Das Bild der Toten - David Lagercrantz - E-Book

Das Bild der Toten E-Book

David Lagercrantz

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Beschreibung

Der Nr.-1-Bestseller aus Schweden und zweite Band der Rekke-Vargas-Reihe

Der brillante Psychologe Hans Rekke und die junge, clevere Polizistin Micaela Vargas haben soeben ihren ersten gemeinsamen Fall gelöst. Da steht plötzlich ein Mann vor Rekkes Tür und zeigt ihm ein Foto seiner Frau, das ihm kürzlich zufällig in die Hände gefallen ist. Im Hintergrund ist der Markusdom in Venedig zu sehen. Das Problem: Die Frau ist vor Jahren nicht von einem Abendspaziergang zurückgekehrt und schon lange für tot erklärt worden. Die Ermittlungen stürzen Rekke und Vargas auch in private Abgründe ...​

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Das Buch

Der brillante Psychologe Hans Rekke und die junge, clevere Polizistin Micaela Vargas haben soeben ihren ersten gemeinsamen Fall gelöst. Da steht plötzlich ein Mann vor Rekkes Tür in Stockholm und zeigt ihm ein Foto seiner Frau, das ihm zufällig in die Hände gefallen ist. Im Hintergrund ist der Markusdom in Venedig zu sehen. Das Problem: Die Frau ist vor Jahren nicht von einem Abendspaziergang zurückgekehrt und schon lange für tot erklärt worden. Die Ermittlungen stürzen Rekke und Vargas auch in private Abgründe …

Der Autor

David Lagercrantz, 1962 geboren, debütierte als Autor mit dem internationalen Bestseller »Allein auf dem Everest«. Seitdem hat er zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. 2013 wurde er vom schwedischen Originalverlag und Stieg Larssons Familie ausgewählt, die Folgeromane der Millennium-Reihe zu schreiben. Für seine neue Krimiserie hat er ein geniales Ermittler-Duo geschaffen: Rekke und Vargas. David Lagercrantz ist verheiratet und lebt in Stockholm.

DAVIDLAGERCRANTZ

DAS BILD DERTOTEN

THRILLER

Aus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

MEMORIA

bei Norstedts, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 David Lagercrantz

Published by agreement with Norstedts Agency

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Herstellung: Mariam En Nazer

Covergestaltung: favoritbüro,unter Verwendung von Shutterstock.com / korkeng

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-26908-1V001

www.heyne.de

Prolog

Bei dem Anruf, den der ungarische Geschäftsmann am 1. Juni 2004 bekam, ging es lediglich um eine Umweltanalyse, und es wurde auch über nichts Wichtiges oder Entscheidendes verhandelt. Doch da der Analyst am anderen Ende der Leitung trotz der Situation im Irak guter Laune war, plauderte er noch über dies und das und erwähnte ganz nebenbei Professor Hans Rekke.

»Wie ich hörte, interessiert sich Rekke für den Tod von Claire Lidman.«

Mehr war es nicht. Doch für den ungarischen Geschäftsmann wurde mit einem Mal die ganze Welt in andere Farben getaucht.

Aber diese Geschichte hatte schon viel früher begonnen.

Eins

Damals war Hans Rekke zwölf Jahre alt, und in Wien schneite es wie lange nicht mehr.

An der Tür der Villa Rekke wurde geläutet. Doktor Brandt, der Mathematiklehrer, trat mit einer viel zu großen Pelzmütze auf dem Kopf ein, einen Jungen in Hans’ Alter mit lockigem Haar und dunklen Augen im Schlepptau. Doktor Brandt stellte ihn als Gabor vor, und Hans streckte ihm die Hand entgegen.

Der Junge nahm die Hand nicht, sondern bewegte sich stattdessen leicht und geschmeidig wie eine Raubkatze an ihm vorbei. Er hatte etwas Bedrohliches an sich, sein Blick leuchtete grün, und jede seiner Bewegungen strahlte Wachsamkeit und Agilität aus. Der Lehrer setzte die beiden Jungen an den großen Schreibtisch beim Bücherregal mit der Beethovenbüste, und erst dann verstand Hans, was der Zweck des Besuchs war.

Gabor galt ganz offensichtlich ebenfalls als begabt, und nun sollten sie wohl gegeneinander antreten. Doktor Brandt teilte Aufgaben aus – über Cantors Beweis für die unendlichen Mengen in der Mathematik –, und augenblicklich entstand im Raum eine intensive Spannung. Der Junge, Gabor, zitterte vor Eifer und begann sofort zu arbeiten. Hans selbst saß wie gelähmt da und beäugte verstohlen den anderen.

»Warum machst du dich nicht an die Aufgabe?«, fragte Doktor Brandt.

»Gleich«, erwiderte Hans. Doch sein Denken war wie blockiert. Erstaunt sah er zu, wie der Junge blitzschnell Zahl um Zahl aufs Papier schrieb, und er dachte: Ich lasse ihn einfach gewinnen. Ist mir doch egal. Aber irgendwann erwachte sein Ehrgeiz, und er wollte dem anderen zeigen, was er konnte. Hinterher fand er, dass es ganz gut gelaufen war, wenn auch nicht großartig. Doch als er aufsah, leuchteten Gabors Augen vor Triumph.

»Ich bin beeindruckt, Jungs. Wie wäre es mit einer zwanzigminütigen Pause, damit ihr euch miteinander bekannt machen könnt?«, schlug Doktor Brandt zufrieden vor. Also zogen Hans und Gabor ihre Mäntel an und gingen in den Garten hinaus. Es war ein kalter Tag, der Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel und knirschte unter ihren Füßen. Da vernahm Hans ein schwaches Pfeifen, ein hohes, viergestrichenes G, das bei jedem dritten oder vierten Ausatmen zu hören war, ein zarter Ton, der in starkem Kontrast stand zu der explosiven Energie, die der andere ausstrahlte.

»Was machst du für einen Sport?«, fragte Hans.

Gabor sah aus, als würde er nachdenken. »Selbstverteidigung.«

»Und was genau?«, beharrte Hans.

»Ich zeig’s dir.«

Gabors Körper spannte sich an, und das schwache Pfeifen seiner Atmung senkte sich um einen Halbton aufs Fis, und das machte Hans unaufmerksam. In der letzten Zeit war aus dieser Angewohnheit ein Fluch geworden: Wenn sich ein Lautbild veränderte, musste er zwanghaft die Töne in der Umgebung analysieren. Deshalb war er nicht vorbereitet, als Gabor ihn packte. Mit gewaltiger Kraft wurde er herumgeschleudert und knallte auf den gefrorenen Boden, und für ein paar Momente war ihm schwarz vor Augen. Dann sah er das Gesicht von Gabor über sich, der ihn wie ein Raubtier ansah, das seine Beute erlegt hatte.

Dann war er weg, und Hans lag mit schmerzendem Kopf da und konnte erst im dritten oder vierten Versuch wieder auf die Beine kommen und ins Haus stolpern. Blut klebte in seinen Haaren, und er stand lange über der Badewanne im Erdgeschoss und versuchte, es abzuwaschen. Als er schließlich wieder die Bibliothek betrat, waren fünfzehn oder zwanzig Minuten vergangen.

Doktor Brandt stand am Schreibtisch und war sichtlich enttäuscht, dass Gabor einfach nach Hause gegangen war. Deshalb sah er nicht, dass Hans leichenblass und verletzt war. Und auch seine Mutter schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, denn sie war den ganzen Abend lang damit beschäftigt, nach einigen Schmuckstücken zu suchen, die sie vermisste.

Zwei

Polizeiassistentin Micaela Vargas war erst vor Kurzem bei Professor Hans Rekke auf der Grevgatan eingezogen. Weil die Straße in einem der schicken Viertel von Stockholm lag, hatte es in Husby, wo Micaela herkam, Tratsch gegeben.

Inzwischen wollte sie nur noch weg, denn Rekke war depressiv und verließ sein Schlafzimmer kaum. Sobald sie konnte, würde sie ihre Sachen packen, aber zuerst wollte sie mit ihm den Fall abschließen, an dem sie gerade gemeinsam arbeiteten. Dabei ging es um eine schon vor Jahren für tot erklärte Frau, die nun womöglich auf einem kürzlich aufgenommenen Urlaubsfoto aus Venedig zu sehen war. Micaela hatte zwar ihre begründeten Zweifel an dieser Geschichte, aber irgendetwas reizte sie doch daran.

