Das Buch der Mörder - Oliver Schmitz - E-Book
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Das Buch der Mörder E-Book

Oliver Schmitz

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Beschreibung

Wenn die Vergangenheit zur tödlichen Gefahr wird. Frankfurt 1971. Kurz vor seinem Tod macht Conrad Leitner seinem Sohn Arne ein schockierendes Geständnis: Als Mitglied eines geheimen Tötungskommandos liquidierte er im Auftrag der Nationalsozialisten unliebsame Gegner. Aus dieser Zeit existiert noch ein Beweis für die tödlichen Machenschaften – ein verschollen geglaubtes Notizbuch. Wer es findet, hat die ehemaligen Täter in der Hand. Nichtsahnend, wer ihre mächtigen Gegner sind, begeben sich Arne und die Journalistin Frida Bernau auf die Suche nach dem mysteriösen Buch. Dabei geraten sie zwischen die Fronten konkurrierender Geheimdienste und Ex-Nazis. Ihren Gegnern ist jedes Mittel recht, das brisante Dokument zu erbeuten. Eine mörderische Jagd quer durch Europa beginnt, an deren Ende nichts mehr so sein wird, wie es einmal war …

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Ähnliche


DAS BUCH DER MÖRDER

OLIVER SCHMITZ

© 2022 Oliver Schmitz

Impressum

Copyright © 2022 by Oliver Schmitz

Wallstrasse 18a, 61348 Bad Homburg

[email protected]

www.oliverschmitz.com

Umschlaggestaltung: Schiller Design, www.schiller-design.de

Umschlagabbildung: Shutterstock

Lektorat: Kanut Kirches, www.lektorat-kanut-kirches.de

Das Buch

Frankfurt 1971. Kurz vor seinem Tod macht Conrad Leitner seinem Sohn Arne ein schockierendes Geständnis: Als Mitglied eines geheimen Tötungskommandos liquidierte er im Auftrag der Nationalsozialisten unliebsame Gegner. Aus dieser Zeit existiert noch ein Beweis für die tödlichen Machenschaften – ein verschollen geglaubtes Notizbuch, in dem alle Mordaufträge erfasst wurden. Wer es findet, hat die ehemaligen Täter, von denen viele in der jungen Bundesrepublik Karriere gemacht haben, in der Hand.

Nichtsahnend, wer ihre mächtigen Gegner sind, begeben sich Arne und die Journalistin Frida Bernau auf die Suche nach dem mysteriösen Buch. Dabei geraten sie zwischen die Fronten konkurrierender Geheimdienste und Ex-Nazis. Ihren Gegnern ist jedes Mittel recht, das brisante Dokument zu erbeuten. Eine mörderische Jagd quer durch Europa beginnt, an deren Ende nichts mehr so sein wird, wie es einmal war …

Der Autor

Oliver Schmitz wurde in Düsseldorf geboren. Es folgte ein typischer Werdegang der 80er-Jahre: Abitur, Bundeswehr, Banklehre, Studium der Wirtschaftswissenschaften. Nach fünf Jahren als Produktmanager in der Musikindustrie machte er sich als Profi-Sprecher selbstständig. Seine Stimme hat in Deutschland vermutlich jeder schon einmal gehört. ›Das Buch der Mörder‹ ist sein Thriller-Debüt. Mit Frau und zwei Kindern lebt Oliver Schmitz in Bad Homburg vor der Höhe.

Inhalt

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Die Assassinen von Alamut

Kapitel 2

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Kapitel 3

Nutten und Koks

Kapitel 4

Kordit

Kapitel 5

Fromms zieht der Edelmann beim Mädel an

Kapitel 6

Auf dünnem Eis

Kapitel 7

Freunde der Statistik

Kapitel 8

Mensch geblieben

Kapitel 9

Ein letzter Ausritt

Kapitel 10

Schweineblut und Kalbshirn

Kapitel 11

Die Zeichen des Todes

Teil II

Kapitel 12

Der Graskönig von Bockenheim

Kapitel 13

Persilschein

Kapitel 14

Buchhalter des Todes

Kapitel 15

Wohlstandslümmel

Kapitel 16

Ein Knick

Kapitel 17

Spur ins Leere

Kapitel 18

Die Kanalratten von Barcelona

Kapitel 19

Eine Kathedrale für Altpapier

Kapitel 20

Der Schrei

Kapitel 21

Fortinbras

Kapitel 22

Der Weg der Freiheit

Kapitel 23

Nasse Sachen

Kapitel 24

Endlich mit Profis arbeiten

Kapitel 25

Der Russe kommt

Kapitel 26

Marokkanische Spezialitäten

Kapitel 27

Ein verdammtes Gnusch

Kapitel 28

Immer an die Leser denken

Kapitel 29

Ein flüchtiger Bekannter

Kapitel 30

Kollektive Amnesie

Kapitel 31

Tödliche Wirkung

Epilog

Prolog

DAS BÖSE FÄNGT EINFACH IRGENDWANN AN

Frankfurt am Main 1971

Er wollte es nicht wahrhaben. Sein Vater. Das einzige Familienmitglied, das ihm geblieben war, lag in einem Zimmer des Frankfurter Bürgerhospitals und würde das Bett nicht mehr verlassen. Conrad Leitner lag im Sterben.

Sein Sohn Arne hatte ihn immer geliebt, ihm vertraut.

Es saß direkt neben dem Bett. Erinnerungen schwirrten durch seinen Kopf. Wie er als kleiner Junge einmal freihändig mit seinem Fahrrad eine Treppe herunterfahren wollte. Eine Wette. Blöde Idee. Er brach sich beide Arme und musste mitten im schönsten Sommer bewegungsunfähig bis zur Schulter eingegipst zu Hause bleiben. Papa war Tag und Nacht für ihn da gewesen, hatte ihm stundenlang vorgelesen, Kasperletheater aufgeführt oder ihm erfundene Geschichten erzählt.

Jetzt würde ihn sein Vater für immer verlassen.

»Die Tasche … Hol die Tasche«, flüsterte Conrad plötzlich mit zittriger Stimme und versuchte sich aufzurichten.

»Sofort, Papa. Warte, ich bringe sie dir.« Er suchte das Krankenhauszimmer ab. Unter dem Tisch, auf dem Blumen und zwei Flaschen Mineralwasser standen, lag die alte lederne Reisetasche, die seinen Vater seit über dreißig Jahren begleitete.

»Mach auf … da ist … ein Umschlag«, presste Conrad mühsam hervor.

Arne öffnete den Verschluss und ertastete zwischen der Ersatzwäsche einen dicken, gepolsterten Briefumschlag, auf dem die Visitenkarte eines Anwalts befestigt war: Dr. Alexander Bülow, Rechtsanwalt, Siesmayerstrasse 58, Frankfurt am Main.

