Das Böse vor deiner Tür - Sarah Bestgen - E-Book

Das Böse vor deiner Tür E-Book

Sarah Bestgen

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Beschreibung

Das Grauen kommt nach Hause 16 einzigartige Horror-Kurzgeschichten von den besten deutschsprachigen Spannungsautorinnen und -autoren Ob am tosenden Meer oder in den zerklüfteten Bergen, ob hinter den Fassaden der Großstadt oder in einer kleinen Herberge im Wald: Das Böse lauert überall! Und in diesem Buch steht es direkt vor eurer Haustür. 16 bekannte Autorinnen und Autoren haben sich zusammengetan, um euch in Angst und Schrecken zu versetzen. In bislang unveröffentlichten Geschichten bringen sie den Horror nach Hause.  Ihre Geschichten spielen in Berlin, Köln, Dresden, Leipzig, Ulm, in der Eifel, in Franken, in Niedersachsen, im Odenwald, auf der Schwäbischen Alb, an der Ostsee, am Ufer der Donau oder in den Schweizer Bergen. Dabei ziehen sie alle Register der Spannung. Vom sich leise anschleichenden psychologischen Horror über okkulte Beschwörungszeremonien und Spukhäuser bis hin zu ausgewachsenen Monstern ist alles mit dabei. Das perfekte Buch für alle Horror- und Thriller-Fans, denen es nicht spannend genug sein kann. Traust du dich? Der Band enthält die folgenden Geschichten: Andreas Gruber: Die Nacht unter der Teufelsbrücke Iver Niklas Schwarz: Kilometer 267 Ivar Leon Menger: Eichendorf Nina Blazon: Das Relikt Markus Heitz: Convocantes Sarah Bestgen: Schlaf, Mama, Schlaf Wulf Dorn: Nachtgänger Vera Buck: Das engste Tal Andreas Eschbach: Kalkmänner Uwe Laub: Nebelgrollen Annika Strauss: Matilda Frank Goldammer: Der Fehler Liza Grimm: Hägglmoo Thomas Finn: Der Spiegel Vincent Voss: Frau Tutas und die Hexen aus Wakendorf II Kai Meyer: Kalvarienberg

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Seitenzahl: 613

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Über das Buch

Ob am tosenden Meer oder in den zerklüfteten Bergen, ob hinter den Fassaden der Großstadt oder in einer kleinen Herberge im Wald: Das Böse lauert überall! Und in diesem Buch steht es direkt vor eurer Haustür. Sechzehn bekannte Autorinnen und Autoren haben sich zusammengetan, um euch in Angst und Schrecken zu versetzen. Mit bislang unveröffentlichten Geschichten bringen sie den Horror nach Hause. Hexen, Dämonen, Geister – das Böse wartet schon auf euch.

 

Wulf Dorn • Iver Niklas Schwarz (Hg.)

Das Böse vor deiner Tür

Unheimliche Geschichten

Vorwort der Herausgeber

Willkommen zu unserer ganz besonderen Reise ins Reich des Unheimlichen! Schön, dass du zu uns gefunden hast.

Wir sind Wulf Dorn und Iver Niklas Schwarz, und da du zu diesem Buch gegriffen hast, scheinst du unsere Vorliebe für dunkle Geschichten zu teilen. Geschichten über ganz alltägliche Menschen wie dich und uns, denen mysteriöse Dinge widerfahren. Sie entspringen den finstersten Ecken menschlicher Vorstellungskraft, präsentieren ein skurriles Panoptikum des Grauens und versetzen uns in gebanntes Staunen.

Wenn dann beim Lesen noch der Nachtwind ums Haus heult und der Regen an die Fenster klopft, können wir uns entspannt zurücklehnen und dieses wohlige Schaudern aus sicherer Distanz genießen. Immerhin treibt das Böse, von dem erzählt wird, meist weit von uns entfernt sein Unwesen. Es lauert in den Abwasserkanälen von Derry, mordet sich durch Camp Crystal Lake, sucht die Bewohner transsilvanischer Dörfer heim oder erhebt sich vom Grund eines Brunnens im fernen Honshū.

Auch Michael Myers oder die Kreatur aus der schwarzen Lagune werden bestimmt keinen Langstreckenflug auf sich nehmen, um über uns herzufallen. Und selbst eine Invasion der Großen Alten beträfe nur die armen Seelen von Neuengland – jedenfalls anfangs.

In unserer gemütlichen Leseecke sind wir also vorerst sicher.

Oder etwa doch nicht?

Was, wenn das Unheil plötzlich nicht mehr irgendwo jenseits des großen Teichs zuschlägt, sondern einen Weg zu uns gefunden hat? Vielleicht sogar in deine Stadt oder deine Straße, in deine Nachbarschaft oder gar zu dir nach Hause?

Diese Überlegung haben wir mit den hier vertretenen Autorinnen und Autoren geteilt. Wir haben sie gebeten, Geschichten zu schreiben, die in vertrauter, heimischer Umgebung spielen: an Schauplätzen, die ihnen am Herzen liegen, an denen sie leben oder gelebt haben oder zu denen sie eine besondere Beziehung pflegen.

Herausgekommen ist ein unheimlicher Rundtrip durch den deutschsprachigen Raum mit hochkarätiger Reisebegleitung. Ob in der Stadt, auf dem Dorf, im Gebirge, am Meer oder irgendwo dazwischen, an jedem der nachfolgenden Orte lauert das Grauen.

Also lass uns nun die Klinke drücken. Aber vorsichtig, ganz behutsam! Denn uns erwartet das Böse vor deiner Tür …

 

Wulf Dorn und Iver Niklas Schwarz

April 2024

 

PS: Falls du bis jetzt noch nicht überprüft hast, ob du auch wirklich allein im Raum bist, wirst du es spätestens zum Ende dieses Buches tun. Und wenn dir unser schauriger Trip gefallen hat, dann empfiehl ihn gern auch anderen Reisefreudigen. Denn um dunkle Orte zu entdecken, muss man nicht unbedingt nur in die Ferne schweifen.

IAUFREISEN

Andreas Gruber

Die Nacht unter der Teufelsbrücke

Andreas Gruber gehört zur Speerspitze des deutschsprachigen Thrillers. Doch vor den Bestsellern um Maarten S. Sneijder, Walter Pulaski oder Peter Hogart hatte der 1968 geborene Wiener Gruber eine dunkle Vergangenheit als Horrorautor. Sieben Bände mit Kurzgeschichten und mehrere preisgekrönte Romane hat er uns beschert. Wer wäre also besser geeignet, bei unserer Reise ins Unheimliche voranzugehen? Andreas Grubers Definition von Horror liest sich wie ein Wellnessprogramm für jeden Genrefan:

»Aufgewachsen in den 80ern mit Stephen King, Clive Barker, H.P. Lovecraft, Zombiefilmen, John Carpenters ›Das Ding‹ und den Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen von Roger Corman mit Vincent Price, bedeutet Horror für mich Nebel, Gräber, Kutschen, Burgverliese, quietschende Kellertüren, Laborexperimente, Kettenrasseln, Albträume und Wahnsinn.«

Im Sommer des Jahres 1834 arbeitete ich als Schankjunge im Gasthaus Schimmelkrug, das mit einem Stall und einer verwinkelten Herberge zu einem uralten Gehöft direkt an der Donau gehörte. Genauer gesagt in Aggstein, einem kleinen unbedeutenden Ort, der einen Tagesritt westlich von Wien zwischen Melk und Krems in der Wachau lag.

Der 25. Juli, an dem diese Geschichte spielt, war ein Freitag. Ich weiß es deshalb noch so genau, weil sich der Himmel an jenem Morgen schlagartig verdunkelt hatte, ein gewaltiger Sturm aufzog und die Wolken sich wie pechschwarze Flügel einer gigantischen Fledermaus über das Land legten. Der Wind peitschte wie eine Horde Furien durch den Ort, ließ den Regen unaufhörlich in Strömen niederprasseln, und man konnte zusehen, wie die Donau immer mehr aufgewühlt wurde und der Pegelstand stündlich stieg, bis er ein beängstigendes Ausmaß annahm.

An jenem Abend arbeitete ich jedoch nicht wie üblich hinter der Schank, sondern übernahm den Empfangstisch der Herberge, da Otto die Kutschen unserer Gäste einstellte, die Pferde im Stall versorgte und zudem mit seinem Knecht Iver eine gebrochene Achse und ein kaputtes Wagenrad reparieren musste.

Wenn sich Gäste zu uns verirrten, wollten sie entweder zur düsteren Ruine Aggstein, die auf einer schwindelerregenden steilen Felsspitze über dem Ufer der Donau thronte, von wo aus sie durch ihre schwarzen hohlen Fensteröffnungen ins Tal hinabblickte, oder die legendäre Teufelsbrücke besichtigen, eine massive Steinbrücke, die sich mit drei krummen Bögen über den Fluss spannte. Mehr gab es bei uns nicht zu sehen. Und normalerweise hatten wir – sofern ich das beurteilen konnte, da ich erst seit diesem Sommer hier arbeitete – an verregneten Tagen nur wenige Gäste.

Doch gerade heute, wo der Donner in einem fort ohrenbetäubend krachte, ständig Blitze in der näheren Umgebung niedergingen, die Bäume in Brand setzten und der Regen an die Fenster peitschte, dass man befürchten musste, die Dachschindeln würden jeden Augenblick davonfliegen, war die Herberge bis unters Dach voll. Wir hatten Reisende aus aller Herren Länder zu Gast, die auf dem Weg nach Wien hier haltmachten. Lediglich die drei kleinsten Kammern unter den Dachgiebeln waren noch frei. Aber auch die sollten wir voll bekommen, wie ich schon bald feststellen musste.