Deshalb war sie in die Polizeizentrale auf der Bergsgatan gefahren, um Kriminalinspektor Kaj Lindroos zu treffen, der vor nunmehr fast vierzehn Jahren in dem Fall ermittelt hatte. Doch der ließ sie warten, was sie nicht wirklich wunderte. Schon am Telefon hatte er unwillig und sauer geklungen, und nun stand sie blöd im Empfangsbereich herum und schaute auf die Straße hinaus. Ein Pick-up mit kreischenden Abiturienten fuhr vorbei. Es war der 5. Juni 2004, ein strahlender Sommertag, und sie war schon drauf und dran, wieder zu gehen, als sie jemand von hinten ansprach.

»Ist das meine Kollegin, die gerne mal die Privatdetektivin gibt?«

Sie drehte sich um und reichte Kaj Lindroos die Hand. Er war jünger, als sie erwartet hatte, wahrscheinlich kaum fünfzig, hatte große braune Augen und zurückgekämmtes blondes Haar. Er sah ungepflegt aus, und sein Blick wanderte unangemessen lange über ihren Körper. Sie zog die Jeansjacke enger um sich.

»Danke, dass du dir Zeit nimmst«, sagte sie nur.

»Claire Lidman ist tot«, antwortete Kaj Lindroos.

»Ja, so scheint es zumindest. Aber irgendwas ist komisch an der Sache«, gab sie zurück. »Ich halte dich nicht lange von der Arbeit ab. Versprochen.«

Inspektor Lindroos begutachtete weiterhin ihre Figur. »Du kannst mich so lange von der Arbeit abhalten, wie du willst, die Frau ist trotzdem tot.«

Micaela hätte ihm am liebsten eine geknallt.

»Vielleicht guckst du dir das Foto erst mal an«, schlug sie vor und ging mit ihm zusammen in den Fahrstuhl.

Selbstverständlich würde Kaj Lindroos sich das Foto anschauen. Es war albern, sich daran zu stören, dass diese Vargas so jung und dazu noch eingewandert war. Aber er hatte eben seine Vorurteile, vor allem, da es um die Lidman-Ermittlung ging, den einzigen Makel seiner Laufbahn. Natürlich war da was faul gewesen. Eine schöne Frau mit erstklassiger Ausbildung, die mit Wirtschaftsbossen der höchsten Ebene verhandelt hatte, war vor vierzehn Jahren spurlos verschwunden, und dann war ihre verkohlte Leiche ein paar Monate später bei einem Tanklasterunglück in Spanien aufgetaucht. Klar hatte ihn das eine Weile beschäftigt. Aber das war lange her. Es war Freitagnachmittag, und er wollte so bald wie möglich ins Wochenende verschwinden und sich einen ansaufen. Und vielleicht könnte er Micaela um den Finger wickeln. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

»Du arbeitest also in der Jugendkriminalität?«, fing er an.

»Ja, aber da hab ich echt nicht genug zu tun. Ich suche mir noch andere Fälle, wenn es sich ergibt.«

»Das finden deine Kollegen da bestimmt ganz super.«

»Na klar.«

»Hab ich mir gedacht. Schicke Jeansjacke«, sagte er, starrte auf ihre Brüste und begutachtete sie noch einmal von oben bis unten. Die Beine könnten durchaus ein bisschen länger sein, und es würde auch nichts schaden, wenn sie mal lächeln würde. Aber man soll ja nicht zu hohe Ansprüche stellen.

Sie gingen in sein Büro, und er machte ein bisschen Platz auf dem Schreibtisch. Vor dem offenen Fenster johlten die Abiturienten auf ihren Pick-ups.

»Die haben Spaß«, sagte er. »Da wünscht man sich doch fast, man wäre dabei.«

»Fast«, entgegnete sie.

»Hast du auch so gefeiert, als du das Abi in der Tasche hattest?«

»So laut ich konnte.«

»Na, allzu lange kann das ja nicht her sein.« Er bereute die Bemerkung sofort. Das klang so, als sei sie zu jung und unerfahren, um ihm mit irgendwelchen wundersamen Theorien zu kommen, wie Claire von den Toten auferstanden sein könnte. Aber nun war es schon raus.

»Willst du damit irgendwas andeuten?«, fragte sie.

»Nein, nein«, beeilte er sich zu sagen. »Aber zu meiner Zeit hat man diese weißen Mützen, mit denen die Abiturienten da rumlaufen, reaktionär gefunden. Und jetzt wollen sie alle plötzlich eine aufhaben.«

»Aha«, erwiderte sie gelangweilt.

»Offenbar ist es nicht mehr in Mode, rebellisch zu sein.«

»Kann sein.«

»Magst du Ulf Lundell?«

»Wen?«

Diese verdammten Vorortbräute haben einfach keine Ahnung von Schweden, dachte er.

»Also gut, bringen wir es hinter uns«, sagte er seufzend. Sie nickte, schob die Hand in die Innentasche ihrer Jacke und zog das Foto heraus.

Für einen kurzen Moment bekam er es mit der Angst zu tun. Aber nein, redete er sich ein, er musste sich nun wirklich keine Sorgen machen. Schließlich gab es einen Totenschein und einen DNA-Beweis, außerdem hatte er die Leiche selbst gesehen. Claire Lidman konnte definitiv nicht mehr in einem eleganten roten Mantel in Venedig herumlaufen.

Drei

Hans Rekke saß am Flügel und spielte das Adagio aus der Pathétique, hörte aber schon nach wenigen Minuten wieder auf. Das Stück sprach einfach nicht mehr zu ihm, was aber nicht Beethovens Schuld war. Nichts sprach mehr zu ihm, und er stand auf und wusste nicht, wohin mit sich.

Zurzeit bereiteten ihm schon die einfachsten Entscheidungen Probleme. Sollte er sich wieder hinlegen oder doch noch eine Weile sitzen bleiben? Von draußen drang der Autolärm zu ihm herein, während ihn das gleichmäßige Ticken der Wanduhr an das unaufhaltsame Verstreichen seiner Lebenszeit erinnern zu wollen schien.

Wo war Micaela? Eine Woche schon hatte er sie nicht gesehen. Vielleicht war sie wieder in ihre eigene Wohnung gezogen. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, bestimmt deprimierte er sie. Trotzdem tat es weh. Er beschloss, in die Küche zu gehen und ein Glas Wein zu trinken, bog stattdessen ins Badezimmer ab und öffnete den Medikamentenschrank. Mach ihn wieder zu, ermahnte er sich. Lass die Finger von diesem Zeug. Aber seine Hände griffen wie von selbst nach den neuen Tabletten, die er von diesem Höllendoktor Freddie bekommen hatte.

Oxycontin hießen sie und machten laut Beipackpackzettel nur in seltenen Fällen abhängig. Ihr Witzbolde, dachte Hans und sank auf den Toilettendeckel. Er wurde überspült von Erinnerungen an seine Kindheit in Wien, als es tagelang nur geschneit hatte. Doch plötzlich hellte sich seine Miene auf, und er erhob sich. Waren das nicht Schritte im Treppenhaus, vertraute Schritte?

Er meinte den Gang seiner Tochter Julia zu erkennen, war sich dann aber nicht sicher. Die Schritte waren langsamer und nicht so unbeschwert wie sonst, und er erinnerte sich, dass Julia in der letzten Zeit traurig ausgesehen hatte. Hatte sie ihm gesagt, was sie bedrückte?

Er strich sich mit nassen Fingern die Haare zurecht, verließ das Badezimmer und ging zur Wohnungstür. Öffnen musste er nicht, Julia hatte einen Schlüssel. Er betrachtete seine Tochter wie durch einen Nebel. Sie trug eine Jeans mit Löchern an den Knien, eine Lederjacke und viel zu hohe Schuhe. Außerdem war sie übertrieben geschminkt. Sie zog an ihrer Jacke, als würde sie frieren.

»Hallo, mein Herz. Schneit es noch?«, fragte er.

»Soll das ein Witz sein?«

»Ja, entschuldige«, antwortete er kleinlaut.

Er breitete die Arme aus, um sie zu begrüßen, aber sie ging an ihm vorbei in die Wohnung.

