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Der Lyriker, Essayist und Erzähler Wolfgang Kubin (geb. 1945 in Celle) versucht sich an neuen Formen. Die Orte seines Herzens boten ihm eine Gelegenheit dazu: Bonn, Swatow (Shantou), Wien. Die Oden und Elegien sind nicht erdacht, sondern haben mit wirklichen Menschen und Geschehnissen zu tun. Der Verfasser ist vielmals mit Preisen in China und in Deutschland bedacht worden. Seine Vorliebe für den Taoismus und den Zen-Buddhismus teilt er mit dem allgewaltigen Wiener Künstler Friedrich Zettl, der die Texte in die Sprache meditativer Leere übertrug. Als Sinologe und Übersetzer ist Wolfgang Kubin (chin. Gu Bin) an den Universitäten Bonn und Shantou (China) tätig.
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Seitenzahl: 61
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Das Buch der Zähren.
Swatower Oden, Wiener Elegien
Wolfgang Kubin
Impressum
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www.bacopa-verlag.at
Cover und Illustrationen: Friedrich Zettl
Layout und Satz: Christiana König
Printed in the European Union
ISBN: 978-3-99114-050-4
1. Auflage 2023
Das Wort vor dem Wort
Wenn ich einmal mehr eine Form behaupte, die ich gar nicht streng einhalte, was soll dann ihr Name? Eine Orientierung. Alles muß einen, wenn auch flüchtigen Halt haben, selbst wenn dieser brüchig wird. Ich habe mich in der Vergangenheit bereits an Balladen, Hymnen, Sonetten und weiter an Elegien versucht. Nun nehmen die Oden vorlieb und danach nochmals Elegien? Ja, so scheint es.
Das griechische Wort Ode heißt zunächst nichts anderes als Lied, es war Gesang, ohne Endreim und nach strenger Metrik verfaßt. Ich liebe den Stabreim. Insofern waren und sind eigentlich alle meine Gedichte gereimt, also selbst die, welche mit freien Versen daherschweben. Da bin ich weiter ein alter Germane.
Typisch für die griechische und lateinische Ode ist das Lob bzw. die Besingung von etwas Konkretem. In meinem Fall zum Beispiel der Preis der Bülbüls (Sperlinge) von Swatow. Swatow, so lautet die alte Schreibung für Shantou, der Hafenstadt in Südwestchina, wo ich seit Jahren zuhause bin. Oder zum Beispiel die Rühmung der Bauhinien, der Orchideenbäume (Bauhinia), launisch verbreitet bis nach Hongkong. Diese werfen üppig ihre farbigen Blätter von sich, so daß man auf den Wegen der paradiesischen Universität Shantou fast über sie steigen muß, um bei Regen nicht auszugleiten.
In der chinesischen Literatur mag es für die Besingung der schönen Dinge dieser Welt bereits „Vorläufer“ gegeben haben, denn an den aristokratischen Höfen des Mittelalters (220-960) besangen die Dichter anläßlich von Banketten das Wohl der einzelnen Naturerscheinung.
Hierzu scheint die Elegie als Klagelied in einem Gegensatz zu stehen. Ideal und Wirklichkeit fallen bei ihr bekanntlich auseinander. Wir können das ähnlich bei den Liedern des Südens (Chuci) in China sehen. Um 300 v. Chr. beseufzen die Dichter eine Loslösung des Religiösen vom Gesellschaftlichen. Der Philosoph Mo Zi (etwa 479-381) hatte zuvor gemeint, alles Unglück entstehe aus der Vernachlässigung der Götter. Überhaupt soll die Elegie aus Asien nach Griechenland gekommen sein. Auffällig ist jedenfalls die Verwandtschaft der Thematik: Der Wein und der Tod, der Krieg und das Leid, das schwere Grab und des Lebens leichte Kürze. Auch hier spricht man von Friedhofselegien. Doch die sehnlichst erwartete Göttin, ob in Gestalt einer Fee oder in der Form einer Menschin hebt den poetischen Ton.
Die Oden haben hauptsächlich die Vogelgärten der Universität Shantou zum Gegenstand, die Elegien verweilen nicht immer bei Wien, der Hauptstadt der Melancholie. Sie folgen der Traurigkeit der Ströme in den Norden und machen sich am Geschick „junger Mädchenblüte“ fest. Ob Drachenfels oder Drachenburg, das Siebengebirge mischte sich begierig ein.
So oder so sind die Texte nicht erdacht, sondern zwischen September 2021 und Pfingsten 2022 aus der leidmütigen Geschichte sowie aus der lebhaften Gegenwart entstanden. Damit erklärt sich manch leichte Ironie. Zum ersten Mal folgen die Gesänge chronologisch aufeinander, sind, so traurig wie übermütig, aus jeweils einem Guß.
Corona war ihr Hintergrund, ob in Shantou Ende des letzten Jahres oder in Bonn Anfang der Zeitenwende erarbeitet. Jede Strophe verlangte ihre tiefe Nacht vor dem zeitigen Morgen.