Schlag sechs Uhr abends tauchte ein gewaltiger Blitz den Eingangsbereich der Herberge in taghelles Licht, unmittelbar gefolgt von einem Donnerschlag, der mir die Härchen an den Unterarmen aufstellte. Grell wie bei einer Explosion leuchtete das nahe Flussufer auf. Alle Gäste im Schankraum stürmten sogleich aufgeregt zu den Fenstern und sahen zur Brücke. Der Blitz hatte in sie eingeschlagen und nur rauchende Trümmer hinterlassen, die nun der Reihe nach abbröckelten und in den Fluten versanken. Einige der Gäste schlugen stumm das Kreuzzeichen, andere redeten aufgeregt durcheinander. Ich konnte englische, deutsche, dänische und französische Flüche heraushören. Ja, wir waren eine bunte Zwangsgesellschaft von Reisenden, die der Sturm für eine grausame Nacht zusammengebracht hatte, und alle wollten zu diesem Kongress, der in zwei Tagen, am Sonntag, in Wien stattfinden sollte.

Nachdem unsere Gäste sich wieder beruhigt und an ihren Tischen Platz genommen hatten, servierte Sigrid zusammen mit ihrer zwölfjährigen Tochter, der armen, geistig behinderten Wienke, ein Abendmahl beim Schein von Kerzen und Petroleumlampen. Unterdessen wieherten die Pferde aufgeregt im Stall. Vermutlich versuchten Otto und sein Knecht nicht nur, die Gäule zu beruhigen, sondern auch, das Dach des Stalls einigermaßen abzudichten, damit die Tiere nicht im Wasser standen, das bereits zwischen den Balken hereintropfte.

Inzwischen hatte die Nachtdämmerung eingesetzt, und obgleich es Sommer war, wurde es entsetzlich kalt, weshalb Sigrid in der Stube ein Feuer im Ofen entfachte, das anfangs wegen des Sturms mehr Rauch denn Wärme entwickelte. Da sah ich durchs Fenster im Licht der zuckenden Blitze eine weitere Kutsche, die vor der Herberge hielt. Kurz darauf flog auch schon die Tür auf, und eine feine Dame spazierte herein. Während sie sich den Regen aus dem Gesicht wischte, schleppten ihre beiden jungen Begleiter das Gepäck in den Schankraum.

Sie nahm den überdimensionierten Hut ab, legte ihn auf den Tresen und sah mich freundlich an. »Ein Zimmer für eine Nacht«, sagte sie auf Englisch.

»Für Sie und Ihre zwei Begleiter?«, fragte ich in meinem besten Schulenglisch, woraufhin sie nickte. »Was für ein Glück«, fuhr ich fort, »wir haben noch exakt drei kleine Zimmer frei – die letzten.«

Nun sah sie mich prüfend an. »Woher kannst du Knirps eigentlich so gut Englisch?«

»Theologische Gelehrtenschule«, sagte ich stolz. »Ist ein humanistisches Gymnasium.«

»Ausgebüxt?«

Ich raunte herum.

»Aha …« Sie nickte verständnisvoll. »Nun, eigentlich wollten wir in dieser Nacht noch bis nach Wien reisen«, erklärte sie. »Wir hatten dieses Dorf auch bereits passiert, aber vier Meilen weiter flussabwärts, in Spitz an der Donau, hat die Flut die Holzbrücke weggerissen.«

An jener Stelle musste man vom rechten aufs linke Flussufer übersetzen. Ich nickte, da ich bereits von dem tragischen Unglück gehört hatte. Allerdings musste ich mir ein Lächeln verkneifen, denn es klang amüsant, wie sie Spitz an der Donau mit ihrem englischen Akzent aussprach. »Sie mussten umkehren?«

»Natürlich, wie scharfsinnig erkannt, junger Mann, andernfalls wären wir jetzt wohl nicht hier.« Sie schüttelte sich die Regentropfen vom Rüschenkleid. »Und kaum kommen wir hier an, streckt der Blitz auch diese Brücke nieder. Eine Brücke aus massivem Stein!« Ungläubig riss sie die Augen auf. »Zum Glück haben wir dann die Lichter dieser Gastwirtschaft gesehen.« Ihre Gefährten zerrten indessen ein Gepäckstück nach dem anderen in die Herberge, wo sie alles zu einem Berg auftürmten. Dabei pfiff stets lautstark der Wind durchs Haus, bauschte die Vorhänge und ließ die Kerzen flackern, sobald sie erneut die Türe öffneten.

»Es sind wirklich nur drei kleine Zimmer«, betonte ich, während ich zu den Unmengen an Gepäck schielte. »Und die Treppe zum oberen Stockwerk ist steil und eng gewunden.«

Sie winkte mit der Hand ab. »Wir haben auf unserer Reise schon Schlimmeres erlebt.«

»Sie kommen direkt aus England?«, fragte ich neugierig.

»Der Baron und ich kommen aus London, Mr Dickens aus Portsmouth. Neugierde befriedigt?« Sie sah mich prüfend an. »Wir sind auf dem Weg zum Kongress«, fügte sie hinzu.

»Der erste Wiener Kongress der Phantastischen Literatur«, ergänzte ich wissend und beneidete sie um ihre Teilnahme. »Genauso wie alle anderen Gäste hier auch, die noch rechtzeitig Unterschlupf gefunden haben …«

»… bevor die Welt untergeht«, ergänzte sie und hob kurz den Blick zum Schankraum. Bestimmt war ihr bereits die bunte Melange aus verschiedenen Sprachen aufgefallen.

»Hier, Miss …«, sagte ich und legte die letzten drei Schlüssel für die Zimmer auf den Tresen.

»Mrs«, korrigierte sie mich. »Mrs Shelley. Mein Mann konnte bedauerlicherweise nicht mitkommen.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Muss es nicht. Er ist vor zwölf Jahren gestorben.«

Ich versuchte meine Überraschung zu verbergen. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Eine so junge Witwe. Sie war hübsch, wirkte zart, aber selbstbewusst, und hatte wunderschöne große strahlende braune Augen. »Das tut mir leid«, wiederholte ich.

»Wie gesagt – das muss es nicht. In Begleitung dieser beiden jungen Herren bin ich in bester Gesellschaft.«

Verschwörerisch beugte ich mich über den Tresen zu ihr und senkte die Stimme. »Zimmer Nummer zehn ist von den dreien das größte und bequemste.«

»Du gefällst mir, Junge.« Sie zwinkerte mir zu und griff zu dem entsprechenden Schlüssel. »Mr Dickens und Baron Bulwer-Lytton nehmen die anderen beiden Zimmer, und Benson, unser Kutscher, schläft im Stall.« Sie sah mich prüfend an, während sie mit Silbermünzen und frisch gedruckten Gulden-Banknoten sowohl die Zimmer als auch Abendessen und Frühstück bezahlte. »Du klingst deutsch«, stellte sie fest.

»Ich bin in Husum geboren, meine Dame.«

»Husum? So weit im Norden? Herzogtum Schleswig, wenn ich mich nicht irre?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »So weit weg von der Heimat?«

»Ich reise durch die Welt, sammle Erfahrungen, genau wie Goethe. Ich möchte Schriftsteller werden.«

»Wie Goethe?« Nun zog sie die zweite Augenbraue hoch. »Schriftsteller wird man nicht – Schriftsteller ist man.«

Ich senkte beschämt den Blick. »Natürlich, Madam.«

Sie hob den Arm, strich mir zart übers Kinn, hob es leicht an, blickte mir in die Augen und lächelte schließlich. »Du musst daran glauben«, flüsterte sie, »dann bist du es.«

»Vielen Dank … ach, übrigens.« Ich setzte mein gewinnendstes Lächeln auf. »Würden Sie sich in … äh … mein Gästebuch eintragen?«

»Du hast ein Gästebuch?«

»Vielleicht wird es eines Tages wertvoll.« Ich holte ein in Leder gebundenes dünnes Buch aus der Schublade, schlug es auf und schob es ihr mitsamt Feder und Tintenfass über den Tresen.

Neugierig betrachtete sie im flackernden Kerzenschein die bisherigen Eintragungen in den Spalten Name, Herkunft, Adresse und Geburtsdatum, die ich mit feinen Bleistiftlinien gemalt hatte. »Viel steht noch nicht drin.«

»Ich habe erst heute damit begonnen«, gab ich zu.

Lächelnd trug sie sich ein. Mit elegant geschwungener Handschrift schrieb sie Mary Wollstonecraft Shelley, wie ich verkehrt herum entziffern konnte. Als Geburtsdatum trug sie den 30. August 1797 ein. Ich hatte mich nicht geirrt. Sie war sechsunddreißig.

»Und würden Sie vielleicht auch noch …?«, bat ich sie.

»Natürlich.« Sie winkte ihre beiden Gefährten zu sich und drückte ihnen die Feder in die Hand. »Wir müssen unsere Seele verkaufen, sonst bekommen wir kein Zimmer. Hier unterschreiben«, befahl sie im Brustton der Überzeugung.

Der schmächtige, hagere Baron George Edward Bulwer-Lytton mit dem dichten Backenbart war einunddreißig Jahre alt, wie ich nun herausfand, und der etwas kleinere Charles John Huffam Dickens mit dem fülligen gewellten Haar zweiundzwanzig.

Während die beiden danach alle Koffer über die knarzenden Stufen der schmalen gewundenen Treppe ins obere Stockwerk schleppten, ließ Mrs Shelley ihren Blick über die Eintragung der anderen sieben Gäste gleiten. »Interessant«, kommentierte sie.

