Das Bastardzeichen - Vladimir Nabokov - E-Book

Das Bastardzeichen E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Vladimir Nabokov beschwört in seinem Roman «Das Bastardzeichen» eine albtraumhafte Welt. Eine blutige Revolution hat die «Kröte» an die Macht gebracht, wie der Volksmund den Diktator Paduk nennt, und mit ihm die «Partei des Durchschnittsmenschen», ein ebenso banales wie brutales Gelichter. Mit aller Präzision seines Stils zeigt Nabokov die totalitäre Welt als das, was sie ist: eine «bestialische Farce», ein Gemisch aus Lächerlichkeit und Grauen.

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Seitenzahl: 380

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Vladimir Nabokov

Das Bastardzeichen

Roman

Deutsch von Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Vladimir Nabokov beschwört in seinem Roman «Das Bastardzeichen» eine albtraumhafte Welt. Eine blutige Revolution hat die «Kröte» an die Macht gebracht, wie der Volksmund den Diktator Paduk nennt, und mit ihm die «Partei des Durchschnittsmenschen», ein ebenso banales wie brutales Gelichter. Mit aller Präzision seines Stils zeigt Nabokov die totalitäre Welt als das, was sie ist: eine «bestialische Farce», ein Gemisch aus Lächerlichkeit und Grauen. Auch in diesem seinem düstersten Buch erweist sich Nabokov als ein Meister des Grotesken.

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 5. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Für Véra

Kapitel 1

Eine längliche Pfütze, in den groben Asphalt gedrückt; wie ein phantastischer Fußstapfen, der bis zum Rand mit Quecksilber gefüllt ist; wie ein spatelförmiges Loch, durch das man den unteren Himmel sehen kann. Umgeben, bemerke ich, von den Tentakeln einer diffusen schwarzen Feuchtigkeit, in der ein paar stumpfe, schlappe, schwärzliche Blätter kleben. Vermutlich ersäuft, ehe die Pfütze auf ihre jetzige Größe schrumpfte.

 

Sie liegt im Schatten, doch enthält sie eine Probe jener Helligkeit dort drüben, wo Bäume stehen und zwei Häuser. Genauer hinsehen. Ja, sie spiegelt einen Ausschnitt blassblauen Himmels, ein zartes Kinderblau – Milchgeschmack in meinem Mund, weil ich vor fünfunddreißig Jahren einen Becher von ebenjener Farbe besaß. Auch ein knappes Gestrüpp kahlen Gezweigs spiegelt sie und, abgehackt von ihrem Rand, die braune Krümmung eines kräftigeren Astes, dazu einen schrägen leuchtenden hellgelben Streifen. Du hast etwas fallen lassen, das gehört dir, hellgelbes Haus im Sonnenschein dort drüben.

 

Wenn den Novemberwind seine wiederkehrenden eisigen Spasmen befallen, kraust ein rudimentärer Wellenwirbel den Glanz der Pfütze. Zwei Blätter, zwei Triskelen[1], kommen wie zwei schlotternde dreibeinige Schwimmer, die zum Wasser rennen; ihr Schwung trägt sie bis zur Mitte, wo sie jäh gebremst werden, um dann flach auf der Oberfläche zu ruhen. Zwanzig Minuten nach vier. Blick aus einem Krankenhausfenster.

 

Novemberbäume, Pappeln, glaube ich – zwei an der Zahl, die senkrecht aus dem Asphalt emporwachsen; sie alle in der kalten hellen Sonne, helle, stark zerfurchte Borke und die verschlungenen Muster zahlloser glatter kahler Zweige, Altgold – dort oben haben sie mehr von der trügerisch milden Sonne. Ihre Unbeweglichkeit steht im Gegensatz zur stoßweisen Kräuselung ihres eingefassten Spiegelbilds – denn erst die Gesamtheit seines Laubes macht die sichtbare Bewegung eines Baumes aus, und in diesem Fall sind es kaum mehr als vielleicht siebenunddreißig Blätter, über die eine Seite des Baumes weit verstreut. Sie zittern nur ein wenig, neutral gefärbt, doch alle von der Sonne zum gleichen Ikonenbraun verbrannt wie die verflochtenen Zweigtrillionen. Ersterbendes Blau des Himmels, quer überzogen von blassen, bewegungslosen, aufgesetzten Wolkenbäuschen.

 

Die Operation war erfolglos, und meine Frau wird sterben.

 

Jenseits eines niedrigen Zaunes, im Sonnenlicht, in der hellen Starre, wird eine schiefergraue Hausfassade von zwei hellgelben Seitenpfosten und einem breiten, kahlen, gedankenlosen Gesims eingerahmt: der Zuckerguss eines ladenhütenden Kuchens. Fenster sehen den Tag über schwarz aus. Dreizehn an der Zahl; weißes Gitterwerk, grüne Laden. Alles sehr klar, aber der Tag hat keinen Bestand. In der Schwärze eines Fensters hat sich etwas gerührt: Eine alterslose Hausfrau öffnet – auf die Klappe, wie mein Zahnarzt, ein gewisser Dr. Wollison, in meinen Milchzahntagen zu sagen pflegte – das Fenster, schüttelt etwas aus, und nun kannst du sie wieder zumachen.

 

Das andere Haus (zur Rechten, hinter der vorspringenden Garage) ist jetzt über und über vergoldet. Zwischen ihren eigenen glatten, schwärzlichen, ausladenden und gebogenen Zweigen werfen die vielgliedrigen Pappeln ihre gekrümmten ansteigenden Schatten darauf. Aber das alles verlischt, verlischt, auf einem Feld saß sie, malte einen Sonnenuntergang, der nie von Dauer war, und ein Bauernbengel, ganz klein und still und verschämt trotz seiner mäusehaften Hartnäckigkeit, stand dicht neben ihr, blickte auf die Staffelei, die Farben, ihren nassen Tuschpinsel, der wie eine Schlangenzunge in der Luft hing – aber der Sonnenuntergang war schon vorbei, und nur ein Durcheinander violetter, irgendwie aufgehäufter Überbleibsel des Tages hatte er zurückgelassen, Ruinen, Gerümpel.

 

Die buntscheckige Fläche des anderen Hauses wird schräg von einer Treppe geteilt, und das Dachfenster, zu dem sie führt, glänzt jetzt so hell wie vordem die Pfütze – denn diese ist mittlerweile in ein stumpfes flüssiges Weiß übergegangen, gekreuzt von einem toten Schwarz, sodass sie aussieht wie eine achromatische Kopie des zuvor betrachteten Gemäldes.

 

Wahrscheinlich werde ich das stumpfe Grün des schmalen Rasens vor dem ersten Haus (dem das bunte die Seite zukehrt) nie vergessen. Ein zerzauster schütterer Rasen mit einem Mittelscheitel aus Asphalt, und alles übersät mit hellbraunen Blättern. Die Farben verlöschen. Ein letztes Mal leuchtet das Fenster auf, zu dem immer noch die Stufen des Tages führen. Doch es ist alles vorbei, und machte man jetzt drinnen Licht an, so würde es alles töten, was draußen vom Tag noch verblieben ist. Ein Fleischrosa überflutet die Wolkenfetzen, und die Zweigtrillionen treten in aller Deutlichkeit hervor; und jetzt gibt es unten keine Farbe mehr: Die Häuser, der Rasen, der Zaun, die Ausblicke dazwischen, alles ist zu einer Art rostbraunem Grau gedunkelt. Ach ja, das Glas der Pfütze ist malvenfarben.