»Lies alles … mach damit, was du willst. Geh sofort zu meinem Anwalt … Er kümmert sich um meine Beerdigung. Und hat … sehr Wichtiges …« Conrad sank wieder erschöpft auf sein Kopfkissen. Er schnappte röchelnd nach Luft und hatte die Augen halb geschlossen, als fehle ihm die Kraft, die Augenlider offenzuhalten.

Arne zog einen dicken Packen mit der Schreibmaschine getippter Seiten heraus, auf dem ein Zettel mit Conrads feinschnörkeliger Handschrift lag. Er setzte sich neben das Bett und las.

Lieber Arne,

ich habe nicht gewusst, wann ich mit Dir reden soll. Über meine Vergangenheit. Über das, was ich getan habe. Mir ist klar, dass ich zu denjenigen gehöre, die Du verachtest.

»Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«, das brüllt ihr doch, wenn ihr gegen das System protestiert. Und dabei habt ihr so recht. Auch ich ströme den Muff von tausend Jahren aus – den Muff des tausendjährigen Nazireiches, das bekanntlich nur zwölf Jahre überdauert hat. Ich war ein Teil dieses Reiches. Ein glühender Verehrer von Hitler und seiner Ideologie. Aktiv habe ich für dieses Deutschland gearbeitet – und gemordet. Den Versuch einer Entschuldigung erspare ich Dir. Ich habe getötet, war überzeugter Nationalsozialist und hatte am Ende nie den Mut, mich der Vergangenheit zu stellen – habe so getan, als sei nichts geschehen. Das Böse fängt einfach irgendwann an und lässt dich nicht mehr los.

Ich habe meine ganze Geschichte über das, was ich in meiner Zeit in Berlin getan habe, für Dich aufgeschrieben. Lies und urteile selbst.

Arne starrte wie betäubt auf den unregelmäßig piependen Herzmonitor. Leere im Kopf. Nur stummes Entsetzen. Sein Vater war ein Nazi. Ein Mörder. Ein Feigling.

TeilI

BERLIN 1942–1944

KapitelEins

DIE ASSASSINEN VON ALAMUT

Conrad Leitner stand auf dem Wilhelmplatz in Berlin Mitte und betrachtete ehrfurchtsvoll das imposante Gebäude des Reichsfinanzministeriums, ein aus Sandstein errichteter dreistöckiger Bau aus der Jahrhundertwende. Im zweiten Stock waren die bogenförmigen Fenster von Balkonen flankiert. Das Dach war von einer Balustrade eingefasst, auf der in regelmäßigen Abständen steinerne Figuren thronten und Fahnenstangen angebracht waren. Hakenkreuzflaggen hingen schlaff herunter. Kein Lüftchen regte sich.

Es war sein erster Arbeitstag, bei seiner ersten Arbeitsstelle überhaupt. Erst vor Kurzem hatte er mit Bestnoten seine juristische Ausbildung mit dem Zweiten Staatsexamen abgeschlossen. Jetzt wollte er Karriere machen.

Conrad hatte die akkurat gestutzten braunen Haare mit Brillantine zur Seite gekämmt. Sein Seitenscheitel war wie mit dem Lineal gezogen. Er war wie immer glattrasiert. Das markante Kinngrübchen und ein Schmiss, eine Narbe, die er von seiner Zeit in einer schlagenden Verbindung zurückbehalten hatte, gaben seinem freundlichen Gesicht etwas Verwegenes. Schon immer hatte er viel Wert auf sein Äußeres gelegt. Fühlte sich nicht wohl, wenn die Fingernägel nicht sauber gefeilt, die Haare nicht ordentlich frisiert waren.

Mit einem Meter achtundsechzig war er nicht sonderlich groß. Auf den ersten Blick wirkte er sogar schmächtig. Das täuschte. Sein Körper war muskulös und ausdauernd. Vor körperlichen Auseinandersetzungen hatte er sich nie gescheut, bevorzugte es aber, Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen. Meistens gelang es ihm, Konfrontationen durch seinen Witz und seine Schlagfertigkeit zu entschärfen.

Die brütende Hitze des Hochsommers lähmte ganz Berlin seit Wochen und er war froh, dass er noch am Vortag einen leichten Sommeranzug gekauft hatte. Trotz der noch einigermaßen erträglichen morgendlichen Temperaturen klebte sein Hemd schon schweißnass am Körper. Conrad hoffte, dass es im Gebäude etwas kühler sein würde, atmete tief durch und ging zielstrebig zum Eingang.

In der Eingangshalle war es zu seiner Enttäuschung nicht kühler, sondern noch stickiger als draußen. Die Mauern hatten die Wärme gespeichert und gaben sie wie ein Speicherofen beständig und unerbittlich an die Umgebung ab. Eine große Freitreppe führte vom Eingangsbereich zu den oberen Etagen. Sie war mit einem roten Treppenläufer ausgelegt, der schon deutliche Abnutzungsspuren zeigte. Der blank polierte Marmorboden der Halle glänzte im Licht der kugelförmigen, weißen Lampen, die von den Decken hingen. Unzählige Angestellte wuselten herum, Türen schlugen, Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr. Die ganze Szenerie und der Geräuschpegel erinnerten ihn an seinen alten Hörsaal in Marburg, kurz vor Beginn einer Vorlesung.

Er präsentierte seinen Ausweis und das Einstellungsschreiben einem Pförtner, der ihm den Weg zum Büro des Leiters der Revisionsabteilung, Emil Warendorf, erklärte. Trotz der detaillierten Beschreibung landete Conrad zunächst in einer falschen Etage. Hilfesuchend wandte er sich an einen Büroboten, der ihn zu seiner Erleichterung durch die verwinkelten Gänge direkt in Warendorfs Büro lotste.

»Herr Leitner, was für eine Freude, Sie zu sehen. Ich kannte schon Ihren werten Herrn Vater. Ein großartiger Jurist und glühender Patriot«, begrüßte ihn Warendorf. Der Leiter der Revisionsabteilung tupfte mit einem Stofftaschentuch immer wieder Schweißtropfen von seiner speckigen Stirn. In seinem dunkel getäfelten Büro hing der Rauch seiner Zigarre in der Luft. Schwere Samtvorhänge ließen nur wenig Licht des flirrenden Berliner Sommers herein.

»Sie kommen genau zum richtigen Zeitpunkt. Männer wie Sie braucht das neue Deutschland. Bestens ausgebildet und von deutschem Blut durchdrungen.«

»Herr Warendorf, ich freue mich, unserer großen Sache dienen zu können, und bin auf meine neuen Aufgaben gespannt«, antwortete Conrad. »Die Revisionsabteilung ist zwar nicht mit dem direkten Kampf gegen den Feind zu vergleichen, aber ohne effiziente Strukturen in der Verwaltung kommt auch der beste Kämpfer nicht aus dem Schützengraben.«

»Sie haben in Marburg studiert?«, fragte Warendorf.