»Die beiden Messieurs Dumas und Hugo kommen aus Paris«, erklärte ich mit gesenkter Stimme. »Ihre Kutsche hatte einen Achsenbruch, weil sie die Pferde zu schnell angetrieben hatten. Wollten Wien offenbar noch rechtzeitig vor dem großen Unwetter erreichen.«

»Das haben sie nun davon.« Mrs Shelley sah kurz auf, spähte zum Schankraum und suchte offenbar die beiden jungen Franzosen, die Anfang dreißig waren, Wein tranken und beim Schein des knisternden Feuers Karten spielten. Sie tippte auf die Buchseite. »Und diese drei Amerikaner?«

»Mr Poe, Mr Hawthorne und Miss Palmer Peabody stammen aus Massachusetts«, erklärte ich eifrig. Mr Poe war mit seinen fünfundzwanzig Jahren der jüngste, die anderen beiden waren ebenfalls dreißig. »Sind mit einem Dampfer eine Woche lang über den Atlantik gefahren und waren von Le Havre aus mit der Kutsche und später mit dem Donaufährschiff, der Persenbeug, unterwegs. Aber durch das Hochwasser und die Stromschnellen ist der Fluss unpassierbar geworden. Kein Schiff fährt mehr, zu gefährlich. Die Persenbeug liegt jetzt flussaufwärts bei Melk, und die drei sind zu Fuß weiter und haben kurzerhand hier Unterschlupf gefunden.«

Sie nickte. »Und der Däne?«

»Herr Andersen kommt von der Insel Fünen. War ebenfalls mit der Kutsche unterwegs, aber die Straße nach Wien ist wegen der Regenfälle ihrerseits unpassierbar geworden, mehrere Hänge sind abgerutscht. Bei uns war Endstation.«

»Viele junge Talente«, stellte sie fest, womit sie durchaus recht hatte. Herr Andersen war neunundzwanzig und in ihren Augen noch jung. Interessiert fuhr sie nun mit dem Finger über das Blatt und stoppte bei der ersten Eintragung von heute Morgen. Sie hob den Blick, schaute abermals in den Schankraum und kniff suchend die Augen zusammen. »Und wo ist Mr Samuel Taylor Coleridge?«

»Schon zu Bett gegangen«, erklärte ich. Der Brite aus der Grafschaft Devon war mit seinen einundsechzig Jahren mit Abstand der Älteste unserer vornehmen Gäste. »Er wollte noch etwas lesen und hat sich das Abendessen aufs Zimmer bringen lassen.«

»Meinst du, dass er heute Nacht etwas schreibt?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Schon möglich. Er hat mich um Tinte und Papier gebeten.«

»Typisch Samuel«, sagte sie verträumt. »Ich mag seine Ballade vom alten Seemann.« Sie blickte kurz durchs Fenster in die stürmische Nacht.

»O ja«, stimmte ich fachmännisch zu. »The Rime of the Ancient Mariner ist eines der schönsten Gedichte der Weltliteratur.«

»In der Tat …« Sie schlug das Gästebuch zu und nahm ihren Hut. »Dieses kleine Lederbüchlein ist schon jetzt ein Almanach des Schreckens und wird bestimmt eines Tages äußerst wertvoll werden.«

Ich begleitete sie in die obere Etage und führte sie zu ihrem Zimmer. »Die Petroleumlampe ist voll, der Docht frisch, und wenn Sie etwas wünschen, rufen Sie nach mir.«

»Gibt es ein Bad?«

»Ja, Madam, im Gang, sogar mit Wasserklosett.« Ich deutete zum Ende des Korridors, wo sich neben der Tür ein kleines Fenster in der Dachschräge befand.

»So fortschrittlich?«

»Ja.« Ich strahlte. Otto hatte sein ganzes Geld in die Hand genommen, um die Herberge zu renovieren. »Am Wasser für die Eimer wird es uns in dieser Nacht nicht mangeln. Das Klosett geht über den Kanal direkt in den Fluss.«

»Scheinst ein aufgeweckter Junge zu sein. Wie heißt du?«

»Theodor, aber Sie können mich gern Theo nennen«, sagte ich stolz und reckte die Brust heraus.

 

Später in der Nacht, nachdem alle Gäste in ihren Zimmern verschwunden waren und auch Otto, Sigrid, Wienke, unsere Köchin und der Knecht sich in ihre Kammern zurückgezogen hatten, räumte ich das Geschirr im Schankraum weg, löschte sämtliche Lampen, machte das Gasthaus dicht und marschierte im Licht des letzten Kerzenständers ins obere Stockwerk zu meiner eigenen Schlafkoje, die nicht größer als ein Mäuseloch war.

Das Gewitter hatte nicht nachgelassen. Im Gegenteil. Das Heulen des Sturms nahm sogar noch zu, und die Donau schwoll zu einer gewaltigen Breite an. Von der Steinbrücke waren nur noch drei gemauerte Steher und ein halber Bogen zu sehen, die der Flut und den mit Wutgebrüll ans Ufer schlagenden Wellen trotzten. Im Licht der Blitze wirkte das schmutzig aufgeschäumte Wasser, das beängstigend tiefe Strudel bildete, bedrohlich schwarz.

Was mir jedoch noch mehr Sorgen bereitete, war das Dach der Herberge. An einigen Stellen tropfte es schon durch die Decke. Einige Schindeln mussten bereits fehlen. Der Dachstuhl füllte sich langsam mit Wasser, die Balken quollen auf, und an den Wänden lief die braune Suppe herab. Was immer der Regen vom Dachboden herunterspülte – Moos, Teer, Harz, Insekteneier, Larven, Mäusekadaver oder Sägespäne –, roch entsetzlich nach Moder. Ich stellte unter den undichten Stellen im Gang Eimer auf und legte Lappen hinein, damit der blecherne Klang der Tropfen unsere Gäste nicht weckte. Andererseits glaubte ich kaum, dass bei diesem Sturm überhaupt jemand ein Auge zumachen konnte.

Als ich gegen ein Uhr nachts eine letzte Runde durchs obere Stockwerk unternahm, um die restlichen Kerzen zu löschen, hörte ich hinter der Tür zu Samuel Taylor Coleridges Zimmer seltsame Geräusche, wie die eines Ertrinkenden, der verzweifelt nach Luft japste. Unwillkürlich dachte ich an die Legende vom alten Seemann. Mein Herz schlug mir sogleich bis zum Hals, ich presste das Ohr an die Tür, hielt den Atem an und lauschte. Sollte ich hineingehen? Doch im nächsten Moment, als ich ein lustvolles Stöhnen hörte, fiel die Anspannung von mir ab. Was ich anfangs für einen panischen Anfall gehalten hatte, war in Wahrheit bloß zügellose Erregung gewesen. Mr Coleridge jauchzte auf, das Bett knarrte. Ich musste schmunzeln. Dieser alte Lüstling. Von wegen Schreiben. Wer war wohl bei ihm? Die prüde Miss Peabody wohl kaum. Unwillkürlich dachte ich an Mrs Shelley, und der Gedanke daran brachte mein Blut in Wallung. Womöglich hatten sie sich nachts heimlich …

Der Schatten einer Gestalt unmittelbar neben mir ließ mich herumfahren.

»Sie?«, entfuhr es mir.

Im Kerzenschein sah ich Mrs Shelleys Gesicht. Sie musste soeben ihr Zimmer verlassen haben. Sie trug eine Haube und einen Morgenrock. Aus verschlafenen Augen blickte sie mich an. »Hörst du das auch?«

Ich nickte. Mein Herz schlug höher. Dann war es also doch Miss Peabody. Nun wechselte Mr Coleridges Jauchzen in ein erbärmliches Stöhnen, als wände er sich unter höllischen Schmerzen.

»Sieh nur.« Mrs Shelley deutete auf den Boden.

Ich hielt den Kerzenständer weg, sodass der Schein auf die Holzbretter fiel. Unter dem Türspalt zu Mr Coleridges Zimmer lief Wasser in den Gang. Langsam breitete sich eine hauchdünne Lache aus.

»Hier stimmt etwas nicht«, flüsterte Mrs Shelley.

»Ich hole den Ersatzschlüssel …«, sagte ich, doch sie hatte bereits die Hand auf der Klinke und drückte die Tür auf. Mr Coleridge hatte gar nicht abgesperrt.

Wir traten ein, und noch bevor wir sehen konnten, was in dem Raum vor sich ging, roch ich den ekelhaften Gestank von brackigem Wasser. Zugleich spürte ich, dass ich mit den Schuhen in einer Wasserlache stand.

Mrs Shelley griff zur Petroleumlampe auf der Kommode und entzündete den Docht an meiner Kerze. So standen wir nebeneinander und starrten auf das, was sich vor uns im trüben Schein darbot.

Mr Coleridge lag auf dem Rücken in seinem Bett, Arme und Beine von sich gestreckt. Eine Frau saß auf ihm. Splitternackt, dünn und mit völlig weißer, wie vom Mondschein beleuchteter Haut. Es war nicht Miss Peabody. Diese Frau war mindestens achtzig Jahre alt, oder noch älter. Ich kannte sie nicht.

Sie hatte spindeldürre Arme. Im Kerzenschein sah ich, wie sie sich kurz zu mir drehte, sich dabei mit geschlossenen Augen auf Mr Coleridge bewegte und zugleich ihre Finger ins Laken krallte.

Für einen Moment war ich unsicher, ob es wirklich eine Frau war. Andererseits musste es so sein, denn im trüben Licht von Mrs Shelleys Lampe sah ich ihre dünnen Brüste und das lange weiße, schüttere Haar, wie von einer Greisin.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Mrs Shelley leise näher ans Bett trat und die Lampe hob. Allerdings vermochte ich nicht zu sagen, wie sie auf diesen widernatürlichen Akt reagierte, da ich selbst gebannt zum Bett starrte.

Die Verrenkungen der Frau sahen so surreal aus. Je mehr sie sich bewegte, desto entsetzlicher stöhnte Mr Coleridge auf, und jedes Mal, wenn sie den Mund weit öffnete, drangen abscheuliche dumpfe, hohle Geräusche aus ihrem Inneren hervor. Mein Atem stockte. Während der Mann schließlich verstummte, gab die Frau nun seltsame gurgelnde und glucksende Töne von sich, als würde sie ertrinken. Doch dann merkte ich, dass sie etwas heraufwürgte.

Mrs Shelley hob die Lampe. »Was zum Teufel?«, entfuhr es ihr.

Die Frau drehte abrupt den Kopf zu uns, riss die kleinen schwarzen Augen auf und sprang im gleichen Moment von Mr Coleridge herunter. Er reagierte nicht mehr. Seine Augen starrten reglos zur Decke. Seine trüben Pupillen reflektierten nur noch das Licht der Petroleumlampe. Er … er wirkte völlig leblos.

Auf allen vieren kroch die Frau nun rückwärts über den Boden, wie eine Spinne auf dürren Beinen. Dabei schabten ihre Fingernägel über den Holzboden.