Dem Verleger Walter Fehlinger ist zu danken, daß er einen Zusammenhang zwischen dem „gewaltigen“ Maler Friedrich Zettl in Wien und dem „gewaltigen“ Poeten aus Bonn entdeckt hat. Ob der eine oder der andere Künstler, beide stehen unter dem Einfluß des Taoismus und des Zen! So erklärt sich hier die Freundschaft einer neuen heiligen Dreieinigkeit.
Wolfgang Kubin, Pfingsten 2022 in Holzlar am Fuße des Ennert
Swatower Oden
Ode auf eine alte Brücke
So finde ich dich nach Jahren wieder, unerwartet
als Fleißbild hinter einer Schaufensterscheibe.
Wir wollen keine Sklaven sein, so war dein erstes Wort.
Nicht anders als Ernst Moritz Arndt am Alten Zoll
und weniger fremd der ferne Schüler Lu Xun
an einem ferneren Gestade. Euch schützte allein der Wille,
kein Wille zur Macht, zur Habe, der Wille zum guten Leben nur.
Ein Petroleumbrenner erlosch an deiner Seite, ein Dreizack ruht.
Machete, Messer und Schwert waren deinesgleichen feile Schneiden
wider Hohlgeschoss, Karabiner und Bajonette an enger Bogenbrücke.
Schützte Mazu etwa die tausend Toten? Fünf Tage, fünf Nächte
zuckten die Sicheln, bis der Gegner den südlichen Steg verließ.
Mit Bananen, Melonen zog er erlegen von dannen,
vergnügt im Anblick von argem Hunger und ärgerem Blutgeschehen,
junge Männer, allemal, gewandet in des Kaisers leibliche Wäsche.
Daheim, ob Mutter, Schwester oder Frau, es scherte sie nicht,
zu nehmen, was des Weibes war, ihre Scham, ihr Brusttuch.
Ein Ding unter Dingen, ob jung oder alt. Sie nannten es
einen gerechten Krieg. Und doch fielen auch sie namenlos,
nicht minder uns zur Trauer. Heute schauten wir vorbei
zufällig, gefällig an der Brücke mit beiläufigem Namen.
Hundert Jahre sind es her, da die Wasser Leichen führten
in den Hafen, in das Südchinesische Meer. Kleine Brücke
sagen wir heute, großer Trost, denken wir morgen,
da das Salz unserer Tränen wir besser beweinen.
____
Die Hafenstadt Shantou in der chinesischen Provinz Guangdong wurde am 25. Juni 1939 von den Japanern besetzt. Der Stadtteil Chenghai fiel ihnen einen Tag später in die Hände. An der Bogenbrücke aus der Song- bzw. Qing-Zeit kam es am 29. Juni zu einem Gemetzel: Über tausend chinesische Bürger wurden ermordet. Von 700 weiß man heute noch die Namen. Unter Zhang Zhen (1920-1992) erfolgte im Februar 1940 der Gegenangriff, woraufhin die fremden Soldaten abzogen. Heute erinnert eine Gedenkstätte bei der kleinen Südbrücke (Nanqiao) an die Ereignisse von damals. Der Han Jiang fließt hier vorbei, benannt nach dem Großen Essayisten Han Yu (768-824), der als Erzieher in der Region Chaozhou tätig war. Die Seegöttin Mazu wird vor Ort in drei Tempeln verehrt. Hundert Jahre: Die Besetzung Chinas durch Japan erfolgte schon lange vor 1939!
Ernst Moritz Arndt (1769-1860): Ein Denkmal am Alten Zoll von Bonn trägt seine berühmte Weisung wider das Sklaventum. Lu Xun (1881-1936) machte sie sich in Japan zu eigen.
Der Trost und die Frau
Seltsam das Wort Trost und Frau. Seltsam auch das Wort
Trost und Haus. Wer nur mag das eine erfunden, das andere
gefunden haben? Ich stehe an der Südbrücke und bedenke
das Geschick von Sprache und von Land. Was ist eine
Comfort Woman, eine Frau zum Komfort an der Front?
Unaussprechlich ianfu, drei chinesische Zeichen,
japanisch gelesen: i, die Beruhigung, an, der Friede,
fu, die Frau. Der Soldat beruhigt, das Reich befriedet,
und die wehe Frau? Ob acht oder achtzig, ob Berlin
oder Freiburg, ein Bronzemädchen unwillkommen!
Tokios Scham, Tokios Schande sind auch Berliner Scham
und Breisgauer Schande. Nun liegt befriedigt gleichermaßen
das Deutsche Reich, getröstet scheint Nippons Saat!
Hundert Jahre sind täglich ein Tag und ein lästiges Haus.
Frauenhaus, das kennen wir, Trauerhaus ebenso.
Doch warum trauern Opfer stets verborgen? Hundert Jahre,
kein lichter Tag reichte dem Vergessen zum Geschenk.
Ich stehe an der Südbrücke und bedenke das Los
von neuem Wort und kleinem Schatz: Personal für Sonderdienste,
Militärunterhalterin, army prostitute und Sklavin.
Ach, all die Erzählungen, still zugetragen vom Südchinesischen Meer,
vom Han-Fluß, von Mazu, von den ungesprengten Bergen.
Ich gedenke auch eines holländischen Priesters landein