»Es ist Sommer, Papa.«

»Das weiß ich doch.«

»Oder bist du in Gedanken mal wieder ganz woanders?«, fragte sie und hatte damit wie üblich den Nagel auf den Kopf getroffen.

Er musste sich unbedingt zusammenreißen und in die Gegenwart zurückkehren. Seine Tochter war definitiv abgemagert, und das gefiel ihm nicht. Dieser Drang, den eigenen Körper zu geißeln, lag in der Familie. Seine bornierte Mutter hatte das immer für ein Zeichen von Stil und Klasse gehalten. Doch er wusste, dass diese angebliche Klasse manchmal nur Grauen und Gewalt übertünchte.

»Mein Schatz«, sagte er. »Komm, wir essen zu Mittag.«

»Und du kochst, oder was?«

Ihre Stimme klang abweisend, ihre schmalen Schultern hatte sie hochgezogen.

»Ja, natürlich«, erwiderte er, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. »Dich amüsiert ja immer, dass ich so ungeschickt bin. Aber wie ich Frau Hansson kenne, hat sie sicher etwas vorbereitet. Das hier zum Beispiel …« Er schaute in eine Schale auf der mittleren Schiene. »Risotto«, fuhr er fort und roch daran. »Mit Weißwein, Gemüsebrühe und Parmesan. Und sieh mal hier!« Er strahlte. »Gebratene Champignons und Rucola, das wird ein Festessen.«

»Nein, lass mal, ich muss gleich wieder los.«

»Du bist doch gerade erst gekommen. Ich wärme uns das in der Mikrowelle auf. Ich könnte dir sogar ein Glas Wein dazu anbieten, denn bist du nicht gerade neunzehn geworden?« Er lächelte breit und hoffte, mit diesem Scherz seine vorherige Verwirrung überspielen zu können.

»Ich bin nur hier, um dir etwas zu sagen«, erwiderte sie, und er blieb mit der Risottoschüssel in der Hand wie angewurzelt stehen, auf schlimme Nachrichten gefasst.

Aber vielleicht war das nur die Erinnerung an jenen weit zurückliegenden Winter, die sich wieder aufdrängte. Also bemühte er sich, wie ein normaler, gelassener Vater zu wirken und nicht wie jemand, der gerade Opiate eingeworfen hatte.

Vier

Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte Micaela, die noch immer bei Lindroos saß. Am besten hätte ich mich überhaupt nicht in diese Geschichte reinziehen lassen sollen.

Sie wusste genau, wann das passiert war, ziemlich exakt um halb neun Uhr am Abend des zehnten Mai, als Samuel Lidman bei Rekke und ihr im Wohnzimmer saß und ein Urlaubsfoto auf den Couchtisch legte. Der Witwer atmete schwer und war schweißüberströmt. Er hatte einen braunen Cordanzug und frisch geputzte Cowboystiefel an, und trotz seiner Größe und imponierenden Gestalt war er ein Bild des Jammers mit seinem roten, verschwitzten Gesicht und dem traurigen Blick.

»Sie müssen genau hinsehen«, flehte er. »Ich habe noch andere Bilder. Sehen Sie sich das Ohr an, die Nase und die Lippen, es ist verblüffend.«

Was er da beweisen wollte, war ungeheuerlich. Seine Frau war seit dreizehneinhalb Jahren tot, und zwar nicht lediglich für tot erklärt, sondern mit Zahnkarteidentifiziert undbegraben auf dem katholischen Friedhof in Solna. So jemanden zum Leben erwecken zu wollen, war, wie Rekke sich ausdrückte, ein ehrgeiziges Projekt. Aber Samuel zeigte beharrlich auf eine schöne Frau in rotem Mantel, die auf dem Urlaubsbild aus Venedig zu sehen war.

»Sehen Sie nur hin, sehen Sie«, drängte er.

Rekke nahm das Foto in die Hand. Micaela vermutete, dass er so schonend wie möglich ablehnen würde. Er war ein dezenter Mann, der niemanden gern verletzte, und wie Samuel Lidman da auf der Couch saß, sah er aus, als ginge es hier um sein Leben.

Er war bis über beide Ohren verliebt und frisch verheiratet gewesen, als Claire ihn im Herbst 1990 ohne Vorwarnung und ohne ein Wort des Abschieds verließ. Das war lange her, doch nun war die Wunde erneut aufgerissen worden. Es war offensichtlich, dass irgendetwas passiert sein musste. Claire war ausgesprochen schön und talentiert gewesen und hatte eine kometenhafte Karriere hingelegt. Sie war Chefanalystin einer der größten Banken Schwedens, der Nordbank, und direkt dem Vorstandsvorsitzenden William Fors unterstellt. Zur damaligen Zeit, in der beginnenden Finanzkrise, trieb sie Anleihen ein und sicherte Kredite von ins Wanken geratenen Großunternehmen und Finanzleuten. Der Druck, der auf ihr lastete, war enorm, aber genau das liebte sie an dem Job, erzählte Samuel. Sie war eine Kämpferin und eine Zockerin, und sie waren in ihrer Ehe glücklich. Ineinander verschlungen, so drückte er es aus.

Doch eines Abends hatte Claire das Haus verlassen, um einen Brief nach London an ihre Schwester einzuwerfen, und war nicht zurückgekehrt. Schon tags darauf begannen die Ermittlungen der Polizei. Schreckliche Wochen folgten. Dennoch sehnte er sich nach diesen Tagen zurück, denn da hatte er zumindest noch die schönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit gehabt. Schließlich wurden auch die ihm genommen. Als der Polizeieinsatz in vollem Gange war, kam ein Gruß von ihr, kein langer Brief, so wie der, den sie ihrer Schwester geschrieben hatte, sondern nur eine Ansichtskarte mit einem Gemälde von Cézanne – ein Gardanne-Motiv –, auf der stand, dass sie ihn verlassen habe.

Kurz darauf unternahm er in seinem Schmerz eine mehrwöchige Pilgerreise, wie er es nannte. Als er aus Bombay einmal zu Hause anrief, erfuhr er, dass Claire bei der Explosion eines Tanklasters in San Sebastian ums Leben gekommen war. Er hätte nach seiner Rückkehr darum bitten können, ihre Leiche zu sehen, und es mit Sicherheit auch zur Beerdigung in Solna geschafft. Aber er wollte nicht.

»Für mich war sie längst gestorben«, sagte er. Als er hörte, dass der Leichnam schlimm verbrannt war, bestätigte ihn das nur in seiner Entscheidung, seine Reise fortzusetzen.

»Das war ein Fehler«, sagte er. »So konnten die mich reinlegen.«

Obwohl Claires Schwester, ihre Mutter und ebenjener Kriminalinspektor Kaj Lindroos die Leiche identifiziert hatten, war Samuel, wahrscheinlich auch, weil er nicht hatte Abschied nehmen können, von der fixen Idee besessen, dass Claire vielleicht noch lebte. Tatsächlich stand fest, dass sie Hilfe gehabt haben musste, um Schweden zu verlassen. Sonst hätte sie mehr Spuren hinterlassen und sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Das war alles sehr verworren, und Micaela erinnerte sich, wie unruhig Samuel gewesen war und noch mehr schwitzte, während Rekke das Foto betrachtete, das als Beweis für eine Auferstehung kaum taugte. Aus Höflichkeit, wie Micaela dachte, ließ sich Rekke viel Zeit, studierte das Foto lange – nicht nur das eine, sondern auch die alten Bilder von Claire, die Samuel mitgebracht hatte. Eins nach dem anderen nahm er in die Hand.

»Faszinierend«, sagte er.

»Sie erkennen sie auch, nicht wahr? Das ist Claire, oder etwa nicht?«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Rekke. »Besonders scharf ist das Foto nicht. Aber immerhin kann ich sehen, dass Claire und diese Frau dieselbe Ausstrahlung haben. Aber ich frage mich … warten Sie …«

Und als nun Samuel Lidman aufgeregt weiter die Ähnlichkeiten zwischen Claire und dieser Frau heraufbeschwor, hörte Rekke nicht mehr zu, sondern war wie so oft in einem tranceähnlichen Zustand versunken.

»Sie wirkt ein wenig ängstlich, nicht wahr?«, sagte er schließlich. »Sieht aus, als würde sie sich nach jemandem umschauen.« Samuel Lidman betrachtete Rekke angespannt.

