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Li Bai (701-762) gilt mit Du Fu (712-770) als größter chinesischer Dichter. Er hat nur dem Schreiben gelebt, von dem er sich und seine Familie dank Mäzenen ernähren konnte. Er war ein Leben lang rastlos unterwegs, ohne je wie erhofft einen Posten zu erlangen. Er ging im Kaiserhaus aus und ein. Er war von großem Einfluss auf die deutschsprachige Kultur. Am bekanntesten ist die Vertonung seiner Gedichte von Gustav Mahler unter dem Titel "Das Lied von der Erde". Seine Themen sind das übermäßige Trinken, die tiefe Melancholie und das Verständnis der jungen Frauen. Seine Verse sind uneinholbar. Das Buch stellt im Original, in Umschrift, in Übersetzung und literaturwissenschaftlicher Deutung das Gesamtwerk vor. Es ist eine Art Lehrfibel für Studierende der Sinologie und Interessierte der Philosophie, Germanistik und Theologie. China bietet seit dreitausend Jahren die älteste noch lebende Lyrik der Welt. Sie beginnt mit dem Buch der Lieder ca. 1000 v.Chr. Ihr Höhepunkt wird mit der Tang-Zeit (618-907) angesetzt. Der Kanon klassischer chinesischer Dichtung bietet neben einer grundlegenden Einführung die Originale mit Umschrift und mit neuer Übersetzung. Ein jeder Text wird zudem literaturwissenschaftlich gedeutet. Die Reihe richtet sich nicht nur an Studierende der Sinologie, Japanologie und Koreanistik, sondern ebenso an Interessierte der Germanistik, Philosophie und Theologie.
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Seitenzahl: 249
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Die Erde mein Kissen, der Himmel meine Decke.
Li Bai
Klassische chinesische Dichter.
Bd. 4. Bacopa 2022
Wolfgang Kubin
Inhalt
Impressum
Einleitung
Abkürzungen und weiter verwendete Literatur, sofern nicht in den Fußnoten angegeben
Autobiographisches
Nach den Wirren unterwegs dank kaiserlicher Gnade in Yelang gedenke ich alter Vergnügen und schreibe meine Erinnerungen nieder für den Präfekten von Jiangxia, Wei Liangzai 经乱离后天恩流夜郎忆旧游书怀赠江夏韦太守良宰 / Jing luan lihou tian en liu Yelang yi jiu you shu huai zeng Jiangxia Wei taishou Liangzai
Der Wein
Vor uns ein Schoppen Wein 前有樽酒行/ Qian you zun jiu xing
In einer Nankinger Weinstube zum Abschied hinterlassen 金陵酒肆留别 / Jinling jiusi liubie
Vor dem Wein 对酒 / Dui jiu
Fragen an den Mond beim Wein 把酒问月 / Ba jiu wen yue
Von der traurigen Weise 悲歌行/ Bei ge xing
Kommentar
Vor uns der Becher Wein. Zwei Lieder 前有樽酒行二首/ Qian you zun jiu xing er shou
Mit den Schönen hinauf auf den Qixia Shan in den Pfirsichgarten von Herrn Meng. Zum Gedenken an den Prinzen von Liang 携妓登梁王栖霞山孟氏桃园中 / Xie ji deng Liang wang Qixia Shan Meng shi taoyuan zhong
Das Lied von Xiangyang 襄阳歌 / Xiangyang ge
Ich beweine den Alten Ji, den Braumeister von Xuancheng 哭宣城善酿纪叟 / Ku Xuancheng shan niang Ji Sou
Mit Xia, dem Zwölften seines Clans besteige ich den Yueyang Turm 与夏十二登岳阳楼 / Yu Xia Shier deng Yueyang Lou
Über Nacht mit Freunden 友人会宿 / Youren hui su
Das Weib
Die Weise von Changgan 长干行 / Changgan xing
Für einen Stromer geschrieben, getrennt von seinem Liebchen 代别情人 / Dai bie qingren
Kommentar
Krähen krächzen des nachts 乌夜啼 / Wu ye ti
Die zweite Weise vom Jungen Mann 少年行 / Shaonian xing
An eine sehr ferne Frau 寄远 / Jiyuan
Unmut auf der Marmortreppe 玉阶怨 / Yujie yuan
Gram 怨情 / Yuanqing
Drei, fünf und sieben Wörter 三、五言、七 / San, wu, qi yan
Die Schönen am Südpavillon von Handan 邯郸南亭观 妓 / Handan nanting guan ji
Goldchen zur Kenntnis 示金陵子 / Shi Jinling Zi
Die Kleine aus Jinling. Für Lu, den Sechsten 出妓金陵子呈卢六四首 / Chu ji Jinling Zi cheng Lu Liu si shou
Frauen in Süd-Ost. Fünf Lieder 越女词五首 / Yue nü ci wu shou
Der Gesang
Auf dem Söller von Xie Tiao in Xuanzhou zur Verabschiedung des Bibliothekars Onkel Yun 宣州谢朓楼饯别校书叔云 / Xuanzhou Xie Tiao Lou jianbie jiaoshu shu Yun
Kommentar
Kommentar
„Auf! Auf! Ein Jagdlied“ 行行且游猎篇 / Xing, xing qie youlie pian Söhne des Grenzlands 边城儿 / Biancheng er
