Das Blut der Nordsee - Fynn Jacob - E-Book

Das Blut der Nordsee E-Book

Fynn Jacob

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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein einsamer Tod. Ein brisantes Geheimnis. Viele offene Fragen.

Die von der nordfriesischen Insel Föhr stammende Journalistin Teeske Saathoff wird fern der Heimat am niederländischen Oosterschelde-Sperrwerk tot aufgefunden. Wurde sie ermordet? Iska van Loon und Marten Jaspari übernehmen die Ermittlungen und finden heraus, dass Teeske vor ihrem Tod Kontakt zum umstrittenen Erd- und Wasserbauunternehmen Epsilon aufgenommen hat. Das Unternehmen ist verantwortlich für den Küstenschutz an der Nordsee. Hat Teeske brisante Informationen zugespielt bekommen, die sie das Leben gekostet haben? Der Fall schlägt Wellen bis in die Politik, doch auch auf Föhr ist alles anders, als es scheint. Welches dunkle Geheimnis umgibt die Familie des Opfers? Iska und Marten müssen schnellstmöglich Ergebnisse liefern – und herausfinden, ob die Deiche an der Nordseeküste noch sicher sind. Denn die nächste Sturmflut kommt …

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DAS BUCH

Die von der nordfriesischen Insel Föhr stammende Journalistin Teeske Saathoff wird fern der Heimat am niederländischen Oosterschelde-Sperrwerk tot aufgefunden. Wurde sie ermordet? Iska van Loon und Marten Jaspari übernehmen die Ermittlungen und finden heraus, dass Teeske vor ihrem Tod Kontakt zum umstrittenen Erd- und Wasserbauunternehmen Epsilon aufgenommen hat. Das Unternehmen ist verantwortlich für den Küstenschutz an der Nordsee. Hat Teeske brisante Informationen zugespielt bekommen, die sie das Leben gekostet haben? Der Fall schlägt Wellen bis in die Politik, doch auch auf Föhr ist alles anders, als es scheint. Welches dunkle Geheimnis umgibt die Familie des Opfers? Iska und Marten müssen schnellstmöglich Ergebnisse liefern – und herausfinden, ob die Deiche an der Nordseeküste noch sicher sind. Denn die nächste Sturmflut kommt …

DER AUTOR

Fynn Jacob heißt im richtigen Leben Christian Kuhn und lebt in Langenfeld in der Nähe seiner Geburtsstadt Köln. Schon als Kind fuhr er gemeinsam mit seiner Familie den Rhein hinab, um mit dem Segelboot der Eltern die Nordsee und ihre Inseln zu erkunden. 2020 erschien bei Heyne mit »Nordseedämmerung« der erste Band der Kriminalromane um BKA-Hauptkommissar Tobias Velten. Die Reihe um Marten Jaspari und Iska van Loon spielt an unterschiedlichen Orten der deutsch-niederländischen Nordseeküste.

Kuhn ist Mitglied im SYNDIKAT e. V., dem Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur. Mehr unter www.kuhnchristian.de

FYNN JACOB

DAS BLUT DER NORDSEE

Kriminalroman

Ein Fall für Jaspari und van Loon

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG,

Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

Redaktion: Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: bürosüd, www.buerosued.de

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978 - 3 - 641 - 30634 - 2

www.heyne.de

Keen nich will dieken, de mutt wieken

(»Spatenrecht«, 15. Jahrhundert)

Prolog

Deutschland, Hallig Langeneß. Samstag, 3. Januar 1976

08:30 Uhr

»Das Wasser läuft gar nicht ab. Das hab ich auch noch nicht erlebt.« Papa kam von seiner Morgenrunde zurück, die schwere Eingangstür machte das vertraute Klacken, als sie hinter ihm zufiel, ein wenig schneller als sonst, wahrscheinlich hatte der Wind nachgeholfen. Auf Papas Jacke und an seiner Stirn schimmerte es feucht, die Haare klebten am Kopf. Die Gischt der Nordsee, die wie feiner Nieselregen über die Hallig geweht wurde. Der Sturm war in der Nacht stärker geworden, klang nun anders. Teeske war nicht ganz klar, auf welche Art und Weise genau anders, vielleicht ein anderer Ton, ein anderes Rauschen, das um die Häuser der kleinen Warft zog. »Ich hole die Schafe jetzt auch schon mal nach oben. Bevor es nachher hektisch wird.«

Rinder, Pferde und Hühner hatten sie schon in die Notställe gebracht, Heu und Frischwasser verteilt. Die Tanks waren aufgefüllt, für den Fall, dass die Leitung vom Festland beschädigt würde und das Süßwasser in den Fehtingen vom einlaufenden Meerwasser versalzen würde.

»Nimm Wotan mit, auch wenn es dann länger dauert.« Der Schäferhund war fast genauso alt wie Teeske und so etwas wie das zweite Kind der Familie. »Es wird ihm guttun, noch einmal richtig herumzurasen.« Mamas Stimme klang ruhig wie immer. Es würde Land unter geben, Teeske hatte zusammen mit Mama und Papa die Wettervorhersage der Tagesschau gesehen. Und am Morgen hatten es die Behörden bestätigt. Andreas, der Warftobmann, hatte schon um acht Uhr seinen Meldegang gemacht und allen Bewohnern der Warft Bescheid gegeben. Kein Grund zur Beunruhigung, Land unter kam auf den flachen Inseln zehn- bis fünfzehnmal im Jahr vor. Auch wenn der Wind dieses Mal wirklich ungünstig war. Teeske schluckte.

