prinzessin ich mal war, erkannte ich nicht mehr. Um die eins neunzig groß, eine kantige Erscheinung, ich hatte solch eine Angst vor ihm. Wenn es zwischen seiner neuen Frau und mir tagsüber mal wieder eskalierte, wusste ich genau, was ich am Abend zu erwarten hatte. Wie gelähmt saß ich dann in meinem Zimmer, wenn ich hörte, wie sein Auto in die Einfahrt fuhr, das Garagentor aufging, die Schlüssel sich im Schloss drehten. Ich wusste, gleich ist es so weit. Gleich ruft er mich runter. Angst! Die Gewalt, die Schmerzen sind nicht das Schlimmste, es ist das Gefühl, den eigenen Vater verloren zu haben. Er wollte mich kleinkriegen, mich brechen – so fühlte es sich zumindest an. Ich sollte endlich Frieden geben, nicht mehr rebellieren, mich nicht mehr gegen das neue Familienmodell auflehnen.

Je mehr ihm sein Projekt »Patchworkfamilie« entglitt, desto verzweifelter und aggressiver wurde er. So kannte ich ihn nicht. Das war nicht der Mann, der fürsorgliche Vater, der Familienmensch, den ich seit 14 Jahren kannte. Blaue Flecken am Körper, Blutergüsse in der Ohrmuschel – Gewalt bestimmte mehr und mehr meinen Alltag. Irgendwann wurde ich auch von Freunden darauf angesprochen. Aber wie soll man etwas erklären, das man selbst nicht versteht?

Ich war gefangen im eigenen Film. So fühlte es sich an. Ich fühlte mich unsicher, bedroht, hilflos und fügte mich all dem. Dann kam der Tag, an dem mich meine Sportlehrerin beiseitenahm. Scham stieg in mir auf. Da war der Handabdruck meines Vaters auf der linken Wange. Die Ohrmuschel blau, lila, grün gefärbt. Ein Bluterguss. Am Oberarm blaue Flecken. Heulend brach ich vor meiner Lehrerin zusammen. Beschämt, erleichtert, aber auch voller Angst vor dem, was ich zu erwarten hätte, wenn mein Vater es mitbekommen würde. »Was in der Familie ist, bleibt in der Familie. Das geht keinen etwas an« – so war die Regel. Ich hatte Todesangst vor ihm: »Ich habe dich auf die Welt gebracht, ich kann dich auch wieder davon nehmen.« Seine Sätze hallten in meinem Kopf. Mit meinen vierzehn Jahren habe ich ihm jedes Wort geglaubt.

Meine Sportlehrerin, die auch Vertrauenslehrerin war, flehte ich an, nichts zu unternehmen, es würde alles nur noch schlimmer machen. Für sie war die Situation auch schwierig, sie bot mir an, das Jugendamt einzuschalten, aber das war für mich keine Option. Schließlich hätte ich in der Zeit, bis das Jugendamt etwas unternahm, zurück nach Hause gemusst. Ich wollte mir nicht vorstellen, was mein Vater gemacht hätte, hätte er davon erfahren, dass ich mich jemandem anvertraute, dass ich mit einer Lehrerin über unsere Situation gesprochen hatte. Besser nicht darüber nachdenken! Ich überredete sie, nichts zu unternehmen, sagte, ich würde alles abstreiten, sollte es jemand ansprechen – so groß war die Panik vor meinem Vater. Aber es tat mir gut, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Mit jemandem, der mir glaubte. Das war nicht selbstverständlich, schließlich waren wir nach außen hin die heile Patchworkfamilie mit dem schönen Haus und den dicken Autos.

Eines Tages konnte ich aber nicht mehr, ich war psychisch am Ende. Ich weinte mich wieder bei meiner Lehrerin aus. Außer ihr wussten noch meine beste Freundin und deren Eltern Bescheid. Ich hatte mittlerweile solche Angst, nach Hause zu gehen, dass meine Lehrerin nach einer Lösung suchte. Sie telefonierte mit der Mutter meiner besten Freundin, und sie vereinbarten, dass mich die Mutter erst einmal abholen sollte. Dann würden sie weiter überlegen. Die Mutter meiner Freundin holte mich ab, und ich wusste in dem Moment, dass ich diesen Schritt nicht mehr rückgängig machen konnte. Ich hatte Angst, dass das furchtbar enden könnte, aber ich war neben all der Angst auch wahnsinnig erleichtert, nicht nach Hause zu müssen.