»Ja, vielleicht. Aber vor allem …«

»Ja?«

»… ist da etwas Besonderes an ihrer Art zu gehen. Sie hält sich ein wenig schief. Hatte Claire eine Verletzung am rechten Knie?«

Samuel war fassungslos. »Ja, allerdings«, sagte er. »Sie hat sich mal beim Skifahren die Bänder gerissen.«

»Das linke Bein und die Hüfte, sehen Sie … neigen sich leicht und übernehmen das Gewicht. Das kann natürlich Zufall sein, ein plötzliches Schwanken oder so etwas. Schmerzen hat sie jedenfalls nicht, das würde man sehen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass diese Schonhaltung, den Körper leicht zu drehen, wahrscheinlich über die Jahre antrainiert wurde und kaum zu erkennen ist. Vielleicht brauchten wir die Bewegung eingefroren in diesem Bild, um es so deutlich zu sehen. Schuld kann eine alte Fraktur der Wade oder im Oberschenkel sein. Doch solche Verletzungen heilen schnell. Ich denke eher, es hat etwas mit dem Meniskus zu tun, der niemals richtig verheilt ist.«

Samuel Lidman fuhr aus seinem Sessel hoch, marschierte im Zimmer auf und ab und erzeugte eine fiebrige Stimmung, als wären sie wirklich auf einer Spur. Micaela war dann ungefähr eine halbe Stunde lang damit beschäftigt gewesen, den armen Mann wieder auf den Teppich zu holen, während sich Rekke, der angeblich nachdenken musste, zurückgezogen hatte.

Am Tag darauf konnte sie sehen, dass Rekke angefangen hatte, an seiner Schlussfolgerung zu zweifeln.

Das war typisch für ihn. Sein Gehirn notierte blitzschnell jede Menge Details und setzte sie zu einem Bild zusammen. Doch hinterher verbrachte er mehr Zeit damit, seine Schlussfolgerungen wieder infrage zu stellen, als es gedauert hatte, sie zu ziehen, und diesmal war er besonders verunsichert. Er hatte einem unglücklichen Mann Flausen in den Kopf gesetzt. »Ich bin ein Idiot«, sagte er, und vielleicht war das der Anfang seiner aktuellen Krise, sein Absturz ins Dunkel.

Doch Samuel Lidman hatte Feuer gefangen und scherte sich nicht darum, dass Rekke seine Meinung geändert hatte, ganz gleich, wie sehr Micaela ihn zu beschwichtigen versuchte. Am Ende versprach sie, der Sache auf den Grund zu gehen, und so war sie mit dem Foto bei Inspektor Kaj Lindroos aufgeschlagen. Vermutlich wirkte sie nicht besonders überzeugend, und als sie jetzt das Foto auf den unaufgeräumten Schreibtisch des Inspektors legte, kam ihr die Sache selbst albern vor.

»So, da ist es also«, sagte Kaj Lindroos und nahm das Foto in die Hand, betrachtete es jedoch nicht lange, sondern wandte den Blick zum Fenster, als würde er hoffen, wieder die Abiturienten zu hören.

»Du musst schon ein bisschen genauer hinsehen«, forderte sie.

Er wandte sich ihr zu. »Du hast nicht zufällig Lust, nachher ein Bier trinken zu gehen? Vielleicht irgendwo unten am Wasser?«

Er sah sie mit neuer Aufmerksamkeit an und fummelte seinen obersten Hemdknopf auf.

»Was? Nein, sorry«, erwiderte sie genervt. »Muss nach Hause.«

»Bist du sicher? Es ist Freitag, die Sonne scheint.«

»Ich bin mit meiner Mutter verabredet.«

»Aha, echt? Na gut.« Er zeigte mit seiner Körpersprache, dass er jetzt noch weniger vorhatte, irgendwelche Energie auf dieses lächerliche Foto zu verschwenden. Sollte sie vielleicht noch was Nettes sagen, was im Stil von »vielleicht ein andermal«? Aber das wäre doch nur blöd und feige.

»Sieh mal hier«, forderte sie ihn auf, »vor allem das Ohr und die Nase sind signifikant ähnlich.«

»Ach wirklich?«, versetzte er und fummelte den Hemdknopf wieder zu. »Und das Foto hat Samuel Lidman also bei seinem Nachbarn gefunden?«

Micaela hatte ihm die Laune verdorben, das war deutlich.

»Ein Freund von Samuel Lidman hat es bei seinem Nachbarn gefunden«, korrigierte sie.

»Ist das allein nicht schon ein wenig sonderbar?«, entgegnete er, und das war es natürlich. Es hätte sich besser angefühlt, wenn das Foto nach ausgiebiger Recherche entdeckt worden wäre, anstatt einfach nur plötzlich in einem Urlaubsalbum im Bekanntenkreis aufzutauchen. Aber so war es nun mal, und bald würde sie hoffentlich hier weggehen und den Mist vergessen können.

»Spielt es eine Rolle, woher das Bild kommt? Entweder ist sie das oder nicht.«

»Ja, ja, natürlich«, gab Lindroos zu und nahm das Foto erneut in die Hand. Micaela schloss die Augen und dachte, dass sie gerne so wäre wie die Frau auf dem Bild. Sie würde auch gern mal derart selbstverständlich einfach leuchten.

Fünf

Hans Rekke registrierte die Veränderungen an seiner Tochter: die Blässe, dass sie abgemagert war, aber auch noch etwas anderes, eine Art trotzigen Glücks im Blick. Mit einem Mal suchte er fiebrig nach weiteren Hinweisen, als hätte die Sorge um sein Mädchen ihn wieder zum Leben erweckt. Erst bemerkte er nichts Besonderes, nur dass sie wirklich stark abgenommen hatte. Doch dann entdeckte er einen roten Abdruck auf dem rechten Handgelenk wie nach einem zu festen Griff.

War das etwas, womit sie einverstanden gewesen war? Etwa Teil eines Liebesspiels? Oder war sie angegriffen worden? Nein, nein, dachte er. Es schien ihr ja trotz allem gut zu gehen. Sein Gehirn war im Krisenmodus und beschwor derzeit schreckliche Szenarien herauf. Sicherlich gab es kein Problem. Er musste sie nur dazu bringen, besser zu essen.

»Heraus damit, mein Herz«, sagte er. »Was ist passiert?«

»Ich habe mit Christian Schluss gemacht«, antwortete sie. Das war doch eine gute Nachricht.

Er hatte Christian nie gemocht. Einer dieser viel zu selbstbewussten Jungs, die sich zu wichtig nahmen und ständig über Sachen redeten, von denen sie keine Ahnung hatten.

»Oje, das tut mir leid«, antwortete er.

»Lüg nicht, du konntest ihn nie leiden.«

»Doch, er ist ein netter Junge«, entgegnete er und fragte sich, ob er das vielleicht wirklich dachte oder es zumindest tun sollte. Es war ja nicht leicht, jung zu sein. Jungs von dieser Sorte brauchten Zeit, um einzusehen, dass sie anderen nicht überlegen waren. Nescit occasum. Sie wissen nichts vom Niedergang. Das Leben musste sich erst in sie einschreiben. Aber darum ging es ja gar nicht. Ein anderer hatte Christians Platz eingenommen. Das erkannte er jetzt ganz deutlich.

»Red keinen Bullshit, Papa.«

»Na gut«, sagte er. »Ich mochte ihn nicht. Aber du hast jemand Neues kennengelernt, nicht wahr?«

»Woher weißt du das?«

Ich sehe es an den Abdrücken auf deinem Handgelenk, dachte er. Eine neue, kräftigere Hand packt dich jetzt. »Das war nur geraten, mein Schatz. Wer ist der Glückliche?«

Sie sah ihn kritisch, aber auch nervös an. Am liebsten wäre ihr seine Meinung egal, doch so war es nicht, und das gab ihm trotz allem etwas Hoffnung. Sie war noch ein Kind, sein Mädchen, und er beugte sich vor, um sie zu umarmen.

Sie entzog sich. »Keiner, den du kennst.«

»Das ist ja klar. Aber wie ist er denn so? Was magst du an ihm?«

»Das würdest du doch nicht verstehen«, gab sie zurück.