Früher Aufbruch an der Festung Baidi 早发白帝城 / Zao fa Baidi Cheng
Ein Sommertag in den Bergen 夏日山中 / Xiari shan zhong
Am Pavillon des Meisters Xie 谢公亭 / Xie gong ting
Die Trennung eines Schwalbenpaares 双燕离 / Shuang yan li
Ich übernachte am Fuße des Wusong-Berges im Haus der alten Frau Xun 宿五松山下荀媪家 / Su Wusong Shan xia Xun’ao jia
Abschied von Wei, dem Achten, auf dem Weg in die Westliche Hauptstadt 金乡送韦八之西京 / Jinxiang song Wei Ba zhi Xijing
Die Drei Schluchten hinan 上三峡 / Shang Sanxia
Lied der weißen Wolken. Liu, dem Sechzehnten seines Clans, zur Rückkehr in die Berge 白云歌送刘十六归山 / Baiyun ge song Liu Shiliu gui shan
Mond auf dem Emei. Ein Lied 峨眉山月歌 / Emei Shan yue ge
Lied der fahrenden Ritter 侠客行 / Xiake xing
Seidenreiher 白鹭鸶 / Bailusi
Siebzehn Lieder aus der Herbstbucht 秋浦歌 / Qiupu ge Eine Auswahl
Spiegel und Schrift 览镜书怀 / Lan jing shu huai
Das Lied vom Ende des Lebens 临路歌 / Lin lu ge
Der Autor
Bisher im BACOPA Verlag von Wolfgang Kubin erschienen:
Endnoten
Impressum
Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, der Übersetzung, des Vortrags, der Radio- und Fernsehsendung und der Verfilmung sowie jeder Art der photomechanischen Wiedergabe, der Telefonübertragung und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen und Verwendung in Computerprogrammen, auch auszugsweise, vorbehalten.
©2024 Bacopa Verlag
4521 Schiedlberg/Austria
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www.bacopa-verlag.at
Cover: Friedrich Zettl & Christiana König
Layout und Satz: Christiana König
ISBN: 9783991141020
1. Auflage 2024
Einleitung
Wenn wir nicht vom Weine kosten, wo werden die Mannen der Antike sein?
Der heute an der Universität Zürich wirkende Sinologe Marc Winter bezeichnet den großen Dichter Li Bai (701-762) in Nachfolge von Alfred Forke (1867-1944) als „Dichterfürst“ und darüberhinausgehend als „Superstar“.1 Letzteres Urteil bezieht sich auf die große Wirkung, welche der chinesische Meister auf die „westliche“ Musikwelt ausgeübt hat. Davon gibt die angeführte Studie üppig Auskunft. Der Beitrag des ehemaligen Wiener Kollegen verharrt leider auf einem völlig überholten Wissensstand: Die wichtigsten Quellen werden nicht erwähnt oder falsch zitiert, Wikipedia gilt als seriöser Maßstab, die Muttersprache eines eigentlich verdienstvollen Übersetzers erweist sich wider Erwarten als ein einziger Graus. Kurz, der Beitrag stellte eine Schande für die deutschsprachige Sinologie dar. Gleichwohl bietet das Gesamtwerk mit seinen 569 Seiten genug Einsichten in einen von der deutschsprachigen Sinologie zwar früh und gänzlich über- setzten, aber weltweit literaturwissenschaftlich vernachlässigten Literaten.
I.
Es gibt Zufälle im Leben, welche die gesamte Existenz eines Menschen umzugestalten vermögen. Darüber habe ich, wenn auch viel, so dennoch zu wenig gesprochen. Es war nämlich mehr als nur ein Mensch involviert. Bisher erwähnte ich lediglich Axel Schmitz, der mir im späten Frühling von Münster 1967 wiederbegegnet ist. Bekanntlich war er es, der als Übersetzer und Dichter mir Ezra Pound (1885-1972) nicht nur in Hamburg, sondern auch an der Aa vorstellte. Er hatte den Amerikaner noch vor dessen Tod in Meran besucht. Ich stand 1981 erst vor dessen verwaistem Schloß. Aber Axel vertraute mir mehr von seinem Idol an: zum einen eine neue Form der Übertragung, nämlich „Make it new“ (Sag’s neu), zum anderen die klassische chinesische Poesie der Han- (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) und der Tang-Zeit (618-907), also der ausgehenden Antike und des ausgehenden Mittelalters. Er machte mich auf die kleinen Dinge aufmerksam, auf die ungeheure Bedeutung des unscheinbaren Wörtchens „auch“ in den folgenden Versen, wiedergegeben nach Ezra Pound / Eva Hesse:
O weiß-seidner Fächer,
Klar wie Reif auf dem Grashalm,
Auch du wurdest abgelegt.2