Mit zitternder Hand hob ich den Kerzenständer höher, um mehr sehen zu können. Die Frau lief verkehrt herum, mit dem Kopf nach unten und dem Bauch nach oben. Sie hatte keinen Nabel. Und dann sprang sie auf die Wand und lief mit ihren dürren Armen und Beinen über die Bretter. So schnell, dass ich unwillkürlich ein paar Schritte zurückwich.

Dabei bewegten sich die langen Haare der Frau wie ein weißer Vorhang im Wind. Während ich sie immer noch anstarrte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Mrs Shelley neben dem Bett versuchte, einen Puls an Mr Coleridges Hals zu fühlen.

Nun drehte die Frau an der Wand den Kopf. Wasser lief ihr dabei aus dem Mund, das sich auf den Boden ergoss. Ebenso quoll Seetang heraus, der klatschend zu Boden fiel.

Dann machte die Frau einen Satz auf das Waschbecken. Das Blech schepperte, sie zwang sich durch die Öffnung und verschwand durch das enge Rohr.

»Haben Sie das …?«, stammelte ich und schluckte, »… das gesehen?« Ich blickte zu Mrs Shelley.

Sie sah auf. »Wohin ist die Frau verschwunden?«

Ich deutete zum Waschbecken.

»Ist sie durch die Tür nach draußen?«

»Nein«, kreischte ich. »Sie ist durch dieses Rohr geschlüpft!«

»Was erzählst du da?«

»Ich … ich hole Hilfe.« Mit weichen Knien wandte ich mich um, stolperte aus dem Zimmer und lief durch den Gang zu Ottos Kammer. Ohne zu klopfen, riss ich die Tür auf.

In der Erwartung, eine Schimpftirade oder Standpauke zu hören, schirmte ich die Flamme des Kerzenständers mit der Hand ab und lief zum Bett. Otto lag neben Sigrid, zwischen ihnen befand sich die kleine Wienke. Nur ihre Köpfe ragten unter der Decke hervor. Keiner der drei bewegte sich, niemand reagierte, niemand fuhr hoch.

»Otto?«, flüsterte ich.

Erst jetzt nahm ich den Gestank von moderigem Seetang wahr. Auch hier war der Boden nass. Ich blickte zur Zimmerdecke, aber von oben tropfte es nicht herab. Das Wasser musste von woanders hereingekommen sein. Automatisch sah ich zum Waschbecken. Von dort führte eine Spur, die im Kerzenschein feucht glänzte, direkt zum Bett. Und im Bett lagen Otto, Sigrid und ihre Tochter eng umschlungen.

Ich riss die Decke weg. Ein erbärmlicher Gestank nach Fischkadaver schlug mir entgegen. Ihre Körper waren miteinander zu einer bizarren menschlichen Form verschmolzen. Ihre Unterleiber schienen zu fehlen, aber Genaueres konnte ich nicht erkennen, denn das, was ich sah, wurde von Muscheln und graugrünem Seegras bedeckt. Sie waren tot. Ich würgte und erbrach mich auf den Boden.

Während sich mein Magen mehrmals umstülpte, wankte ich aus dem Raum und riss die Tür zum nächsten Zimmer auf. Die Köchin und der Knecht waren ebenfalls tot. Genauso eingehüllt in faulige grüne Algen in ihrem nassen Bett, das nach brackigem Abwasser stank.

Ich stürzte aus dem Zimmer und holte tief Luft. »Das ist alles nur ein Albtraum … alles nur ein böser Traum … eine schreckliche Fantasie … nichts davon ist wahr … du träumst nur … du fantasierst … du …«

Eine schallende Ohrfeige traf mich. Augenblicklich brannte meine Wange. Ich sah in Mrs Shelleys ernstes und betroffenes Gesicht. »Du träumst nicht«, zischte sie. »Reiß dich zusammen.«

Neben ihr stand Baron Bulwer-Lytton. Ebenfalls im Morgenrock. Auch er hielt eine Petroleumlampe in der Hand. Seine Miene war genauso besorgt.

Als mir das Wachs meiner Kerze auf den Handrücken tropfte, zuckte ich zusammen und schrie auf. Danach war ich wieder bei klarem Verstand. Rasch stellte ich den Kerzenständer ab und entzündete die Petroleumlampe, die im Gang an der Wand hing.

»Vielleicht hat es noch mehr erwischt«, flüsterte Mrs Shelley.

»Mr Dickens’ Zimmer ist gleich hier.« Ich deutete zur gegenüberliegenden Tür.

Ohne zu zögern, trat der Baron die Tür ein. Das Schloss flog mitsamt den Holzsplittern aus dem Rahmen, die Tür krachte gegen die Kommode. Mrs Shelley und der Baron stürmten ins Zimmer. Ich folgte ihnen.

Mr Dickens’ Kammer bestand nur aus einem Bett und einem Schrank. Das Fenster im Erker der Dachschräge stand offen, die Flügel klapperten im Wind, und der Sturm heulte schauerlich durch den Raum.

Im Schein der Lampen war etwas großes weißes Dünnes und Krummbeiniges blitzschnell über die Wand gelaufen und aus dem Fenster in die Nacht verschwunden. Im Lichtschein waren noch die Spuren der Krallen im Holz zu sehen.

Auch hier roch es faulig nach Algen, Seeschlamm und Muscheln. Mr Dickens lag röchelnd im Bett. Er warf sich fiebrig herum, dabei klebte ihm sein langes gewelltes Haar schweißnass auf der Stirn. Es war die Stunde seines Todes. Verzweifelt rang er um sein Leben.

Soviel ich erkennen konnte, hatte er keine schweren Verletzungen erlitten, aber sein Geist kämpfte gegen den Wahnsinn, der bereits nach ihm gegriffen hatte. Eingewickelt in nasse matschige Pflanzen, riss er sich bemooste Muscheln und andere Krustentiere vom Körper, die wunde Stellen auf der Haut hinterließen.

Während der Baron das Fenster schloss und verriegelte, kümmerte sich Mrs Shelley um ihn.

»Er befindet sich im Schockzustand, aber er wird es überleben«, sagte sie erleichtert. Dann sah sie mich an. »Was geht hier vor?«

»Ich … weiß es nicht …«

Anscheinend glaubte sie mir, und bestimmt wusste sie, dass niemand die Antwort darauf kannte, denn immerhin waren die Besitzer der Herberge ebenso gestorben wie die Köchin und der Knecht; und hätten sie gewusst, was hier vorging, wären sie bestimmt schon längst geflüchtet.

»Ich hole Hilfe«, rief ich, »und warne die anderen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, lief ich aus dem Zimmer und stürmte, ohne anzuklopfen, in den nächsten Raum.

Es war die Unterkunft der beiden Messieurs Hugo und Dumas. Sie waren befreundet und teilten sich ein Zimmer. Eine Lampe brannte, sie waren bereits wach und schlüpften aufgeregt in ihre Kleidung.

»Wir haben seltsame Geräusche gehört. Was passiert hier?«, fragte Monsieur Hugo, der besser Englisch sprach als Dumas.

Rasch erklärte ich, was vorgefallen war, und sie glaubten mir, ohne meine Worte anzuzweifeln. Möglicherweise hatten sie selbst kurz zuvor etwas Merkwürdiges in ihrem Zimmer oder unter dem Türspalt gesehen.

»Ich bin eine klein wenig ausgebildet in die Medizin«, sagte Dumas in gebrochenem Englisch mit starkem französischem Akzent. »Ich versuche zu helfen.« Während er geistesgegenwärtig eine Handvoll Instrumente in eine Tasche stopfte und zu Dickens’ Zimmer lief, packte mich Hugo an den Schultern.

»Wo finden wir frisches Wasser, Seife und Handtücher?«

»Kommen Sie mit.« Ich führte ihn zum Badezimmer am Ende des Flurs.

Der Raum war klein und bestand aus einem Schrank mit Handtüchern, Seife und Lappen sowie Eimern und einer mechanischen Pumpe neben einem mit Holz verkleideten Waschbecken. Während ich alles, was mir nützlich erschien, einpackte, schrie Hugo auf.

»O mon Dieu!«

Ich fuhr herum und sah, wie etwas mit langen Armen aus dem Waschbecken zu klettern versuchte. Hugo schlug den Holzdeckel darauf und klemmte einen aschfahlen dürren Arm ein, der wild um sich schlug und mit länglichen Fingern versuchte, nach ihm zu schnappen.

Hugo stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht auf den Deckel. »Hilf mir, mon ami!«, schrie er.

Ich war sofort zur Stelle und warf mich ebenfalls darauf. Wir klemmten das Ding ein. Die Geräusche, die es ausstieß, klangen hohl. Es fauchte und quietschte erbärmlich. Anscheinend hatten wir es verletzt. Als wir den Druck ein wenig lockerten, schlüpfte der feuchte Arm durch den Spalt und verschwand nach unten.

»Que diable? Was zum Teufel war das?« Hugo wollte die Abdeckung aus Holz vorsichtig anheben, um in den Spalt zu schauen.

»Nein!«, rief ich, doch er ließ sich nicht davon abhalten.

Er hob den Deckel, doch das Ding war entwischt. Wir starrten in das schwarze Loch des Abflusses, der höchstens zehn Zentimeter breit war und aus dem ein bitterer Gestank nach feuchtem Moos und totem Fisch zu uns heraufdrang.

»Jésus Christ«, flüsterte Hugo. Dann packte er die Handtücher zu einem Stapel und folgte mir zu Mr Dickens’ Zimmer.

Mittlerweile waren auch Herr Andersen und Mr Hawthorne zu uns gestoßen, die nun im Gang standen. Monsieur Dumas kümmerte sich indessen fürsorglich und geschickt um Mr Dickens, während Hugo ihm alles reichte, was wir im Bad gefunden hatten.

Herr Andersen sah sich besorgt um. »Geht es Ihnen allen gut? Ist sonst noch jemand verletzt?«, fragte er in perfektem Englisch.