Wir fuhren in ein Restaurant, und die Stimmung war mehr als angespannt. Die Mutter meiner Freundin hatte ebenfalls Angst, schließlich machte sie sich strafbar, weil sie mich einfach mitgenommen hatten. Was, wenn mein Vater sie nun anzeigen würde? Ich fühlte mich schuldig, weil ich diese Familie mit in meine Misere reingezogen hatte, aber was sollte ich machen?

Der Vater meiner Freundin erschien später und beschloss, dass er zunächst einmal mit mir gemeinsam zu mir nach Hause fahren würde, um dort mit meinem Vater zu sprechen. Er versprach mir, mich nicht allein zu lassen. Er meinte es gut, er war aber auch naiv, denn er glaubte, er könnte vermitteln und mir so helfen. Es kam, wie es kommen musste. Mit zornigem Gesicht öffnete mein Vater die Tür, und ich wusste sofort: Das war‘s! Er ließ den Vater meiner Freundin nicht mal zu Wort kommen, geschweige denn ins Haus. Er machte ihm eine einschüchternde, sehr sachliche Ansage, und anhand der Tonlage war mir klar, dass das für mich böse enden würde. Es endete böse …

In der Folge ließ er seine Wut noch öfter an mir aus und wurde dabei immer skrupelloser. So verpasste er mir, nachdem er mich nach meinem Ladendiebstahl bei den Kaufhausdetektiven abholen musste, auf einer Straße in der Innenstadt mehrere Ohrfeigen, bis meine Nase blutete. Mit blutverschmiertem Oberteil zerrte er mich zu seinem Auto. Keiner der Umstehenden reagierte. Generell machte ich die Erfahrung, dass mir niemand half. Auch nicht die wenigen Menschen, die von meinem Leid wussten. Alle waren mit der Situation und mit meinem Vater überfordert.

Es war mein Lieblingsoberteil, ein hellblaues T-Shirt mit einer großen weißen Blüte, das dem Ausraster meines Vaters zum Opfer fiel. Ich versuchte verzweifelt, die Blutflecken herauszuwaschen, dabei liefen mir unaufhörlich die Tränen übers Gesicht. Ich weinte um mein Lieblingsshirt, und ich weinte wegen des Gefühls, nicht mehr weiter zu wissen. Dennoch: Brechen lassen wollte ich mich nicht von meinem Vater. Und so fühlte ich zugleich, wie ich mit jedem Schlag stärker wurde. Ich lernte, meine Gefühle auszublenden.

Meine Erziehung erschien nur noch darauf aus zu sein, meinen Willen zu beugen. Einen Grund gab es immer, irgendetwas hatte ich schon angestellt. Der Höhepunkt: Mein Vater riss mir sämtliche Kleidung vom Leib, stellte mich im Keller in den Duschbereich unserer Sauna und spritzte mich mit dem Kaltwasserschlauch ab. Eisig kaltes Wasser prallte auf meinen Körper. Ich weiß nicht, wie lange. Mein Zeitgefühl ging verloren. Vor Erschöpfung brach ich schließlich zusammen. Er hörte nicht auf. Ich lag bibbernd vor ihm, fühlte mich so nackt, so hilflos, so verletzlich und auf mich allein gestellt. Und doch beherrschte mich der Gedanke: Du brichst mich nicht, nicht du, nicht hier! Niemals! Ich spürte auch in dieser Situation, wie ich mit jeder Sekunde innerlich stärker wurde. Er wollte mich brechen. Schaffte es aber nicht!

So ging es über Monate, nur die Situation in der Sauna wiederholte sich nicht. Die anderen schon. Nach außen hin konnte man sich an der hübsch gestutzten Hecke vor unserem Haus erfreuen, nach außen hin gab sich mein Vater als äußerst sympathischer und charismatischer Mann. Nach innen aber war er: ein Tyrann. Gewalt und Psychoterror, das erlebte ich weiterhin täglich. Diese Erniedrigung war schrecklich.