„Auch“ als Verbindung von verlassener Frau und nicht mehr gebrauchtem Ding, als zeitliche Spanne von Vergangenheit zur Gegenwart? Ach, nicht allein diese Partikel eröffnet alle Problemfelder der Übertragung. Zunächst zum Verständnis des Textes nach dem Übersetzer: Auch sie, die Trägerin des Fächers wurde „laid aside“, das heißt, in ihrem hübschen Alter in einen „Kalten Palast“ (lenggong 冷宫) gebeten, wo sie die restlichen Jahre, vom Kaiser nicht mehr begehrt, zu verbringen hatte. Wie andere Dichter seiner Zeit nahm sich Li Bai ähnlicher Schicksale in seinen Gedichten gern an. Doch: Besagtes „auch“ findet sich gar nicht im Original!3 Gleich wohl, das macht nichts, denn wir können uns aus dem „Schlamassel“ mit dem heute gängigen Argument „thick translation“ heraushelfen: Übersetzung
ist nun einmal Deutung und bedarf der Hinzufügung. Doch Ezra Pound hat den Ursprungstext nicht nur genial aufgepeppt, sondern radikal gekürzt! Aus einem archaischen Lied von zehn Versen wurden drei! Er wählte dazu den Anfang und das Ende. Darf er solch eine Zusammenführung unter Opferung des Mittelteils wagen? Er hat ähnlich das bekannte Langgedicht „The Waste Land“ (1922) von T.S. Eliot (1888-1965) zusammengestrichen. So wie wir es heute kennen und lieben, war es nie gefertigt! Eines solchen Unterfangens hat sich jüngst (2020) ebenfalls der Münchner Sinologe Thomas O. Höllmann bei Erstellung seiner Anthologie Abscheu. Politische Gedichte aus dem alten China bedient. Der Kölner Sinologe Volker Klöpsch hat darauf mit einer langen, überaus lesenswerten Rezension reagiert.4 Die moderne Übersetzungstheorie, die nicht Sache des verehrten Kollegen ist, erlaubt jedoch jegliche Freiheit im Rahmen von „Make it new“!
Ezra Pound hat nicht nur hier die Kunst der chinesischen Ästhetik als Kunst der Andeutung mit Hilfe von geläufigen Partikeln demonstriert. Er hat ebenfalls einen neuen Weg der Übersetzung chinesischer Lyrik ins Werk gesetzt: die prosaische Übertragung statt der prosodischen, wie sie von dem genialen Günther Debon (1921-2005) vorgezogen wurde. Es haben beiden Vorbildern nur wenige zu folgen vermocht. Natürlich hat es vor und nach den zwei Meistern Versuche ähnlicher Art gegeben, doch bleiben wir zunächst einmal bei Ezra Pound stehen. Die Übertragung gereimter Dichtung in eine prosaische Form bedarf ebenfalls einer großen Fertigkeit, um nicht zu einer reinen Lesehilfe zuverkommen. So sehr zum Beispiel dem österreichischen Sinologen Erwin Ritter von Zach (1872-1942) für seine nahezu vollständige Eindeutschung von Li Bai5 zu danken ist, so wenig hat er für seine philologische Glanzleistung eine Leserschaft gefunden. Sein Ziel ist natürlich keinesfalls gut lesbare Literatur im Deutschen gewesen, sondern ein Lesetext für den „Studenten“ der Sinologie. Doch wir sind heute über ein so kluges wie brauchbares Handwerk hinweggekommen. Eine prosaische Wiedergabe kann durch entsprechenden Rhythmus, außergewöhnliche Wortwahl und gekonnte Straffung ebenfalls zur hohen Kunst werden. Darauf haben sich in den letzten Jahren besagter Thomas O. Höllmann und die „Kieler“ Sinologin Gudula Linck verstanden. Obwohl ich in meinem dritten Beruf als Schriftsteller zu reimen verstehe und dieses mit vielen entsprechenden Gedichtbänden weiter unter Beweis stelle, so habe ich mich in meinem zweiten Beruf als Übersetzer dennoch dafür entschieden, Ezra Pound und nicht Günther Debon oder seinem Schüler, Volker Klöpsch, Folge zu leisten. „Make it new“ bedeutet für mich auch immer, einen überkommen Text in die unmittelbare
Gegenwart zu tragen, ihn seines Alters zu entkleiden und so zu aktualisieren. Das will mir anscheinend allein durch das Geschäft einer Prosaisierung gelingen. Für ein solches Geschäft habe ich den Wahl-Europäer auf meiner Seite. Pound faßte nämlich Schreiben als einen „dramatischen Monolog“ auf und verstand Übersetzungen als emphatische Durchdringung für die Gegenwart. Übertragungen galten ihm als Personae, als Larven, als Masken des Selbst, welche Originalität und Lebendigkeit statt einer Angleichung an das Original erlaubten. Die Wiedergabe eines Textes war insofern eine dichterische Tat und keinesfalls eine philologische Seminararbeit. Dabei stand das Bild als wichtigstes Medium im Mittelpunkt, so wie wir es in obigem Dreizeiler antreffen können.6