»Ja, danke … äh, ich meine, nein, niemand verletzt«, antwortete Mr Hawthorne verdattert. »Woher kennen Sie unsere Sprache so gut?«

Andersen schlug den Kragen seines Morgenmantels hoch und ließ die Hände in den Ärmeln verschwinden, da ihn offenbar fröstelte, während er sich besorgt im Gang umsah. »Ich habe die Lateinschule in Helsingør und anschließend die Universität Kopenhagen besucht … ich habe vieles studiert, aber so etwas wie das hier … was vorhin durchs Haus gejagt ist … habe ich noch nie gesehen.«

Nachdem alle eine Weile lang aufgeregt durcheinandergeredet und sich schließlich wieder beruhigt hatten, kehrte endlich Stille ein.

»Mr Dickens ist halbwegs stabil«, erklärte Mrs Shelley erschöpft und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Es blitzte, krachte und goss noch immer in Strömen – und mittlerweile regnete es sogar an mehreren undichten Stellen ins Haus.

Ich sah mich um. Wir waren fast komplett. Nur Miss Palmer Peabody und Mr Poe fehlten, und in dem Moment, da mir dies aufgefallen war, kam Miss Peabody auch schon schnaufend und verängstigt mit einer Petroleumlampe vom unteren Stockwerk die Treppe herauf.

»Oh, was für ein Glück, dass ich Sie alle hier treffe. Mr Poe …«, keuchte sie, während sie sich mit den Händen auf den Knien abstützte, »… Mr Poe wurde entführt.«

Wir hielten inne und starrten sie an. Sogar Monsieur Dumas kam aus Mr Dickens’ Zimmer.

»Was genau ist passiert?«, fragte Mrs Shelley gefasst.

»Ich hörte Geräusche und trat auf den Gang. Die Tür zu Mr Poes Zimmer stand offen, aber es war leer. Dann sah ich etwas in der Küche. Ich ging hin, und da bemerkte ich ein Ding. Es zerrte den armen Mr Poe durch den Raum. Ich leuchtete mit der Lampe hinein … und dann war es weg … einfach weg … wie vom Erdboden verschluckt.«

»Gibt es in der Küche einen Abfluss?«, fragte mich Mrs Shelley.

Ich nickte. »Einen großen Ausguss, der in den Kanal zum Fluss führt.«

Alle schwiegen. Uns war klar, was geschehen war. Nur Miss Peabody schien nicht zu verstehen. »Was ist da passiert? Was war das? Das Ding sah aus wie eine Frau mit scheußlichen langen …«

»Wir haben es auch gesehen«, unterbrach Mrs Shelley sie. »Es gibt mehrere davon.«

»Woher zum Teufel kommen die?«, kreischte Miss Peabody.

»Vielleicht tritt einmal alle unheiligen Zeiten eine bestimmte Planetenkonstellation ein, woraufhin sich das Tor zu einem kranken Universum öffnet«, witzelte Baron Bulwer-Lytton, doch niemand hielt seine Erklärung für komisch.

»Möglicherweise«, antwortete Mr Hawthorne ernst, und wir alle sahen ihn verblüfft an.

»Woher kommen die?«, wiederholte Miss Peabody.

Keiner von uns wusste eine Antwort darauf, bis Mr Hawthorne schließlich tief Luft holte. »Wie Sie sicherlich bemerkt haben, habe ich mich während der Reise ein wenig mit der Geschichte des Kaisertums Österreich befasst«, sagte er zu Miss Peabody. »Nun, da gibt es die Legende, besonders in dieser Gegend, dass …« Er machte eine Pause.

»Nun reden Sie schon, mon Dieu!«, rief Hugo.

»Sich einmal alle hundert Jahre die Donauweibchen aus den Fluten erheben«, vervollständigte Hawthorne mit schriller Stimme. Beinahe wirkte es so, als wäre er erleichtert, endlich das laut ausgesprochen zu haben, was ihn bedrückte. Anscheinend hatte er befürchtet, dass wir uns über ihn lustig machen könnten, doch angesichts der Dinge, die wir in den letzten Stunden erlebt hatten, lachte niemand.

»Sie kommen angeblich über das Ufer an Land«, fuhr er leise fort, »um mit den Menschen zu spielen und ihnen Muscheln zu schenken …«

»… bevor sie einige davon töten und entführen«, ergänzte Herr Andersen blass.

»Und spielen wollen die ganz bestimmt nicht«, fügte Mrs Shelley trocken hinzu.

»Vermutlich sind sie ein wenig in die Jahre gekommen, denn um liebreizende Wasserjungfrauen handelt es sich bei diesen Geschöpfen nicht gerade«, sagte Baron Bulwer-Lytton bitter.

Hugo warf mir einen wissenden Blick zu. »Sieht nicht so aus, als wollten sie freiwillig so bald wieder in die Tiefen des Stromes zurückkehren, mon ami.«

Mr Hawthorne nickte. »Ich fürchte, Sie alle haben recht … so schnell werden sie nicht verschwinden, geschweige denn den unglücklichen Mr Poe freiwillig wieder herausgeben.«

»Woher nehmen Sie dieses Wissen, Mr Hawthorne?«, fragte Miss Peabody verängstigt.

»Ich bin nicht stolz auf das, was die Vergangenheit meines Ururgroßvaters betrifft«, seufzte er. »Aber er war immerhin einer der Richter bei den Hexenprozessen von Salem 1692. Unsere Familie pflegt eine lange Tradition, was das Unheimliche betrifft, und von daher haben mich solche Legenden schon immer fasziniert. Vielleicht lastet auch ein schrecklicher Fluch, von dem wir nichts wissen, auf dieser Gegend – ein Fluch, der Unheil über den Ort bringt.«

»Bei Gott, ich schwöre …«, sagte Miss Peabody feierlich, »… wenn Sie recht haben und wir diese Nacht überleben und Mr Poe finden, dann komme ich Ihrem Wunsch nach und werde Ihre Bücher veröffentlichen, Mr Hawthorne.«

»Aberglaube oder nicht«, warf Hugo entschieden ein. »Wir müssen etwas unternehmen.«

»Wir müssen versuchen, Mr Poe zu finden«, sagte ich.

»Der Junge hat recht«, pflichtete Mrs Shelley mir bei.

»Dort hinunter … in den Kanal?«, fragte Herr Andersen mit leicht zitternder Stimme. »Bei diesem Wetter?«

»Fürwahr, dort hinunter.« Monsieur Hugo krempelte die Ärmel hoch.

Andersen riss entsetzt die Augen auf. »Das ist nicht Ihr Ernst?«

»Allerdings! Oder sehe ich aus, als würde ich scherzen? Ich schreibe seit über einem Jahrzehnt Schauergeschichten.« Hugo wandte sich an uns alle. »Glauben Sie mir, Messieurs et Mesdames, mich kann nichts so leicht aus der Fassung bringen. Brechen wir auf.«

Und das taten wir in jener Nacht.

 

Während diejenigen von uns, die bereits ihren Schlafrock trugen, sich wieder ankleideten, holten Monsieur Hugo und ich reichlich Petroleumlampen aus Ottos Vorratskammer, dazu einige Ölmäntel sowie Schrotflinten, Gewehre und Munition aus dem Waffenschrank.

Monsieur Dumas hatte seine eigene Handfeuerwaffe dabei. »Den Toten können wir nicht mehr helfen«, sagte er, »aber den Lebenden.« Er beschloss, allein im Zimmer bei Mr Dickens zu bleiben, der immer noch fieberte und nicht in der Lage war, sich von seinem Bett zu erheben.

Eine weitere Kuriosität jener Nacht. Während nun der Franzose bei dem Engländer wachte, auf ihn achtgab und ihn gegebenenfalls mit dem eigenen Leben beschützen wollte, brach der Rest von uns auf, um Mr Poe zu finden.

Und so gingen wir zuerst ins untere Stockwerk. Wir waren zu siebt. Mrs Mary Wollstonecraft Shelley war die Älteste. Unerschrocken übernahm sie die Führung. Ich schritt an ihrer Seite voran. Baron Edward Bulwer-Lytton und Victor Hugo folgten uns. Hans Christian Andersen, der keine Waffe nehmen wollte und stattdessen unsere Lampen trug, befand sich in der Mitte. Und schließlich bildeten Miss Elizabeth Palmer Peabody und Mr Nathaniel Hawthorne den Abschluss.

Nach einem kurzen Blick in die Küche versicherten wir uns, dass der Abfluss in den Kanal groß genug war, dass ein Mensch von der schmächtigen Statur Mr Edgar Allan Poes hindurchgezogen werden konnte.

»Ich weiß, wohin der Kanal führt«, sagte ich. »Wir müssen nach draußen. Dort ist der Zugang zum Keller, durch den es zum Kanal geht.«

Die anderen folgten Mrs Shelley und mir. Kurz darauf standen wir vor dem Eingang der Herberge im Blitzlicht des Gewitters. Der Regen hatte zum Glück ein wenig nachgelassen, ebenso der Sturm. Vereinzelt grollte noch der Donner.

Niemand aus dem Dorf war zu sehen. Wir standen allein auf weiter Flur. Besorgt blickte ich zur Donau, die zu einem gewaltigen Strom angeschwollen war, und sah, wie die Wellen am anderen Flussufer an den Damm schlugen.

»Eine Jahrhundertsturmflut«, flüsterte Herr Andersen ehrfürchtig neben mir.

Ich reckte den Hals und lauschte. Im Krachen des Donners war das Wiehern eines Pferdes zu hören. Die Stalltür des Gehöfts stand offen und schlug im Wind auf und zu. Die Koppeln waren leer. Nur die Kutschen standen noch darin. Die Pferde waren allesamt ausgerissen. Keine Ahnung, wohin. Nur ein letzter weißer Schimmel lief an uns vorbei in Richtung Fluss, dessen Ufer einen Steinwurf von uns entfernt lag.

Der Kutscher, der Miss Shelley und ihre beiden Begleiter hergebracht und im Stall übernachtet hatte, kam nun ebenfalls heraus und wollte das Tier einfangen.

»Nein, Benson!«, rief Miss Shelley, doch ihre Worte drangen nicht bis zu ihm durch.