Mein Vater versuchte immer verzweifelter und verbissener, unsere »Patchworkblase« zu retten. Verlor sich in einem Tunnel. Der Umzug in ein neues Haus, in eine neue Stadt sollte ein Neuanfang werden. Wenn wir erstmal in einem anderen Haus leben, ganz ohne Erinnerungen an meine Mutter, dann wird alles gut. Ist doch ganz klar. Es brachte natürlich nichts. Im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer. Auch weil er merkte, dass seine Vorhaben nicht die entsprechende Wirkung brachten. In unserem neuen Haus wurden wir Kinder dann im Souterrain untergebracht, und die Durchgangstür nach oben wurde von der Frau meines Vaters abgeschlossen, sobald sie mit ihrem Sohn außer Haus war. Mein Essen für den jeweiligen Tag stellte sie mir dann auf die Treppe, die in den Keller führte. Familiensinn geht anders. Während mein Vater mit der Frau, ihrem Sohn und meinem Bruder am Vatertag Ausflüge machte, sollte ich als Strafe den Balkon schrubben. Ich stand auf dem Balkon, sah sie noch alle ins Auto steigen – und verstand die Welt nicht mehr, war enttäuscht. Mein Bruder war erst elf Jahre alt und sah bei mir, wohin rebellisches und widerständiges Verhalten führte. Er hatte seine eigenen Schwierigkeiten in der Konstellation und fand für sich Strategien, um damit umzugehen. Er passte sich an. Wir – die noch nie ein geschwisterliches Verhältnis hatten – entfernten uns noch weiter voneinander.

Der emotionale Missbrauch hinterließ tiefe Wunden. Wem kann ich noch trauen, wenn ich nicht einmal mehr meinem eigenen Vater vertrauen kann? Das Gefühl, nicht richtig, nicht liebenswert zu sein, war ständig präsent. Abgelehnt vom eigenen Vater. In der Dusche abgespritzt wie ein Tier. Wertlosigkeit.

Ich begann verstärkt, Gefühle abzuspalten, um den ganzen Scheiß auszuhalten und nicht daran zu zerbrechen. In dieser Zeit verlor ich das Vertrauen in andere Menschen immer mehr. Ich hatte nur noch mich, nur daran konnte ich mich festhalten.

Irgendwann erklärte die Frau an der Seite meines Vaters, dass sie so nicht weiterleben kann, dass die jetzige Situation zu belastend für sie sei. »Entweder geht sie oder ich.« Dreimal dürft ihr raten, wer gehen durfte. Mein Vater fand auch bald die perfekte Lösung für mich: ein Internat irgendwo im Nirgendwo, in einem idyllischen Kurort im Harz. Frei nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn.« Schön weit weg, ganze 400 Kilometer. Wie ich mich fühlte, gegen meinen Willen in einen kleinen Kurort aussortiert zu werden, fern von meinem Umfeld, von Freunden, muss ich sicher nicht beschreiben. Nun hatte mein Vater sich endgültig entschieden – für die Neue, die nun gar nicht mehr so neu war. Für mich war das der letzte Schlag ins Gesicht. Es hat mich zwar nicht gewundert, weh tat es trotzdem.

Mit fünfzehn landete ich dann im Internat. Es war eine gute Zeit. Wie eine Klassenfahrt, die niemals aufhörte. Ich fühlte mich dort wohl. Endlich konnte ich atmen. Durchatmen. Einfach mal Jugendliche sein. Ohne Verantwortung, ohne Verpflichtungen, ohne To-do-Liste auf der Arbeitsplatte, ohne Gewalt! Das war ein befreiendes Gefühl. An den Wochenenden und in den Ferien sollte ich auch nicht nach Hause kommen. Ich war nicht traurig deswegen, eher froh. Dennoch muss man es erlebt haben, wie es ist, in einem Kurort aufs Internat zu gehen und nicht nach Hause zu können. Am Wochenende fuhren die meisten Schülerinnen und Schüler zu ihren Familien. Ich blieb dort, mich vermisste niemand. Nicht an einem, nicht an zwei Wochenenden. Durchgehend. Für mich war das dennoch die beste Lösung. Spannend wurde es in den Ferien. Da schloss das Internat seine Pforten, und ich durfte mich rechtzeitig um Lösungen kümmern. Dann fühlte ich mich einsam. Verlassen.

Nach zwei Jahren, kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, wollte ich dort nicht mehr bleiben. Fast volljährig, wollte ich lieber allein wohnen. Alle meine Bezugspersonen waren älter als ich und machten in diesem Jahr Abitur. Ohne sie wollte ich nicht auf dem Internat bleiben, und auf die jüngeren Schüler hatte ich keine Lust. Das Kapitel »Internat« war für mich abgehakt.