Glaubte sie das wirklich? Er hatte mehr Fehler, als er zählen konnte, und zudem eben grade erst wie ein Junkie Opiate geschluckt. Aber von Anziehung zwischen zwei Menschen verstand er etwas, der guten wie der destruktiven. Wenn es nun so war, dass sie – wie ihre Reaktion verriet – einen Mann kennengelernt hatte, der den Erwartungen der Familie nicht entsprach oder vielleicht gar das Gegenstück dazu war, dann schockierte ihn das überhaupt nicht. Er selbst hatte sich im Laufe seines Lebens allen Arten von Verlockung und Sirenengesang ergeben. Er würde sie verstehen, und eigentlich wusste sie das auch.

»Ja, ja«, murmelte er, »aber vielleicht kannst du etwas über ihn verraten. Was macht er? Ist er Student?«

»Ist denn so verdammt wichtig, was er macht?«

»Ein bisschen wichtig ist es schon. Aber hauptsächlich interessiere ich mich natürlich dafür, ob er nett ist.«

»Nicht auf diese langweilige Djursholms-Art.«

»Aha, also nicht«, antwortete er unangenehm berührt. »Aber du passt doch auf dich auf, oder? Niemand darf …«, er schielte wieder zu ihrem Handgelenk hin, »dich verletzen, nicht einmal minimal.«

»Wieso sollte jemand mich verletzen?«

»Nein, wieso auch«, erwiderte er und dachte: Aber wenn jemand das tut, dann mach ich ihn fertig. Wie sehr, kannst du dir nicht vorstellen, mein Herz, das kannst du nicht mal ahnen.

Und er dachte an jenen Winter in Wien, als es die ganze Zeit schneite.

Sechs

Auf dem Foto war der Markusplatz in Venedig zu sehen. Der Dom war in der Mitte abgeschnitten, und im Vordergrund stand eine Gruppe Japaner im Rentenalter, denen die Kamera nicht aufzufallen schien. Die Hauptpersonen des Bildes waren jedoch die Tauben, die überall waren. Die Vögel waren auch der Grund dafür, dass dieses Foto überhaupt gemacht worden war. Erik Lundberg wollte zeigen, dass Venedig von Touristen und Tauben übervölkert war und genauso gut im Meer untergehen konnte.

Ohne dass Erik Lundberg es gemerkt hatte, war von rechts eine Frau in einem roten Mantel in sein Urlaubsfoto getreten und hatte dem Ziel, Hässlichkeit zu zeigen, entgegengewirkt. Die Frau war vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt, dunkelhaarig und leuchtend, nicht nur wegen des roten Mantels. Etwas an ihrem Gang und ihrer Ausstrahlung zog den Blick auf sich. Auch wenn sie den Kopf seitlich gedreht hatte, sich vielleicht nach hinten umsah, waren die Gesichtszüge doch sehr gut zu erkennen.

»Natürlich will Samuel, dass das Claire ist. Ich fände es auch schön, wenn sie meine Frau wäre«, sagte Kaj Lindroos.

Micaela sah genervt auf ihre Hände. »Es gibt große Ähnlichkeiten, und das Alter würde auch passen. Ich habe hier alte Fotos, mit denen du vergleichen kannst«, sagte sie.

Kaj Lindroos machte eine abwehrende Geste, zog aber jetzt immerhin eine Lesebrille aus der Innentasche seines Sakkos. Warum hatte er die denn nicht gleich aufgesetzt?

»An der Drehung des Körpers und der Art, wie sie den Fuß aufsetzt, kann man erahnen, dass diese Frau auch einen beschädigten Meniskus hat«, fuhr Micaela fort.

Lindroos sah sie verständnislos an. »Was?«, fragte er.

»Guck doch mal hier.« Sie beugte sich über seinen Schreibtisch und zeigte auf die Hüfte und das linke Bein der Frau, merkte dabei aber wieder, wie wenig sie selbst daran glaubte, und beendete den Satz nicht.

Ihre Unsicherheit ließ sie an ihren Bruder denken. Lucas tauchte derzeit andauernd in ihren Gedanken auf, und so wie jetzt bekam sie es dann mit der Angst zu tun. Sie erinnerte sich, wie sie ihn unten am Järvafältet gesehen hatte, als er eine Pistole gegen den Hals eines Jungen gedrückt hatte. Das war ein solcher Schock gewesen, dass sie begonnen hatte, ihre Kindheit und Jugend auf neue Weise zu betrachten. Seither half sie den Kollegen im Drogendezernat, Informationen über ihn zu sammeln, und sie wusste, dass Lucas davon erfahren hatte. Klar war das eine unbehagliche Situation, trotzdem war sie verblüfft über das Ausmaß ihrer Angst. Es war, als würde dem Büro, in dem sie saßen, die Luft entzogen. Deshalb bemerkte sie nicht, wie Kaj Lindroos erstarrte. Als sie den Blick wieder hob, sah er plötzlich nervös aus und holte sein Telefon heraus.

»Ist was passiert?«, fragte sie.

»Was? Nein, nein, ich muss mich bloß nebenbei auch noch um meine richtige Arbeit kümmern.« Er begann, etwas auf dem Handy zu tippen, und signalisierte ihr, dass sie still sein sollte. »Samuel täuscht sich«, sagte er dann, »genau wie immer. Und übrigens …«

»Ja?«

Er hielt sich das Foto nahe vor die Augen. Ein gequältes, aber doch selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. »Was hat die Frau da in der Hand?«

»Ein Buch«, antwortete sie.

»Da steht was vorne drauf, oder?«

»Wir glauben, da steht Love. Sieht aus, als gäbe es da drüber noch eine Zeile, aber die ist verdeckt.«

»Also irgendein Liebesroman?«

»Vermutlich, nach den Farben zu schließen. Aber ich habe es noch nicht finden können.«

Kaj Lindroos lächelte geradezu erleichtert. »Claire Lidman würde niemals einen Liebesroman lesen.«

»Nicht?«, erwiderte sie.

»Nein, niemals. Sie hatte immer eine Agenda und würde sich niemals in etwas Erfundenes oder Sentimentales versenken.«

»Da habe ich aber anderes gehört.«

»Glaub bloß nicht, du weißt irgendwas«, fuhr er sie an.

»Warum denn so unfreundlich?«

»Weil wir lange gebraucht haben, um zu verstehen, wie sie tickt. Diese Frau hat keine Zeit auf Romane und solchen Scheiß verschwendet. Sie war immer allen zwei Schritte voraus, und nur deshalb konnte sie auch Finanzbonzen wie Axel Larsson unter Druck setzen. Sie war rational und organisiert.«

»Vielleicht hat sie sich verändert.«

»Sie ist tot«, blaffte er, schaute wieder auf sein Handy und schien noch mal durchzulesen, was er eben geschrieben hatte.

»Trotzdem sitzt du hier mit mir.«

Er sah sie gekränkt an. »Wahrscheinlich bin ich einer dieser Ehrgeizlinge, die niemals irgendwas ad acta legen.«

»Obwohl du die Leiche gesehen hast.«

»Die Leiche war verbrannt, wie du weißt, und ich bin nicht so blöd, dass ich nicht auch gewisse Ungereimtheiten erkannt hätte. Aber das bedeutet nicht, dass ich jedem Dahergelaufenen seine Story abkaufe.«

Micaela streckte die Hand aus, um das Foto wieder an sich zu nehmen, aber Lindroos machte eine abwehrende Geste.

»Ich habe gehört, du arbeitest mit einem Professor zusammen, der in Stanford rausgeflogen ist?«

»Stanford hätte ihn gerne behalten.«

»Und wer hat ihn dann rausgeschmissen?«

Die CIA, dachte sie, sagte aber: »Das ist kompliziert. Er hat einen fantastischen Blick für Details.«

»Ein bisschen zu fantastisch, wie ich hörte«, erwiderte Lindroos und schob das Foto frech in die oberste Schublade seines Schreibtischs.

»Kann ich das Foto bitte zurückkriegen«, sagte sie.

»Ich behalte es«, sagte er.