Er lief durch die Nacht, kam dem Ufer zu nah, und im nächsten Moment rutschte er mitsamt dem Hang ab und wurde vor unseren Augen in den reißenden Strom gerissen.

»Wir müssen ihm helfen«, schrie ich und wollte loslaufen, doch Mrs Shelley legte ihre Hand fest auf meine Schulter.

Im nächsten Moment war der Kutscher schon viele Meter flussabwärts getragen worden. Nur ein Arm ragte noch aus dem Wasser.

»Wir können ihm nicht mehr helfen«, sagte sie. »Nur der Herrgott kann das.«

Indessen hatte der Schimmel seine Richtung geändert, lief nun an uns vorbei und verschwand in der Nacht, hügelaufwärts, weg vom Wasser. Das arme Tier war abgemagert, sah aus wie ein Gerippe. Außerdem hatte ich kein Hufschlagen vernommen. Der Gedanke daran, dass dieses weiße Pferd ein Symbol des Unheils für uns bedeuten konnte, ließ mich erstarren.

»Wir müssen weiter«, drängte Mrs Shelley. »Theo, wo ist der Abgang zum Kanal?«

Ich nickte, wischte mir das Regenwasser aus dem Gesicht und führte unsere Gruppe ums Haus herum. An der hinteren Seitenwand des Gasthauses befand sich die zweiflügelige Holzklappe an der Wand, hinter der sich die Steintreppe zum Kohlenkeller befand. Soviel ich gehört hatte, war hier auch der Weg zum Kanal, der direkt zum Fluss führte.

Monsieur Hugo riss an der Kette. »Merde, abgesperrt. Zurücktreten, Messieurs et Mesdames!« Wir machten einen Schritt zurück. Hugo legte den Kolben der Flinte an die Schulter und schoss das Schloss auseinander.

Nachdem wir die Kette durch die Ösen gezogen hatten, rissen wir den Verschlag auf und stiegen hintereinander die Treppe hinunter. Es war feucht und muffig. Zuerst gelangten wir in das Gewölbe des Kohlenkellers, dann in jenes des Weinkellers, und danach führte ein schmaler Rundbogen in einen weiteren Raum, der wie ein ehemaliger Kerker wirkte.

Hier stand das morastige Wasser bereits knöcheltief.

Die Holzregale waren marode und von Mäusen durchlöchert. Ich ließ das Licht der Lampe über alte in Leder gebundene Bücher, Kräuterschalen, verstaubte Fläschchen und Tränklein wandern. Was hatte Otto hier nur gelagert? All das Zeug wirkte beklemmend und sah nach Teufelskult aus.

An der gegenüberliegenden Wand befanden sich Lederriemen, Ketten, Werkzeuge und ein verrosteter Schraubstock, der wie aus der Zeit der Inquisition wirkte.

»Dort entlang!«, rief ich und schwenkte die Lampe zu einem weiteren Rundbogen, der tiefer hinabführte. Mrs Shelley und die anderen folgten mir, und so gelangten wir über eine schmale Treppe in den Abwassertunnel.

Das Plätschern hallte an den Wänden wider, und vom Ende des Tunnels drangen seltsam wispernde Geräusche an unsere Ohren. Durch das dicke Gemäuer war der Donner, der über unseren Köpfen krachte, allerdings jetzt nur noch dumpf zu hören. Es stank nach Kot, Urin und Moder. Also waren wir auf dem richtigen Weg. Wenn Mr Poe durch den Abfluss der Küche gezerrt worden war, dann musste er unweigerlich hier durchgekommen sein. Wir folgten dem Lauf des Wassers.

»Stimmt die Richtung?«, fragte Herr Andersen leise.

»Jedenfalls bewegen wir uns zum Fluss«, antwortete Mr Hawthorne.

Mrs Shelley hielt ihre Flinte in der Armbeuge und ließ mit der anderen Hand das Licht der Lampe über den Boden wandern. Das Wasser war mittlerweile wadentief, kleine Wellen schwappten uns entgegen. »Hier geht’s zum Fluss«, bestätigte sie. »Wenn der Pegel weiter steigt, wird die Donau das gesamte Gewölbe überfluten.«

»Und wir kommen nicht mehr hinaus«, rief Andersen.

»Halten Sie den Mund«, knurrte Miss Peabody. »Und fuchteln Sie mir nicht ständig mit der Lampe vor dem Gesicht herum.«

Nach wenigen Metern erhellte ein zuckender Blitz die Wände des gebogenen Gewölbes. Das musste der Ausgang zum Fluss sein. Und tatsächlich erblickten wir nach der nächsten Biegung einen großen Rundbogen.

Wir standen immer noch wadentief im Wasser und befanden uns auf einem Plateau aus großen unebenen Steinplatten, von wo aus wir direkt auf den Fluss blicken konnten. An der Mauer hing ein längliches Holzboot, die Zille des Fährmanns, an einer Kette, und vor uns im grellen Blitzlicht türmten sich die eingestürzten Steher der Teufelsbrücke auf.

Es war eiskalt. Mich fror entsetzlich. Der Regen hatte nun ganz aufgehört, nur noch feiner Nieselregen schien zu fallen, doch stattdessen war Nebel aufgekommen. Feuchter, schmatzender, fetter Nebel, der schwer von oben herabdrückte und mit bleigrauen Schlieren über die Wellen waberte.

Einzelne Schwaden bewegten sich geisterhaft zu uns in das Gewölbe herein, als wollten sie mit langen gierigen Fingern nach uns greifen. Und in diesem grauen Dunst sahen wir Mr Poe. Gleichzeitig hielten wir unsere Lampen in die Höhe und hörten ein mehrstimmiges Flüstern. Einige dieser weiblichen Wesen klebten an der Decke, die sich in einem weiten Bogen über uns spannte, kauerten in den Ritzen und krochen nun, geblendet vom Licht, mit ihren langen Gliedmaßen über die Steine und sprangen ins Wasser.

»Sie wollen ihn in den Fluss zerren!«, rief Hawthorne, der anscheinend als Erster von uns allen erkannte, was soeben vor unseren Augen geschah.

Wir waren gerade zur rechten Zeit gekommen. Die Wesen – ich konnte nicht genau sagen, wie viele es waren, da ihre weißen Körper wie Schlangen ineinander verwoben waren –, allesamt knöchern und dürr, mit langen Haaren und krummen Armen, wollten Mr Poe mit sich in die Fluten reißen. Fauchend erhoben sie sich nun aus dem vernebelten Wasser, richteten sich zur vollen Größe auf und starrten uns angriffslustig an.

»O Herrgott, nimm mich«, rief Mr Poe tapfer mit schwacher, krächzender Stimme. »Verschone die anderen …«

Er lebte noch, kam mir erleichtert in den Sinn. Und er wollte sich für uns opfern.

»Nein – das lasse ich nicht zu!«, rief Mrs Shelley mit fester Stimme, die dumpf in dem Gewölbe widerhallte. »Lassen Sie den Mann los!«

Da wir nicht gleichzeitig die Lampen halten und die Gewehre anlegen und schießen konnten, warf Mrs Shelley ihre Lampe ins Wasser, wo sie mit einem Zischen erlosch, und legte die Flinte an. Allerdings zögerte sie.

An ihrem angespannten Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie nicht nur fürchtete, irrtümlich Mr Poe zu treffen, sondern ihr in diesem Moment bewusst wurde, gar nicht in der Lage zu sein, auf ein Lebewesen zu schießen.

Diese Geschöpfe waren möglicherweise nicht menschlich, aber trotzdem – wie verstörend ihr Anblick auch wirken mochte – lebende Wesen. Jedenfalls ließ Mrs Shelley ihre Waffe sinken.

Und auch keiner der anderen – mich eingeschlossen – brachte es übers Herz, auf eine dieser Kreaturen zu schießen.

So sahen wir tatenlos zu, wie sie Mr Poe tiefer ins Wasser zerrten, bis sie fast das Ufer erreichten, wo die reißende Strömung an uns vorbeipreschte.

Mr Poes Blick war gehetzt, angsterfüllt und dem Wahnsinn nah. Er wusste, er würde rasch sterben, sofern diese Geschöpfe aus dem Wasser seiner Seele gnädig waren – aber endlose Höllenqualen erleiden, wenn sie ihn am Leben ließen und dorthin brachten, von wo es für ihn kein Zurück mehr gab.

»Wir müssen doch etwas unternehmen …«, keuchte Herr Andersen nun verzweifelt.

»Ich … kann nicht«, gab Mrs Shelley kraftlos zu und ließ die Schultern sinken.

Wir anderen waren wie gelähmt, zu schrecklicher Untätigkeit verdammt, und hatten in diesen Sekunden wohl zu viel damit zu tun, die Realität zu verarbeiten.

Plötzlich kroch etwas von hinten über unseren Köpfen an der Decke entlang, löste sich von den Steinen und sprang dem armen Herrn Andersen in den Rücken. Kreischend ließ er die Lampen fallen, die sofort erloschen, schlug um sich, packte das Ding an den Haaren und versuchte, es von sich herunterzuzerren. Dabei wurde das Wasser aufgewühlt, und je mehr er herumwirbelte, desto heftiger verbiss und verkrallte sich das Wesen in seiner Kleidung.

Wir anderen standen nur völlig erstarrt daneben und taten nichts, als wären wir heilfroh und dankten Gott, dass es nicht uns erwischt hatte.

»Beim leibhaftigen Satan, Klabautermann und allen Höllengeistern!«, rief plötzlich jemand hinter uns. »Zur Seite, mes amis!«

Ich blickte mich um, wankte zur Wand, stolperte über eine Steinplatte und fiel mit dem Gesäß ins Wasser. Hinter uns stand Monsieur Dumas. Er war uns gefolgt. Im Lichte unserer wenigen noch brennenden Petroleumlampen wirkte seine Miene verbissen. Er streckte den Arm mit seiner Handfeuerwaffe aus, zielte wie bei einem Duell und schoss.

Der Krach hallte in dem Gewölbe ohrenbetäubend. Ich wandte mich um und sah, wie das Ding kreischend von Herrn Andersen abließ.