Das Wasser läuft gar nicht ab, hatte Papa gesagt. Die letzte Flut war eigentlich längst vorbei, der Pegel hätte sinken müssen. Tat er aber nicht, und der Sturm drückte die Nordsee weiterhin so sehr gegen die Küsten, dass die Ebbe praktisch ausblieb. Nein, Mamas Stimme hatte sich nicht verändert. Aber ihr Blick war ernst, Teeske konnte ihr ansehen, dass sie sich Sorgen machte. Die Tide schlug um. Die Flut rollte nun heran.

Ihre Eltern hatten von der schlimmen Flut 1962 erzählt, die viele der Häuser auf den Halligen zerstört und so viele Tiere getötet hatte, weil das Wasser einfach zu hoch gestiegen war. Das lag aber lange zurück. Inzwischen hatte man die Warften, die Erdhügel, auf denen die Gebäude der Halligen standen, deutlich erhöht, und außerdem noch in einem weniger steilen Winkel, sodass die Wellen beim Auflaufen ihre Kraft verloren und weniger Schaden anrichten konnten. Papa hatte ihr das genau erklärt. Und zur Not gab es ja jetzt den Schutzraum, in den sie sich zurückziehen konnten, der war gebaut worden, als Mama mit ihr schwanger war. Ein kleiner Raum oben in der ersten Etage, der auf mächtigen, tief in der Warft verankerten Betonpfeilern ruhte. Es ist alles sicher, hatten Mama und Papa ihr immer wieder gesagt. Wir wissen nicht, wie hoch das Wasser steigt oder wie lange es bleibt, wie schlimm es wird. Aber wir wissen, dass es irgendwann auch wieder geht.

Bereits am Vormittag schwappten die Wellen über den Sommerdeich, der die Insel umgab, und beim Mittagessen beobachtete Teeske, wie das Meedeland, auf dem sie im Frühjahr das Heu für die Tiere machten, überschwemmt wurde. Eine Planke des Holzzauns, der die Warft einfasste, brach von einem der Pfähle ab. Sie hob den Blick. Die Kirchwarft, die ihrer Warft gegenüberlag, konnte sie nur schemenhaft erkennen. Ein flacher grüner Punkt, drei Häuser, eine Kirche. Von Föhr, der nächsten Insel, war nichts zu sehen, nur scheinbar endloses graues Meer und darüber die dunklen Wolken, die rasend schnell über sie hinwegzogen.

»Da kommt noch mehr.« Papa blickte immer wieder auf das Barometer neben der Küchentür an der Wand. Der Zeiger hing so weit nach links unten wie noch nie. Und dabei würde das Hochwasser seinen Scheitelpunkt erst in ein paar Stunden erreichen. Weder Mama noch sie reagierten auf seinen Kommentar, schweigend aßen sie an dem kleinen, ovalen Tisch zu Mittag. Es gab Kartoffelbrei mit Apfelmus und gebratenem Speck, leichter Fettgeruch hing in der Luft.

Auf ordentliches Essen konnten sie trotz der Lage nicht verzichten, sie würden die Kraft vielleicht noch brauchen, sagte Mama. »Dann machen wir weiter.«

Mama steckte die Bretter in die dafür vorgesehenen Schächte, um die Eingangstür und die Fenster im Erdgeschoss zu schützen, Teeske schaufelte an der Lee-Seite des Hauses zusammen mit Papa Sand in die bereitgelegten Säcke. Die Arbeit machte ihr nicht wirklich Spaß, aber es tat gut, wenigstens etwas helfen zu können. Mama und Papa wurden immer stiller. Die Sandsäcke waren so schwer, dass sie sie nicht mehr hochheben konnte. Papa sicherte mit ihnen zuerst die Eingangstür und die Fenster im Erdgeschoss, danach machte er bei der Scheune weiter, einem Anbau direkt am Haus. Unten im Erdgeschoss gab es einen Verbindungsgang, von der Küche aus.

Der Wind schnitt Teeske kalt ins Gesicht, ihre Hände froren trotz der Handschuhe. Neben ihnen tobte die See. Eine Welle brandete zu ihnen hoch, zog sich erst knapp vor der Warftkante zurück. Ob das etwas bringen würde, was sie da taten? Aus der Entfernung sah die Reihe aneinandergestapelter weißer Säcke viel zu mickrig aus, gegenüber den immer gewaltiger werdenden Fluten.