Ich habe meine Einführung mit dem Stichwort „Zufall“ begonnen. Ezra Pound hat aus vielen Sprachen übertragen, nicht nur aus dem Chinesischen. Ich hätte also ebenso da weiter machen können, wo ich einmal begonnen hatte, nämlich mit dem Lateinischen oder mit dem Griechischen. Doch mich faszinierten eher seine „chinesischen“ Texte, besonders das Abschiedsgedicht des Li Bai für den Dichter Meng Haoran (689/691-740).7 Dieses habe ich vielfach interpretiert,8 sogar metaphysisch,9 und da ich mich nicht zu wiederholen10 gedenke, soll an dieser Stelle ausschließlich der Aspekt des Zufalls interessieren. Kam mir das Geschick von Meng Haoran zufällig unter? Ja, denn ich habe ihn so wenig gesucht wie seinerzeit den schon berühmten „Turm zum Gelben Kranich“. Das heute modernisierte Gebäude mit Rolltreppe, einst Ort der Begegnung der beiden großen Dichter, war erst viele Jahrzehnte später mehrfach mein ausdrückliches Ziel in Wuhan. Von Zufall kann da natürlich keine Rede mehr sein. Ich bin vielmehr willentlich und bewußt den Spuren der chinesischen Literaturgeschichte gefolgt. Und wie ging es zuvor weiter, das heißt vor dem Ende meiner Irrfahrt und vor dem Ende aller Beliebigkeit? Ich war lange ein Irrender. Ich irrte von Ulrich Unger (1930-2006), der aussah wie Li Bai, mich aber nicht aufnehmen wollte, irrte also von der Universität Münster zur Universität Bochum, irrte auf den beiläufigen Rat eines Jazz-Musikers, und traf unbewußt suchend auf Alfred Hoffmann (1911-1997). Der war Chinese durch und durch. Die damalige Studentenwelt mied ihn wie der Teufel das Weihwasser. Gegen den Strom der Zeit entschied ich mich aus dem Bauch heraus für sein Wissen, das er aus dem Peking und aus dem Nanking der 40er Jahre mitgebracht hatte. Und er war chinesische Poesie pur. Selige Stunden, nicht nur mit seinem Li Bai. Er war ein Bewunderer von Erwin Ritter von Zach und ebenfalls von dem britischen Sinologen Arthur Waley (1889-1966). Letzterem verdanken wir eine frühe Biographie unseres chinesischen Poeten. Darauf ist noch kurz zurückzukommen.
Die drei Gelehrten sind heute über ihren Tod hinaus auf wunderbare Weise miteinander verbunden. Die Lücken der von den überragenden Bibliographen Hartmut Walravens und bedingt Lutz Bieg erstellten Gesamtausgabe in drei Bänden wurden u.a. mit den entsprechenden deutschen (Alfred Hoffmann) bzw. englischen (Arthur Waley) Übersetzungen aufgefüllt. Dabei fällt augenscheinlich auf, daß der Deutsche und der Österreicher die integrale Übertragung gewählt haben. Integral heißt: sogenannte wortwörtliche Übersetzung plus, falls nötig, kommentierende Erklärungen zu Personen oder Ereignissen, jeweils in Klammern gesetzt. Aus heutiger Sicht gibt es keine wortwörtliche Wiedergabe, da es kein wortwörtliches Wort gibt. Zudem gehören Anmerkungen nicht in einen übersetzten Text, sondern entweder in eine Fußnote oder besser in eine Deutung. So wie ich das in diesem Buch vorgezogen habe. Alle drei Übersetzer hängen der Illusion an, den Gehalt treulich wiedergeben zu können. Das ist vollkommen unmöglich. Eine jede Schrift ist offen. Es gibt niemals einen einzigen Sinn, sondern nur viele Sinnvorgaben. Es gibt keinen „Sinn“, den man ein für alle Mal übertragen kann. Aus jedem „Sinn“ entstehen neue „Sinne“, welche selbst durch Kommentare nicht eingegrenzt werden können, denn Sprache ist zu vielfältig, zu historisch. Ezra Pound spricht in diesem Zusammenhang vom Übersetzen als „Rettungsboot.“11 Im Meer des Sinns geht also viel verloren. Eben darum übersetzen wir immer wieder neu, um die letzten treibenden Planken zu einem neuen Schiff für weitere Rettungsaktionen einzusammeln.
