Das Buch - Frank Romanowski - E-Book

Das Buch E-Book

Frank Romanowski

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Beschreibung

Gibt es einen achten Tag? Wir teilen unsere Zeit in 7 Tage ein, manche sagen, sie wurde uns so eingeteilt. Nach tausend Gedanken und einem Leben als Schriftsteller, findet sich Lucian Deuter im achten Tag wieder. Was sehen wir, wenn die Sonne untergeht? Was bewegt uns, wenn nicht eine kosmische Ordnung? Liebe? Angst? Leidenschaft? Alles beginnt mit einem Wort: Sei! Und es endet mit Gedanken, die in Worte zu fassen sind. Was bleibt? Wissen? Glauben? Worte? Lucian Deuter lebt in Worten, lebt durch Worte und findet eine Welt, die nicht nur seine eigene ist. Um sie zu teilen und zu erfahren, ob andere Menschen auch in dieser Welt leben, braucht er eine Verbindung und findet sie in Gedanken und Worten. Er kehrt an den Ort, an dem er zum Schriftsteller wurde zurück, nach Ibiza und findet dort den achten Tag. Seine Wegbegleiter finden seine Welt, die er ihnen gibt, in einem Buch, das er zurücklässt: Das Buch ist der Schlüssel zum achten Tag.

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Gibt es einen achten Tag?

Wir teilen unsere Zeit in 7 Tage ein, manche sagen, sie wurde uns so eingeteilt.

Nach tausend Gedanken und einem Leben als Schriftsteller, findet sich Lucian Deuter im achten Tag wieder. Was sehen wir, wenn die Sonne untergeht? Was bewegt uns, wenn nicht eine kosmische Ordnung?

Liebe? Angst? Leidenschaft?

Alles beginnt mit einem Wort: Sei!

Und es endet mit Gedanken, die in Worte zu fassen sind. Was bleibt?

Wissen? Glauben? Worte?

Lucian Deuter lebt in Worten, lebt durch Worte und findet eine Welt, die nicht nur seine eigene ist. Um sie zu teilen und zu erfahren, ob andere Menschen auch in dieser Welt leben, braucht er eine Verbindung und findet sie in Gedanken und Worten.

Er kehrt an den Ort, an dem er zum Schriftsteller wurde zurück, nach Ibiza und findet dort den achten Tag.

Seine Wegbegleiter finden seine Welt, die er ihnen gibt, in einem Buch, das er zurücklässt:

Das Buch ist der Schlüssel zum achten Tag.

Das Buch

Roman

Frank Romanowski

Für

Hugo

Franziska

Egon

Liselotte

Gregor

Und allen die Euch folgen werden

Alles beginnt mit dem Wort.

Sei!

Es war mit dem Tod.

Es bleibt das Wort.

Kapitel 1

Es war einer dieser Sommertage, an denen der Himmel und die Erde eins wurden.

Über dem ganzen Kontinent lag seit Wochen eine Hitze, die Himmel und Erde verschmelzen ließ, in diesem Sommer, wie es ihn seit Jahren nicht gegeben hatte.

Das Licht überstrahlte alles, und ein Horizont war nicht zu sehen. Alles schien hell und erstrahlte im Licht dieser Sommertage.

Lucian Deuter stand auf dem oberen Deck der Fähre, als diese in den Hafen von Ibiza einlief. Er sah, wie das Schiff sich der Kaimauer näherte und die Wasserfläche vor der Bordwand immer schmaler wurde. Das helle Licht des Himmels spiegelte sich jetzt nicht mehr nur auf dem Wasser, sondern auch an den Häuserwänden, die nur durch die schmale Uferstraße vom Meer getrennt waren. Auf der Hafenstraße standen auf die Abfahrt wartende Autos. An der Kaimauer drängten die aussteigenden Fahrgäste in Richtung Stadt.

Das Stimmengewirr war bis an die obere Reling der Fähre zu hören.

Lucian Deuter hatte es nicht eilig. Er war aus Hamburg am gestrigen Morgen mit dem Zug nach Barcelona abgefahren, um dann die Überfahrt mit der Fähre anzutreten.

Wer es eilig hatte, nahm das Flugzeug. Seit Jahren liebte er es, auf diese Art und Weise zu reisen. Er hatte Zeit. Nicht dass er sich langweilte. Er wusste seine Zeit gut zu nutzen.