»Das kannst du nicht.«

»Wir heben allen Mist auf, den Samuel Lidman hier anschleppt. Demnächst müssen wir das unterbinden. Er beunruhigt die Angehörigen, und …«

Er konnte den Satz nicht beenden. Es klopfte, und ein älterer, fast kahler Mann im Polohemd trat ein. Er wirkte gestresst und besorgt und entschuldigte sich für die Störung, und sie hätte natürlich die Gelegenheit nutzen und auf die Rückgabe des Urlaubsfotos drängen sollen. Aber sie war es leid, und mal ehrlich: Hatte sie eigentlich je an diese Geschichte geglaubt? Im Grunde hatte sie sich doch hauptsächlich engagiert, weil sie davon geträumt hatte, wieder mit Rekke zusammenarbeiten zu können. Aber das war damals im Mai gewesen, als er tatsächlich noch seinen fantastischen Blick für Details hatte.

Inzwischen bemerkte er nicht einmal ein Stuhlbein oder eine Türschwelle, die im Weg waren, wenn er sich aufraffte und ins Badezimmer schleppte. Wenn sie bei ihm wohnen blieb, wurde sie in seine Depression hineingezogen. Ich muss weg von ihm, dachte sie, nickte Lindroos und dem Mann im Polohemd zu und verließ den Raum, fest entschlossen, Claire Lidman zu vergessen und sich stattdessen um ihr eigenes Leben zu kümmern.

Sieben

Julia ging, und Hans Rekke fragte sich, was für ein Typ wohl auf sie wartete. Doch er konnte sich nicht länger Sorgen machen. Er musste sich hinlegen. Zurzeit schaffte er überhaupt nichts mehr. Unterwegs blieb er am Flügel stehen. Sollte er spielen? Nein, die Tasten grinsten ihn nur höhnisch an, und er murmelte: »Cartaphilus.« Cartaphilus. Dieses Wort war der Auslöser für alles gewesen. Er hatte es zufällig aufgeschnappt, als Micaela vor einer Woche am Telefon über die verschwundene Frau sprach, die in Spanien für tot erklärt worden war. Der Fall interessierte ihn eigentlich nicht. Die ganze Geschichte war mit so viel Wunschträumen und unsinnigen Hoffnungen überladen, und er hatte sich für seine Analyse dieses Urlaubsfotos geschämt. Doch dann, als er drauf und dran war, den Quatsch zu vergessen, hatte Micaela dieses Wort gesagt.

Wie sich herausstellte, hatte diese Claire, kurz bevor sie sich in Luft auflöste, mit Cartaphilus verhandelt. Und das war dann doch beunruhigend und ließ ihn aufhorchen. Cartaphilus war ein ungarisches Investmentunternehmen, das auch schon mit dem KGB und dem Organisierten Verbrechen in der Sowjetunion liiert gewesen war. Doch nicht das hatte ihn erschreckt. Der Firmenname hatte ihn an jene verschneiten Tage in Wien erinnert und ihn dazu gebracht, stundenlang rastlos in der Stadt herumzuwandern.

Als er zurück in die Wohnung kam, war Micaela weg, und seither hatte er sie nicht gesehen. Er sollte sie dringend anrufen und sie einweihen. Doch er hatte nicht genug Kraft … warum wollte ihn die Vergangenheit nicht aus ihrer Umklammerung lassen?

Seine Kindheit war ein trister Strom immer gleicher Tage gewesen. An den Vormittagen war er mit seiner Mutter zu Hause gewesen und spielte seine Tonleitern, Arpeggios und Etüden. Erst am Nachmittag kamen Lehrer wie Doktor Brandt und ab und zu auch Schüler, die sich als ruppig erwiesen – wie Gabor mit seinem pfeifenden Ausatmen in G und Fis und diesem Griff, mit dem er ihn zu Boden geschleudert hatte.

Hans konnte sich immer noch an das Blut auf seinen Fingern und die Flecken auf dem Kissen am Morgen danach erinnern. Damals war er mit dem Gefühl aufgestanden, die Welt sei in ein neues, scharfes Licht getaucht. Alles um ihn herum wirkte bedrohlich und kantig. Es war, als würde er sich an zwei Plätzen gleichzeitig befinden: in der Gegenwart und im vergangenen Tag, als der Übergriff im Schnee stattfand.

Wieder und wieder hatte er damals in seinem Kopf Gabors Wurf durchgespielt und erkannt, dass die Erinnerungsbilder noch einem anderen Ziel dienten, als ihn zu demütigen.

Schon am selben Tag war er in die Bibliothek gegangen.

»Ich will Bücher über Selbstverteidigung«, hatte er gesagt, sich dann mit seiner Beute in eine Ecke ganz am Ende des Lesesaals verzogen und fieberhaft geblättert.

Um Viertel nach fünf Uhr an jenem Tag wurde er fündig. Der Wurf hieß Osotagari und war einer von vierzig Judogriffen, ersonnen von Jugoro Kano. Er war in einer Reihe von Büchern beschrieben. Hans konnte ihn mithilfe der Bilder Schritt für Schritt nachvollziehen und begreifen, wie er auf den Boden geschleudert worden war. Jede Sekunde des Übergriffs konnte er isolieren, und hinterher blieb ihm die Einsicht, dass man im Flüchtigen bei Bedarf endlos verharren konnte. Doch es ging ihm nicht nur um das Verstehen des Handlungsablaufs. Er wollte eine Verteidigung entwickeln, eine Methode, dem Griff zu begegnen. Lange saß er wie in Trance da, und schließlich kam ihm eine Erleuchtung.

Er begriff, dass er sein linkes Bein hätte zurückziehen müssen, dann angreifen und den Griff spiegelverkehrt anwenden. Die Schönheit seiner Lösung beeindruckte ihn, darin lag Symmetrie. Er blieb noch lange in der Bibliothek sitzen und führte den Wurf in der Theorie aus, kämpfte in Gedanken.

Der Wurf prägte sich seinem Körper ein, sein Gang und seine Haltung veränderten sich. Er übte fortan in jedem freien Moment in seinem Zimmer, nicht nur an seinem eigenen Wurf. Er stellte sich andere Ausfälle und Angriffe vor, und mit immer größerer Klarheit erkannte er das Herzstück jener Philosophie, die zu erobern er im Begriff war: Es ist möglich, den Stärkeren zu besiegen. Man musste nur der gegen einen selbst gerichteten Bewegung bis zu dem unvermeidlichen Punkt des Umbruchs folgen und dort spiegelbildlich zurückschlagen. Fortitudo hostium amicus est. Die Stärke deines Feindes ist dein Freund. Stunde um Stunde trainierte er und fragte schließlich seine Mutter: »Dieser Gabor, kann der noch mal wiederkommen?«

»Doktor Brandt hat gesagt, ihr hättet euch nicht so gut leiden können«, antwortete sie.

»Aber er hat mich stimuliert«, beharrte er. Das war immer das magische Wort. Sowie etwas ihn stimulierte, war seine Mutter dafür, und an einem Nachmittag, als es wieder schneite – oder zumindest schneite es in seiner Erinnerung –, tauchte Gabor von Neuem auf. An diesem Tag strich Hans’ Kater Ahasverus ihnen um die Füße, hielt sich dicht bei ihm und sprang auf den Tisch, als sie mit der Mathematik zugange waren, als würde er ahnen, dass etwas in der Luft lag. Hinterher gingen sie in den Garten hinaus, genau wie das Mal davor. Hans strengte sich an, ebenso verloren zu wirken wie damals.

Er fragte fast untertänig: »Kannst du mir diesen Griff noch einmal zeigen?«

Gabor machte eine Miene, als würde er nicht verstehen, wie Hans so dumm sein konnte. Dennoch ließ er sich sofort darauf ein und grinste höhnisch, während das schwache Pfeifen in seiner Atmung wieder um einen Halbton auf Fis sank. Dann fiel er über Hans her, aber ganz und gar nicht mit demselben Griff, und während der ersten Sekunden war Hans überzeugt, genau wie beim letzten Mal gedemütigt zu werden. Doch jetzt verbanden sich seine Synapsen schneller, er machte einen Schritt zurück und folgte konzentriert den Bewegungen von Gabor, und als er einen Moment der Instabilität entdeckte, trat er vor und riss an Gabor, sodass sie in derselben Position wie letztes Mal landeten. Danach bog er sich zurück, benutzte Gabors Kraft als Hebel und warf ihn zu Boden. Ohne es geplant zu haben und ohne etwas zu fühlen, zog er ihn wieder hoch und wiederholte den Wurf, sodass Gabors Kopf auf dem Boden aufschlug.