Ob Pound, Li Bai oder Hoffmann, alles nur Geschick? Der Dichter und Übersetzer Erich Fried hat 1966 seine Anthologie englischer Lieder und Hymnen mit „Der Stern, der tat sie lenken“ betitelt. Und Dietrich Bonhoeffer sang 1944 „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. So war es ebenfalls ein Zufall, kein Zufall, daß ich vor dem Sommer 1999 in Wien Paula Varsano wiedertraf. Wiedertraf? Ja, denn sie hatte Jahre zuvor wo auch immer mir zugesteckt, daß sie eine Studie zu Li Bai in Arbeit habe. Dieses verneinte sie auf dem Weg zum Kloster Melk: Das Buch würde nie fertig. Nach dem gemeinschaftlichen Ausflug der amerikanischen Komparatisten vergaß ich die Angelegenheit. Grund war vor allem die mangelnde Beschäftigung im „Westen“ mit Li Bai. Die Professorin für chinesische Literatur an der University of California in Berkeley würde mit ihrem vermeintlichen Versagen keine Ausnahme sein, zumal Jahrzehnte zuvor die ausgezeichnete Twayne World Author Series auf unseren Dichter verzichtet hatte, aber ansonsten viele chinesische Poeten vorstellte, die selbst Spezialisten unbekannt gewesen sein dürften. Warum diese Vernachlässigung eines der größten Lyriker der Welt? Ich kann darauf keine bündige Antwort geben, nur mutmaßen, daß es mit dessen Ruf zu tun haben mag. Man hält ihm in Europa seit langem vor, sich lediglich dem Dauerthema von „Wein, Weib und Gesang“ abzugeben, also weniger ernsthaft als sein Zeitgenosse und Freund Du Fu (712-770) zu sein. Doch solch eine Sicht stellt eine Verkennung dar. Arthur Waley hat aus seiner Abneigung gegenüber Li Bai keinen Hehl gemacht. In seiner immer noch aktuellen und weiterhin lesenswerten Studie von 1950 schreibt er gegen Schluß das folgende:12
Die Gedichte stammen von einem Mann, der mit seiner Karriere gescheitert ist, wenn er überhaupt eine solche vorzuweisen gehabt hat, und das in einer Gesellschaft, die großenteils von bürokratischen Werten beherrscht wurde. […] Li Bai bekannte in einem Gedicht an seine Frau, daß seine Trunksucht ihm gar nicht erlaubt habe, ein guter Ehemann zu werden. Doch scheint er niemals erfaßt zu haben, daß diese ihn für einen Posten als Beamten disqualifizierte. […] Überdies scheint sein Status als ‚ein auf Erden verbannter Unsterblicher‘, auch wenn er seinem Ruf als Genius guttat, nicht einmal seine taoistischen Bestrebungen erleichtert zu haben. Seine Karriere als Alchimist blieb erfolglos, er alterte schon vor seiner Zeit. Doch trotz aller Fehlschläge wurden seine Gedichte […] anscheinend nicht unter dem Stress tatsächlicher Entbehrungen geschrieben. Die Preise stiegen nach 755 um dreihundert Prozent, gleichwohl verweist Li Bai niemals auf irgendwelche Schwierigkeiten, an Lebensmittel zu gelangen. Man gewinnt den Eindruck, er ist ohne jeden persönlichen Nachteil durch die Revolution gegangen. Für die Leiden weniger privilegierter Leute hatte er nichts übrig, so scheint es jedenfalls. Und dies muß ihn von der gegenwärtigen Generation der Chinesen entfremdet haben.
In der Tat, nähmen wir uns seiner als Moralisten an, hätten wir offensichtlich viel gegen seinen Charakter aufzubringen. In seinen Werken tritt er als Prahlhans auf, als herzlos, als zügellos, als unverantwortlich und als unaufrichtig. Er nimmt für sich einen einzigen Vorzug in Anspruch, nämlich den der Freigebigkeit. Nur er allein erwähnt diesen und der hat ihm wohl nur bei denjenigen Geltung verschafft, die ihn am wenigsten brauchten. Es ist allerdings klar, daß wer immer ihm begegnete, von seiner Persönlichkeit fasziniert war und sich unmittelbar in die Nähe eines außergewöhnlichen Genies gerückt sah. Zwei von ihnen […] verweisen […] auf das eigenartige Leuchten der Augen.
Man unterscheidet heute in der Literaturwissenschaft zwischen dem Menschen und dem Künstler, und selbst wenn „der Mensch“ gemeint zu sein scheint, ist seine Figur als persona zu verstehen.13 Was der Engländer vor allem zu stark verurteilt, ist die Kunst der Hyperbel, die Kunst des übersteigerten Duktus. Wenn unser Li Bai als Mensch drei Becher Wein oder vielleicht Bier trinkt, so gießt er nur als Dichter dreitausend Humpen hinunter, so oder ähnlich schwadroniert er um der Poesie willen. Wir dürfen das nicht ernst nehmen. Er macht ein wenig Spaß, aber in diesem Spiel steckt ein gehöriges Maß an Traurigkeit. Es geht um die Endlichkeit des Lebens, nicht so sehr, wie uns sonst von der internationalen Sinologie weisgemacht wird, um eine gescheiterte Karriere. Als wäre eine Beamtenlaufbahn für einen wahren Poeten das allerwichtigste. Li Bai mag als Mensch, wie ihm allgemein nahegelegt wird, auf eine solche gehofft haben, doch was scherte ihn diese beim stetigen Umtrunk? Der Dichter geht tiefer. Alles hat ein Ende. Hampelmann am Kaiserhof, wie uns Ha Jin in seiner Biographie bescheidet, kann und will er nicht bleiben. Lieber spielt er den großen Leidenden an und unter der Zeit. Hier liegt seine eindringliche Botschaft. Dreitausend Becher in einem Zug zu leeren meint das Ende alles Zeitlichen in einem einzigen seligen Moment. Dies muß keinesfalls ein mitmenschliches Verhalten unterbinden. Arthur Waley hat unrecht, wenn er Li Bai als unsozial einstuft. Kaum einer hat wie unser Verseschmied die Frauen besungen. Diese waren nicht einfach „Weiber“, sondern selbst in niedriger Position für ihn liebenswerte Geschöpfe.