»Lass uns mal reingehen, Große.« Mama nahm sie in den Arm. »Das wird hier langsam zu ungemütlich.«

Sie sah, wie Papa sich aufrichtete, einen letzten Sandsack zurechtrückte und dann zu ihnen hinüberkam. Mit der Hand schirmte er die Augen vor dem Sturm ab. »Ich komme mit. Machen wir drinnen weiter.«

»Meinst du?«

»Lass uns die Sachen nach oben bringen.« Er sah sie ernst an, erst Mama, dann sie. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wir machen es uns oben gemütlich. Sicher ist sicher.«

Teeske fühlte sich in dem Schutzraum oben in der zweiten Etage ihres Hauses auf eine sonderbare Art wohl. Sehr groß war er nicht, und viel war hier auch nicht drin. Eine alte hellgrüne Schlafcouch, ein kleiner Tisch, ein Schrank mit Vorräten. Sie hatten das Zimmer die letzten Jahre mehr als Abstellkammer genutzt und dementsprechend niemals wirklich eingerichtet.

Mama breitete nun Kekse auf einem Teller aus, heißer Früchtetee dampfte aus ihren Tassen. Es war früher Abend, draußen vor den Fenstern konnte Teeske nicht viel sehen, außer den verschiedenen Grauschattierungen von Meer, Wetter und Wind und dem Licht aus dem Schutzraum der Kirchwarft, in dem jetzt wahrscheinlich der Pastor saß. Um sie herum lag ein ewiges, langes Grollen in der Luft, das zu ihnen hochrollte. Wenn eine besonders mächtige Welle gegen die Warft prallte, meinte Teeske ein leichtes Beben zu spüren.

Aus dem Radiolautsprecher kam ein intensives Rauschen, Papa bewegte mit spitzen Fingern den Drehregler, um die richtige Frequenz einzustellen. Auf seiner Stirn lag wieder diese Falte, die sich nur dann bildete, wenn er sich besonders anstrengte.

Das Küstenmotorschiff Capella … weiterhin manövrierunfähig … elf Besatzungsmitglieder … Borkumer Schutzhafen …

Er drehte noch eine Winzigkeit weiter.

Bei einzelnen Böen werden Windgeschwindigkeiten in Orkanstärke erreicht. Bitte bleiben Sie weiterhin zu Hause und meiden Sie …

Unten, aus dem Wohnzimmer, klapperte etwas.

»Die Fensterläden, wahrscheinlich hat sich einer aus der Verankerung gerissen«, erklärte Mama. Kein Grund zur Sorge, das konnte man reparieren. Das Klappern war unregelmäßig, dazwischen hörten sie schwappendes Wasser, leise und heimtückisch.

»Wir müssen nach den Tieren sehen …«, murmelte Papa. Es wirkte so, als wollte er aufstehen.

»Blödsinn. Gar nichts musst du dir ansehen!« Mama funkelte ihn an. »Lass das, was soll das denn werden, du alleine da unten?«

Papa erhob sich trotzdem. »Ich schaue nur nach, ob der Weg außenrum zur Scheune noch frei ist. Macht euch keine Sorgen, ich bin vorsichtig.«

Mama erhob sich erst, als wollte sie ihm antworten, setzte sich dann aber wieder.

Papas große Pranke strubbelte durch Teeskes Haare, mit seinem linken Auge zwinkerte er ihr verschwörerisch zu. »Wenn ich zurück bin, dann gibt es Süßigkeiten aus der Notfallbox. Dazu spielen wir eine Runde Mensch ärgere dich nicht!, was meinst du, Große?« Seine tiefe Stimme hallte beruhigend durch den kleinen Raum. »Ich freue mich darauf.«

»Ja, machen wir! Bis gleich, Papa!«

Mama folgte ihm in die erste Etage in den Flur, wohin sie den Fernseher, den Kühlschrank und die Stühle aus dem Esszimmer getragen hatten. Erst dachte Teeske, dass die beiden einen Streit anfangen würden. Aber aus Mamas Stimme konnte sie nur Besorgnis heraushören, keine Wut.

»Ich passe auf, mein Schatz. Bin gleich zurück.« Das zarte Schmatzen eines Kusses. Teeske hörte seine Schritte auf der Holztreppe, das Plätschern auf dem Weg durch das Erdgeschoss. Das Klacken, als Papa die Verbindungstür zur Scheune öffnete, das plötzliche Aufheulen des Windes, das nach einem weiteren Klacken wieder zu diesem ungemütlichen tiefen Brummen wurde.

»Na ja.« Mama kam nach oben in den Schutzraum zurück und sah sie an. »Papa möchte halt irgendwas tun, auch wenn es nicht viel Sinn hat. Stell dir ruhig Musik an, damit du auf andere Gedanken kommst.«

Teeske ging zu dem Plattenspieler, der direkt neben dem Radio stand, und legte Mein Gott, Walther von Mike Krüger auf. Die Liedtexte konnte sie alle mitsingen, und das tat sie auch. Sie wusste, dass sich Mama darüber freute, auch wenn dieses Mal ihr Lächeln etwas gequält kam. »Wie kannst du dir das immer nur alles merken, Große?«

Während sie auf der Couch nebeneinander warteten und der Musik lauschten, schenkte Teeske Tee nach. Danach schaufelte sie fünf Löffel Kandis in die eigene Tasse, Mama bemerkte es nicht einmal. Immer wieder trat sie an den Treppenansatz und spähte nach unten. Die A-Seite der Schallplatte lief, dann die B-Seite. Papa war immer noch nicht zurück.