Daraufhin geschah etwas, das er nie vergessen würde. Plötzlich war die ganze königliche Selbstsicherheit in Gabors Miene durch Hilflosigkeit ersetzt worden. Hans begriff instinktiv, dass er für das, was er gesehen hatte, würde büßen müssen. Gabor war kein Junge, der es ertrug, gedemütigt worden zu sein. Er würde Rache wollen.

Doch zu der Zeit vermochte Hans sich noch nicht vorzustellen, mit welcher Schonungslosigkeit Gabor zurückschlagen würde. Er stand nur im Schnee und sah den Rücken von Gabor wie ein böses Omen verschwinden, während Doktor Brandt aus dem Haus gestürzt kam und mit den Armen wedelte.

Acht

Micaela ging in Gedanken versunken Richtung Rådhusparken. Warum hatte Lindroos das Foto behalten, wenn er die Sache doch völlig lächerlich fand? Das verstand sie nicht, aber es war ihr egal.

Sie hatte Urlaub, und es gab hundert andere Sachen, um die sie sich kümmern musste. Eigentlich hätte sie natürlich gern im Juli freigehabt. Aber es hieß, sie würde im Hochsommer gebraucht. So hatte sie eben jetzt Anfang Juni zwei Wochen und würde den restlichen Urlaub im September nehmen. Sie arbeitete im Dezernat für Jugendkriminalität in den Vororten nördlich von Stockholm, und das war wirklich nicht, wovon sie geträumt hätte, als sie Abitur gemacht und auf der Ladefläche des Pick-ups gestanden und gefeiert hatte.

Der Vorteil war aber, dass sie aus nächster Nähe verfolgen konnte, wie die Drogen in die Stadtteile gelangten. So hatte sie auch erst herausbekommen, was für eine zentrale Figur ihr Bruder im Drogenhandel da draußen war, und sah ihn inzwischen mit anderen Augen. Doch Beweise zu finden war schwer, vielleicht war sie auch ein bisschen zu unlocker, jedenfalls gab es mittlerweile böses Blut, es wurde getratscht und gestichelt, sie wurde bedroht. Und manchmal, so wie eben bei Lindroos, überfiel sie ein seltsames Unbehagen. Ein weißer Bus rollte vorbei. Das Handy klingelte. Es war Vanessa, ihre beste Freundin, oder zumindest die einzige.

»Hi«, sagte Vanessa. »Wie geht’s?«

»So mittel. Ich überlege, ob ich mir neue Schuhe kaufe.«

»Solange du keine weißen Sneaker nimmst, mach.«

Micaela sah auf ihre Schuhe herunter. Eigentlich trug sie nie was anderes als weiße Sneaker. Aber eines schönen Tages müsste sie das wahrscheinlich mal ändern.

»Lieber sterbe ich«, erwiderte sie.

»Na klar.«

»Und was machst du so?«

»Ich hab mir von einem Mann die Haare färben lassen, der selbst kaum Haare hatte, außer in den Ohren. Und jetzt werd ich einen Typen aufreißen, sonst explodiere ich noch.«

»Das wäre schon irgendwie schade.«

»Ja, oder? Lucas sucht dich übrigens.«

Micaela war sofort auf hundertachtzig. »Und warum ruft er mich dann nicht selbst an?«

»Er sagt, er habe dich hundertmal angerufen.«

Dreimal, dachte sie, höchstens. Aber sie hatte keine Lust gehabt ranzugehen, und es nervte sie, dass Vanessa für ihn sprach. Wahrscheinlich fand sie ihn attraktiv und faszinierend, das ging vielen so.

»Was will er?«

»Irgendwie ist er doch süß.«

»Sure.«

»Es wird getratscht, du versuchst ihn in den Knast zu bringen.«

»Er ist kriminell.«

»Da ist er ja wohl nicht der Einzige.«

Aber er ist der Schlimmste, dachte Micaela. »Was die Sache nicht besser macht«, entgegnete sie.

»Wer schreit denn da so?«

»Abiturienten. Sollen wir ein Bier trinken gehen?«

»Ich treff mich mit Malika. Machst du das wegen Jojje?«

Das stimmte zum Teil. Aber darüber wollte sie mit Vanessa nicht reden, also suchte sie nach etwas, was sie sagen könnte, irgendwas. Weiter hinten auf dem Bürgersteig zündete ein buckliger Mann sich eine Zigarette an. Im Lichtschein des Feuerzeugs sah er gelblich und fertig aus.

»Hast du gehört, dass Rauchen in Lokalen verboten werden soll?«, fragte sie.

»Echt jetzt?«

»Die Norweger haben das wohl schon ewig.«

»Ist das was Religiöses?«

»Wäre cool, oder?«

»Glaubst du echt, Lucas war schuld, dass Jojje und seine Mutter damals so schnell aus Husby abgehauen sind?«

Das glaubte sie tatsächlich, aber sie hatte auch dafür keine Beweise, nur so ein Gefühl.

»Ich finde, du bist zu hart mit ihm«, fuhr Vanessa fort. »Er will doch echt nur dein Bestes.«

Micaela schloss die Augen. »Ich glaube, ich ziehe zurück in meine Wohnung«, sagte sie.

»Soll das ein Witz sein? Wieso denn?«, stieß Vanessa erschrocken aus.

»Fühlt sich einfach richtig an.«

»Ist was passiert?«

Sie überlegte, die Situation in der Wohnung mit Rekke näher zu beschreiben, zu erzählen, wie er wieder in seine Finsternis abgesackt war und dass man kein vernünftiges Wort mit ihm wechseln konnte.

»Nicht wirklich«, sagte sie.

»Aber es funzt nicht, oder was?«

Da schwang ein Ton in Vanessas Stimme mit, der ihr nicht gefiel, irgendwie eine Art verhaltenen Triumphs, ein Hab-ich-es-nicht-Gesagt.

»Doch, geht schon«, wich sie aus. »Ich hätte nur gern wieder etwas mehr Ruhe.«

»Verstehe ich, das verstehe ich total. Wollen wir uns treffen? Ich kann Malika absagen. Ich kümmere mich um dich.«

Warum klang ihre Stimme plötzlich so sanft?

»Mir geht’s super.«

»Klar. Aber ehrlich, ist doch vielleicht gut, dass du es jetzt beendest, also ich meine … ehe du verletzt wirst.«

»Wieso sollte ich verletzt werden?«

»Na, vielleicht sollte es einfach nicht sein. Irgendwie gehörst du da nicht hin, nicht wirklich …«, fuhr Vanessa fort, und das war natürlich die Wahrheit. Es gab so vieles, was sie von Hans Rekke trennte.

Trotzdem ärgerte sie sich über Vanessas Reaktion und bereute, die Sache überhaupt erwähnt zu haben. Es war ja noch nicht entschieden, sondern nur so ein Gedanke, der seit einer Weile an ihr nagte.

»Was weißt du schon, wo ich hingehöre?«, fuhr sie Vanessa an.

»Mein Gott, jetzt chill mal. Ich meine ja nur … Ich vermisse dich«, sagte Vanessa, und Micaela hatte ja selbst Vanessa und ihre täglichen Gespräche vermisst. Aber nicht so, wie sie den Rekke ihrer gemeinsamen Zeit im Frühjahr vermisste, das wurde ihr jetzt klar.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Schon okay.«

»Wenn du Lucas siehst, sag ihm, ich ruf ihn an.«

»Legst du jetzt auf, oder was?«

»Grüß Malika«, erwiderte sie und legte tatsächlich auf, etwas unnötig abrupt vielleicht. Plötzlich fühlte sie sich wahnsinnig einsam und beschloss, genau wie sie es Lindroos gesagt hatte, zu ihrer Mutter nach Husby zu fahren. Ihre Mutter gehörte auf jeden Fall zu denen, die für den Umzug nach Östermalm gewesen waren, wenn auch nur, weil der vermeintliche gesellschaftliche Aufstieg der Tochter auf sie abfärben sollte.

Kaj Lindroos hätte seinen Arbeitstag sowieso mit dem Polizeidirektor Lars Hellner beschlossen, doch dann hatte er ihm eine Nachricht geschickt, damit Hellner früher kam und er diese verdammte Latinobraut schneller aus seinem Büro kriegte, und das bereute er nun. Nicht, dass er sonderlich traurig gewesen wäre, als sie ging. Sie sollte gern zu ihrer Vorortmama abhauen und am besten da bleiben.