Der Schwarm der Touristen drängte voran. Einige waren guter Laune, lachten, waren mit Freunden unterwegs, wurden freudig begrüßt.

In die Geschäftigkeit des Hafenbetriebes von gleichzeitiger Ankunft und Abreise, mischte sich die Betriebsamkeit der Stadt. Aus der Höhe des Schiffes betrachtet, war ein lebendiges Durcheinander zu vernehmen. An den Wänden der Häuser klebten Plakate für Vergnügungen und Partys aller Art.

Die meisten Menschen freuten sich auf ihren Urlaub, hatten Lust auf Entspannung, Baden, Treffen mit Freunden, Feiern. Lucian Deuter dachte an die Zeit, als er das erste Mal auf Ibiza ankam und sich mit der gleichen Erwartung aufmachte, die er jetzt aus der Höhe des Schiffes bei den Menschen an Land sah: Die Vorfreude auf den Urlaub, Lust etwas Neues zu erleben. Abenteuer jeder Art.

Hätte sich Lucian Deuter vor Jahren, bevor er überhaupt zu schreiben begonnen hatte, oder bevor er seinen ersten Roman geschrieben hatte, darüber klar werden können, was ihn, was Menschen antreibt etwas im Leben zu tun, oder nicht zu tun? Er stellte sich heute, viele Jahre später, solche Fragen. Fragen, die er an sich stellte, an sich selbst, als ob es einen Frager in ihm gäbe, der ihn befragte. Dieser Frager war ihm zu einem vertrauten Begleiter geworden, an den er sich gewöhnt hatte, der nie störte, aber auch nicht überraschte, wenn er sich meldete und eine Frage stellte. Fast war es so, als hätte er eine eigene Stimme. Dabei war es seine eigene. Er sah darin nichts Besonderes, hielt ihn für nichts Außergewöhnliches, fast hätte er mit ihm auch noch laut gesprochen. Immer wieder hörte er die Frage: „Was treibt die Menschen an?“

Lust und Angst, Lucian Deuter hatte noch keine anderen Gründe, oder Kräfte gefunden, als Lust und Angst, die Menschen antreibt. Egal zu was, Arbeit, Urlaub, auf Menschen zugehen, Fragen stellen. Die Lust auf etwas ist der schöne Antrieb im Leben. Der andere die Angst. Angst vorm Fliegen, Angst vorm Leben, Angst vor dem Tod.

Es war keine Flugangst, die ihn die Reise mit dem Schiff unternehmen lies, sondern die Art die Zeit langsam vergehen zu sehen. Lucian Deuter hatte Zeit.

Er dachte an die Zeit, als er sich auf einen Urlaub freute.Vor Jahren, als er noch als Journalist arbeitete, mit geregeltem Urlaub im Jahr. Damals freute er sich über Wochen und Monate auf den Urlaub.

Er fragte sich, wann es aufgehört hatte, dass die Dinge so neu waren, dass eine Vorfreude auf Unbestimmtes, einen Urlaub, eine ganze Zeitspanne anhalten konnte und die Stimmung beeinflusste, wenn nicht gar bestimmte? Es war die Zeit, in der er von außen bestimmt, seiner geregelten Arbeit nachging und Freiheit nur im Urlaub genießen konnte.

Sich von diesem äußeren Zwang frei zu machen und die Entscheidung nur noch als Schriftsteller zu arbeiten, hätte damals zur Folge haben können, dass die Vorfreude auf Abenteuer, Freizeit und Urlaub von Angst vor Armut und Erfolglosigkeit verdrängt worden wäre.

Er erinnerte sich nicht an eine solche Angst. Sei es, dass sie mit dem Erfolg seiner Bücher vergangen war, oder dass sie ihn nie erreicht hatte.

Spätestens nach der Verfilmung seines Erfolgsromans, konnte er als materiell unabhängig gelten.

Die Frage, warum keine Angst in ihm aufkam, hatte er für sich, seinen Frager und der Welt genauso beantwortet, wie die Fragen nach der Lust. Sein Erfolg war nicht das Ergebnis seines Wollens, sondern seines Handelns. Es ergab sich. Dies war keine Frage. Und so wie der Erfolg nicht das Ergebnis seines Willens war, so war die Angst ihm fremd geblieben.