»Vielleicht sollte ich doch mal …« Mama stand mit einem Ruck auf, die feste Polsterung des Sofas ließ Teeske nach oben wippen.

»Ich komme mit!« Sie folgte ihr in die erste Etage.

»Auf gar keinen Fall, Süße …« Mama zog hastig die Gummistiefel über, dann die gelbe Regenjacke. Ihr scharfer Ton bedeutete, dass darüber nicht zu diskutieren war. Sie machte die letzten Knöpfe zu, zog eine Mütze tief ins Gesicht. Aus der obersten Schublade der Kommode im Flur zog Mama eine Taschenlampe. »Es ist jetzt gefährlich. Du bleibst schön hier, mein Schatz, hast du gehört?«

»Jaja.«

Mama gab ihr einen schnellen Kuss, dann wandte sie sich nach unten. Folgsam blieb Teeske stehen.

Im Schutzraum legte sie noch einmal Mike Krüger auf und blätterte in dem Micky-Maus-Heft, das Mama ihr letzte Woche vom Festland mitgebracht hatte, obwohl sie schon alle Comics gelesen hatte. Nach der dritten Tasse Tee ging sie erst zur Toilette und danach zur Couch zurück. Sie blieb davor stehen. Ihr war kalt. Nein, sie wollte sich nicht hinsetzen.

Da wo Mama die Taschenlampe herausgeholt hatte, gab es noch eine zweite, das wusste sie. Vorsichtig schritt sie weiter nach unten, die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, dem Lichtkegel der Taschenlampe hinterher, so weit es ging. Die beiden untersten Stufen waren bereits mit Wasser bedeckt. Dort, wo die Fernsehecke gewesen war, schwamm die Wohnzimmergarnitur, die nicht durch das Treppenhaus nach oben gepasst hatte. Das Wasser lief weiter stetig durch die Ritzen der Tür hindurch, Papa hatte erklärt, dass es keinen Zweck gehabt hätte, das jetzt wegzuschöpfen.

Der Sturm heulte, und es knarzte, knackte und platschte um sie herum. Das Holzgeländer, an dem sie sich festhielt, fühlte sich rau und alt an. Dämmriges Licht wurde von draußen hereingeworfen und spiegelte sich auf den kleinen Wellen, die durch ihr Wohnzimmer schwappten. Es wurde kalt, und es war unheimlich. Das Wasser kam, aber es ging auch wieder. Daran versuchte sie sich festzuhalten. Sie wusste, dass alles gut war. Aber was, wenn die Erwachsenen nicht recht hatten? Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange, entschlossen wischte sie sie weg.

Sie wartete, horchte in den Sturm.

1

Gegenwart Niederlande, Provinz Zeeland.Freitag, 27. Februar

07:30 Uhr

Iska van Loon stand neben ihrem geparkten Auto und betrachtete das festungsartige Bauwerk, für das Neeltje Jans, die Insel, auf der sie sich befand, über die Region hinaus bekannt war.

Lange Zeit war Neeltje Jans lediglich eine Sandbank in der Oosterschelde gewesen, einer der riesigen Meeresarme der Nordsee im Mündungsdelta von Rhein, Maas und Schelde. Jetzt ragte sie als künstliche Insel aus dem Meer, als Mittelpunkt des Oosterscheldekering, des gewaltigsten jemals gebauten Sturmflutwehrs der Niederlande, eines der architektonischen Weltwunder der Moderne: eine Kette riesiger Sturmfluttore zwischen mächtigen Stahlbetontürmen, die sich über mehrere Kilometer quer über die Oosterschelde zog. Normalerweise konnte die Nordsee ungehindert durch sie ein- und ausfließen. Nur bei Sturmflutgefahr wurden die Tore geschlossen, sperrten den Meeresarm ab, der dann zu einem riesigen Binnenmeer wurde, und schützten so das gesamte Hinterland. Oben auf dem Sperrwerk verlief eine vierspurige Schnellstraße, der Rijksweg 57, eine der wichtigsten Verkehrsadern von Zeeland, der südwestlichen Provinz der Niederlande, die an Belgien grenzt.

Bald, ab den ersten Urlaubsmonaten im April, würde hier das Leben wieder toben, der Strand war ein beliebter Spot für Surfer. Aber noch waren die Strandbar, die auf einem Pfahlgerüst in nächster Nähe zu den Dünen thronte, winterfest geschlossen, die Sonnenterrasse geräumt, die Fenster und Türen verrammelt. Niemand verirrte sich im Winter hierher, sechs Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt, keine Touristen, keine Wassersportler. Normalerweise.

Iska wandte sich wieder nach vorne und betrachtete den Grund, weshalb sie hier war. Das Heck des Fahrzeugs ragte weit aus den Fluten heraus, die morgendliche Frühlingssonne ließ das Kennzeichen leuchten. Ein weißes, es begann mit NF, ein Wagen aus dem großen Nachbarland. Die Halterin des Fahrzeugs hatten sie bereits ermittelt: eine Frau Teeske Saathoff aus Wyk auf Föhr, einer Insel im Norden Deutschlands.