Doch er wäre gerne noch etwas mit seinen Gedanken allein gewesen, auch wenn die sicher Blödsinn und idiotisch waren, denn das auf dem Foto konnte gar nicht Claire sein. Das war genauso unmöglich, wie dass sein toter Vater plötzlich wieder auf einer Mallorca-Sauftour auftauchte. Gott, was er sich nach einem Kurzen sehnte.

»Du siehst angespannt aus«, bemerkte Hellner.

»Ich bin nur ein bisschen müde«, antwortete er und fragte sich, ob er nicht einfach das Foto rausholen und es Hellner zeigen sollte, um ein für alle Mal beruhigt zu sein.

Doch er hatte keine Lust, andere einzuweihen, und schon gar nicht Hellner, der den Fall nach ihm übernommen und ihn ausgeschlossen hatte, und eigentlich sollte er das Foto einfach in tausend Stücke reißen und den ganzen Quatsch vergessen und stattdessen zuhören, was für eine neue Ermittlung Hellner für ihn hatte. Aber er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Erinnerungsbilder drängten heran, er dachte daran, wie er vor dreizehneinhalb Jahren von dem Unfall in San Sebastian erfahren hatte. Es war spät am Abend, und er war noch im Büro. Ein gewisser Commissario Antonio Rivera rief an. Da war ein Tanklaster über eine Straßenbegrenzung oder eine Böschung oben in den Bergen gerollt, dann auf einen Fußweg runtergekracht, auf dem Menschen von einem Chorkonzert nach Hause gingen, und schließlich in Flammen aufgegangen.

Sechzehn Menschen waren tot, viele bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Aber das war nicht das eigentliche Ding. Dieser Commissario Rivera wollte von einer Frau mit doppelter Staatsbürgerschaft – Englisch und Schwedisch – reden, die sich zwei Tage zuvor im Grand Hotel der Stadt eingemietet hatte. Diese Frau hatte ihren Pass an der Rezeption gelassen und war zu einem längeren Spaziergang aufgebrochen, von dem sie nie zurückgekehrt war.

»Sie heißt Claire Lidman«, sagte Commissario Rivera, »und wir glauben, dass sie eines der Opfer des Unglücks ist.«

Lindroos erinnerte sich, wie enttäuscht er bei dieser Nachricht gewesen war. Nicht, weil Claire Lidman möglicherweise tot war – er hatte sie ja nie kennengelernt –, sondern weil die Ermittlung damit ihr Gewicht verlor. Claire war bei einem Unfall gestorben. Niemand, nicht einmal ein Genie des Bösen, konnte eine Katastrophe diesen Ausmaßes arrangieren und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich Claire Lidman vor Ort befand.

Trotzdem waren da für seinen Geschmack zu viele Zufälle im Spiel, und zu allem Überfluss schaffte er es dann nicht schnell genug nach Spanien. Als er und sein Kollege Roffe Sandell am Nachmittag des nächsten Tages in San Sebastian ankamen, waren Claires Schwester und ihre Mutter bereits dort. Sie standen vor dem Leichenschauhaus herum und rauchten und sahen trashig aus, fand er, weit entfernt von dem Bild, das ihm allgemein von Claire vermittelt worden war. Aber er wusste ja, dass sie gesellschaftlich krass aufgestiegen war, grüßte höflich und würdevoll und war erstaunt, wie gefasst sie waren oder vielleicht sogar zufrieden – als hätten sie die ganze Zeit gewusst, dass es ein solches Ende mit ihr nehmen würde.

Sicherlich waren sie neidisch auf sie, dachte er, missgönnten ihr den Erfolg. Er sagte: »Wie furchtbar, sich unter solchen Umständen kennenzulernen.« Linda, die Schwester, antwortete: »Danke. Claire war die Beste von uns, es ist so schrecklich«, oder etwas in der Art, was angemessen war, aber nicht wirklich aufrichtig klang, und er erinnerte sich, wie er sich anstrengen musste, sie nicht unpassend anzustarren.

Die Schwester hatte etwas Herausforderndes, Vulgäres, was nicht besser davon wurde, dass ihr Rock wie eine Wurstpelle anlag. Sie war eine groß gewachsene Frau mit kleinen Augen, voluminösen Formen und einer Haut, als hätte sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr Kette geraucht und ausschweifend gelebt. Er erinnerte sich, wie er die Tür für sie öffnete und direkt hinter ihr das Leichenschauhaus betrat. Seine Schuhe knarrten. Der weiße BH der Schwester schien unter einer schwarzen Bluse durch, und er erwischte sich dabei, wie er versuchte, ihre Körbchengröße abzuschätzen – vielleicht nicht gerade angemessen in dem Moment. Aber der Mensch ist nun mal, wie er ist, und der Tod kann durchaus ein Aphrodisiakum sein. Schon aus der Entfernung nahm er den Geruch wahr: dick, süß, erstickend. Nicht nur Haut hatte gebrannt, sondern auch Fett, Muskeln, Blut und dazu noch Öl und Gummi. Es war unerträglich, er zuckte zurück und hätte fast gewürgt. Ihm war unverständlich, wie die Mutter und die Schwester so gefasst sein konnten. Er selbst brach fast zusammen bei ihrem Anblick: Ein rotes, verkohltes, übel riechendes, mit Wunden übersätes Wesen lag vor ihm ausgestreckt. Es war unmöglich, sich dazu in irgendeiner Weise zu verhalten. Wie konnten die anderen nur dastehen und so unbelastet aussehen? Das war ihm unbegreiflich. Später erfuhr er, dass die Mutter und die Schwester sie bereits gesehen hatten. Sie waren auf den Schock vorbereitet und verdrängten ihn vielleicht einfach.

Zusammen mit Commissario Rivera schritten sie an der Leiche entlang, von den verbrannten Füßen bis zum Kopf, auf dem keine Haare mehr waren und auch kaum ein Gesicht. All die Kennzeichen, von denen er bereits wusste, wurden aufgezeigt: die Lücke zwischen den Schneidezähnen und die alte Fraktur am Schlüsselbein. »Sie ist es«, sagte die Mutter. »Sie ist es«, und warum sollte er daran zweifeln, mit der Zahnlücke und alldem.

Trotzdem nahm er das ungute Gefühl mit, irgendetwas wäre nicht in Ordnung. Zum Handeln veranlasste es ihn allerdings nicht, weil er es nicht wirklich ernst nahm. Aber es war da gewesen, und vielleicht lag das auch an Commissario Rivera.

Der Kommissar war eine zu schnittige Figur, um in einem Leichenschauhaus rumzustehen. Sein Englisch war perfekt. Er war in Madrid stationiert, hatte eine Haltung wie ein hoher Militär und ließ all den Respekt gegenüber Ärzten und Gelehrten, mit dem Kaj selbst aufgewachsen war, völlig vermissen. Er hatte die Regie übernommen, kommandierte den Gerichtsmediziner herum und berichtete, dass alle relevanten Laborproben genommen werden würden, und die Ergebnisse aus den Labors kamen dann auch erstaunlich schnell.

Die Fingerkuppen waren weggebrannt, aber die Zahnkarte bestätigte die Identifizierung. Augenscheinlich herrschte kein Zweifel, aber dennoch … Etwas hatte an ihm genagt. Es war genau wie mit diesem Urlaubsfoto in der Schreibtischschublade: Er wollte dahin zurückkehren und es gleichzeitig von sich wegschieben. Wollte sich erinnern und gleichzeitig vergessen.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«

Lindroos wurde aus seinen Gedanken gerissen. Hellner, der immer ein wenig skeptisch und schroff wirkte, betrachtete ihn besorgt.

»Natürlich«, antwortete er. »Ich bin nur ein bisschen unkonzentriert.«

»Hat es mit der Frau zu tun, die hier war?«

»Auf eine Art«, antwortete er.

»Auf welche Art?«

»Sie hat Unsinn über Claire Lidman geredet«, sagte er und bereute es augenblicklich.

Hellner war sofort unangenehm wachsam. »Was hat sie denn für Unsinn geredet?«

»Nur das Übliche, du weißt schon, dass Claire noch lebt und irgendwo in ’nem teuren Mantel rumläuft.«

»Und was genau war es diesmal?«