»Ja, wunderschöne Stadt, tolles Studentenleben. Ich war in der Burschenschaft Victoria Germania aktiv. Schlagende Verbindung, tolle Kameraden.«

»Wie es sich gehört, haben Sie einen anständigen Schmiss im Gesicht. Ein Zeichen von Mut und Zielstrebigkeit, wie ich finde. Niemals zurückweichen vor einem Schlag. Nicht wahr? Victoria Germania? Das wird Hasso von Sühler, den Leiter der Personalabteilung, freuen, der Sie unbedingt kennenlernen möchte. Er ist auch Burschenschafter. Aber das wird er Ihnen sicher selbst erzählen wollen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.«

Warendorf erhob sich schnaufend und lies seine qualmende Zigarre im Aschenbecher zurück.

Sie gingen über einen langen Flur, der nach Bohnerwachs roch und von der Sonne, die durch die großen Fenster hereinschien, aufgeheizt und stickig war. In den Lichtstrahlen funkelte der Staub, jeder Schritt hallte in den Gängen wider und erinnerte Conrad an seinen alten Schulkorridor. Er hätte sich nicht gewundert, wenn jetzt die Schulglocke gebimmelt hätte und eine Horde lärmender, schwitziger Kinder aus den Räumen gestürmt wäre.

Seine Kindheit teilte er immer in zwei Abschnitte. Die Zeit vor und die Zeit nach dem Tod seines Vaters Hermann, den er abgöttisch geliebt und verehrt hatte. Er starb Ende des Ersten Weltkriegs in der Nähe von Verdun. Intelligent, witzig und gut aussehend, so ließ sich sein Vater mit wenigen Worten beschreiben. Abends hatte Conrad immer in dessen Arbeitszimmer schlüpfen dürfen, um ihm Gute Nacht zu sagen. Sein Vater hatte ihn dann auf den Schoß gehoben, ihm eine Geschichte vorgelesen oder gefragt, wie der Tag gewesen sei. Conrad hatte sich an ihn gekuschelt und seinen vertrauten Geruch nach Rasierwasser und Zigarre wahrgenommen.

Conrad hatte viele Geruchserinnerungen. Seine Mutter Sofie war durch den Geruch nach Hautcreme und Lavendelseife in seiner Erinnerung verankert, Sonntage durch den Duft nach Orangensaft, Kaffee und getoastetem Brot.

Conrad war sechs Jahre alt gewesen, als sein Vater starb. Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er vom Tod Hermanns erfahren hatte. Es musste ein Montag gewesen sein. Montag war immer Waschtag gewesen und im ganzen Haus hatte es nach frischer Wäsche und dem Dunst des heißen Waschwassers gerochen. Conrad war gerade von der Schule gekommen. Er besuchte die erste Klasse einer Privatschule im Frankfurter Westend und war glücklich, endlich Schüler zu sein. Seine Mutter hatte ihm mit tränenüberströmtem Gesicht die Tür geöffnet. Im Herrenzimmer hatte ein Mann in Militäruniform gesessen, dem Jungen eine Hand auf die Schulter gelegt und leise gesagt: »Conrad, dein Vater ist im Krieg als Held gefallen. Du kannst sehr stolz auf ihn sein.«

Zuerst hatte Conrad gar nicht gewusst, was daran so schlimm sein sollte. Schließlich fiel jedes Kind andauernd hin. Erst als Sofie gesagt hatte: »Conrad, der Papa ist tot«, hatte er begriffen, was geschehen war.

Dieser Tag markierte die Trennungslinie seiner beider Leben. Das glückliche, unbeschwerte Familienleben mit Vater und Mutter – und das vom Tod des Vaters überschattete Leben als Halbwaise mit einer gebrochenen Mutter.

Sie hatte zwar tapfer versucht, den Anschein eines normalen Familienlebens aufrecht zu erhalten, nur war ihr das nie gelungen. Conrad hatte immer gespürt, wie verloren und traurig seine Mutter gewesen war. Er wurde immer versierter darin, ihre Stimmungsschwankungen vorauszuahnen und sie aufzuheitern, wenn sie wieder in ihr dumpfes Schweigen verfiel. Seine Antennen für zwischenmenschliche Befindlichkeiten waren fein und hoch sensibel. Diese Fähigkeit sollte ihm in späteren Jahren immer wieder nützlich sein. Menschen für sich einzunehmen, dafür zu sorgen, dass man sich in seiner Nähe wohlfühlte – das hatte er im Umgang mit seiner durch den Tod des Vaters traumatisierten Mutter früh gelernt.

»Hier links, bitte«, sagte Warendorf und holte Conrad aus seinen Kindheitserinnerungen zurück in die Realität. »Herr von Sühler erwartet Sie schon.«

Sie betraten das Sekretariat des Personalchefs, Warendorf verabschiedete sich, und eine Sekretärin führte Conrad durch eine große Flügeltür in von Sühlers Büro.

Der Raum wirkte eher wie ein Wohnzimmer, in dem man auch arbeiten konnte. Sein Chef saß an einem ausladenden Eichenholzschreibtisch, auf dem eine bronzefarbene Lampe mit einem Fuß aus schwarzem Marmor thronte. Daneben stand ein massiver Aschenbecher aus grünlichem Onyx. Hinter ihm hing ein großes Ölgemälde. Ein Bergpanorama im nebeligen Morgenlicht. Im Vordergrund ein röhrender Hirsch. Rechts vom großen Fenster, durch das grelles Sonnenlicht den Raum flutete, stand eine kleine Bar mit allerlei edel aussehenden Flaschen. In der Raumecke waren eine gemütliche Couch und zwei Sessel aus dunkelgrünem Samt um einen kleinen Tisch gruppiert. Die linke Wand wurde nahezu komplett von einem Regal eingenommen, auf dem penibel an den Regalkanten ausgerichtete Bücher einsortiert waren. Im Raum hing der Duft nach gerauchten Zigarren, frischem Tabak, einem Hauch von Cognac und Rasierwasser. Conrad erinnerte das alles an das frühere Arbeitszimmer seines Vaters.

»Herr Leitner. Endlich sehen wir uns persönlich. Habe schon viel von Ihnen gehört. Setzen Sie sich«, begrüßte ihn von Sühler jovial.