»Ja, seltsamer Fall«, bestätigte Iska ihren Kollegen. Der Kleinwagen, ein roter Fiat Panda der vorletzten Generation, stand am Ende der asphaltierten Böschung, mit der Motorhaube auf den obersten Steinen der Hafenbefestigung. Es war Ebbe, die Wassermassen gaben Stück für Stück Teile des Fahrzeugs frei. Auf dem Fahrersitz konnte man hinter dem heruntergelassenen Seitenfenster eine Frau ausmachen, ihr Kopf war auf das Lenkrad gesunken, das sie noch mit beiden Händen umklammert hielt. Sowohl an der linken Schläfe als auch am Hinterkopf schien sie sich Verletzungen zugezogen zu haben. Sicher, so wie sich die Situation darstellte, könnte man auch annehmen, dass die Fahrerin einfach zu spät reagiert hatte und deshalb ungebremst in den leeren Fluchthafen von Neeltje Jans gefahren war.

Ein Unfall? Die Umstände sprachen insgesamt dagegen. Ein Mitarbeiter des Besucherzentrums auf der anderen Seite der Insel, das Touristen über das Oosterscheldekering informierte, hatte den Wagen zufällig entdeckt. Am Abend davor war er noch nicht dort gewesen. Warum sollte jemand mitten in der Nacht zu diesem einsamen Ort fahren? Und dann noch ausgerechnet hier, wo kein Verkehr herrschte, verunglücken? Schwer vorstellbar. Nein, nein.

Vielleicht ein Selbstmord? Bisher war kein Abschiedsbrief oder Ähnliches aufgetaucht, die Suche hatten sie allerdings noch nicht abgeschlossen. Aber warum sollte sie dafür hierherkommen? Den weiten Weg aus Deutschland.

»Dann sehen wir uns das mal aus der Nähe an.« Iska trat an das Fahrzeug heran, tastete sich vorsichtig die Böschung herunter, passte auf, nicht auf dem nassen Asphalt auszugleiten. Es ging ihr nur um einen ersten Eindruck, die Spurensicherung würde nachher eine genaue Untersuchung des Fundorts vornehmen und auch die Bergung des Wracks begleiten.

Das Auto musste während der Flut vollkommen untergetaucht gewesen sein, noch immer schwappte im Innenraum des Wagens das dunkle Meerwasser bis zu den Oberschenkeln der Fahrerin, ein wenig höher als außerhalb des Wagens. Die Frau war mit dem Sicherheitsgurt an den Sitz angeschnallt, ihr Körper durch die Totenstarre wie eingefroren, aber seit dem Zeitpunkt des Todes mochte die Flut ihre Position und Haltung verändert haben. Die Spuren wurden verwischt, kommentierte Iska in Gedanken. Sie schätzte die Frau auf Ende fünfzig, ungefähr so alt wie sie selbst. Der Kopf der Toten war nach links verdreht, vielleicht überdreht, die Gesichtshaut aufgedunsen, die Augen waren offen und leer. Abschürfungen auf der linken Wange, wie von einem Sturz. Am Hinterkopf eine kleine Verletzung, die dunklen Haare verklebt von Salz und Blutresten. An der linken Schläfe klaffte eine größere Wunde, ausgewaschen, etwas Knochen schien durch. Die tödliche Verletzung?

Eine einzelne braune Alge klebte über dem Armaturenbrett. In der Windschutzscheibe war auf Kopfhöhe ein kleiner Kratzer, vielleicht ein Sprung im Glas. Könnte das die Wunde an der Schläfe erklären? Und was hatte es dann mit jener am Hinterkopf auf sich? Vielleicht eine Folgeverletzung, wenn der im Wasser liegende Körper herumgewirbelt … Dass die Hände, weiß und rissig, immer noch das Lenkrad hielten … Seltsam.

Diese ganze Situation, dazu die Verbindung zum Nachbarland … Mehr als ungewöhnlich, ein einziges Rätsel. Iska merkte, wie der Fall sie reizte.

Gut, dass Inspektor Emil Kuijpers sie direkt informiert hatte. Iska überlegte nur kurz. Dann stand sie auf, streckte den Rücken durch. »Ich übernehme die Leitung der Ermittlungen, Emil.«

Seit einem halben Jahr koordinierte sie bei schweren Straftaten die länderübergreifenden Ermittlungen zwischen den Niederlanden und Deutschland. Außerdem besaß sie die Kompetenz, Ermittlungen bei Bedarf an sich zu ziehen, eine Kompetenz, von der sie gerade das erste Mal Gebrauch gemacht hatte. Wenn sich ihr Bauchgefühl nicht bestätigen und sich das alles hier nur als ein Unfall herausstellen sollte, konnte sie den Fall immer noch an jemand anderes delegieren.