 

Sie haben das Licht angemacht in dem Haus, in dem ich mich befinde, und die Aussicht im Fenster ist tot. Alles ist ein tintiges Schwarz mit einem blassblau tintigen Himmel darüber, «läuft blau, schreibt schwarz», wie es auf jenem Tintenfass hieß, doch sie wurde nicht schwarz und der Himmel wird es nicht, nur die Bäume werden es mit ihren Trillionen Zweigen.

Kapitel 2

Krug blieb in der Tür stehen und blickte auf ihr Gesicht hinunter, das zu ihm aufsah. Die Bewegung (Pulsieren, Strahlen) seiner Züge (zerknitterte Falten) rührte daher, dass sie sprach, und er begriff, dass diese Bewegung bereits geraume Zeit angedauert hatte. Möglicherweise die ganze Zeit, die sie gebraucht hatten, die Treppe des Krankenhauses hinabzusteigen. Mit ihren verblichenen blauen Augen und der langen runzligen Oberlippe sah sie jemandem ähnlich, den er jahrelang gekannt hatte und an den er sich nicht erinnern konnte – sonderbar. Auf einer Nebenstrecke teilnahmslosen Erkennens ordnete er sie als die Oberschwester ein. Ihre Stimme kam in Gang, als hätte eine Nadel ihre Rille gefunden. Die Rille auf der Platte seines Geistes. Seines Geistes, der zu kreisen begonnen hatte, als er in der Tür stand und auf ihr angehobenes Gesicht hinabblickte. Die Bewegung seiner Züge war jetzt hörbar.

Sie sprach das Wort, das so viel wie ‹kämpfen› bedeutete, in der Mundart des Nordwestens aus: ‹fachtung› statt ‹fahtung›. Der Mensch (männlich?), dem sie ähnlich sah, blickte aus dem Nebel hervor und war verschwunden, ehe er ihn oder sie identifizieren konnte.

«Sie kämpfen immer noch», sagte sie. «… dunkel und gefährlich. Die Stadt ist dunkel, es ist gefährlich auf den Straßen. Sie sollten wirklich lieber hier übernachten … In einem Krankenbett» (gospitalischa kruwka – wieder dieser Marschlandakzent, und er fühlte sich wie eine schwere Krähe – kruw –, die flügelschlagend in den Sonnenuntergang hineinfliegt). «Bitte! Oder Sie könnten wenigstens auf Dr. Krug warten, der hat ein Auto.»

«Kein Verwandter von mir», sagte er. «Reiner Zufall.»

«Ich weiß», sagte sie, «aber trotzdem sollten Sie nicht Sie nicht Sie nicht …» (die Welt drehte sich weiter, obwohl sie ihren Sinn verausgabt hatte).

«Ich habe einen Pass», sagte er. Und er öffnete seine Brieftasche und machte sich daran, das fragliche Schriftstück mit zitternden Händen zu entfalten. Er hatte dicke (zeig mal) plumpe (da) Finger, die immer leise zitterten. Seine Wangen waren nachdenklich nach innen gesaugt und gaben ein kaum vernehmliches schmatzendes Geräusch von sich, wenn er etwas auseinanderfaltete. Krug – denn er war es – zeigte ihr das verschwommene Schriftstück. Er war ein mächtiger, müder, vornübergebeugter Mann.

«Aber wenn das nun nichts nützt», jammerte sie. «Eine verirrte Kugel könnte Sie treffen.»

(Man sieht, die gute Frau war der Meinung, dass immer noch Kugeln im Begriff waren, in der Nacht umher zu fluchtung, meteorische Überreste der längst vergangenen Schießerei.)

«Ich interessiere mich nicht für Politik», sagte er. «Und ich brauche nur den Fluss zu überqueren. Ein Bekannter von mir kommt morgen früh und wird alles erledigen.»

Er klopfte ihr leicht auf den Ellbogen und machte sich auf den Weg.

 

So freudig, wie es ihm die Umstände gestatteten, gab er dem weichen, warmen Andringen der Tränen nach. Doch das Gefühl der Erleichterung hielt nicht an, denn sobald er sie fließen ließ, kamen sie unerträglich heiß und überreichlich, sodass sie seine Sicht und sein Atmen behinderten. Er ging durch zerfetzte Nebelschwaden die kopfsteingepflasterte Omigod-Gasse hinunter zum Ufer. Versuchte, sich zu räuspern, aber das führte nur zu einem weiteren würgenden Schluchzer. Er bedauerte jetzt, der Versuchung stattgegeben zu haben, denn nun konnte er nicht mehr anders, als weiter nachzugeben, und der bebend lebendige Mann in ihm wurde überschwemmt. Wie gewöhnlich unterschied er zwischen dem, der bebend teilnahm, und dem, der zusah: mit Besorgnis zusah, mit Sympathie, mit einem Seufzer oder mit gelinder Überraschung. Dies war das letzte Bollwerk jenes Dualismus, den er so verabscheute. Die Quadratwurzel aus i (ich) ist i (ich). Fußnoten, Vergissmeinnicht. Der Fremde, der von einem abstrakten Ufer aus unbewegt die Sturzbäche lokalen Schmerzes besichtigt. Eine vertraute Erscheinung, obschon anonym und auf Abstand bedacht. Er sah mich weinen, als ich zehn war, und führte mich vor den Spiegel in einem unbenutzten Zimmer (mit einem leeren Papageienkäfig in der Ecke), damit ich mein in Tränen aufgelöstes Gesicht studieren könne. Er hat mir stirnrunzelnd zugehört, wenn ich Dinge sagte, die zu sagen ich kein Recht hatte. In jeder Maske, die ich aufprobierte, waren Schlitze für seine Augen. Selbst in dem Augenblick, wenn jene Konvulsion, die Männern die liebste ist, mich erschütterte. Mein Retter. Mein Zeuge. Und jetzt langte Krug nach seinem Taschentuch, das ein verschwommener Bausch irgendwo in den Tiefen seiner privaten Nacht war. Als er schließlich aus einem Labyrinth von Taschen herausgekrochen war, scheuerte und putzte er den dunklen Himmel und die amorphen Häuser; dann sah er, dass er sich der Brücke näherte.

In anderen Nächten war sie eine leicht geschwungene Lichterreihe, eine metrische Helligkeit, von der jeder Fuß im schwarzen, schlangenhäutigen Wasser gespiegelt, noch einmal skandiert und gedehnt wurde. In dieser Nacht kam nur ein diffuser Lichtschein von der Stelle, wo ein Neptun aus Granit undeutlich und drohend von seinem viereckigen Steinsockel aufragte – der Sockel setzte sich als Geländer fort, das Geländer verlor sich im Nebel. Als Krug sich mit schleppenden, steten Schritten näherte, vertraten ihm zwei ekwilistische Soldaten den Weg. Es lagen noch andere auf der Lauer, und als eine Laterne vor ihm einen Rösselsprung vollführte, um ihn in Schach zu halten, bemerkte er einen kleinen, als meschtschaniner (Kleinbürger) angezogenen Mann, der mit gekreuzten Armen dastand und kränklich vor sich hin lächelte. Die beiden Soldaten (beide hatten sie seltsamerweise pockennarbige Gesichter) fragten, so viel verstand Krug, nach seinen (Krugs) Papieren. Er tastete seine Taschen nach dem Pass ab, während sie ihn zur Eile trieben und eine flüchtige Liebschaft mit seiner Mutter erwähnten, die sie gehabt hatten oder zu haben gedachten oder zu der sie ihn einluden.