Obwohl es schon spät am Nachmittag war, stand die Sonne noch hoch am Himmel und ein jeder suchte im Stadtgebiet einen Platz, an dem er nicht in der Sonne stand. Lucian Deuter beschloss noch eine Weile in dem Café am Hafen zu verbringen, in dem er seinen ersten Kaffee auf der Insel getrunken hatte und auch dort zu Abend zu essen, bevor er in seinen Mietwagen steigen wollte, um zu seinem Haus zu fahren.

Sein Gepäck bestand nur aus einer kleinen Tasche.Er bestellte einen Café con Leche. Er hatte einen freien Platz an einem Tisch an der Hausecke ergattert. Links und vor ihm lag eine kleine Gasse, auf der hauptsächlich Touristen neben einzelnen Skooter unterwegs waren. Hinter dem Haus kamen diejenigen hervor, die aus der unteren Altstadt kamen. Vor dem Café strebten die Touristen die Rampe hinauf, um durch das Tor in der Stadtmauer in das Innerste der Stadt zu gelangen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich das Haus, in dessen erstem Stock er vor Jahren, in einem kleinen Zimmer den Sommer verbringen wollte und eine Unterkunft gefunden hatte.

Damals hatte er seinen ersten Urlaub. Und dieser Urlaub war eine Flucht. Eine Flucht in sein Leben. Er hatte vor einen Zeitungsartikel zu schreiben, wozu es aber nicht kam. Nach dem Urlaub kündigte er bei der Zeitung.

Jahre später, saß Lucian Deuter wieder in diesem Café und wusste: Er war in seinem Leben und würde nichts tun müssen, was er nicht als zu ihm gehörig ansah. Und er würde sein Leben bis zum Ende nicht verlassen müssen, durch keine Macht und keine Kraft, die er nicht vorhergesehen hätte.

Die ersten Touristen kehrten vom Strand zurück und bevölkerten die Stadt.

Neben ihm nahm an einem Tisch eine Gruppe in Badelatschen, mit Strandtaschen und Sonnenhüten Platz und bestellte Sangria.

Der Sitz der Sonnenbrillen wurde geprüft, die T-Shirts und Bikinis zurecht gerückt, Sand von den Beinen entfernt.Als Lucian Deuter das erste Mal auf die Insel kam, war er in ihrem Alter. Das kleine Zimmer auf der gegen-überliegenden Straßenseite kam ihm damals wie ein Palast vor, da er die Dachterrasse mitbenutzen konnte und mitten in der Stadt zu jederzeit ausgehen konnte.

Er benutzt es als Stützpunkt für seine Ausflüge in ein neues Leben. Lucian Deuter hatte bis dahin keine weiten Reisen unternommen.

Die Sonne fiel auf die Sandsteinmauer des Hauses gegenüber. Die Metallgitter an den bodentiefen Fenstern warfen einen leichten Schatten, die Fensterläden waren verschlossen, um die Nachmittagshitze draußen zu halten.

Der Himmel über den Häusern blendete und war genauso hell wie die Straßen der Stadt. Im Hafen lief ein Katamaran ein. Ein neuer Strom Touristen bevölkerte die Hafenpromenade. Familien, Gruppen, Einzelreisende. Manche in knappen T-Shirts mit modischen Sonnenbrillen. Gut gelaunt, strömten sie auseinander.

Bin ich schön? Werde ich geliebt? Bekomme ich Aufmerksamkeit, ein Lächeln?

Kaum, dass er damals selbst für sich sorgen konnte, erstes Geld verdient hatte, um sich eine Flugreise zu leisten, war er auch mit diesen Fragen im Gepäck unterwegs, allerdings ohne dass ihm dieses damals bewusst war.

Auch er wollte Spaß haben, auf Partys gehen, Bestätigung finden.

Den Anderen als Spiegel nehmen, um sich selbst zu sehen.

Sich selbst kennen lernen. Eine Rolle spielen. All dies war hier möglich. Was auf der Insel geschah, blieb auf der Insel. Die Welt durch andere Menschen kennen lernen. Erwachsen werden. Er lebte den Tag. Er wusste was er nicht wollte. Er wollte nicht wieder zurück in die Rolle des Auftragsschreibers, nicht wieder zurück und als Journalist arbeiten. Wie er sich sein Leben vorstellte, schrieb er auf. Was er erlebte, schrieb er auf. Was er erleben konnte, fasste er in Worte.