Was bleibt uns also nach gut siebzig Jahren von dem britischen Biographen mit seiner raren und nicht nur deshalb immer noch verdienstvollen Studie? Sie kommt als philologische Leistung daher und scheint bis jüngst neuere Bemühungen größeren Umfangs zumindest in und außerhalb von Europa überflüssig gemacht zu haben. Doch die bis heute in der Sinologie weiter gepflegte Philologie erweist auch hier ihre Schwächen. Arthur Waley hat zwar die wichtigsten Texte durch lesbare Übersetzungen zugänglich gemacht, doch er hat keinen einzigen gedeutet. Stattdessen formuliert er Thesen, die einer Überprüfung bedürfen, wie zum Beispiel die folgende:14
Li Bai ist, wie gesagt, gleich den größten Dichtern nur durch eine relativ kleine Zahl von Gedichten der allgemeinen Leserschaft bekannt. Der Rest seines Werkes verdient durchaus eine Untersuchung, hauptsächlich weil lediglich im gesamten Kontext typische und herausragende Beispiele ganz zu verstehen sind. Doch ein Großteil seiner Arbeiten bestehen gezwungenermaßen aus unbedeutenden, gefälligen Poemen für Freunde anläßlich von Abschiedsbanketten oder zu anderen gesellschaftlichen Gelegenheiten. Diese folgen festen Konventionen und hätten von jedem versierten Verseschmied der damaligen Zeit geschrieben werden können. Unter seinen bekanntesten Gedichten sind einige, die auf Anordnung des Hofes aufgesetzt worden sind. Ich denke freilich, diese verdanken ihren Ruhm eher den Legenden, die sich um sie ranken, als ihrem wahren Wert. Ich habe also nicht den
Versuch unternommen, sie in Betracht zu ziehen.
Eine Art von Poesie, die Li Bai nie zu erproben versuchte, war die Bukolik. In seinem Werk fehlen ländliche Szenen, Knaben, die idyllisch auf Ochsen zur Dunkelheit Flöte spielen, fröhliche Holzfäller oder philosophierende Fischer. Der Dichter präsentiert vor allem den wilderen Aspekt von Natur, der ihn anzog, weite, unbewohnte Räume, Katarakte, Berge ohne Fährten und desolate Schluchten.
Hierzu läßt sich vieles sagen. Das Werk des Li Bai ist philologisch zwar von chinesischer und japanischer Seite vortrefflich untersucht, doch hermeneutisch so gut wie gar nicht. Ähnliches gilt für die Übersetzer im deutschsprachigen Raum: So nobel wie alles seit bald einhundert Jahren verdeutscht worden ist, doch so gut wie nichts ist schriftlich interpretiert worden. Alfred Hoffmann tat sein ungeheures Wissen nur im Unterricht kund, schwieg ansonsten. Heute bin ich sein Sprachrohr. Der „Irrweg“ von der Theologie über die Germanistik und Philosophie zur Sinologie hat mir zu einer philosophischen und literaturwissenschaftlichen Methodik verholfen, die es mir hoffentlich erlaubt, die folgenden Texte zu der ihnen zustehenden Tiefe zu verhelfen.
Gleichwohl bleiben die Beobachtungen von Arthur Waley wichtig. Weitergedacht: Li Bai, ohne je ein Examen gemacht und eine Anstellung gewonnen zu haben, ist sein Leben lang unterwegs. Er lernt weniger die Gärten seiner verbeamteten Dichter-Kollegen kennen als vielmehr die unbehauste Natur auf seinen Wegen von Mäzen zu Mäzen, um zu wohnen und um zu beißen zu haben. Gedichte werden gern zu Käsch empfohlen, nur so kann die Reise weitergehen. Im Vertrauen eher auf den Taoismus als auf den Buddhismus.15 You 遊, die Wanderschaft, wird daher zum Lebensinhalt.16 Flußgötter werden angerufen.17 War unser Dichter religiös? Natürlich. Von allem etwas: Taoismus, Buddhismus, Animismus, wie damals üblich, doch bis auf eine große Ausnahme (Alte Weisen 古风 gufeng) kein Konfuzianismus, deren Vertreter er zum eigenen Schaden gern verhöhnte. Er war ein Ritter (xia侠), der sich schlug und tötete. Er wußte also nichts vom Leben da unten? Er beschreibt doch die „fremden“ Reiter an den Ausläufern des Reiches, er wäre gerne einer von ihnen gewesen.
II.