«Ich bezweifle», sagte Krug, immer noch damit beschäftigt, seine Taschen zu durchsuchen, «dass derlei Wunschvorstellungen, die wie Maden aus uralten Tabus hervorgekrochen sind, wirklich in die Tat umgesetzt werden können – und zwar aus mehreren Gründen. Hier ist er» (er wäre fast abhandengekommen, als ich mit der Waise sprach – ich meine der Schwester).

Sie griffen zu, als handele es sich um einen Hundert-Krun-Schein. Während sie den Pass einer eingehenden Prüfung unterzogen, schnäuzte er sich die Nase und steckte das Taschentuch langsam in die linke Tasche seines Mantels; doch nach reiflicher Überlegung quartierte er es in seine rechte Hosentasche um.

«Was soll das hier heißen?», fragte der dickere der beiden und deutete mit dem Daumennagel auf ein Wort. Krug hielt sich die Lesebrille vor die Augen und spähte über die Hand des Mannes hinweg. «Universität», sagte er. «Ein Ort, wo man was lernt – nichts von Bedeutung.»

«Nein, das da», sagte der Soldat.

«Ach so, ‹Philosophie›. Du weißt doch. Wenn du versuchst, dir eine mirok [kleine rosa Kartoffel] vorzustellen, ganz unabhängig von einer, die du gegessen hast oder essen wirst.» Er gestikulierte vage mit seiner Brille und schob sie in ihr Hörsaalversteck (Westentasche).

«Was haben Sie hier zu suchen? Warum treiben Sie sich an der Brücke herum?», erkundigte sich der dicke Soldat, während sein Spießgeselle seinerseits bemüht war, die Genehmigung zu entziffern.

«Jedes Ding hat seine Erklärung», sagte Krug. «In den letzten zehn Tagen bin ich jeden Morgen zum Prinsin-Krankenhaus gegangen. Eine Privatangelegenheit. Gestern haben mir Bekannte dieses Dokument besorgt, weil sie voraussahen, dass die Brücke nach Einbruch der Dunkelheit bewacht sein würde. Ich wohne auf der Südseite und gehe viel später nach Hause als üblich.»

«Patient oder Doktor?», fragte der dünnere Soldat.

«Lasst mich vorlesen, was dieses kleine Schriftstück hier besagen soll», sagte Krug und streckte hilfreich die Hand aus.

«Sie lesen, und ich halte es», sagte der Dünne und hielt es verkehrt herum hin.

«Inversion macht mir nichts aus», sagte Krug, «aber ich brauche meine Brille.» Er wühlte sich durch den wohlbekannten Albtraum der Mantel-, Jacken- und Hosentaschen und fand ein leeres Brillenetui. Schon war er im Begriff, die Suche wiederaufzunehmen.

«Hände hoch!», sagte der fettere Soldat mit hysterischer Unvermitteltheit.

Krug gehorchte und hob das Etui gen Himmel.

Die linke Hälfte des Mondes war so stark verschattet, dass sie in der Lache klaren, aber dunklen Äthers fast unsichtbar war, durch die er rasch zu treiben schien – eine Illusion, hervorgerufen durch einige kleine Chinchillawolken, die sich mondwärts bewegten; seine rechte Hälfte jedoch, eine ziemlich poröse, aber dick bepuderte Kante oder Wange, wurde lebhaft von der künstlich wirkenden Glut einer unsichtbaren Sonne angestrahlt. Es war ein bemerkenswerter Gesamteindruck.

Die Soldaten durchsuchten ihn. Sie fanden eine leere Flasche, die noch vor kurzem einen halben Liter Cognac enthalten hatte. Obwohl ein stämmiger Mann, war Krug doch kitzlig, sodass er leise grunzende Laute ausstieß und sich ein wenig wand, als sie grob seine Rippen abtasteten. Irgendetwas hüpfte und fiel mit dem Geräusch einer springenden Heuschrecke zu Boden. Sie hatten die Brille aufgestöbert.

«Los», sagte der dicke Soldat. «Heb sie auf, altes Trampeltier.»

Krug bückte sich, tastete umher, trat zur Seite – und unter der Spitze seines schweren Schuhes knirschte es schrecklich.

«Du meine Güte, dies ist eine Situation sondergleichen», sagte er. «Denn nun gibt es nicht mehr viel zu wählen zwischen meinem körperlichen und eurem geistigen Analphabetentum.»

«Wir setzen dich fest», sagte der dicke Soldat. «Dann kannst du dich nicht mehr dumm stellen, du versoffener Tattergreis. Und wenn wir es satthaben, auf dich aufzupassen, dann schmeißen wir dich ins Wasser und knallen dich ab, während du versackst.»

Ein anderer Soldat, der lässig mit seiner Taschenlampe jonglierte, kam herbei, und wieder sah Krug den bleichen kleinen Mann, der abseits stand und lächelte.

«Ich will auch meinen Spaß haben», sagte der dritte Soldat.

«Denk mal einer an», sagte Krug. «Dich hier zu treffen! Wie geht’s denn deinem Vetter, dem Gärtner?»

«Es ist sein Vetter, nicht meiner.»

«Ach ja, natürlich», sagte Krug rasch. «Genau, was ich sagen wollte. Wie geht es ihm, dem lieben Gärtner? Kann er sein linkes Bein wieder gebrauchen?»

«Wir haben uns ziemlich lange nicht gesehen», antwortete der dicke Soldat mürrisch. «Er wohnt in Berwok.»

«Ein guter Kerl», sagte Krug. «Er hat uns allen so leidgetan, als er in diese Schottergrube stürzte. Da er existiert, können Sie ihm ausrichten, dass Professor Krug oft daran denkt, wie wir uns über einem Krug Apfelmost unterhielten. Jeder kann die Zukunft erschaffen, doch nur ein Weiser die Vergangenheit. Großartige Äpfel in Berwok.»

«Das ist seine Genehmigung», sagte der Dicke, Mürrische zu dem Dörflichen, Derben, der den Schein behutsam nahm und sofort zurückreichte.

«Es ist besser, du rufst diesen wedmin syn [Hexensohn] da», sagte er.

Man führte das Männchen herbei. Er schien unter dem Eindruck zu stehen, dass Krug irgendwie ein Vorgesetzter der Soldaten sei, denn er begann mit fast weibischer Stimme zu jammern – er und sein Bruder besäßen einen Lebensmittelladen auf der anderen Seite und wären seit dem glorreichen Siebzehnten dieses Monats glühende Bewunderer des Herrschers. Die Rebellen seien ja gottseidank aufgerieben, und er würde gern zu seinem Bruder zurückkehren, damit ein siegreiches Volk die leckeren Waren erwerben könne, die er und sein tauber Bruder feilböten.

«Schluss damit», sagte der dicke Soldat, «und lies das da.»

Der bleiche Krämer gehorchte. Das Wohlfahrtskomitee habe Professor Krug ermächtigt, sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße aufzuhalten. Sich von der Südstadt zur Nordstadt zu verfügen. Und zurück. Der Leser wünschte zu erfahren, warum er den Professor nicht über die Brücke begleiten könne. Mit einem flinken Fußtritt wurde er in die Dunkelheit zurückbefördert. Krug schickte sich an, den schwarzen Fluss zu überqueren.