Nichts schien ihm einfacher, als ein Leben auszudenken und dieses zu Papier zu bringen und ein Leben in Worten zu finden. Er wusste nicht, ob andere dieses Bedürfnis teilten, beschloss aber schon auf der Insel, sein erstes Buch zu schreiben. Ein Leben zu erfinden, in eine Welt einzutauchen, die er sich ausdenken konnte.

Er hatte schon immer eine Sicht auf die Welt, wie ein Schriftsteller, er beschrieb die Welt.

Lucian Deuter liebte es, seinen Gedanken nachzuhängen. Er hörte seine Fragen. Die Fragen des Fragers in ihm. Schon nach wenigen Monaten saß er damals häufiger in seinem kleinen Zimmer, oder auf der Dachterrasse und schrieb, beobachtete die Menschen, dachte nach, ging weniger aus, sprach Tage kein Wort.

Er hatte keine Angst davor zu versagen, er hatte Lust zu schreiben.

Er schrieb in dem kleinen Zimmer der Häuserecke, das er jetzt aus dem Café gegenüber sah. In dem vielleicht jetzt jemand anderes schrieb.

Lucian Deuter bog mit dem Mietwagen um die erste Steinmauer, aus der schon einige der aufeinander geschichteten Natursteine in den Straßengraben gefallen waren. Da es schon halbdunkel war, musste er langsam fahren, um am Straßenrand die Einfahrt nicht zu verpassen. Der Schotter unter den Reifen des Cabrios knirschte, als er vor dem zweiflügeligen Eisentor hielt, welches die Auffahrt verschloss.

Den Zahlencode, den er eingab, hatte er nie geändert, seit er „Son Vedra“ gekauft hatte. Der elektrische Motor des Tores setzte sich in Gang und das Tor bewegte sich langsam zur Seite. Es waren die vertrauten, summenden Geräusche des Motors und das metallene Quietschen und Knacken der Türangeln, welche beim Auffahren des Tores zu hören waren. Der Motor gab die Melodie vor, das Tor knackte im Rhythmus, Stück für Stück den Weg freigebend. Die Komposition hatte sich nicht verändert, das Stück klang vertraut. Crescendo beim Auffahren, und abklingend beim Schließen des Tores, nachdem Lucian Deuter hindurchgefahren war. Der Wagen rollte langsam den Schotterweg hinauf, das Tor schloss sich in zunehmender Ferne mit dem Schlussakkord beim letzten Anschlag und dem Einrasten der Verriegelung. Die Tormusik wurde abgelöst durch das Knirschen der Reifen im Schotter. Die Pinien beidseits des Weges standen dicht und gaben erst nach der zweiten Kurve den Blick auf den Horizont frei.

Der Wagen erklomm den Hügel. Am Ende des Weges tauchte „Es Vedra“ gegen den Abendhimmel auf, der Felsen im Meer, der dem Anwesen „Son Vedra“ seinen Namen gab. Der Felsen wurde immer mehr sichtbar, von der Spitze her, bis er ganz von Wasser umgeben, zu sehen war. Die letzte Rechtskurve, der Wagen erreichte den Hof, „Es Vedra“ lag zur Linken und schimmerte noch grün im abendlichen Restlicht. Die Bäume auf dem Felsen waren noch einzeln zu erkennen und wurden vor dem Grau des Felsens dunkler, je tiefer die Sonne sank, bis sie mit dem Felsen zu einem nebeligen Graugrün verblassten.

Lucian Deuter liebte es die Auffahrt alleine heraufzufahren, begleitet von den vertrauten Geräuschen und den wechselnden Bildern der Natur, das Aufgehen des Felsens am Horizont und dann, nach dem Abstellen des Motors, die plötzliche Stille. Er stieg aus dem Wagen schloss die Tür. Die Ruhe auf dem Hügel kehrte sofort wieder zurück. Er stellte sich an die Balustrade, legte die Hände auf den Sandstein und blickte zum Felsen, der jetzt im glatten Wasser lag, das den Himmel widerspiegelte.