Dumas schoss ein zweites Mal. Rauch biss in meinen Augen. Diesmal wurde jenes Geschöpf, das Mr Poe am nächsten stand und ihn am Arm hielt, getroffen und fiel zurück ins Wasser. Nun war Mr Poe zumindest aus den Fängen einer jener unmenschlichen Kreaturen befreit.

In der nächsten Sekunde feuerte Monsieur Hugo, gefolgt von Baron Bulwer-Lytton, Mr Hawthorne und Miss Peabody. Nun legte auch Mrs Shelley erneut an, schoss und traf. Es krachte unaufhörlich, bis meine Ohren klingelten und beißender Rauch den Tunnel vernebelte, in dem Wasser und Blut gleichermaßen bis zur Decke spritzten.

Ich habe in jener Nacht ebenfalls abgedrückt. Zweimal sogar. Jedoch absichtlich danebengezielt und in den Steinbogen geschossen. Wie ich an unseren Gesichtern ablas, war niemand von uns in dieser Nacht stolz auf das, was wir getan hatten. Aber wir hatten Herrn Andersen und Mr Poe gerettet.

Nachdem sich der Pulverrauch gelichtet hatte, kroch Mr Poe auf allen vieren durchs Wasser auf uns zu und sank geschwächt in Mrs Shelleys Arme, die ihn wie ein kleines Kind an ihren Busen drückte und ihm übers Haar strich.

»Ich brauche einen Drink«, murmelte Poe.

»Den brauchen wir wohl alle«, sagte Monsieur Hugo.

Nachdem wir unsere Flinten an die Wand gelehnt und die Lampen daran befestigt hatten, legten wir die Körper der toten Wasserfrauen übereinander in den schmalen länglichen Kahn. Zwei von ihnen lebten noch, bewegten sich, doch Hugo und Dumas, die zwei unerschrockenen Franzosen, fesselten ihre Körper mit der Kette ans Boot. Unterdessen holte Miss Palmer Peabody ein großes silbernes Kreuz unter ihrer Bluse hervor und legte es zu den Frauen ins Boot. »Möge Gott mit euch sein.«

»Oder wer auch immer …«, murmelte Herr Andersen und trat in einem Anfall von plötzlich aufkeimendem Mut das Boot mit einem kräftigen Stoß von sich. Sein Hemd war zerrissen, seine Haut zerkratzt, aber sonst schien er unverletzt zu sein.

»Auf dass ihr für immer verschwindet und nie wieder auftaucht, ihr grässlichen Nachtmahre«, ergänzte Mr Hawthorne.

In einem der letzten aufzuckenden Blitze in jener Nacht sahen wir, wie das Boot hinaus aufs Wasser trieb, hinein in die reißende Flut.

Entwurzelte Weidenstämme trieben auf der Wasseroberfläche an uns vorbei, ebenso Holzfässer, Balken mit Segelplanen und Teile von Stegen, die der Sturm mit sich gerissen hatte und die nun in den tosenden Wogen versanken. In der Ferne sah ich sogar, wie die losgerissene und gekenterte Persenbeug, jene Fähre, mit der Mr Poe bis nach Melk gereist war, in unheilvoller Schräglage am anderen Ufer wie ein Gespensterschiff an uns vorbeitrieb.

Doch trotz des reißenden Flusses und all des Treibguts, das an uns vorbeigespült wurde, schwamm die Zille mit den angeketteten Wasserkreaturen steuerlos flussaufwärts.

Nicht nur ich sah es. Wir alle sahen es. Das Boot trieb zwischen tückischen Wirbeln und gefürchteten Strudeln hinauf und entfernte sich stromaufwärts von uns, während alles andere vor unseren Augen hinabgetrieben wurde.

»O Gott …«, entfuhr es Mr Poe, dem vermutlich soeben klar wurde, welchem Schrecken er gerade noch entronnen war. Aber nicht nur er – wir alle waren mit Mächten aus unbekannten Sphären in Berührung gekommen.

Ob sich in jener Nacht wirklich ein Tor geöffnet hatte, wie Baron Bulwer-Lytton gemeint hatte, dieser Ort verflucht war, wie Mr Hawthorne angedeutet hatte, oder ob jene Sage von den alten Donauweibchen, die alle hundert Jahre aus den Fluten stiegen, um mit den Menschen zu spielen, tatsächlich einen Funken Wahrheit in sich barg, konnten wir in jener Nacht nicht herausfinden. Ich weiß es bis heute nicht – und will es auch nicht wissen.

Jedenfalls glaubte ich durch den Nebel zu erkennen, wie das Boot stromaufwärts im Dunst verschwand. Beschwören kann ich es allerdings nicht. Es könnte auch genauso gut sein, dass die Frauen weiter oben einfach nur unter den Wassermassen begraben wurden.

Wovor auch immer wir Mr Poe bewahrt hatten, jene Kreaturen hatten in dieser Nacht ihr geheimnisvolles Reich verlassen, die Seelen von Mr Samuel Taylor Coleridge und einer Handvoll Menschen in Aggstein zu sich geholt und waren schließlich wieder an ihren unheiligen Ort zurückgekehrt.

Erst viele Jahre später sollte ich erfahren, dass jene Nacht zweifellos die Geburtsstunde vieler unheimlicher Schreckensvisionen war, die seitdem auf Papier das Licht der Welt erblickten.

 

Und ja, auch ich bin Schriftsteller geworden. Mary Shelley hatte recht behalten. Viele Jahre später – 1851, um genau zu sein – schickte ich ihr mein erstes veröffentlichtes Buch. Sommergeschichten und Lieder hieß die Sammlung und enthielt unter anderem auch meine Novelle Immensee, auf die ich besonders stolz war. Mindestens genauso stolz wie darauf, meinen Namen endlich das erste Mal in voller Länge auf einem Buchdeckel zu sehen.

Leider weiß ich nicht, ob mein Buch sie noch rechtzeitig erreicht hat, denn wie ich später erfuhr, verstarb Mary Shelley Anfang des Jahres 1851. Aber ich bin sicher, dass sie längst über all die Jahre tief in ihrem Herzen wusste, dass mich meine Begegnung mit ihr zum Schreiben inspiriert hatte, ebenso wie unser damaliges gemeinsames unvergessliches Abenteuer in jener Nacht in Aggstein, in der wir Dinge gesehen hatten, die besser verborgen geblieben wären.

Iver Niklas Schwarz

Kilometer 267

Ob als Reiseveranstalter für diese Anthologie oder als Autor, dunkle Geschichten sind das Ding von Iver Niklas Schwarz. Am liebsten schleicht der gebürtige Göttinger *1981 durch die Grauzone zwischen Paranormalem und den Schrecken des wahren Lebens und haucht »Und-was-wenn-doch?« von hinten über die Schulter seiner Leserinnen und Leser. Nach rund drei Dutzend Kurzgeschichten und Storys für Escape-Games und Rätselthriller erscheint demnächst Ivers Romandebüt Kummersee. Die Liebe zum Horrorgenre hat ihn bereits in jungen Jahren gepackt:

»Schon als Kind war ich besessen von der wenig kindgerechten Comicumsetzung des Märchens ›Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen‹. Mit elf entdeckte ich dann eine Kiste voller Horror- und Sci-Fi-Romane, von meinen Eltern auf den Speicher verbannt. Ich begann zu lesen und wusste: Ich werde mal einer, der auszieht, das Fürchten zu lehren!«

Was ist Ihr schlimmster Albtraum?«

Sven zuckte zusammen. Er zog Emma an der Kapuze ihres Anoraks näher zu sich.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Philip.« Ein Namensschild am Sakkorevers bestätigte die Behauptung. »Oder Phil, wenn Ihnen das lieber ist.« Er streckte Sven die Hand entgegen.

»Sven. Rose«, stotterte Sven den eigenen Namen hervor wie einer seiner Schüler eine Gedichtinterpretation.

»Willkommen im Kfz-Paradies Göttingen!« Philip – oder Phil-wenn-Ihnen-das-lieber-ist – ließ Sven einen kräftigen Händedruck angedeihen. Zwei perfekte Zahnreihen im Unterhosenmodelgesicht des Verkäufers fügten sich zu einem Lächeln, das Eisberge schmelzen konnte. Es passte ebenso wenig zur Eingangsfrage wie der Geruch nach Kokosöl, den seine Haare verströmten.

Was ist Ihr schlimmster Albtraum?

Seltsame Art, ein Kundengespräch zu beginnen.

Der Kerl musste Svens Gedankenversunkenheit erkannt und sich regelrecht herangepirscht haben. Er schien kaum alt genug, um Auto fahren zu dürfen. Geschweige denn, welche an den Mann zu bringen.

»Und wie heißt du, junge Dame?« Phil-wenn-Ihnen-das-lieber-ist beugte sich hinab.

»Emma.« Svens Tochter lugte hinter dem Po ihres Vaters hervor. Sie umklammerte seine Schenkel so liebevoll wie brutal. »Aber ich bin nicht jung. Ich bin schon sechs!«

»Wirklich?« Phil-usw. grinste und zwinkerte Sven zu. »Ich sehe schon, du bist die, die hier das Sagen hat, nicht dein Papi.«

Emma kicherte verschämt und quetschte noch ein wenig fester.

Der Verkäufer richtete sich wieder auf. »Also, Sven – ich darf Sie Sven nennen? –, was ist Ihr schlimmster Albtraum? Das Übelste, das Sie sich vorstellen können. Lassen Sie hören!«

»Ich verstehe nicht –«

Philip legte Sven eine Hand ins Kreuz und schob ihn und Emma vorwärts. Auf das Objekt der Begierde zu.