Dieses Zwischenspiel hatte den Sturzbach abgelenkt; jetzt strömte er unsichtbar hinter einer Mauer von Dunkelheit. Er erinnerte sich an andere Schwachköpfe, die er und sie studiert hatten, ein Studium, das sie mit einer Art hämischen, begeisterten Abscheus betrieben. Männer, die sich in schäbigen Spelunken an Bier betrinken und deren Gehirntätigkeit zur Zufriedenheit von schweinern grunzender Radiomusik ersetzt wird. Mörder. Die Hochachtung, die ein Wirtschaftsmagnat seiner Heimatstadt einflößt. Literaturkritiker, die die Bücher ihrer Freunde oder Anhänger loben. Flaubert’sche farceurs. Bruderschaften, mystische Orden. Leute, die sich über dressierte Tiere amüsieren. Die Mitglieder von Lesezirkeln. Alle jene, die sind, gerade weil sie nicht denken, und damit den Cartesianismus widerlegen. Der knickerige Bauer. Der Karrierepolitiker. Ihre Angehörigen – ihre entsetzliche, humorlose Familie. So lebhaft wie ein ‹Schlafbild› oder wie eine hellgekleidete Dame auf einem Glasfenster glitt sie plötzlich im Profil über seine Netzhaut, irgendetwas vor sich her tragend – ein Buch, ein Kind, oder vielleicht ließ sie auch nur den kirschroten Lack auf ihren Fingernägeln trocknen – und die Wand löste sich auf, der Sturzbach wurde von neuem entfesselt. Krug blieb stehen und versuchte sich zu beherrschen, die Fläche seiner bloßen Hand auf das Geländer gestützt: So wurden in früheren Tagen begüterte Herren im Gehrock nach dem Vorbild alter Meister photographiert – die Hand auf einem Buch, auf einer Stuhllehne, auf einem Globus –, aber kaum hatte der Verschluss geklickt, als alles wieder in Bewegung und ins Strömen geriet, und unsicher, des Schluchzens wegen, das seine unbehandschuhte Seele erschütterte, setzte er seinen Weg fort. Die Lichter der gegenüberliegenden Seite, ein Schauer konzentrischer, stacheliger, irisierender Kreise, zogen sich zu einem verschwommenen Schimmer zusammen, wenn man die Augen zusammenkniff, und gleich darauf dehnten sie sich großartig aus. Er war ein großer, schwerer Mann. Er fühlte sich innig dem schwarzen, lackierten Wasser verbunden, das unter den Steinbogen der Brücke schwappte und wogte.

Dann blieb er wieder stehen. Wir wollen dieses anfassen und jenes ansehen. Im schwachen Licht (des Mondes? seiner Tränen? der wenigen Laternen, die die sterbenden Stadtväter aus mechanischem Pflichtgefühl erleuchtet hatten?) fand seine Hand ein raues Muster: eine Rille im Steingeländer und einen Aufsatz und eine Vertiefung mit etwas Feuchtigkeit darin – alles das stark vergrößert, wie die dreißigtausend Löcher in der Kruste des plastischen Mondes auf der glänzenden Photographie, die der stolze Selenograph seiner jungen Frau zeigt. In ebendieser Nacht, gerade nachdem sie versucht hatten, mir ihre Handtasche, ihren Kamm, ihre Zigarettenspitze auszuhändigen. Ich habe dies gefunden und berührt – eine ausgewählte Kombination, Einzelheiten des Basreliefs. Ich habe diese Erhöhung noch nie berührt und werde sie niemals wiederfinden. Dieser Augenblick bewussten Kontakts birgt einen Tropfen Trost. Die Notbremse der Zeit. Was immer der gegenwärtige Augenblick ist, ich habe ihn angehalten. Zu spät. Im Laufe der, wie viel, zwölf, zwölf und drei Monate, Jahre, die wir zusammen verbracht haben, hätte ich auf diese simple Art Millionen von Augenblicken festhalten sollen; vielleicht hätte ich schreckliche Bußen gezahlt, aber der Zug wäre zum Stehen gekommen. Warum bloß haben Sie das getan?, hätte der stieläugige Schaffner vielleicht gefragt. Weil mir die Aussicht gefällt. Weil ich jene sausenden Bäume und den Pfad, der sich zwischen ihnen entlangwand, anhalten wollte. Indem ich auf seinen zurückweichenden Schwanz trat. Was ihr geschah, wäre vielleicht nicht geschehen, hätte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, diese oder jene Kleinigkeit unseres gemeinsamen Lebens prophylaktisch, prophetisch anzuhalten, diesen oder jenen Augenblick ruhen und in Frieden Atem schöpfen zu lassen. Die Zeit zu bändigen, ihrem Puls eine Ruhepause zu gönnen. Das Leben zu verwöhnen, das Leben – unseren Patienten.

Krug – denn er war es – ging weiter, und der Eindruck des rauen Musters prickelte und haftete noch an seinem Handballen. Das Ende der Brücke war heller. Die Soldaten, die ihn stehen bleiben hießen, sahen aufgeweckter und besser rasiert aus, trugen ordentlichere Uniformen. Es waren auch mehr, und mehr nächtliche Wanderer waren angehalten worden: zwei alte Männer mit ihren Fahrrädern und jemand, dem man den vornehmen Herrn ansah (hochgeschlagener, samtener Mantelkragen, Hände in den Taschen vergraben), mit seinem Mädchen, einem schmuddeligen Paradiesvogel.

Pietro – oder wenigstens ähnelte der Soldat Pietro, dem Oberkellner im Universitätsclub – Pietro der Soldat prüfte Krugs Pass und sagte mit gebildetem Akzent:

«Ich begreife nicht, Herr Professor, was Sie in den Stand setzte, die Überquerung der Brücke vorzunehmen. Sie hatten dazu keinerlei Befugnis, da dieser Pass von meinem Kollegen auf der Nordseite nicht gegengezeichnet wurde. Ich fürchte, Sie müssen zurückgehen und es im Einklang mit den Notverordnungen nachholen lassen. Sonst darf ich Ihnen den Zutritt zum Südteil der Stadt nicht gewähren. Je regrette[1], aber Gesetz ist Gesetz.»

«Allerdings», sagte Krug. «Leider nur können die da drüben nicht lesen, geschweige denn schreiben.»

«Das ist nicht unsere Sache», sagte der sanftmütige, ernsthafte, hübsche Pietro – und seine Kameraden nickten zum Zeichen ernsthafter, verständiger Zustimmung. «Nein, ich kann Sie wirklich nicht passieren lassen, es sei denn, ich wiederhole, die Unterschrift der gegenüberliegenden Wache garantierte mir Ihre Identität und Unschuld.»

«Aber können wir nicht die Brücke sozusagen herumdrehen?», sagte Krug geduldig. «Ich meine – drehen Sie sie einfach ganz herum. Sie unterschreiben doch die Genehmigungen aller derer, die von der Süd- zur Nordseite gehen, nicht? Nun, kehren wir einfach den Prozess um. Sie unterschreiben diesen wertvollen Schein und erlauben mir, mich in mein Bett in der Peregolm-Gasse zu begeben.»