Er war der Prototyp eines arischen Sprosses aus adeligen Verhältnissen. Groß, blond, blauäugig, mit markanten Gesichtszügen. Conrad schätzte ihn auf Anfang vierzig. Aus jeder Faser seines Körpers sendete von Sühler das eindeutige Signal: Ich bin ein Anführer! Conrad war sicher, dass dieser Mann schon auf dem Schulhof immer das Sagen gehabt hatte. Einzig der beeindruckende Schmiss in seinem Gesicht störte das perfekte Äußere. Conrad nahm direkt vor dem Schreibtisch auf einem unbequemen Holzstuhl Platz. Er kam sich plötzlich klein und verloren vor und sein Gegenüber lieferte ihm dazu prompt die Erklärung.

»Wie fühlt es sich an, auf diesem Stuhl zu sitzen?« Von Sühlers Stimme war schneidend und viel höher, als man es bei seiner Körpergröße erwartet hätte. Seine Satzmelodie klang weniger nach Konversation als nach Befehlen auf einem Kasernenhof. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Man fühlt sich plötzlich bedeutungslos. Habe ich recht? Natürlich habe ich recht, ich sehe es doch an ihrem Gesicht. Ich verrate Ihnen auch, warum. Dieser Stuhl ist kleiner als normale Stühle. Ich habe die Beine kürzen lassen. Das Ergebnis fühlen Sie gerade. Man wird vom selbstbewussten Mann zum kleinen Bittsteller. Genau das Richtige, um Mitarbeitern klarzumachen, wer der Chef ist.«

»Beeindruckend«, sagte Conrad. »Wobei ich es vorziehe, wenn ein Chef aufgrund seiner Kompetenz geachtet wird und nicht, weil er im größeren und bequemeren Sessel sitzt.«

»Touché, Herr Leitner. Ich sehe, wir werden uns gut verstehen. Ihre Reaktion zeigt mir, dass ich mir genau den richtigen Kandidaten ins Ministerium geholt habe. Sie müssen sich hier ständig gegen diverse Seilschaften durchsetzen und als Revisor sind Sie zudem selten willkommen. Da helfen ein gesundes Selbstbewusstsein und Schlagfertigkeit. Willkommen im Dschungel der Bürokratie.«

Conrad fand sich schnell im Reichsfinanzministerium zurecht. Nach kurzer Zeit kannte er die wichtigsten Akteure, wusste, wer mit wem befreundet oder verfeindet war; welche Leute man besser mied und mit welchen Kollegen man auch mal einen Scherz machen konnte. Unermüdlich durchforstete er Aktenberge nach Verstößen gegen Richtlinien und machte sich einen Namen als akribischer, aber umgänglicher Prüfer.

Drei Monate nach seinem ersten Gespräch mit von Sühler rief dessen Sekretärin Frau Ludwig in seinem Büro an und bat ihn, unverzüglich bei seinem Chef zu erscheinen. Das war ungewöhnlich. Conrad sah ihn sonst nur bei der monatlichen Ansprache im Foyer des Ministeriums. Abgesehen von der Begrüßung an seinem ersten Arbeitstag hatte er noch nie ein Gespräch unter vier Augen mit ihm führen dürfen.

Conrad spürte ein nervöses Kribbeln in der Magengegend, als er die Treppe zur Chefetage im obersten Stock des Gebäudes hinaufstieg. Es war wie das Gefühl, in eine Polizeikontrolle zu geraten: Auch wenn man nichts auf dem Kerbholz hatte, fürchtete man, irgendetwas falsch gemacht zu haben.

Im Vorzimmer war der Schreibtisch von Frau Ludwig verwaist und von Sühler stand in der Tür seines Büros.

»Kommen Sie, Leitner. Ich habe etwas sehr Wichtiges mit Ihnen zu besprechen. Frau Ludwig habe ich in die Pause geschickt. Das bedeutet, zwei neugierige Ohren weniger, dafür aber keinen Kaffee für uns. Wir werden uns mit Cognac begnügen müssen.«

Diesmal setzten sie sich in die Besprechungsecke, die mit gemütlichen Sesseln ausgestattet war.

»Kein Büßerstuhl mehr für Sie, Herr Leitner. Das war nur der Eingangstest. Meine persönliche Charakterprüfung. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht mehr übel. Cognac?«

Er goss beiden je einen Fingerbreit honigfarbenen Cognac in zwei große Cognacschwenker, setzte sich und begann, zu erzählen.

»Dieses Gespräch, das sei vorausgeschickt, ist absolut vertraulich. Was ich Ihnen jetzt sage, beweist, dass ich großes Vertrauen in Sie habe. Bitte enttäuschen Sie mich nicht.«

»Der Letzte, den ich enttäuscht habe, war Otto Schneider vom Einkauf. Ich konnte ihm nachweisen, dass er unerlaubt Provisionen von Lieferanten kassiert. Hat ihn den Job gekostet und dazu ins Gefängnis gebracht. Ansonsten neige ich nicht dazu, Menschen zu enttäuschen.«

»Auch, wenn ich Sie um etwas bitten würde, was vielleicht nicht ganz konform mit der Gesetzgebung ist, aber hundertprozentige Rückendeckung der Regierung genießt?«, fragte von Sühler im Plauderton.

Conrad sah ihn überrascht an. »Ich bin Jurist. Aber auch Patriot. Sie machen mich neugierig.«

»Ich bin kein Freund langer Vorreden – dafür fehlte mir schon immer die Geduld. Gehen wir direkt in medias res. Sagt Ihnen der Begriff Assassinen etwas?«

»Waren das nicht mittelalterliche Mordbanden?«, fragte Conrad irritiert zurück und nahm einen tiefen Schluck Cognac.

»Nein. Das waren keine Mordbanden. Es handelte sich um eine Glaubensgemeinschaft im heutigen Syrien – die Nazariten. Sie töteten Menschen, die ihren Glauben oder ihre Gemeinschaft bedrohten. In der Geschichtsschreibung wurden sie mystifiziert und als mordlustige Fanatiker hingestellt. Das waren sie aber nicht. Sie traten für ihre Gemeinschaft ein und sicherten deren Überleben. Durch diverse Attentate brachten sie es zu einer gewissen Berühmtheit. Man fürchtete sie und der Begriff des Assassinen steht seitdem für Mord, insbesondere politisch motivierten Mord. Wussten Sie, dass die Assassinen ihre Morde auf Listen dokumentierten? Man fand solche Listen tatsächlich in ihrer Bergfestung Alamut.«

Er machte eine kurze Pause, nippte an seinem Cognac und fuhr fort. »Die Assassinen haben nie wahllos getötet. Sie haben sich gezielt Repräsentanten feindlicher Regierungen oder Organisationen herausgesucht. Ihnen ging es nicht um stumpfen Massenmord, sondern um gezielte Tötung mit maximaler öffentlicher Wirkung. Nach dem Motto: Schaut her, was passiert, wenn ihr uns bedroht. Durch Geschick, gute Planung und die Billigung des eigenen Todes waren sie in der Lage, Personen zu liquidieren, die bestens beschützt wurden. Ihre Morde waren daher immer auch mit der Botschaft verbunden: Niemand, der sich gegen uns stellt, ist vor uns sicher.«