Ich bekam von meinem Vater das Okay für eine eigene Wohnung in der Nähe des Internats. Wenige Monate zuvor hatten er und seine Lebensgefährtin sich getrennt, denn auch ohne mich, den Störenfried, hatte es zwischen den beiden ständig gekriselt.

Das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir war dennoch völlig zerrüttet. Auch wenn die Frau nun weg war. Er kam unmittelbar nach der Trennung wieder auf mich zu, wollte mich sogar »zurückholen« in sein Haus, wie einen Gegenstand, den man mal hier parkt, mal da. Wie absurd. Meinen Vater, den hatte ich schon lange verloren und so blockte ich alle Annäherungsversuche ab. Ich wollte nur noch Abstand, auch räumlichen. Nach all den Jahren der Erniedrigung empfand ich nur noch Missachtung, und die ließ ich ihn spüren. Mit ausgefahrenem Ellbogen machte ich mich für meine Wohnung in Niedersachsen stark. Ich bekam sie.

Meine erste eigene Wohnung! Es war eine schöne Maisonettewohnung in einem alten Fachwerkhaus in der Innenstadt eines historischen Ortes in Niedersachsen. Direkt am Marktplatz. Nebenan gleich die Schule. Ich fühlte mich dort wohl. Es hätte alles gut sein können. Hätte.

Mein Vater zahlte mir den im Vorfeld vereinbarten Unterhalt nicht. Noch nicht einmal im ersten Monat. Auch die Möbel, über die wir geredet hatten, bekam ich nicht. Machtkämpfe, die ich von ihm kannte. Allerdings erreichten sie eine neue Ebene. Ein Spießrutenlauf ums Überleben begann. Ich befand mich irgendwo in Niedersachsen, Miete, Strom Gas, Handy, Schule wollten bezahlt werden – und ich hatte keinen Cent auf dem Konto. Mit meinem Wochenendjob als Servicekraft in einem Restaurant ließ sich das auch alles nicht bezahlen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich für mein Essen aufkommen sollte. Der Spießrutenlauf begann: Jugendamt – Sozialamt – Familienkasse – Arbeitsamt – zurück zum Jugendamt – erneut zum Sozialamt. Die Erkenntnis: Irgendwie ist keiner für mich zuständig. Ich lief mir die Füße wund. Behörde A schickte mich zu Behörde B, Behörde B wieder zu Behörde A. Eine Tortur!

Sobald sie hörten, dass mein Vater das Geld theoretisch hätte, waren sie alle raus. Also wurde ich wieder nach Hause geschickt. Mein Zuhause war eine Wohnung ohne alles. Meine Wäsche wusch ich bei Freunden, dort habe ich auch gegessen. Ich hatte nichts. Nichts. Ich marschierte. Kämpfte. Ich gegen den Rest der Welt – so fühlte es sich an. Ein weiterer Termin beim Jugendamt brachte folgende Erkenntnis: »Sie brauchen einen Anwalt, wir können nichts weiter tun, da Sie bald achtzehn sind.«

Bevor ich zu diesem drastischen Mittel griff, wollte ich zumindest noch einmal versuchen, mit meinem Vater zu sprechen. Ein Anwalt! Ich wusste, das würde eine sehr langwierige Sache werden. Ich lief vom Jugendamt durch die historische Altstadt zu meiner Wohnung und startete den letzten Versuch, mich mit meinem Vater friedlich zu einigen. Ich rief ihn an.

Obwohl er meinen Namen auf dem Display sehen musste, meldete er sich mit seinem Nachnamen.

Ich entgegnete: »Hallo, ich bin’s, Sarah.«

»Wer ist da?«

»Sarah, deine Tochter.«

»Ich habe keine Tochter.«

Ich überhörte es, ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte ihm, dass ich mehrmals mein Konto gecheckt hätte, aber noch immer sei kein Geld eingegangen.

»Wenn du was von mir willst, wende dich an meinen Anwalt, so wie ich es dem Jugendamt bereits mitgeteilt habe.”

Gut, dann eben so. Augenblicklich suchte ich die Anwaltskanzlei neben meiner Wohnung auf, an der ich schon tausendmal vorbeigegangen war und auf deren Tür unübersehbar das Schild »Fachanwälte für Familienrecht« prangte. In meinem Kopf ein einziger Gedanke: Und jetzt mach ich dich fertig! Es reicht!