Pietro schüttelte den Kopf: «Ich vermag Ihnen darin nicht zu folgen, Herr Professor. Wir haben den Feind zuschanden gemacht – jawohl, zertreten haben wir ihn. Aber ein oder zwei Köpfe der Hydra sind noch am Leben, und wir dürfen kein Risiko eingehen. In etwa einer Woche, Professor, das kann ich Ihnen versichern, werden sich die Verhältnisse wieder normalisiert haben. Das ist doch mal ein Versprechen, nicht wahr, Jungs?», fragte Pietro und wandte sich den anderen Soldaten zu, die beflissen zustimmten und aus deren ehrlichen intelligenten Gesichtern jene emsige Bürgertugend leuchtete, die auch noch den schlichtesten Menschen verklärt.

«Ich appelliere an Ihre Phantasie», sagte Krug. «Stellen Sie sich vor, ich ginge in die andere Richtung. In der Tat bin ich heute früh in die andere Richtung gegangen, als die Brücke noch nicht bewacht war. Erst bei Einbruch der Nacht Wachen aufzustellen ist ein wenig origineller Einfall – aber er mag durchgehen. Lassen Sie auch mich durchgehen.»

«Nicht bevor diese Bescheinigung unterschrieben ist», sagte Pietro und wandte sich ab.

«Senken Sie nicht beträchtlich die Maßstäbe, an denen die Funktion des menschlichen Gehirns, so es eine hat, gemessen wird?», polterte Krug.

«Pst, pst», sagte ein anderer Soldat, legte den Finger an seine gespaltene Oberlippe und deutete mit einer raschen Handbewegung auf Pietros breiten Rücken. «Pst! Pietro hat ganz Recht. Gehen Sie.»

«Ja, gehen Sie», sagte Pietro, der die letzten Worte mitangehört hatte. «Und wenn Sie wiederkommen und Ihr Pass ist unterschrieben und alles hat seine Richtigkeit – bedenken Sie, welche innere Genugtuung Sie dann verspüren werden, wenn wir ihn gegenzeichnen. Und auch uns wird es ein Vergnügen sein. Die Nacht hat gerade erst begonnen, und wenn wir uns unseres Herrschers würdig erweisen wollen, sollten wir ein gewisses Maß körperlicher Anstrengung ohnehin nicht scheuen. Gehen Sie, Herr Professor.»

Pietro sah zu den beiden bärtigen Greisen hin, die geduldig die Lenkstangen ihrer Fahrräder umfasst hielten – ihre Fingergelenke sahen weiß aus im Lampenlicht, und wie verlaufene Hunde beobachteten sie ihn angespannten Blicks. «Ihr könnt auch gehen», sagte er großzügig.

Mit einer Behändigkeit, die in seltsamem Gegensatz zu ihrem fortgeschrittenen Alter und ihren spindeldürren Beinen stand, schwangen sich die beiden Bärtigen auf ihre Stahlrösser und radelten davon – sie wechselten rasche, kehlige Worte und taumelten in ihrem Verlangen, außer Reichweite zu kommen, hin und her. Worüber sprachen sie? Über den Stammbaum ihrer Fahrräder? Den Preis irgendeiner bestimmten Marke? Den Zustand der Rennbahn? Waren ihre Schreie Anfeuerungsrufe? Freundliche Sticheleien? Warfen sie sich den Ball eines Witzes zu, den sie vor Jahren im Simplicissimus oder der Strekosa gesehen hatten? Man möchte immer herausbekommen, was Vorüberfahrende einander zu sagen haben.

Krug ging so schnell er konnte. Wolken hatten unseren siliziösen Satelliten verhüllt. Etwa in der Mitte der Brücke überholte er die grauhaarigen Radfahrer. Beide untersuchten sie den analen Rubin eines der Fahrräder. Das andere lag wie ein verwundetes Pferd mit einem halberhobenen traurigen Kopf auf der Seite. Er ging schnell und hielt den Pass in der Faust. Was würde geschehen, wenn er ihn in den Kur fallen ließe? Verurteilt, auf einer Brücke hin und her zu wandern, die aufgehört hat, eine zu sein, da kein Ufer mehr wirklich erreichbar ist. Keine Brücke, sondern ein Stundenglas, das irgendjemand immer wieder umdreht – und ich darin der feine rinnende Sand. Oder der Grashalm mit einer hinaufkletternden Ameise, den man ausreißt und umdreht, wenn sie oben angekommen ist – oben wird unten, und das arme dumme kleine Tier beginnt das Spiel von vorn. Die beiden Alten überholten ihn ihrerseits, klapperten mit Windeseile durch den Nebel, stolze Reitersleute, die ihre alten schwarzen Mähren mit blutroten Sporen anstachelten.

«Ich bin es wieder», sagte Krug, als sich seine verlotterten Freunde um ihn versammelten. «Ihr habt vergessen, meinen Pass zu unterschreiben. Hier ist er. Wir wollen es schnell hinter uns bringen. Kritzelt ein Kreuz hin oder einen Telephonzellenkrakel oder ein Gammadion[2] oder was weiß ich. Ich wage nicht zu hoffen, dass ihr Stempelutensilien hier habt.»

Noch während er sprach, wurde ihm klar, dass sie ihn überhaupt nicht wiedererkannten. Sie besahen sich seinen Pass. Sie zuckten die Achseln, als wälzten sie damit die Last des Wissens von sich ab. Sie kratzten sich sogar am Kopf, ein absonderliches Verfahren, das in jenem Land im Schwange war, weil es angeblich die Blutzufuhr zu den Gedankenzellen verstärkt.

«Wohnen Sie etwa auf der Brücke?», fragte der dicke Soldat.

«Nein», sagte Krug. «Versucht doch einmal, zu begreifen. C’est simple comme bonjour[3], wie Pietro sagen würde. Sie haben mich zurückgeschickt, weil sie keinen Beweis dafür hatten, dass ihr mich durchgelassen habt. Streng genommen befinde ich mich gar nicht auf der Brücke.»

«Vielleicht ist er aus einem Kahn heraufgeklettert», sagte eine zweifelnde Stimme.

«Nein, nein», sagte Krug. «Ich nicht aus Kahn klettern. Ihr kapiert es immer noch nicht. Ich will es so einfach wie möglich ausdrücken. Die vom solaren Ende sahen heliozentrisch, was ihr Tellurier geozentrisch saht, und wenn diese beiden Aspekte nicht irgendwie kombiniert werden, muss ich, das anvisierte Objekt, in der universalen Nacht für alle Ewigkeit hin- und herpendeln.»

«Das ist doch der Mann, der Gurks Vetter kennt», rief einer der Soldaten, dem plötzlich ein Licht aufgegangen war.

«Ah! Vortrefflich», sagte Krug, bedeutend erleichtert. «Ich vergaß den guten Gärtner. Ein Punkt wäre also geklärt. Nun los, nicht so faul.»

Der bleiche Krämer trat vor und sagte:

«Ich mache einen Vorschlag. Ich unterschreibe seins, er unterschreibt meins, und wir gehen beide hinüber.»

Jemand wollte ihm einen Stoß versetzen, aber der dicke Soldat, der der Anführer der Schar zu sein schien, trat dazwischen und stellte fest, es sei ein vernünftiger Gedanke.

«Gestatten Sie, dass ich auf Ihrem Rücken schreibe», sagte der Krämer zu Krug; hastig schraubte er seinen Füllfederhalter auf und drückte die Bescheinigungen gegen Krugs linkes Schulterblatt. «Was für einen Namen soll ich hinschreiben, Brüder?», fragte er die Soldaten.

Sie schubsten und stießen sich hin und her, da keiner von ihnen sein kostbares Inkognito preisgeben wollte.