Von Sühler lehnte sich vor und schenkte beiden nach. »Sie fragen sich sicherlich, warum ich Ihnen das erzähle, Leitner. Ich sehe doch, wie es in Ihrem Kopf arbeitet. Haben Sie eine Ahnung?«

»Nein«, sagte Conrad unsicher. »Beim besten Willen sehe ich keinen Zusammenhang zwischen meiner Arbeit im Ministerium und diesem Exkurs ins Mittelalter.«

»Ich möchte Sie zu einem Assassinen machen – einem modernen Assassinen, wenn Sie so wollen.«

»Zu einem fanatischen Mörder? Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Ist das wieder eine Ihrer Charakterprüfungen?«

»Das ist eine Prüfung, ob Sie nur Mitläufer oder ein Macher der Geschichte sein wollen. Jemand, der unsere Idee, den Nationalsozialismus zum Sieg führen möchte. Nicht durch stupide Aktenarbeit, sondern durch aktive Eingriffe in den Lauf der Geschichte. Ich suche jemanden, der bereit ist, zu töten. Aus gutem Grund und für ein edles Ziel. Der Menschen aus dem Weg räumt, die dem Nationalsozialismus gefährlich werden. Wenn Sie Fanatismus als bedingungsloses Eintreten für ein höheres Ziel definieren, ja, dann akzeptiere ich auch diesen Begriff.«

Conrad war geschockt. Seine Gesichtszüge versteinerten sich. Er krampfte seine Finger um den Cognac-Schwenker. Nur allmählich sickerten die Worte und ihre Bedeutung in sein Bewusstsein. Eben noch hatte er ein komfortables und sicheres Leben als Beamter geführt. Hatte zivilisiert auf einem gemütlichen Sessel mit einem Cognac in der Hand gesessen, erfreut, dass sein Vorgesetzter sich die Zeit nahm, mit ihm ein vertrauensvolles Gespräch zu führen. Die Wucht dieses überraschenden Angriffs auf sein bisheriges Leben traf ihn langsam, aber dafür umso härter, als sich die Quintessenz der Unterredung klar herauskristallisierte: Der Mann ihm gegenüber forderte ihn auf, Menschen umzubringen.

»Sollen wir dieses Gespräch beenden und sofort vergessen? Noch haben Sie die Chance dazu.« Von Sühler sah ihn lächelnd an. »Wir haben uns nett unterhalten, Sie gehen wieder an Ihren Schreibtisch und wühlen in Akten herum. Ihr Leben bleibt, wie es ist. Oder Sie gehen einen Schritt nach vorn ins Unbekannte. Bedenkzeit, falls Sie das in Erwägung ziehen sollten, bekommen Sie nicht. Ich brauche nur Leute, die schnelle und harte Entscheidungen treffen.«

Genau das hatte Conrad gerade erbitten wollen. Etwas Zeit, um seine Gedanken zu sortieren und abzuwägen, in welche Richtung sein Leben gehen sollte.

Von Sühler nahm genüsslich einen weiteren Schluck Cognac und fuhr fort. »Ich kann Ihnen aber versichern, dass jeder, den ich für würdig halte, in meiner Spezialabteilung zu arbeiten, und der zustimmt, eine steile Karriere vor sich hat. Das, was wir machen, was Sie machen sollen, wird direkt von ganz oben angeordnet. Direkt von der Staatsführung. Natürlich nicht auf dem offiziellen Dienstweg. Dann könnte es ja auch die Gestapo erledigen. Wir tun Dinge, die offiziell gar nicht beauftragt werden dürfen. Wir sind sozusagen die Hand Gottes, die das Schicksal dieses Landes in die richtige Richtung dirigiert, falls etwas nicht so funktioniert, wie es sollte. Wir sind Hitlers, Himmlers und Goebbels unsichtbarer langer Arm. Sind Sie dabei? Ja oder nein? Mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Ja oder nein? Ja, Sie sind bereit, für die große Sache zu töten, oder nein?!«

Die Aussicht, jemand Wichtiges zu sein, die Karriereleiter zu erklimmen und dabei gleichzeitig seinem Vaterland zu dienen, waren gute Gründe für ein Ja. Aber wollte er dafür wirklich töten? War es das wert? Während er versuchte, zu einer Entscheidung zu kommen, spürte er, wie ihm der Schweiß im Nacken herunterlief. Er musste antworten. Jetzt. Töten konnte nicht so schwer sein. Tausende Soldaten machten es jeden Tag. Soldaten waren keine Mörder – sie machten ihre Arbeit. Er würde auch seine Arbeit machen, für sich und für sein Land.

»Ja!«, platzte es aus Conrad viel lauter als beabsichtigt heraus. Er sah dabei von Sühler direkt in die Augen.

Von Sühler lehnte sich entspannt zurück. »Gut«, sagte er zufrieden, prostete Conrad zu, trank den restlichen Cognac mit einem Schluck aus und stand auf. »Schön, dass ich mich nicht in Ihnen getäuscht habe. Sie hören von mir.«

KapitelZwei

DER MENSCH IST DES MENSCHEN WOLF

Conrad wartete eine Woche unruhig auf ein nächstes Treffen mit seinem Chef. Ganz tief in seinem Unterbewusstsein glimmte noch ein Funken Hoffnung, dass von Sühler ihn nur einem weiteren Charaktertest unterzogen hatte und es dieses geheime Mordkommando gar nicht gab. Dass er ihm grinsend verkünden würde: »War nur ein Test Leitner. Entspannen Sie sich.«

Gerade als er seinen Schreibtisch aufräumte und Feierabend machen wollte, klingelte das Telefon. Von Sühler war persönlich am Apparat.

»Kommen Sie in mein Büro, Leitner«, sagte er nur und legte auf.

Conrad stürmte die Treppe nach oben, blieb kurz vor der Tür seines Chefs stehen, atmete tief durch und klopfte.

»Setzen Sie sich«, befahl von Sühler knapp.

Er saß an seinem Schreibtisch und vor ihm lag eine schwarze Kladde – ein dickes Heft aus linierten Seiten, dessen Einband aus festem Pappkarton bestand und das die Buchhaltungsabteilung normalerweise verwendete.