»Okay.« Emil kaute auf seinem Kaugummi herum. Ein wenig Missfallen zeichnete sich für einen kurzen Moment auf seinem Gesicht mit dem dunklen Teint ab, mit seinen braunen Augen fokussierte er abwechselnd sie und das Autowrack. Unter der dicken Wollmütze lugte der Ansatz tiefschwarzen Haares hervor, in dem sich erste graue Strähnchen zeigten. Iska hatte ihn eben, als er sie zu dem Fundort geführt hatte, auf Anfang dreißig geschätzt, vielleicht war er doch ein wenig älter. »Okay, okay«, wiederholte sich Emil, sie konnte ihm ansehen, dass er seine Gedanken sortierte. »Dann … Kannst du mich für deine Ermittlungsgruppe anfordern, Iska? Ich, ähm, …«

»Ja, mache ich.« Sie wusste, worauf er hinauswollte. Er wollte wissen, was bei den Ermittlungen herauskam, die er selbst gerne geleitet hätte. Ihr gefiel sein Engagement für den Fall. »Ich hätte das so oder so getan. Du warst immerhin als Erster hier.«

»Danke.« Er räusperte sich, schluckte das, was er hatte sagen wollen, aber herunter.

Iska vergrub die Hände in den Taschen ihres Wintermantels. Der Wind frischte auf, der Geschmack von Algen und Salz lag in der Luft. Die Wellen schlugen im stetigen Rhythmus gegen das Autowrack vor ihnen. Ein einsames kleines rotes Auto in einem einsamen Hafen, auf einer einsamen Insel.

Teeske Saathoff aus Föhr, vom anderen Ende der Nordsee, warum bist du hier gestorben?

*

Als Iska nach einem langen Arbeitstag abends müde die Treppen zu ihrer kleinen 35-Quadratmeter-Wohnung in Amsterdam hochstieg, fasst sie die bisherigen Erkenntnisse noch einmal in Gedanken zusammen. Viele Spuren hatten sie nicht sichern können, lediglich Teeske Saathoffs Portemonnaie samt Ausweis und zweihundert Euro in bar, aber kein Handy. Weitere Zeugen, die vielleicht Teeske Saathoffs Ankunft auf Neeltje Jans bemerkt haben könnten, hatten sie nicht gefunden. Das Besucherzentrum war in den Wintermonaten unter der Woche geschlossen, die Strände verwaist, es gab für Autofahrer keinen Grund, den Rijksweg 57 zu verlassen und auf diesen einsamen Parkplatz zu fahren. Warum hatte Teeske es getan? Um dann dort zu sterben. Todeszeitpunkt zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Uhr – aufgrund der langen Verweildauer im Meerwasser konnte die Rechtsmedizin keine genauere Angabe machen. Die Art und Verteilung der Wunden in Kombination mit Auffindesituation sprächen aber gegen einen Unfall, hatte die Kollegin nach einer ersten Begutachtung der Tatortfotos gesagt. »Mehr nach der Obduktion, aber vor dem Wochenende wird das nichts. Sie bekommen den Bericht, so schnell es geht.«

Iska schloss die Tür ihrer Wohnung auf und schaltete das Licht ein. An der Garderobe hing noch der rote Schal von Maaike, ihre Tochter hatte vergessen, ihn mitzunehmen. Ihre Gedanken wanderten wieder zurück zum vergangenen Wochenende. Ihr Ex-Mann Daniel, bei dem Marc und Maaike normalerweise lebten, hatte die beiden nur eben bei ihr abgesetzt und war nach kurzem Small Talk wieder zurück nach Sneek in den Norden gefahren. Er hatte einem Kumpel versprochen, ihm beim Umzug zu helfen. Sie war mit den Kindern erst einmal frühstücken gewesen, in ihrem Lieblingscafé auf der Westerstraat, mit dem eindeutig besten Milchkaffee der Welt. Anfangs war die Stimmung noch etwas gedämpft, da wusste sie noch nicht, was Marc auf dem Herzen hatte. Aber das änderte sich schnell, die beiden Teenager waren in dem Alter, in dem man die Vorteile eines Lebens in einer echten Weltstadt genießen konnte, vor allem, wenn man mit genug Kleingeld in einem der teuersten Viertel der Stadt wohnte.

Nach dem langen Tag mit viel Trubel brach es dann aus Marc heraus, abends, kurz vor dem obligatorischen Horrorfilm. Als Maaike von der Toilette zurückkam, wo sie kurz ungestört mit ihrem Freund telefoniert hatte, fing er einfach an zu weinen und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Es tat so gut, einfach für ihn da zu sein. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann fing er sich wieder.

»Was ist denn?«, fragte sie vorsichtig. Erst wollte er nicht antworten.

»Ich …« Er blickte von ihr weg. »Ich … ähm, ich hab eine bijna voldoende.« Eine Fünf auf der Schulnotenskala von eins bis zehn, das war schlecht. »Latein.«

»Hey, das tut mir leid.« Sie wusste, dass er auf einen bestimmten Schnitt zielte. Er war ehrgeizig, im Sport, in der Schule, immer. Ihre Worte hingen irgendwie noch immer in der Luft. Was sagte man da sonst noch? »Latein, das war das mit dem Ablativ, oder?« Sie kam sich unbeholfen vor.

»Du bist niedlich, Mama.« Er grinste sie an. »Das war echt lieb.«

Dann kam Maaike wieder, und der Abend ging weiter.