«Schreib Gurk», sagte der Mutigste schließlich und zeigte auf den dicken Soldaten.

«Soll ich?», fragte der Händler und drehte sich hurtig nach Gurk um.

Nach kurzer Zeit hatten sie ihm seine Einwilligung abgeschmeichelt. Nun, da er mit Krugs Pass fertig war, stand der Krämer seinerseits vor Krug. Bockspringen oder der Admiral mit Dreispitz, der sein Fernrohr auf die Schulter des jungen Matrosen legt (der graue Horizont schwankt auf und ab, eine weiße Möwe macht eine Halse, aber Land ist nicht in Sicht).

«Ich hoffe», sagte Krug, «dass es genauso schön wird wie mit der Brille.»

Auf der punktierten Linie geht es nicht. Dein Federhalter ist hart. Dein Rücken ist weich. Gurke. Es mit einem Brenneisen hinsetzen.

Beide Papiere wurden herumgereicht und verschämt gutgeheißen.

Krug und der Lebensmittelhändler machten sich auf den Weg über die Brücke; Krug wenigstens ging: Sein kleiner Gefährte brachte seine unbändige Freude dadurch zum Ausdruck, dass er im Kreis um Krug herumlief; seine Kreise wurden immer weiter, er machte eine Lokomotive nach: tsch-tsch, hielt die Ellbogen an die Rippen gepresst, bewegte die Füße fast gleichzeitig und machte mit leicht durchgedrückten Knien kleine, feste Stakkatoschritte. Die Parodie eines Kindes – meines Kindes.

«Stoi, tschort [Halt, Teufel]!», rief Krug, und zum ersten Mal in dieser Nacht gebrauchte er seine wirkliche Stimme. Der Krämer beendete seine Revolutionen mit einer Spirale, die ihn in Krugs Kreisbahn zurückführte, worauf er in dessen Gang einfiel, neben ihm herlief und munter drauflosschwatzte.

«Ich muss für mein Benehmen um Entschuldigung bitten», sagte er. «Aber ich bin sicher, dass Sie genauso fühlen wie ich. Das war doch eine ziemliche Strapaze. Ich dachte, sie würden mich nie wieder freilassen – und diese Anspielungen auf Erwürgen und Ersäufen waren ein bisschen taktlos. Nette Jungs, gebe ich zu, goldige Gemüter, nur ungebildet – wirklich ihr einziger Fehler. Sonst, da bin ich ganz Ihrer Ansicht, sind sie prächtig. Ich stand gerade …»

Das ist die vierte Laterne, ein Zehntel der Brücke. Wenige von ihnen sind erleuchtet.

«… Mein Bruder, der praktisch stocktaub ist, hat einen Laden in der Theod… Entschuldigung, Emrald-Allee. Wir sind eigentlich Teilhaber, aber ich habe ein eigenes kleines Geschäft, das mich die meiste Zeit woanders festhält. Bei den jetzigen Ereignissen braucht er Hilfe, wie wir alle. Sie glauben vielleicht …»

Laternenpfahl Nummer zehn.

«… aber ich sehe es so. Selbstverständlich ist unser Herrscher ein großer Mann, ein Genie, wie es in einem Jahrhundert nur einmal vorkommt. Der Führertyp, den sich Leute wie Sie und ich immer gewünscht haben. Aber er ist verbittert. Er ist verbittert, weil ihn unsere sogenannte liberale Regierung in den letzten Jahren unablässig herumgehetzt, gefoltert, für jedes Wort, das er sagte, ins Gefängnis geworfen hat. Ich werde nie vergessen – und es noch unseren Enkeln erzählen –, was er damals sagte, als sie ihn bei der großen Versammlung im Godeon verhafteten: ‹Ich›, sagte er, ‹ich bin ebenso selbstverständlich zur Führerschaft geschaffen wie ein Vogel zum Fliegen.› Ich finde, das ist der größte Gedanke, der jemals in menschlicher Sprache ausgedrückt wurde, und der poetischste dazu. Nennen Sie mir den Schriftsteller, der etwas nur annähernd Großes gesagt hat. Ich möchte sogar weiter gehen und behaupten …»

Das ist Nummer fünfzehn. Oder sechzehn?

«… wenn wir es von einem anderen Standpunkt aus sehen. Wir sind ein ruhiges Volk, wir wollen ein geruhsames Leben, wir wollen, dass unsere Geschäfte glatt und reibungslos vonstattengehen. Wir wollen die ruhigen Freuden des Lebens. Zum Beispiel weiß doch jeder, dass es der schönste Augenblick des Tages ist, wenn man von der Arbeit nach Hause kommt, die Weste aufknöpft, ein bisschen leichte Musik einschaltet, im Lieblingslehnstuhl sitzt und mit Behagen die Witze in der Abendzeitung liest oder mit seiner Alten über die Nachbarn schnackt. Das ist es, was wir unter wahrer Kultur verstehen, unter wahrer menschlicher Bildung, dafür ist im alten Rom oder Ägypten so viel Blut und Tinte geflossen. Aber heutzutage wollen einem irgendwelche Spinner dauernd weismachen, dass es so ein gemütliches Leben für unsereinen nicht mehr gibt. Glauben Sie ihnen nicht – es ist nicht zu Ende …»

Sind es mehr als vierzig? Das müsste mindestens die Hälfte der Brücke sein.

«… soll ich Ihnen verraten, was in all diesen Jahren wirklich vor sich gegangen ist? Nun, erstens hatten wir unmögliche Steuern zu bezahlen; zweitens tranken all die Abgeordneten und Minister, die man weder zu sehen noch zu hören bekam, immer mehr Champagner und schliefen mit immer fetteren Huren. Und so etwas nennen sie dann Freiheit! Und was passierte inzwischen? Irgendwo tief im Wald, in einer Blockhütte, verfasste der Herrscher wie ein gejagtes Wild seine Manifeste. Was hat man nicht mit seinen Anhängern alles gemacht! Von meinem Schwager, der von Jugend auf der Partei angehört, habe ich fürchterliche Geschichten erfahren. Er ist bestimmt der gescheiteste Mensch, den ich kenne. Sie sehen also …»

Nein, noch nicht einmal die Hälfte.

«… Sie sind Professor, wie ich höre. Na, Herr, jetzt haben Sie eine große Zukunft vor sich. Wir müssen die Unwissenden erziehen, die Verstockten und die Missratenen – aber auf eine neue Art und Weise. Bedenken Sie bloß, was man uns alles für dummes Zeug beigebracht hat … Denken Sie an die Millionen überflüssiger Bücher, die sich in den Bibliotheken ansammeln. Was man nicht alles für Schwarten druckt! Also – Sie glauben mir bestimmt nicht –, aber ein glaubwürdiger Bekannter hat mir erzählt, dass in einer Buchhandlung tatsächlich ein mindestens hundert Seiten dicker Wälzer liegt, der von vorn bis hinten von der Anatomie der Wanzen handelt. Oder der Quark in fremden Sprachen, die kein Mensch versteht. Und was für Unsummen für solchen Blödsinn rausgeschmissen werden. Alle diese riesigen Museen – ein einziger Witz. Da lassen sie einen Steine angaffen, die irgendjemand in seinem Schrebergarten aufgelesen hat. Weniger Bücher und mehr gesunder Menschenverstand – das ist meine Devise. Die Menschen sind dazu geschaffen, zusammenzuleben, miteinander Geschäfte zu machen, miteinander zu reden und zu singen, sich in Vereinen und Läden zu treffen und an Straßenecken – und am Sonntag in der Kirche und im Stadion –, und nicht etwa, allein dazuhocken und gefährliche Gedanken auszuhecken. Meine Frau hatte einen Untermieter …»

Der Mann mit dem Samtkragen und sein Mädchen eilten mit klappernden Schritten vorbei und blickten sich nicht um.