»In dieser Kladde, unserem ›Mordbuch‹, verzeichnen wir alle Tötungsaufträge sowie deren erfolgreiche Erledigung, Leitner«, erläuterte von Sühler ungerührt, als würde er über kaufmännische Buchhaltung referieren. »Die Aufträge werden mir von höchster Stelle übermittelt, ich erfasse sie und derjenige, der den Auftrag annimmt, zeichnet das dann bei Erledigung ab. Quasi ein simpler Verwaltungsakt. Die Leute, die wir in diesem Buch aufnehmen, haben sich offiziell nichts zu Schulden kommen lassen und sind darüber hinaus in der Regel politisch und gesellschaftlich gut vernetzt.« Er blätterte durch die Seiten und tippte dann mit seinem Zeigefinger auf einen Eintrag. »Nehmen wir zum Beispiel diesen Namen hier. Carl Kronstein. Ein Industriellensohn. Sein Vater Herbert Kronstein ist Stahlproduzent. Als die Regierung bei ihm angefragt hat, Stahl für deutsche Panzer zu produzieren, wollte er das auch gerne machen – zu Marktpreisen, wie er das nannte. Was ist das für ein Patriot, der am Wiedererstarken Deutschlands möglichst viel Geld verdienen möchte? Ein Schweinehund ist das«, beantwortete er sich selbst die Frage. »Und wie bringt man solche Leute zur Räson?«, dozierte er weiter. »Man liquidiert sie und schiebt diesen Mord dann irgendeinem Drecksack unter – Gewerkschafter, Kommunisten und dieses Kroppzeugs. Eine Doppelsiegstrategie, oder einfach gesagt, zwei Fliegen mit einer Klappe. Manchmal, und da ist dann unsere besondere Kreativität gefragt, sind diese Leute zu wertvoll. Sie sind unverzichtbar, weil nur sie die Lieferketten und Produktionsprozesse kennen oder schlicht das Kapital besitzen. Folglich haben wir im Fall Kronstein nicht den eigentlichen Störenfried Herbert Kronstein, sondern dessen Sohn Carl erledigt. Das hat der Mann dann verstanden und liefert seitdem besten Stahl zu einem angemessenen Preis.« Zufrieden lächelnd wartete von Sühler auf eine Reaktion von Conrad.

»Das kann ich ja alles nachvollziehen«, sagte Conrad nach einer kleinen Pause, »aber warum die schriftliche Fixierung dieser Aufträge?«

»Um den Zusammenhalt der Gruppe und die gegenseitige Loyalität bis in alle Ewigkeit zu sichern. Was wir hier tun, ist zwar legitim und gewünscht, aber letztlich nicht legal. Alle Mitglieder unserer Gruppe wissen, dass sie sich im Falle eines Falles nicht wie unsere Freunde von der Gestapo auf Gesetze und Erlasse berufen können. Dadurch ist jeder von uns angreifbar, wenn sich zum Beispiel der politische Wind dreht und unser Mordgeschäft nicht mehr gewünscht ist. Durch die Existenz dieses Buches kann niemand aus unserem elitären Kreis einen ehemaligen Kameraden enttarnen, weil er dann selbst mit in den Abgrund gezogen würde. Denn ich als Hüter dieses Dokuments besitze jederzeit einen Beweis dafür, dass die Mitglieder unseres Kommandos illegale Morde ausgeführt haben. Und einen besseren Beweis als einen abgezeichneten Mordauftrag wird sich eine Staatsanwaltschaft kaum erträumen lassen – das brauche ich einem Juristen wohl nicht zu erklären, oder, Leitner? Noch mal zum Mitschreiben: Das Buch garantiert jedem die Verschwiegenheit des anderen.« Von Sühler beugte sich vor und raunte: »Der Mensch ist des Menschen Wolf. Vertraue niemandem, denn wir alle sind egoistische Raubtiere.« Zufrieden grinsend lehnte er sich wieder zurück.

»Aber Sie, Herr von Sühler, haben doch mit diesem Buch alle Macht über uns. Wir als Mitglieder dieses …« Conrad stockte und suchte das richtige Wort.

»… Patriotenklubs? Mordbande? Berliner Assassinenvereinigung? Nennen Sie es, wie Sie wollen«, half ihm von Sühler bei der Wortfindung.

»Wir als Mitglieder dieses Patriotenklubs sind Ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert«, fasste Conrad das Offensichtliche zusammen.

»Exakt, Leitner. Deshalb bin ich ja auch Ihr Chef. Und werde es immer sein. Ich bin sozusagen Ihr persönlicher Mephisto. Sie werden durch mich aufsteigen, Macht und Ansehen erlangen. Aber immer werden Sie mir persönlich verpflichtet bleiben. Haben Sie ein Problem damit?« Von Sühler sah ihn herausfordernd an.

»Natürlich nicht«, beeilte sich Conrad zu bestätigen. Was gelogen war. Von Sühlers Geschwafel von Loyalität schenkte er nicht eine Sekunde lang Glauben. Wer sich selbst als Mephisto bezeichnete, würde sich auch wie ein Mephisto benehmen. Ein Teufel, der Menschen zum eigenen Vorteil manipulierte. Dieser Mann würde die Kladde gnadenlos für seine Zwecke nutzen.

»Schön, dass Sie nicht in letzter Sekunde den Schwanz einziehen.« Von Sühler stand auf, ging ans Fenster und sah auf den belebten Wilhelmplatz herunter. »Ich möchte Sie nicht länger auf die Folter spannen. Kommen wir zu Ihrem ersten Auftrag. Etwas Einfaches zum Warmwerden. Eine simple Exekution im Grunewald. Gerhard Stuhlmann, 38 Jahre, ledig. Wollte partout nicht die Finger von der Frau eines Ministers lassen. So was soll vorkommen.« Von Sühler lächelte, als würde er sich über Bürotratsch amüsieren. »Es läuft folgendermaßen ab. Sie werden morgen um zwanzig Uhr vor dem Ministerium mit einem Opel Kadett abgeholt. Im Handschuhfach finden Sie eine Waffe. Der Fahrer bringt Sie in den Grunewald. Ihr Opfer liegt im Kofferraum und ist schon versandfertig, also gefesselt und mit Sack über dem Kopf.« Er lachte schallend. »Wir wollen ja erst mal ein wenig üben, nicht wahr? Sie laden den Kandidaten aus, gehen in den Wald und drücken ab. Die Pistole legen Sie einfach wieder ins Handschuhfach. Alle Morde laufen nach diesem Muster ab. Waffe holen, Auftrag erledigen, Waffe abliefern. Für jede Tötung gibt es eine neue Waffe. Jede verwendete Tatwaffe wird dann, wie ich Ihnen schon erläutert habe, später irgendeiner armen Sau untergeschoben. Stichwort Doppelnutzen: Wir haben eine Liquidation und wir haben jemanden, der für diesen Mord ins Gefängnis wandert. So weit alles klar?«

Conrad konnte nicht mehr zurück. Um Karriere zu machen, musste er töten. So einfach war das. Diejenigen, die er töten sollte, hatten das vermutlich auch verdient. Aber er würde dieses Spiel nur so lange wie nötig mitspielen. Und eines hatte er jetzt schon verstanden: Er durfte nicht zulassen, dass diese Kladde für immer bei von Sühler blieb. Niemals.