Es hat fast fünfzig Jahre gebraucht, bis Li Bai wieder in Buchform zum Gegenstand der „westlichen“ Wissenschaft wurde. Die Autorin habe ich bereits erwähnt. Was bietet nun Paula M. Varsano Neues?18 Sie scheint eher Philosophin als Literaturwissenschaftlerin zu sein. Insofern liest sich die Studie alles andere als leicht.19 Zunächst: Das „Buch“ besteht aus einer Sammlung von Aufsätzen, die schon anderswo publiziert wurden.20 Sie fühlt sich, wie der Untertitel es sagt, der Rezeption des Dichters verpflichtet, allerdings nur der chinesischen Seite „von den Anfängen bis zur Gegenwart“. Dabei spielt die Kanonisierung eine wesentliche Rolle. In beiden Fällen waltet jedoch keine literaturwissenschaftliche Sicht. Dies ist kein Vorwurf an die Autorin, sondern eine Bestandsaufnahme: Bis heute gefallen sich chinesische Gelehrte nämlich in der Erzählung oder Wiederholung von Anekdoten: Li Bai sei ein auf die Erde verbannter „Unsterblicher“ (zhexian 谪仙), er sei bei der Umarmung des Mondes ertrunken, er sei „wundersam“ (qi 奇) in seiner Diktion, er sei ein uneinholbarer Genius. So zur Tang-Zeit und darüber hinaus. Schlimmer noch, sie gefallen sich besonders seit der Song-Zeit in der Moralisierung, sie kommen dabei im Vergleich mit dem treuen Freund Du Fu (712-770) zu fragwürdigen Ergebnissen, der eine (Li Bai) verträume sein Leben sorglos am Himmel, der andere (Du Fu) leide auf Erden um der Menschen willen, der eine sei idealiter „leer“ (xu 虚), der andere biete realiter die Fülle der Wirklichkeit (shi 实). Ganz so, als hätte Poesie vor allem dem Los eines Reiches, dem Schicksal eines Herrschers und noch mehr dem Geschick des Volkes verpflichtet zu sein. Li Bai war jedoch trotz aller Lebensfreuden keinesfalls blind für die öffentlichen Ereignisse. Ganz das Gegenteil ist seine Dichtung von Beginn an durch einen, wenn auch kosmischen Blick auf das Kaisertum der Tang-Dynastie geprägt.21
Das eigentliche Problem der Auflistung von chinesischen Ansichten aus mehr als tausend Jahren liegt in der Tatsache begründet, daß nicht alle Texte von Li Bai gelesen, ja nicht einmal genau studiert worden sind, um zu einem umfassenden Urteil zu kommen. Meist wurde immer dasselbe Werk betrachtet und äußerst konventionell kommentiert. Von Rezeption, geschweige denn von kritischer Rezeption kann also gar keine Rede sein, eher von einer Art poetischer Folklore. Im Gegensatz hierzu scheint mir der zweite Teil der Studie bedeutender zu sein. Mag Paula weniger gelesene Texte nicht selten eigenwillig interpretieren, so deutet sie nicht nur rein philologisch, sondern mitunter auch analytisch. Ihr Gegenstand sind da zwei wichtige Genres, nämlich das der bereits erwähnten „Alten Weisen“ (Gufeng) und das der „Archaischen Lieder“ (yuefu 乐府). Im ersten Fall haben wir es mit 59 Beispielen zu tun, die im Kontext von Zeit und Vorzeit aufgedröselt werden. Diese erfreuen sich keiner großen Beliebtheit, sie wirken dröge, sind aber wichtig, weil sie einen anderen als den „bekannten“ Dichter zeigen, nämlich einen, der Geschichte sowie Geschichten verhandelt und dabei moralisch vorgeht.
Im zweiten Fall bedient die Autorin die Klamottenkiste amerikanischer Vorurteile: In seinen archaischen Liedern äußere sich das „Selbst“ des Dichters.22 Dieser entwerfe sich, schaffe ein authentisches Bild, ein Bildnis seiner Person. Man hat es jedoch eher mit einem Rollenspiel zu tun, zu welchem das Hyperbolische gehört. Zudem ist die Form des Archaischen Liedes, bevor es vom „Klassischen Lied“ (词 ci) abgelöst wird, urtümlich an ein Ritual im Tempel und am Hof gebunden. Li Bai steht in dieser Hinsicht gleichsam am Ende einer alten Tradition.23 Der neuen hat er sich durchaus zu bedienen gewußt.
Was wir der Verfasserin dennoch insbesondere zu danken haben, ist ihr Weg nach Dangtu in der Provinz Anhui, wo der Dichter eine Bleibe hatte und verstarb. Sein Grab findet sich dort heute noch an Ort und Stelle. Sie hat es besucht und darüber geschrieben. Ihre Erinnerung hat sie in die Erinnerung der Erinnernden an die Erinnerten gekleidet. Dazu verhalf ihr Li Bai. Dieses gebrochene Moment einer vielfältigen Gedächtniskraft ist wohl bislang nicht bedacht worden. Als Schreibende sind wir Gedenkende und als solche geben wir den überkommenen Texten Leben ein. So gesehen betreiben wir keine Philologie um der Philologie, sondern eine Philologie um des Nachlebens willen.
III.
Der „westlichen“ Sinologenschaft wird von Vertretern des Postkolonialismus gern der Vorwurf gemacht, sie bemühe sich nicht hinreichend um die Erkenntnisse ihrer chinesischen Kollegenschaft. Das ist nicht der Fall, wir informieren uns sehr wohl, gewinnen jedoch nicht immer die erwünschte neue Erkenntnis. So oder so bleibt ein schaler Geschmack auf beiden Seiten zurück. Ich will daher einen namhaften Forscher mit seiner Einführung zu unserem Gegenstand vorstellen und nicht mit Kritik geizen. Da ist zum Beispiel der bekannte Spezialist für die Literatur der Tang-Zeit, Wang Yunxi (1926-2014), dessen Einführung zu unserem Dichter 2019 sein Mitarbeiter Yang Ming im Pekinger Volksverlag herausgegeben hat.