„Son Vedra“ lag abgeschieden, kein Haus lag in Sichtweite, die Straße am Fuße des Hügels war nicht befahren, ein Hund bellte in der Ferne. Bei Sonnenaufgang würden die Hühner im nächstgelegenen Dorf zu hören sein.

Er nahm seine Reisetasche aus dem Kofferraum. Das Licht brannte im Haus.

Das Verwalterehepaar war heute zu einem Fest im Dorf gegangen, dem Patronatsfest, bei dem als Höhepunkt nach Einbruch der Dunkelheit die Statue und Reliquien der Stadtheiligen durch die Straßen getragen werden. Die Eingangstür an der vorderen Ummauerung öffnete sich nach Eingabe des Codes. Die Verriegelung sprang zurück und gab den Weg frei auf den ummauerten Weg zum Haupteingang, vor dem ein steinern gepflasterter Hof lag, der ebenfalls von Mauern umgeben war. Abends waren die Steine noch warm von der Sonne des Tages. Lucian Deuter öffnete die letzte Tür, betrat die Eingangshalle und stellte seine Tasche auf den schwarzen Tisch aus Schiffsbohlen in der Mitte des Raumes. Die Halle erstreckte sich über Erdgeschoss und Obergeschoss. An den Seiten führte je eine Treppe in das obere Geschoss auf eine Galerie. Tagsüber schien das Licht durch ein umlaufendes Fensterband über dem Obergeschoss. Lucian Deuter ging unter der Galerie hindurch in die Küche, wo die bodentiefen Fenster den Blick auf den Garten freigaben, der jetzt blau durch das Licht der Poolscheinwerfer schimmerte. Der Garten war auf der einen Seite durch eine Felsenwand begrenzt und ging auf der gegenüberliegenden Seite in eine Steintreppe über, die wenige Stufen hinab in den angrenzenden Wald und zum Verwalterhaus führte, welches unterhalb der Baumkronen auftaucht, wenn man sich an den Rand der Terrasse stellte. Lucian Deuter setzte sich auf die steinerne Bank vor der Felswand. Er hörte die ersten Zikaden und die Bewegung des Wassers im Pool und sah einzelne Sterne am Nachthimmel.

Lucian Deuter war kein sentimentaler Mensch. Nicht, dass er keinen Sinn für die Dinge hatte, die mit den Sinnen zu erfassen sind, dafür hatte er ein Gespür. Und wie von selbst fügten sich ihm von jeher Sinneseindrücke zu einem Ganzen zusammen und konnten für ihn so laut und hell werden, dass er nichts anderes mehr sah und hörte und fühlte. Dann war es eine Stimmung, die alles bestimmend werden konnte, bei der sich nicht mehr unterscheiden ließ, welcher Sinn zuerst angesprochen war, eine Stimmung, bei der ein Ganzes entstehen konnte, wie das Schöne in der Kunst, wie eine Möglichkeit, eine Wahrscheinlichkeit, etwas, das mit anderem verbunden sein kann, vergänglich aber wahr.

Lucian Deuter blickte auf den Garten, atmete die Luft, die nach Nadelholz und Meerwasser roch und es kamen wieder Bilder vor sein Auge. Bilder und Gedanken, Gedanken und Worte, Worte und Sprache. Für ihn war das schon seitdem er sich über diese Dinge Gedanken machen konnte so und auch hatte er Worte dafür. Wie Farben zur Musik entstehen, kamen Gedanken, Worte, Sätze, die zu einer Sprache wurden.

Lucian Deuter saß auf der Terrasse und hörte die Bewegung des Wassers im Pool, das durch die Filteranlage gepumpt wurde. Er schloss die Augen, lauschte der Bewegung des Wassers, fühlte wie das Wasser näher kam. Er hörte nur und sah und dachte erst nicht, bis er Bilder sah, Bilder die er wiedersah: Umgeben von Wasser und Blut, nach Luft ringend, auftauchend, vom Licht der Welt geblendet. Er sah seine Geburt.