»Alles klar. Absolut.« Conrad nickte. »Wie oft soll ich abdrücken?«

»Bis Sie sicher sind, dass er tot ist, natürlich. Meistens reicht ein Kopfschuss. Der wahre Connaisseur hingegen feuert zweimal in die Brust und einmal in den Kopf. Dreifach hält besser. Weidmannsheil, Herr Leitner!«

KapitelDrei

NUTTEN UND KOKS

Den ganzen nächsten Tag war Conrad angespannt. Eine Mischung aus Lampenfieber und purer Angst überfiel ihn in periodischen Wellen. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Er würde jemanden töten und musste darauf vertrauen, dass die Risiken, die mit dieser Tat einhergingen, sich auszahlen würden.

Kurz vor zwanzig Uhr verließ er das Ministerium. Fünf Minuten vor der Zeit ist des Hitlerjungen Pünktlichkeit, erinnerte er sich an einen Spruch aus seiner Zeit als Pimpf bei der Hitlerjugend. Damals hatte ihn besonders der Umgang mit Waffen fasziniert. Er war zu einem der besten und routiniertesten Schützen seiner Schar geworden – einer Gruppe, die aus rund 40 Jungen bestanden hatte. Die Spätfolgen einer Polioinfektion, ein leichtes Hinken, hatten Conrad vor einem Einsatz als Soldat im 1939 begonnenen Krieg bewahrt. Darüber war er insgeheim sehr erleichtert. Er wollte nicht wie sein Vater einen sinnlosen und elenden Tod in einem schlammigen Schützengraben sterben.

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Auf dem Wilhelmplatz war nicht mehr viel los und aus dem Ministerium kamen nur noch vereinzelt Angestellte, die sich auf den Weg in den Feierabend machten. Der heiße Sommer war fast übergangslos von feuchtem Herbstwetter abgelöst worden.

Pünktlich um zwanzig Uhr hielt ein schmutziger, mausgrauer Opel Kadett direkt vor Conrad an. Die Reifen waren schlammverschmiert und auf der Windschutzscheibe hatten es die Scheibenwischer erfolgreich geschafft, gerade so viel Dreck zur Seite zu schieben, dass der Fahrer noch genug sehen konnte. Das Auto war offensichtlich nicht nur auf Berliner Straßen, sondern auch auf Feldwegen im Einsatz. Ein junger Mann mit millimeterkurzen roten Haaren beugte sich vom Fahrersitz zur Beifahrertür und stieß sie auf. »Taxi in den Grunewald, Herr Leitner. Einsteigen bitte«, sagte er nur im breitesten Berlinerisch. Kaum hatte Conrad die quietschende Autotür zugezogen, fuhr der Fahrer los. Der Wagen müffelte unangenehm nach kaltem Zigarettenrauch und nassem Hund.

»Ich bin Erich. Die Waffe ist im Handschuhfach. Bitte auch die Handschuhe anziehen, Sie wollen doch keine Fingerabdrücke hinterlassen, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete Conrad irritiert, weil der Fahrer ihn wie einen tumben Anfänger behandelte. Er öffnete das Fach, zog sich die bereitliegenden Handschuhe über und nahm die Waffe in die Hand. Sie war überraschend klein – eine Liliput. Die kleinste je in Serie gebaute halb automatische Taschenpistole.

»Putzige Waffe hat man Ihnen da zugeteilt«, sagte Erich schmunzelnd. »Ist geladen und gesichert. Den Sicherungshebel bitte erst im Wald betätigen. Nicht, dass Sie hier noch im Auto rumballern.«

Wenn Du mir weiter auf die Nerven gehst, werde ich wirklich bald schießen – und zwar auf dich, dachte Conrad grimmig, ließ sich aber seine Verärgerung nicht anmerken.

Schweigend fuhren sie durch das abendliche Berlin. Erst jetzt, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, nahm Conrad ein Wummern aus dem Kofferraum wahr.

»Ist das unser Auftrag, der da so klopft?«, fragte Conrad.

»Na klar. Soll sich ruhig noch ein wenig austoben, bevor er seinem Herrn begegnet. Von nun an soll sein Name Klopfer sein.« Erich lachte lauthals über seinen eigenen Witz. Conrad lachte mit, in der Hoffnung, dadurch seine Nervosität zu kaschieren. Ihm war heiß und er kurbelte das Fenster herunter. Er genoss den Fahrtwind und den herbstlichen Duft nach Laub und Erde, als sie schließlich in einen kleinen Waldweg abbogen. Erich stoppte den Wagen, schaltete den Motor aus und plötzlich war nur noch das Rauschen der Blätter und das Abendgezwitscher der Vögel zu hören.

»Dann wollen wir Klopfer mal zur Schlachtbank führen.« Erich stieg aus und ging zum Heck. »Los, kommen Sie, oder soll ich den Knaben allein ausladen?«, schnauzte er Conrad an.

Sie öffneten den Kofferraumdeckel und Erich leuchtete mit einer Taschenlampe auf das Opfer. Conrad sah einen an den Händen gefesselten Mann mit einem Sack aus grobem Leinen über dem Kopf. Auf seiner Hose war ein feuchter Fleck. Er strampelte verzweifelt mit den Beinen und gab unverständliche dumpfe Laute von sich.

»Mit 'ner Socke im Maul spricht es sich nicht so gut. Also halt einfach die Klappe«, raunzte Erich den Mann an und deutete dann angeekelt auf den feuchten Fleck auf der Hose. »Der pisst sich schon vorm Finale in die Hose. Ist ja ein ganz tapferes Bürschchen«, feixte er.

Gemeinsam wuchteten sie den Mann auf seine Füße. Der versuchte immer noch etwas zu sagen. Heraus kamen nur unverständliche Stöhnlaute. Sie zerrten ihn grob, als würden sie ein Schwein zur Schlachtbank führen, ein Stück in den Wald hinein.

»Ihr Auftritt, Herr Leitner. Genießen Sie den ersten Auftrag. Sie werden ihn nie vergessen«, sagte Erich und zog sich ein paar Meter zurück.

Conrad hob langsam die Pistole hoch und visierte sein Opfer an.

Jetzt war der Moment gekommen, vor dem er sich gefürchtet hatte. Er musste seine Tötungshemmung überwinden. Er wusste: Nach diesem Schuss wäre er nicht mehr der Mensch, der er vorher gewesen war. Er hatte Mitleid mit seinem wimmernden Opfer, Tränen liefen ihm über das Gesicht. Der Mann hatte vielleicht Kinder, die ihn nie wieder sehen würden. Verstohlen wischte sich Conrad über das Gesicht und hoffte, dass Erich nichts von seinen Seelenqualen mitbekam.