Marc hatte ihr ein Geschenk gemacht, ohne es zu wissen. Sie vermisste ihn, natürlich auch Maaike, ihre Erzählungen, ihre Launen, ihre Nähe. Schön, dass sie nun wenigstens etwas nachholen konnten, wofür sie damals nicht bereit gewesen war. Oder etwas erleben durfte, wofür es einfach keinen Platz in ihrem Leben gegeben hatte. Daniel hatte die Familie zusammengehalten und ihr den Freiraum für den Job verschafft, den sie benötigt hatte. Dass sie sich vor knapp zehn Jahren getrennt hatten, war nicht ihre Schuld gewesen, Daniel hatte es ihr immer wieder versichert. Sie war eine gute Polizistin, sie hatte sich damals nun einmal ganz auf ihren Job konzentrieren müssen, sonst hätte sie ihn nicht machen können. Und den Kindern ging es gut bei ihm. Alles war gut gewesen.

Ob sie wohl viel von Maaike und Marc verpasst hatte, als sie noch jünger gewesen waren? Bestimmt. Aber sie trauerte der verpassten gemeinsamen Vergangenheit nicht nach. Vielmehr freute sie sich darauf, was die Zukunft ihnen noch bringen konnte.

Sie stellte eine Tasse unter die Siebträgermaschine und bereitete einen Espresso vor. Kaffee konnte sie zu jeder Uhrzeit wie Wasser trinken, aber ein guter Espresso brauchte Raum, ihn musste man bewusst genießen. Zufrieden machte sie es sich mit der kleinen doppelwandigen Glastasse, die die Temperatur hielt, in der Sofaecke bequem. Ihre Lieblingskuschelecke. Ihre kleine Wohnung, ihr eigenes Reich. Sie ließ den Blick schweifen, über die Bücherregale in weißem Holz, über den Nachdruck der Nachtwache von Rembrandt, das vergoldete Bronzekreuz zur zehnten Teilnahme am berühmten Nijmegenmarsch, vier mal vierzig Kilometer an vier Tagen. Die Auszeichnung fiel nur dann ins Auge, wenn man auf genau diesem Platz saß. Alles in ihrem Reich hatte sie auf sich ausgerichtet, es war modern, aber nicht kalt. Sie war gerne hier.

Was wohl Maaike und Marc jetzt machten? Dieses Wochenende würden sie bei Daniel verbringen. Sie nahm einen Schluck Espresso, schmeckte ihm nach. Ob Teeske wohl Kinder gehabt hatte?

Es tat gut, wieder einen eigenen Fall zu haben, bei dem sie selbst die Ermittlungen leitete. In den sie sich vertiefen konnte, wie früher, als sie noch unter Dirk beim Dienst Landelijke Recherche, spezialisiert auf Organisierte Kriminalität, gearbeitet hatte. Dirk war ins Ministerium gewechselt, und auch sie hatte inzwischen eine neue Position, die nicht nur weniger Stress, sondern auch ein besseres Gehalt bedeutete. Leider auch mehr Bürokratie und mehr Entfernung von der echten Welt da draußen.

Sie ging nach nebenan ins Schlafzimmer, holte den Koffer aus dem obersten Fach im Kleiderschrank und legte ihn aufs Bett. Sie musste ein Gefühl für den Fall entwickeln. Teeske verstehen und die Menschen um sie herum. Auch wenn es viel Aufwand für vielleicht wenig greifbaren Ertrag bedeutete, sie musste selbst nach Föhr fahren.

Nachdem der Koffer gepackt war, schrieb sie Marten, dass sie die Fähre um zehn Uhr nehmen würde. Sie freute sich darauf, ihren deutschen Kollegen wiederzusehen. Seit ihrem gemeinsamen Fall hatten sie sich nicht mehr getroffen.

2

Aurich. Samstag, 28. Februar

06:30 Uhr

»Warum fährt eine Frau, die in der Nähe der Grenze zu Dänemark lebt, einmal quer die Nordseeküste entlang bis zur Oosterschelde, ganz im Südwesten der Niederlande?« Marten Jaspari schaute seine Freundin an. Nicht dass er von ihr die Lösung erwartet hätte, er wollte das Schweigen durchbrechen, das zwischen ihnen stand.

»Familie, Verwandte?« Katharina blickte nur kurz vom Smartphone auf, auf dem sie mal wieder herumtippte.

»Familie …« Marten warf weitere Kleidungsstücke in den kleinen Koffer. Die Reise nach Föhr passte ihm jetzt gar nicht. Abgesehen von der komplizierten Situation, in der Katharina und er sich gerade befanden, war auch Ben wieder in der Stadt. Sein jüngerer Bruder, der in Yale tatsächlich eine Stelle als Doktorand bekommen hatte, besuchte für zwei Wochen Freunde und Familie in good old Germany. Vor allem wohl Freunde, für die Familie hatte Ben nur einen Tag eingeplant, den morgigen Sonntag. Mittagessen mit Mama, Papa und großem Bruder. Ihrer Mutter war es wirklich wichtig gewesen. Und bis heute Morgen hatte es auch noch so ausgesehen, als ob sie sich endlich wirklich mal wieder alle vier treffen würden. Das letzte Mal hatte es an Weihnachten geklappt, allerdings vorletztes Jahr. Familie, das war so eine Sache, und jetzt musste er sich auch noch um Teeske Saathoff kümmern. »Auf ihre Familie bin ich schon gespannt.«

In neun von zehn Fällen kannte das Opfer eines Tötungsdeliktes den Täter, in der Hälfte der Fälle kam der aus der eigenen Familie. Teeske Saathoff war weder von ihrem Ehemann noch von jemand anderem als vermisst gemeldet worden. Marten hatte entschieden, dass er den Hinterbliebenen die Todesnachricht zusammen mit Iska überbringen würde. Er musste sich sehr dazu zwingen, diese Aufgabe zu übernehmen, dennoch wusste er um den Mehrwert der Situation: Er würde die Reaktionen der Angehörigen so unmittelbar und ungefiltert mitbekommen, wie es kein Polizeiprotokoll ermöglichte.