Lucian Deuter saß die halbe Nacht, betrachtete die Olivenbäume im Scheinwerferlicht der Garten-beleuchtung.Das Pool-Licht schaltete sich irgendwann automatisch aus, die Pumpe verstummte und es waren nur noch die Stimmen der Nacht zu hören, die Geräusche der Zikaden und in der Ferne das Meer, wie es an die Küste schlägt, mit seinem rhythmischen Klang. Als der erste Hahn krähte, ging er schlafen.

Die Sonne schien hell zwischen den Kiefern hindurch als Lucian Deuter sich am nächsten Morgen, nach dem der Verwalter gegangen war, wieder an den Pool setzte. Die Dinge, die besprochen werden mussten, waren nicht allzu viele, so dass er froh war, schnell wieder alleine zu sein. Er saß auf einem Gartenstuhl, der halb von der Morgensonne beschienen war. Der Platz, an dem er in den letzten Jahren oft gesessen und geschrieben hatte.

Als Kind wurde er für einen Träumer gehalten. Wo andere einfach einen Baum, eine Kiefer sahen, und gesagt hätten: „Dort steht ein Baum“, begann für ihn immer eine ganze Geschichte. Das Grün an den Astspitzen, das von Sonnenlicht beschienen leuchtete. Wind bewegte die Äste. An seinem Ohr vermischte sich der Klang der Wellen, die vom Meer herüber drangen mit dem Wind aus dem Baum, den er sah, hörte, fühlte. Es roch nach Harz und felsigem Sand, ein Flugzeug mit weißen Kondensstreifen zog durch die Astlücken. Sekunden später war auch das leise Turbinengeräusche zu vernehmen. Der Baum war gewachsen seitdem ihm das Haus gehörte. Er folgte mit seinem Blick dem Verlauf der Äste, so wie er es als Kind getan hatte und man ihn für einen Träumer hielt. Irgendwann war er es leid, den Leuten zu erklären, dass er die Dinge anders wahrnimmt als sie. Der einfache Sinn, etwas zu tun und nichts dabei zu denken, war ihm von jeher unmöglich.

Noch bevor Lucian Deuter beschlossen hatte, nicht wieder an seinem alten Arbeitsplatz zurückzukehren, lernte er Richard kennen. Richard saß, bevor er ihn kennengelernt hatte, in dem Café gegenüber seiner gemieteten Urlaubswohnung, in dem Café, in dem er selbst noch oft sitzen sollte. Richard sah mit seinen wachen, hellblauen Augen zu Lucian, der auf der Straße stand. Er beobachtete Lucian, noch bevor dieser ihn sah. Er fiel ihm damals auf, weil er alles, was um ihn herum geschah, beobachtete und dabei lächelte. Und so meinte Lucian auch gesehen zu haben, wie Richard ihm zuzwinkerte und dabei den Kopf ein wenig zur Seite drehte, gerade so wie eine Einladung herbei zu kommen. Er setzte sich damals mit der Frage „Ist hier frei?“ zu ihm, nachdem Richard lachend geantwortet hatte: „Ich sehe sonst niemanden, der an diesem Tisch sitzt!“ Lucian setzte sich. „Du bist niemand von der Insel, aber auch kein Tourist, der hier nur zwei Wochen Sommerferien verbringt“, sagte Richard noch während sich Lucian setzte. „Woher wissen Sie das?“ „Ich heiße Richard! Nun Du bist aus dem Haus da drüben gekommen, da wohnen keine Touristen. Außerdem kennst Du dich in der Stadt anscheinend aus, Du guckst nicht mehr alles neugierig an, wie ein Tourist.“ Lucian bestellte einen Kaffee. „Was beschäftigt dich gerade?“, fragte Richard, nachdem er Lucian dabei beobachtet hatte, wie er Milch in seinen Kaffee goss. „Dass ich nicht mehr in meinen alten Beruf zurück will, und was ich stattdessen mit meinem Leben anfangen will.“

Richard lebte schon seit sieben Jahren auf der Insel. Er war nach einem Urlaub mit seinen Eltern nicht wieder zurück nach Deutschland gegangen und hatte eine Zeit lang in einer Kommune im Süden der Insel gelebt, ohne dass dort auffiel, dass er noch nicht volljährig war. Richard tat worauf er Lust hatte. Damals verbrachte er die meiste Zeit des Sommers mit Bootstouren, wobei er zunächst Tickets verkaufte und dann selbst ein Boot steuerte und sich als Skipper über Wasser hielt, ohne dass er einen Führerschein gemacht hätte.