»Könnten Sie dann mal zu Potte kommen?«, rief Erich ungeduldig von hinten. »Der soll erschossen werden und nicht an Altersschwäche sterben«.

»Sie haben doch gesagt, ich soll das genießen«, antwortete Conrad. Dann straffte er seinen Körper und streckte den Arm mit der Pistole durch.

»Hinknien«, befahl er barsch. Er durfte vor Erich keine Schwäche zeigen.

Der Mann blieb stehen. Conrad entsicherte die Waffe und mit den Worten »Dann halt stehend, mein Freund« feuerte er aus drei Meter Entfernung zwei schnelle Schüsse in die Brust und einen in den Kopf.

Kurze Zeit hörte er nichts mehr. Seine Ohren piepten vom Lärm der Schüsse, seine Hände zitterten unkontrolliert.

Sein Opfer lag auf dem Boden – und lachte. Lachte lauthals weiter, als Erich dem Mann schließlich auf die Beine half, die Handfesseln öffnete und den Sack vom Kopf zog.

»Überraschung! Platzpatronen, Leitner«, brüllte Hasso von Sühler prustend heraus, nachdem er den Knebel ausgespuckt hatte. »Willkommen in unserem exklusiven Klub. Sie haben unsere Mut- und Gehorsamsprobe mit Bravour bestanden.«

Conrad spürte wie, ihm schwarz vor Augen wurde. Er stützte sich unauffällig an einem Baumstamm ab. »Da haben Sie mich aber ordentlich zum Narren gehalten, Herr von Sühler«, sagte er mit einem gequälten Lächeln. »Tolle Vorstellung. Wäre mir im Traum nicht eingefallen, dass Sie unter dem Sack stecken.«

Er hasste die perfiden Methoden seines Chefs, seine Untergebenen immer auf die Probe zu stellen. Das Schlimmste aber war, dass er getötet hätte – auch wenn die Aktion sich nur als eine Scheinhinrichtung herausgestellt hatte. Conrad hatte abgedrückt. Auf einen wehrlosen Menschen. Er verachtete sich dafür.

»Das mit dem Pipifleck auf der Hose war perfekt, Chef«, gluckste Erich.

»Ich hätte Schauspieler werden sollen. Gustaf Gründgens ist nur ein Schmierenkomödiant im Vergleich zu mir. Finden sich nicht, Leitner? Das war übrigens kein Pipi. Nur ein bisschen Schnaps, den mir Erich drauf geschüttet hat.«

Erich beförderte einen Flachmann aus seiner Jackentasche und reichte ihn von Sühler.

»Prost, Leitner. Jetzt wird gefeiert.«

Sie gingen zum Auto zurück, das jetzt nicht mehr allein auf dem Waldweg stand. Fünf weitere Wagen waren dazu gekommen. Davor standen über zwanzig Kollegen von Conrad, die er alle vom Sehen aus dem Ministerium kannte. Sie applaudierten und klopften ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Ihre neuen Freunde, Leitner. Haben alle die gleiche Aufnahmeprüfung hinter sich. Aber jetzt meine Herren, heißt es: Arbeit ist Arbeit, Schnaps ist Schnaps. Jetzt sind wir nicht mehr im Dienst, sondern die marodierenden Defloratoren von Berlin. Nutten und Koks für alle!«

»Fahren wir jetzt in den Puff, oder was?«, fragte Conrad irritiert, nachdem alle in die Autos gestiegen waren.

»Nein, ins Paradies!«, verkündete Erich freudestrahlend.

»Und wie heißt dieses Paradies?«

»Paradies. Wie ich schon sagte«, antwortete Erich. »Der Name ist Programm. Sie werden in Berlin keinen besseren Puff finden. Amselstraße in Dahlem, eine alte Villa mit vielen jungen Damen. Eine besser als die andere. Ist exklusiv nur für die Parteibonzen und für uns. Wobei die Bonzen niemals von einem Puff sprechen würden – klingt viel zu ordinär. Die Herren bevorzugen das Wort Klub. Ist ein absolutes Privileg, dort verkehren beziehungsweise geschlechtsverkehren zu dürfen.« Erich musste über seinen eigenen Witz wieder am lautesten lachen, während Conrad keine Miene verzog.

»Kommen Sie, Leitner. Entspannen Sie sich. Jetzt ist Spaß an der Reihe.«

Nach nur einer Viertelstunde Fahrt hielten sie vor einer zweistöckigen Villa, die mitten in einem großen Garten stand, der von einer riesigen Trauerweide dominiert wurde.

»Der Prachtbau gehörte die letzten sechzig Jahre einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die es vorgezogen hat, unser schönes Land zu verlassen«, erklärte von Sühler.

Kleine Laternen, die auf den Fenstersimsen standen und in denen Kerzen flackerten, tauchten die stuckverzierte Fassade und die großen Sprossenfenster in ein gelbliches, heimeliges Licht. Alle Vorhänge waren geschlossen, sodass Conrad nicht sehen konnte, was sich im Inneren des Hauses abspielte. Nichts deutete darauf hin, dass in dieser gutbürgerlichen Villa ein Bordell beheimatet war.

Sie gingen den mit Fackeln gesäumten Kiesweg zum Eingangsportal entlang und wurden von zwei Wachsoldaten misstrauisch beäugt.

»Das geht in Ordnung«, sagte von Sühler. »Die Herren gehören zu mir.« Er öffnete die große Eingangstür und sie traten ins Paradiesein.

Warme Luft und ein gedämpftes Stimmengewirr schlugen ihnen entgegen. Conrad kam es vor, als würde er das Foyer eines Luxushotels betreten. Edle Sofas aus rotem Samt, auf denen sich junge Damen mit Herren jeden Alters gepflegt unterhielten. Große kristallene Kronleuchter tauchten alles in ein gedämpftes Licht. An den Wänden hingen Ölgemälde mit Porträts von Leuten, die er nicht kannte. Vielleicht waren es die Ahnen der vertriebenen ehemaligen Besitzer des Hauses. Das Fischgrätparkett war teilweise mit dicken Orientteppichen bedeckt. Kellner wuselten herum und reichten Getränke und Kanapees. Am Ende des Saales, direkt neben einer Treppe, die in die erste Etage führte, sah Conrad eine Rezeption. Dort konnte man, wie er vermutete, Zimmerschlüssel abholen, um sich diskret mit einer der Damen in den oberen Stock zurückzuziehen.

Conrad wusste nicht, was jetzt vom ihm erwartet wurde – er hatte noch nie ein Bordell besucht. Ging man einfach an den Tresen und bestellte eine Frau?

»Schampus, Koks oder beides?«, unterbrach von Sühler seine Grübeleien.

»Beides«, antwortete Conrad spontan und mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn selbst überraschte.

---ENDE DER LESEPROBE---