Das Werk läßt keine der auf dem Festland üblichen Plattitüden aus. Lassen wir einmal die konventionelle Biographie (S. 3-60) außer acht, beschäftigen wir uns allein mit dessen Frage nach der Stellung von Li Bai in der Literatur der damaligen Zeit (S. 60-70), so sticht die unhinterfragte Begrifflichkeit ins Auge. Da heißt es einmal, unser Dichter erneuere „die treffliche Tradition einer poetischen Widerspiegelung von Realität“, dann heißt es wieder, er sei „der größte Romantiker“, „ein fortschrittlicher Intellektueller“. Das ist alles Unsinn, es macht kaum Sinn, darauf einzugehen. Natürlich hat Li Bai das Los der Frauen in Freude und Leid erfaßt, natürlich hat er Krieg und Frieden seiner Zeit klar einzuschätzen vermocht, aber deswegen hat er sich noch lange keinem herkömmlichen Realismus verschrieben. Den Typus des kritischen Intellektuellen verdanken wir Frankreich um 1900. Chinesische Literati haben erst Ende der Kaiserzeit das politische System in Frage zu stellen gewagt. Und die Romantik? Um so mehr man Li Bai als Romantiker abstempelt, um so weniger ist er als solcher zu bezeichnen. Von Anfang an ist in deutschen Landen besagte Geistesrichtung als Krankheit, Zerrissenheit und als unstillbare Sehnsucht verdammt worden. Auf unseren Gegenstand trifft weder das eine noch das andere zu. Niemand anders als der bedeutende Ästhetiker Zong Baihua (1897-1986) hat den Unterschied von (klassischer) chinesischer und deutscher (romantischer) Dichtung so früh, so klar herausgearbeitet: Wo der Deutsche sich im Unendlichen sehnend verliert, kehrt der Chinese aus dem Unendlichen wieder zu sich zurück. Doch kaum einer seiner Landsleute ist ihm bisher gefolgt! Völlig aberwitzig wird daher die gegenwärtige Diskussion, wenn die Ladenhüter (National)Staat, Vaterland und Patriotismus weiterhin ins Spiel gebracht werden. Das sind alles moderne Begriffe einer modernen Zeit, die wir heute im Gegensatz zu den Restposten (post)kommunistischer Gebilde in Frage stellen. Richtig toll wird es, wenn die Rede vom Kampf gegen den Feudalismus als Kampf gegen die Finsternis ist und das Streben nach Freiheit als Sache des heiligen Zorns eingestuft wird. Einen Feudalismus gab es zur Tang-Zeit schon seit tausend Jahren nicht mehr und Freiheit im modernen Sinne hatte noch auf die Französische Revolution zu warten. Natürlich genoß Li Bai als Taoist eine Art Freiheit, aber nur eine geistige jenseits der Gesellschaft und nicht in der Gesellschaft. Es fehlen der chinesischen Literaturwissenschaft eine klare Terminologie und eine analytische Schärfe. Ideologie ist ihr Geschäft. Ich habe zu alldem bereits zu viel geschrieben, daher mag ich mich hier nicht weiter wiederholen. Gleichwohl möchte ich aber nicht ohne den Hinweis abschließen, daß die im zweiten Teil der Studie von Wang Yunxi gebotenen Deutungen der berühmtesten Texte von Li Bai ansonsten gut lesbar und durchaus nützlich sein können.
Wenn ich denn so hart mit einem bereits verstorbenen Kollegen ins Gericht gehe, habe ich etwas anderes, gar neues zu bieten? Ich meine, mit Rückgriff auf die chinesische Ästhetik, die auf dem Festland vielfach vernachlässigt wird, sollte es mir gelingen, statt Ideologie aufzuwärmen, dem übersetzten Texten auf den Grund zu gehen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, den ästhetischen Schriften des Bonner Sinologen Heinrich Geiger (geb. 1954), vor allem zu Zong Baihua, nachzufiebern! Man kommt dadurch zu gänzlich anderen Ergebnissen als die ihrer eigenen Tradition vergessenen Kollegenschaft in China. Wissenschaft hat mit Nationalität, wie derzeit vorzugsweise gemunkelt wird, nichts zu tun, sondern mit strengem Denken. Dieses wird jedoch mehr oder minder liebend an der Garderobe der Ideologie wie ein überzähliges Gewand abgegeben. Hoffnung ist hier zurzeit nicht gegeben.
IV.
Das Bild des Li Bai leidet unter der jahrhundertelangen Anekdotenbildung sowie unter einer mangelhaften Methodik. Gleichwohl gibt es Ansätze, die es zu verfolgen lohnt. Ich möchte hier nur zwei Beispiele herausgreifen, einmal den Heidelberger Kunstwissenschaftler Dietrich Seckel (1910-2007) und den chinesisch-amerikanischen Literaten Ha Jin (geb. 1956).
Der Deutsche hat nicht nur mit seiner Einführung in die Kunst Ostasiens 1960 die ostasiatische Kunstgeschichte begründet.24 Hier legt er in einem eigenen Kapitel seine Ansichten zu einem berühmten Porträt von Li Bai dar. Es stammt von dem exzentrischen Maler Liang Kai (vielleicht 1140-1210) und findet sich heute als Rollbild (Tusche auf Papier) im Nationalmuseum von Tokio, welches ich 1969 aufsuchte. Sein Titel lautet: Gemälde von Li Bai, der im Gehen rezitiert (Li Bai xing yin tu).