Bei der letzten Zusammenarbeit mit Iska war er noch bei der Polizei Aurich gewesen, inzwischen hatte er eine Stelle beim Bundeskriminalamt. Sozusagen die spiegelgleiche, die Iska in den Niederlanden bekommen hatte, um länderübergreifende Ermittlungen zu unterstützen. Beide Stellen waren neu geschaffen worden, auf Anregung interner Ermittler, die Martens Verhalten bei dem Fall nachträglich untersucht und bewertet hatten. Anfangs hatten sie ihn ganz schön unter Druck gesetzt, versucht, ihm Fehler nachzuweisen. Aber er war mit einem blauen Auge davongekommen. Besser noch: Sie hatten ihm so letztlich die Möglichkeit gegeben, zum BKA zu wechseln.

Er blickte auf seine, die linke Hälfte des gemeinsamen Kleiderschrankes. Ja, er hatte aus allen Fächern etwas in den Koffer geworfen. Die rechte Seite des Schranks, die von Katharina, war dagegen vollständig leer. Gleich würden sie gemeinsam die Wohnungstür zuziehen. Und Katharina würde drei Stunden später in Hamburg ihre eigene neue Wohnungstür alleine öffnen. »Es wird Zeit.«

»Komm auf der Rückfahrt bitte bei mir vorbei!« Damit hatte Marten nicht gerechnet. Auf der Bettkante sitzend, schaute Katharina ihn mit ihren großen Augen an. Auf einmal schlug die Erkenntnis, dass sie tatsächlich auszog, voll durch. Beinahe im letztmöglichen Moment. »Ich möchte dir gerne meinen Balkon zeigen. Durch eine Baulücke kann man sogar die Außenalster sehen.«

»Ich werde dich bei jeder Gelegenheit besuchen. Sooft es irgendwie geht.« Wie traurig das doch klang. Er versuchte, die entstehende Stille mit einem Spruch aufzulockern. »Du wirst denken, dass ich mit umgezogen bin. Das macht es auch für Youri einfacher.«

»Lass den Hund da raus.« Sie lächelte gequält. So war das nicht gemeint gewesen, aber sie hatte es doch als Vorwurf aufgefasst. Ihr war es wichtig gewesen, dass es ihre eigene, nicht eine neue gemeinsame Wohnung war. Rational gesehen war der Umzug nach Hamburg ja durchaus richtig. Die Immobilienagentur, zu der sie gewechselt war, ließ nur einen Tag Homeoffice pro Woche zu, verständlich bei ihrer neuen Funktion als Abteilungsleiterin. Und vier Tage von Aurich aus zu pendeln, ergab keinen Sinn, schon ohne Stau dauerte eine Strecke mehr als zweieinhalb Stunden. Sie strich über das Betttuch. »Ansonsten bestehe ich darauf. Eine Seite in meinem Bett wird fest für dich reserviert sein.«

»Ich liebe dich.« Der Kuss war zärtlich und weich. Langsam lösten sich ihre Lippen voneinander. Marten war froh, dass sie die Kurve bekommen und nicht wieder gestritten hatten wie so oft die letzten Male. Es war keine Trennung, nur eine neue Phase. Sie besaßen statt einer gemeinsamen jetzt eben zwei einzelne Wohnungen. Wir müssen nicht wie andere Pärchen sein, hatte er irgendwann gesagt und damit sein Einverständnis zu ihrer Entscheidung gegeben. Besser so zusammen als gar nicht. Das hatte er sich nicht vorstellen wollen.

»Und ich dich.«

Katharina hatte ihre Möbel bereits nach Hamburg bringen lassen. Hand in Hand gingen sie durch die halb leere Wohnung, an der ehemaligen Essecke vorbei, bei der sowohl Stühle als auch der Tisch fehlten, an den großformatigen Urlaubsfotos im Flur aus der Phase der ersten Verliebtheit. Vielleicht sollte ich die demnächst mal abhängen, überlegte Marten, und durch etwas Neutrales ersetzen. Vielleicht Kunst, irgendwas Abstraktes? Das würde es einfacher machen, abends nach Hause zu kommen. Langsam streifte er mit dem Daumen über Katharinas Handrücken.

Sie legte ihre andere Hand auf die Klinke. »Bereit?«

»Auf zu neuen Ufern!« Was blieb ihm anderes übrig, dachte er sarkastisch. Gemeinsam schritten sie nach draußen. Dann schloss er die Tür zu der Wohnung ab, die nun ihm allein gehörte....Ende der Leseprobe