«… alles anders machen. Sie werden der Jugend das Zählen beibringen, das Buchstabieren, das Paketepacken, den Umgang mit Kunden, Ordnung, Höflichkeit und dass man jeden Sonnabend ein Bad nimmt – ach, tausenderlei notwendige Dinge, die allen Menschen gleichermaßen einleuchten. Ich wünschte, ich wäre selber Lehrer. Denn ich behaupte, dass jeder Mensch, ganz gleich wie unbedarft, der letzte Schlabberjochen, der letzte …»

Wenn sie alle erleuchtet wären, hätte es mich nicht so verwirrt.

«… für die ich eine lächerliche Strafe gezahlt habe. Und jetzt? Jetzt ist es der Staat, der meinem Geschäft unter die Arme greift. Er ist da und kontrolliert, was ich verdiene – aber was heißt das schon? Es heißt, dass mein Schwager, der in der Partei ist und jetzt in einem großen Büro sitzt – denken Sie sich, an einem großen Schreibtisch mit einer Glasplatte drauf –, mir in jeder Hinsicht behilflich sein wird, meine Finanzen in Ordnung zu bringen: Ich verdiene besser als je zuvor, denn von jetzt an gehören wir alle zu einer einzigen glücklichen Gemeinschaft. Es bleibt alles in der Familie – eine riesige Familie, alle sind miteinander verquickt, es ist gemütlich, und es gibt keine unliebsamen Fragen mehr. Denn jeder hat irgendeinen Vetter in der Partei. Meine Schwester sagt, es täte ihr so leid, dass unser alter Vater nicht mehr ist, er hatte solche Angst vorm Blutvergießen. Reichlich übertrieben. Ich stehe auf dem Standpunkt, je eher wir diese Besserwisser loswerden, die Krach schlagen, nur weil ein paar dreckige Anti-Ekwilisten endlich gekriegt haben, was ihnen sowieso blühte …»

Das ist das Ende der Brücke. Und siehe da, es grüßt uns niemand mehr.

Krug hatte vollkommen Recht. Die Wachen auf der Südseite hatten ihren Posten verlassen, und nur ein Schatten von Neptuns Zwillingsbruder, ein gedrungener Schatten, der wie ein Wachposten aussah, aber keiner war, erinnerte noch an die, die das Feld geräumt hatten. Zwar ruhten auf einer Bank ein paar Schritte weiter an der Ufermauer drei oder vier möglicherweise uniformierte Männer und rauchten zwei oder drei glühende Zigaretten, während in der Dunkelheit eine siebensaitige Amorandola leise und liebevoll gezupft wurde, aber sie riefen Krug und seinen ergötzlichen Begleiter nicht an, ja achteten ihrer gar nicht, da die zwei ihres Weges zogen.

Kapitel 3

Der Fahrstuhl begrüßte ihn mit dem wohlbekannten leisen Geräusch, halb Stampfen, halb Zittern, und seine Züge erhellten sich. Krug drückte auf den dritten Knopf. Die gebrechliche, dünnwandige, altmodische Kabine blinzelte, aber rührte sich nicht. Er drückte noch einmal. Wieder das Blinzeln, die unbehagliche Ruhe, das undurchdringliche Aussehen eines Dinges, das nicht funktioniert und weiß, dass es nicht funktionieren wird. Er ging hinaus, und sogleich schloss der Lift mit einem optischen Schnappen seine hellen braunen Augen. Er ging die vernachlässigte, aber würdige Treppe hinauf.

Krug, momentan ein Buckliger, steckte den Schlüssel ins Schloss und richtete sich zu voller Größe auf, als er in das summende, grollende, dröhnende, brüllende Schweigen seiner Wohnung trat. In einsamer Höhe hing ein Mezzotintostich des Abendmahls von Leonardo – dreizehn Leute an einem so kleinen Tisch (das irdene Geschirr eine Leihgabe der Dominikaner). Der Blitz traf ihren gedrungenen Schirm mit dem Schildpattgriff – er lehnte sich weg von Krugs eigenem liederlichen großen Parapluie, der verschont blieb. Er streifte seinen einen Handschuh ab, entledigte sich seines Mantels und hängte seinen breitkrempigen schwarzen Filzhut auf. Sein breitkrempiger schwarzer Hut, der sich nicht mehr zu Hause fühlte, fiel vom Haken und wurde auf dem Boden liegen gelassen.

Er ging den langen Korridor hinunter, an dessen Wänden schwarze Ölgemälde, die in seinem Arbeitszimmer keinen Platz mehr gefunden hatten, im blind zurückgeworfenen Licht nichts als Risse zeigten. Ein Gummiball von der Größe einer dicken Orange schlief auf dem Fußboden.

Er betrat das Speisezimmer. Ein Teller mit kalter Zunge, garniert mit Gurkenscheiben, und die angemalte Wange eines Käses erwarteten ihn gelassen.

Die Frau hatte erstaunlich gute Ohren. Sie schlüpfte aus ihrer Kammer neben dem Kinderzimmer und kam, Krug Gesellschaft zu leisten. Ihr Name war Claudina, und seit einer Woche etwa war sie die einzige Hilfe in Krugs Haushalt: Der Koch hatte sich empfohlen, da er an der ‹subversiven Atmosphäre›, wie er es säuberlich umschrieb, Anstoß genommen hatte.

«Gottseidank, dass Sie wohlbehalten wieder da sind», sagte sie. «Möchten Sie eine Tasse heißen Tee?»

Er schüttelte den Kopf, wandte ihr den Rücken zu und machte sich in der Nähe des Büfetts zu schaffen, als suche er etwas.

«Wie geht es Madame heute?», fragte sie.

Ohne zu antworten, schritt er genauso langsam und unsicher wie bisher in den türkischen Salon, den niemand jemals benutzte, durchquerte ihn und gelangte zu einer anderen Biegung des Korridors. Dort öffnete er einen Schrank, hob den Deckel eines leeren Koffers, blickte hinein und kam zurück.

Claudina stand noch immer regungslos in der Mitte des Speisezimmers, wo er sie stehen gelassen hatte. Seit einigen Jahren war sie in der Familie und, wie es in solchen Fällen die Regel ist, angenehm rundlich, in reiferem Alter und empfindsam. Da stand sie, starrte ihn mit dunklen, nassen Augen an, in ihrem leicht geöffneten Mund sah man einen Zahn mit einer Goldplombe, ihre Korallenringe starrten auch, und eine Hand hielt sie gegen ihren formlosen, grauwollenen Busen gepresst.

«Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten», sagte Krug. «Morgen fahre ich mit dem Jungen für ein paar Tage aufs Land; suchen Sie doch bitte in meiner Abwesenheit alle ihre Kleider zusammen und packen Sie sie in den leeren schwarzen Koffer. Auch ihre anderen Sachen, den Regenschirm und das alles. Und dann verstauen Sie es im Schrank und schließen ihn ab. Alles, was Sie finden. Vielleicht ist der Koffer zu klein …»

Er verließ das Zimmer, ohne sie anzusehen, und stand im Begriff, einen anderen Schrank zu untersuchen, doch besann er sich eines Besseren, machte auf dem Absatz kehrt und reckte sich automatisch auf die Zehenspitzen, als er in die Nähe des Kinderzimmers kam. Dort an der weißen Tür blieb er stehen, und sein Herzklopfen wurde plötzlich von der eigentümlich hellen und höflichen Schlafstubenstimme seines kleinen Sohnes unterbrochen, von der David mit anmutiger Genauigkeit Gebrauch machte, wenn es galt, seinen Eltern (zum Beispiel bei der Rückkehr von einer Abendgesellschaft in der Stadt) zu verstehen zu geben, dass er noch wach und bereit sei, jeden zu empfangen, der ihm etwa ein zweites Mal gute Nacht zu sagen wünschte.

So musste es ja kommen. Erst ein Viertel nach zehn. Ich dachte, die Nacht sei fast schon zu Ende. Einen Augenblick lang schloss Krug die Augen, dann ging er hinein.

Er unterschied ein hastiges, undeutliches Gewühl im Bettzeug; der Schalter der Nachttischlampe machte klick, das Kind richtete sich auf und bedeckte die Augen. Man kann nicht sagen, dass Kinder in diesem Alter (acht) in der einen oder anderen bestimmten Art und Weise lächeln. Das Lächeln ist nicht lokalisiert; es ist über den ganzen Körper verbreitet – natürlich nur, wenn das Kind glücklich ist. Noch war dieses Kind glücklich. Krug sagte das Übliche über Uhrzeit und Schlaf. Kaum hatte er es gesagt, als ein wilder Andrang rauer Tränen aus der Tiefe seiner Brust zur Kehle heraufquoll, von niederen Kräften zurückgehalten wurde, sich auf die Lauer legte, in schwarzen Tiefen manövrierte und sich auf einen neuen Ansturm vorbereitete. Pourvu qu’il ne pose pas la question atroce.[1] Ich flehe dich an, lokale Gottheit.

«Haben sie auf dich geschossen?», fragte David.

«Unsinn», sagte er. «Nachts schießt doch niemand.»

«Aber sie haben doch geschossen. Ich habe gehört, wie es geknallt hat. Sieh mal, wie ich mir den Nachtanzug heute angezogen habe.»

Behände stand er auf, breitete die Arme aus und balancierte auf kleinen, puderweißen, blau geäderten Füßen, die sich wie Affenpfoten an das unordentliche Leinen auf der eingedrückten, knarrenden Matratze klammerten. Blaue Hosen, hellgrüne Bluse (die Frau muss farbenblind sein).

«Den richtigen habe ich in die Badewanne fallen lassen», erklärte er vergnügt.

Möglichkeiten der Elastizität übten eine plötzliche Anziehungskraft aus, und unter der Mitwirkung von Bumm- und Bäng- und Paff-Rufen sprang er, einmal, zweimal, dreimal, höher, höher – um dann aus schwindelnder Höhe auf die Knie zu fallen, zur Seite zu rollen und unsicher und taumelnd in dem verwüsteten Bett aufzustehen.

«Leg dich hin, leg dich hin», sagte Krug. «Es ist schon sehr spät. Ich muss jetzt gehen. Komm, leg dich hin. Schnell.»

(Vielleicht fragt er nicht.)

Diesmal fiel er auf den Hosenboden, tappte mit gekrümmten Zehen umher, schob sie unter die Decke, zwischen Decke und Bezug, lachte, machte es diesmal richtig, und schnell deckte Krug ihn zu.

«Heute Abend hat mir niemand eine Geschichte erzählt», sagte David, jetzt auf dem Rücken liegend; seine langen Wimpern standen in die Höhe, seine Ellbogen waren zurückgeworfen und lagen wie Flügel neben seinem Kopf auf dem Kissen.

«Morgen erzähle ich dir eine doppelt so lange.»

Als er sich über das Kind beugte, wurde Krug einen Augenblick lang in Armeslänge gehalten, und beide sahen einander ins Gesicht: Das Kind versuchte angestrengt, sich schnell noch eine Frage auszudenken, um Zeit zu gewinnen, der Vater betete inständig, dass eine bestimmte Frage nicht gestellt würde. Wie zart die Haut aussah im Schimmer der Schlafenszeit, mit einer Spur vom blassesten Violett über den Augen und dem goldenen Hauch auf der Stirn unter dem kräftigen, zerzausten, goldbraunen Haarschopf. Die Vollkommenheit nichtmenschlicher Geschöpfe – Vögel, junge Hunde, schlafende Nachtfalter, Fohlen – und diese kleinen Säugewesen. Eine Kombination von drei winzigen braunen Flecken, Muttermale auf der leicht geröteten Wange neben der Nase, erinnerte ihn an eine Kombination, die er vor kurzem gesehen, berührt, in sich aufgenommen hatte – was war es doch? Das Geländer.

Er küsste sie schnell, löschte das Licht und ging hinaus. Gottseidank, die Frage war ungestellt geblieben – dachte er, als er die Tür schloss. Doch als er sanft die Klinke losließ, kam sie, hell, ein schlauer Einfall.

«Bald», erwiderte er. «Sobald der Doktor es ihr erlaubt. Schlaf. Bitte schlaf jetzt.»

Endlich war die barmherzige Tür zwischen ihm und mir.

Im Speisezimmer saß Claudina auf einem Stuhl neben dem Büfett und weinte herzhaft in eine Papierserviette. Krug setzte sich zum Essen, hantierte rasch mit Pfeffer und Salz, räusperte sich, schob die Teller hin und her, ließ eine Gabel fallen, fing sie mit dem Spann auf und brachte die Mahlzeit schnell hinter sich, während sie immer wieder zu schluchzen begann.

«Bitte, gehen Sie in Ihr Zimmer», sagte er schließlich. «Der Junge schläft nicht. Wecken Sie mich morgen um sieben. Herr Ember wird sicher nach dem Rechten sehen. Ich fahre mit dem Kind so früh wie möglich.»

«Aber es kommt so plötzlich», stöhnte sie. «Gestern sagten Sie noch … Ach, so hätte es nicht kommen dürfen!»

«Und ich drehe Ihnen den Hals um», fügte Krug hinzu, «wenn Sie dem Jungen auch nur ein Sterbenswörtchen sagen.»

Er schob den Teller weg, ging in sein Arbeitszimmer und verriegelte die Tür.

Ember ist vielleicht gar nicht zu Hause. Vielleicht auch funktioniert das Telephon nicht einmal. Aber als er den Hörer abnahm, fühlte er ihm schon an, dass das getreue Instrument noch am Leben war. Embers Nummer hatte er nie behalten können. Hier ist die Rückseite des Telephonbuchs, auf der wir Namen und Nummern zu notieren pflegten – unsere Hände übereinander, in entgegengesetzte Richtungen geneigt und gekrümmt. Ihre Höhlung passte genau in meine Wölbung. Unglaublich – ich kann auf der Wange eines Kindes den Schatten der Wimpern erkennen und doch meine eigene Handschrift nicht entziffern. Seine zweite Brille fand sich und dann die vertraute Nummer mit der Sechs in der Mitte, die Embers persischer Nase glich, und Ember legte den Federhalter hin, nahm die lange Bernsteinzigarettenspitze aus den weit aufgeschürzten Lippen und lauschte.