»Wissen Sie, Sven, für mich sehen Sie wie ein Mann aus, dessen schlimmster Albtraum es ist, seiner Familie könne etwas zustoßen.« Kunstpause. »Und Sie sehen aus wie jemand, der es sich etwas kosten lässt, dass dieser Albtraum niemals Wirklichkeit wird. Was Sie suchen, ist eine mobile Lebensversicherung! Habe ich recht?«

Sven gab den unbewusst angehaltenen Atem mit einem Zischen von sich. Er antwortete mit dem dankbaren Nicken, das man jemandem entgegenbrachte, von dem man sich etwas verkaufen lassen wollte, was man eigentlich nicht brauchte. Wie das glänzende Ungetüm auf der Schaubühne – zweieinhalb Tonnen Stahl und Technik irgendwo zwischen Automobil und Panzer.

Für die nächste Viertelstunde schlugen sie sich Argumente um die Ohren, warum es für einen Lehrer aus der Vorstadt sinnvoll war – geradezu lebensnotwendig! –, ein knappes Jahresgehalt in einen Audi Q7 zu investieren. Marie wusste schon, wieso sie sich dieses männliche Selbstvergewisserungsritual erspart hatte. Svens Frau hatte bereits vor Wochen ein augenrollendes Von-mir-aus gemurmelt. Den entscheidenden Ausschlag zum Kauf gab am Ende jedoch Emmas ehrfürchtiger Gesichtsausdruck während der Probefahrt durch die leuchtend gelb blühenden Rapsfelder des Leineberglands. Und dann war da natürlich noch der Geruch. Dieser undefinierbare Geruch nach Neuwagen, den nicht einmal Verkäufer Phil und das Kokosöl in seinen Haaren zu ruinieren vermochten …

Das war im Frühling gewesen, kurz nach Ostern. Jetzt, in der Woche vor Beginn der Herbstferien, war das Schlachtschiff von einem Auto längst von einem fahrenden Akt der Familienfürsorge zu einem Stück Alltag geworden. Emma und ihre Mutter hatten den SUV Willy getauft – nach dem Wal aus den Free–Willy-Filmen. Aufgrund seiner Größe und wegen der Farbe, die im Prospekt offiziell Orcaschwarz hieß. Sven hatte sogar einen Wal-Sticker von Sea Shepherd auf der Heckklappe geduldet, den Marie dort hingeklebt hatte. Das war ihre Art des Protests dagegen, dass die Abgase jeder einzelnen von Willys Tankfüllungen vermutlich einem weiteren Polarbären die Eisscholle unterm Hintern wegschmolzen. Aber was nahm man nicht alles in Kauf für den Schutz seiner Familie …

Damit der Albtraum niemals Wirklichkeit wurde, um in den Worten von Phil-wenn-Ihnen-das-lieber-ist zu sprechen.

Ironischerweise saßen weder Marie noch Emma im Wagen, als das harmloseste Geschöpf, das Sven sich vorstellen konnte, seine schlimmsten Ängste Realität werden ließ.

Sven lenkte Willy stadtauswärts über den Zubringer zur Autobahnauffahrt Göttingen Nord. So mied er Bürger- und Berliner Straße. Normalerweise schlüpfte er vor der Rushhour durch die Nadelöhre rund um Campus, Bahnhof und Neues Rathaus. Aber an diesem Montagnachmittag war er nach der letzten Stunde länger geblieben, um Rita Meiwes in der Bibliothek mit den neuen Regalen zu helfen. Rita hatte noch zwei Jahre bis zur Rente, doch ihre Hüfte hatte sich vorzeitig in den Ruhestand verabschiedet. Nun kämpfte Sven selbst mit Rückenschmerzen, als er sich in den Feierabendverkehr auf der A7 Richtung Süden einfädelte.

Zwischen Schönwetterwolken stand die Sonne bereits tief und orange. Die Blechlawine auf der Mittelspur zwang Willy, auf der rechten Seite hinter einem ebenso orangefarbenen Biber herzukriechen, der von einem Baumarkt-Lkw herabgrinste.

Sehnsüchtig wanderte Svens Blick über die Leitplanke in die bunte Herbstlandschaft des Leinetals. Auch wenn der SUV gekonnt hätte – es blieb bei der psychologisch bestimmt hochinteressanten Fantasie, aus dem trägen Verkehrsstrom auszubrechen und einfach draufloszufahren.

Sven trommelte auf dem Lenkrad. Zwei Ausfahrten noch, dann ging es über die Dörfer weiter. Dort würde weniger los sein.

Plötzlich ergab sich eine Lücke auf der Mittelspur und damit die Chance, das grinsende Nagetier auf dem dahinschleichenden Truck abzuhängen. Sven blinkte, zog raus und gab Willy die Sporen. Dreihundertvierzig Pferdchen unter der Haube des Audis galoppierten los. Mühelos schloss er zum Lastwagen auf der rechten Spur auf.

Es passierte auf Höhe der Hinterachsen des Lkws.

Im Radio stellte Taylor Swift gerade fest, dass Hasser immer hassen würden, als Sven das verdammte Vieh aus dem Augenwinkel heranrasen sah. Den Lärmschutzwall herab, über den Standstreifen und direkt auf den Biber-Truck zu. Seine Beine verschwammen wie beim Roadrunner in Emmas Cartoons. Was das Tier mit vollem Karacho auf die Straße trieb, würde ein Geheimnis bleiben, das es mit ins Grab nahm. Sven sah das unglückselige Geschöpf bereits einen blutigen, aber wenigstens schnellen Tod am Kühlergrill des Lastwagens sterben. Doch der kleine Pelzträger passte den Lkw derart geschickt ab, dass er genau zwischen Zugmaschine und Anhänger hindurchschoss.

Mitten in Willys Weg.

Sven hatte gerade noch Zeit, ein einziges Wort zu denken:

»KANINCHEN!«

Dann zerplatzte das arme Tier auch schon an seiner Stoßstange. Fell und Blut klatschten auf die Frontscheibe. Es klang, als hätte Sven nasse Wäsche gerammt. Er ging in die Eisen. Ein Warnton jaulte auf. Der SUV schleuderte, geriet auf die Überholspur und touchierte die Mittelleitplanke. Sven riss das Steuer herum. Der Audi brach nach rechts aus. Dort traf er auf einen zweiten Nager: den Biber auf dem Anhänger des Sattelzugs.

Zweieinhalb Tonnen Masse, beschleunigt auf einhundertdreißig Stundenkilometer, unterlagen gewissen physikalischen Eigenschaften, die auch noch so viel Sicherheitstechnik nicht außer Kraft zu setzen vermochte.

Willy wurde in die Höhe katapultiert.

Anderthalb Umdrehungen, dann landete der SUV krachend auf der Seite. Dabei begrub er einen lippenstiftroten Mini-Cooper unter sich. Die Wucht des Aufpralls ließ Willy überkippen. Er blieb wie ein gestrandeter Wal auf dem Rücken liegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sven längst das Bewusstsein verloren.

 

Das Wiedererwachen kam plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Mit zugekniffenen Augen machte Sven sich darauf gefasst, von einer Welle nie gekannter Qualen überrollt zu werden. Er musste sich sämtliche Knochen gebrochen haben.

Doch … da war nichts.

Keine Schmerzen, nicht das kleinste Ziehen oder Stechen. Nicht einmal der vom Bücherschleppen strapazierte Rücken tat ihm noch weh. Vermutlich stand er unter Schock, berauscht und betäubt vom Adrenalin.

Sven erinnerte sich an jedes Detail des Unfalls. An den Lkw, das Tier auf der Fahrbahn,

KANINCHEN!

die Explosion der Airbags, das Gefühl, abzuheben …

Verdammt. Er müsste … tot sein.

Sven öffnete die Lider. Zuerst glaubte er, das Augenlicht verloren zu haben. Er sah nichts als Grau in Grau und graues Schummerlicht. Dann begriff er, dass er auf dem Rücken lag und in einen Himmel starrte, der die Farbe von Zinn angenommen hatte.

Vorsichtig bewegte Sven den Kopf zur Seite.

Noch mehr Grau. Rissig und spröde ergoss es sich in die Ferne, nur durchbrochen von einer endlosen Folge weißer Striche: die Autobahn.

Er musste aus dem Fahrzeug geschleudert worden sein.

Sven wandte das Gesicht wieder der tiefhängenden Wolkendecke zu. Kaum zu glauben, dass er sich nicht das Genick gebrochen hatte.

Was Sie suchen, ist eine mobile Lebensversicherung!, hallte die Stimme von Phil-wenn-Ihnen-das-lieber-ist zwischen seinen Schläfen.

Testweise bewegte Sven die Finger. Dann die Hand. Arme, Beine … alles an Ort und Stelle und funktionsfähig. Er betastete seinen Oberkörper in der Erwartung, ein kratergroßes Loch oder einen gezackten Metallsplitter in seinem Bauch zu entdecken. Sollte er diesen Horrorcrash wirklich ohne ernsthafte Blessuren überstanden haben? Ohne Gehirnerschütterung oder angeknackste Rippen?

Es blieb dabei. Sven fühlte nicht den geringsten Schmerz.

»Heilige Scheiße.« Er faltete die Hände über Mund und Nase zu einem Zelt. »Danke, Gott! Danke, danke, danke! Sorry, falls ich je an dir gezweifelt haben sollte!«

Im gleichen Moment wurde ihm klar, dass er mitten auf einer der am stärksten befahrenen Straßen Deutschlands lag.

Sven sprang auf. Hatte der Verkehr gestoppt? Er musste von der Fahrbahn runter. Sofort.

Ein paar unkoordinierte Schritte in jede Richtung, dann stand fest, dass keine unmittelbare Gefahr drohte. Die Unfallwagen blockierten zwei der drei Fahrstreifen und schirmten ihn ab.

Willy lag auf dem Dach. Totalschaden. Sechzigtausend Euro dahin, der Preis für Svens Leben. Motorhaube und ein Teil des Kühlers waren abgerissen, die Scheiben zersplittert. Die orcaschwarze Blechhaut des Audis sah aus, als hätte sie jemand mit Vorschlaghammer und Schleifpapier bearbeitet. Ein knochenfarbener Airbag hing wie der Balg eines gehäuteten Tieres halb aus dem Fahrzeug. Darauf waren rostbraune Flecken zu sehen, Öl vielleicht.

Noch schlimmer als Willy hatte es den roten Kleinwagen erwischt. Der SUV