In der Kanzlei wurde ich von der Dame am Empfang direkt in einen Konferenzraum gebracht. Ich saß an einem großen ovalen Holztisch und wartete auf die Anwältin, die sich als sehr nette Frau entpuppte. Die Sache nahm ihren Lauf. Was ich in diesem Moment aber noch nicht geahnt habe: Das war das letzte Mal für zwölf Jahre, dass ich Kontakt zu meinem Vater hatte.

Ein Rechtsstreit begann, und er zog sich über Jahre, genau wie ich es geahnt hatte. Die Mühlen bei Gericht mahlen langsam. In den Monaten häuften sich die Rechnungen für Strom, Gas, Miete, Handy, da ich ja mit meinem Nebenjob all die laufenden Kosten nicht gedeckt bekam.

Ohne die Hilfe, die ich durch mein Umfeld bekam, hätte ich die Situation überhaupt nicht gemeistert. Die Mahnungen und Inkassogebühren häuften sich, ich öffnete sie irgendwann nicht mehr. Wusste ja eh nicht, wie ich sie bezahlen sollte. Gleichgültigkeit machte sich in mir breit. Regelmäßig kaufte ich mit meiner EC-Karte Lebensmittel ein und überzog dabei maßlos. Da mein Schuldenberg eh ein Fass ohne Boden war, erwarb ich damit auch Sachen, die man als junge Frau eben so »braucht«. Kosmetik, Klamotten für die Party am Wochenende, Drinks auf diesen Partys. Den Überblick über meine Finanzen hatte ich verloren. Irgendwann hatte ich drei Handyverträge, weil der letzte wieder gesperrt worden war, auch zwei Fitnessstudio-Verträge, bedingt durch den Umzug. Da kam schon einiges an Schulden zusammen.

Seelisch war ich am Tiefpunkt. Nebenbei trudelten die belastenden Briefe von Anwälten ein. Hin und her ging es. Das war so ätzend! Mit achtzehn war ich ungewollt Expertin in Sachen Familienrecht, las mich in die Paragrafen ein und arbeitete meiner Anwältin perfekt zu. »Brechen wird er mich nicht! Niemals!« So kämpfte ich, suchte Lösungen, und darin war ich gut. Am Wochenende arbeitete ich nun jeden Freitag und Samstag in einem Club hinter der Bar. Hier ließ sich gutes Geld verdienen, noch dazu liebte ich die Gastronomie. Es machte mir richtig Spaß. Umso stressiger der Betrieb, umso mehr ging ich auf. Hier schaltete ich am Wochenende ab – auf meine Art. Unter der Woche Schule und Probleme, am Wochenende arbeiten, Party und verdrängen.

Am Wochenende griff ich vermehrt zu Alkohol, um den Kopf freizukriegen. Und ich kam bei der Arbeit erstmals mit Kokain und Speed in Berührung. Diese Substanzen halfen mir, völlig abzuschalten. Der Konsum beschränkte sich auf Freitag und Samstag. Ich vergaß alles drum herum. Auch einen Mann lernte ich im Club kennen. Am Anfang war es nichts Ernstes, mit der Zeit tanzten dann doch Schmetterlinge in meinem Bauch. Was für ein Kontrast zur grauen Realität.

Mein Schuldenberg wuchs, der Termin vor dem Familiengericht war noch nicht absehbar, jeden Monat diese ganzen Kosten – lange würde das nicht mehr gut gehen. Das war auch mir klar. Da half das beste Verdrängen nicht, auch nicht die Vogel-Strauß-Methode. Mein Vermieter machte mir immer mehr Druck, wollte endlich seine Miete haben. Eines Morgens schickte er einen seiner angestellten Handwerker mit einem Zweitschlüssel vorbei, wohl um die Lage zu checken. Eine Freundin und ich schliefen noch, wir hatten erst nachmittags Schule. Wir lagen im Bett, als sich plötzlich der Schlüssel in der Haustür drehte und wir schwere Schritte hörten, die die steilen Treppen zum Wohnzimmer hochkamen. Im ersten Moment hatte ich Angst, dann aber hörte ich eine unsichere Stimme meinen Namen rufen: »Frau Peters?«