In der kleinen Siedlung aus alten Ställen und einigen Steinhäusern, in denen er mit anderen wohnte, gab es immer etwas zu reparieren oder zu bauen, worin er sich nicht ungeschickt anstellte. „Bist Du alleine hier?“, fragte Richard. „Ja“, sagte Lucian, aber dieses ist die Insel auf der man jeden Tag neue Menschen kennen lernen kann.“ „Komm heute Abend zu mir, dann zeige ich Dir die Insel, wie Du sie noch nicht kennst“, sagte Richard und gab ihm seine Adresse, als er das Café verließ.

Weit vor Mitternacht erreichte Lucian den etwas außerhalb von Ibiza Stadt gelegenen Hof, der umgeben von abgemähten Mohnwiesen lag und aus mehreren Häusern und Schuppen bestand. Lucian hatte sich ein Fahrrad geliehen, das auf dem Schotter der Straße, die von der Hauptstraße zu den Gebäuden führte, schwer zu lenken war. Im vordersten Schuppen brannte Licht, die Tür stand offen und Richard rief von drinnen: „Komm rein, die Tür ist offen.“ Als Lucian durch die offene Holztür trat, die in eine Mauer aus Natursteinen eingelassen war, kam Richard gerade aus der Dusche und trocknet sich ab. „Mach´s Dir bequem“, sagte er während er Lucian ansah. Richard zeigte keinerlei Anzeichen von Scham, ging ins Schlafzimmer, kam wieder mit einem weißen T-Shirt und einer weißen Hose in der Hand, die Richard Lucian in den Arm drückte „Wir gehen auf eine White-Party, schau ob Dir das passt.“

Dann verschwand er wieder im Schlafzimmer kam mit einer kurzen weißen Hose bekleidet zurück und zog sich ein T-Shirt über. Lucian hatte bereits die Hose gewechselt, die ebenso eng saß wie das T-Shirt, das er sich gerade über den Kopf gestreift hatte und dann mit einiger Kraft nach unten zog: „Etwas eng vielleicht“, sagte Lucian. „Genau richtig für die Party, Du musst Dich nicht verstecken. Außerdem willst Du Schriftsteller werden, da muss man etwas erleben!“ Sie fuhren mit einem kleinen Lieferwagen, der auf dem Hof für alle Transporte genutzt wurde, zu einer Halle, die in einem Industriegebiet lag. Aus der Halle, die an einen Flugzeughangar erinnerte, war schon von weitem Laserlicht zu sehen, das in den Nachthimmel strahlte und wie ein Finger auf die Sterne zeigte. Vor dem Gebäude stand eine lange Schlange weiß gekleideter Menschen. Sie parkten den Wagen auf einer Wiese, gingen an der Schlange vorbei zu einem Hintereingang. „Hallo Mike!“, sagte Richard zu dem Türsteher, „wie war die Bootsfahrt letztes Wochenende? „Cool!“ antwortete der Türsteher und schon war Richard mit Lucian im Schlepptau durch die Tür. Durch ein Kabelgewirr elektrische Anlagen und an Dutzenden Kühlschränken vorbei, landeten sie auf der Tanzfläche, auf die gerade noch zwei Neuankömmlinge passte.

Soweit sich Lucian Deuter erinnern konnte, war es das erste Mal, dass es ihm so deutlich geworden war, dass es für ihn mehr als eine Realität gab. In der weißen Menge verlor Lucian die Orientierung. Er sah nur die Menschen um ihn herum, den Nebel und das Blinken und Blitzen der Lichter, keine Decke, keinen Boden, keine Türen, nur die Menschen und das Weiß um ihn herum. Er wurde von den Tanzenden berührt, ging in der Menge unter, ohne dass es ihm unangenehm war, er badete in den wechselnden Berührungen. Der gleichmäßige Beat, gab den Rhythmus vor, in dem sich alle bewegten. Die Bewegung verselbstständigt sich. Bilder tauchten auf. Gedanken ohne Worte. Wortloses Sprechen. Er sah und fühlte. Sprachloses Denken. Keine Stimme war zu hören, nur Musik, die ihn hochzutragen schien, ihn schwerelos werden ließ, alles löste sich um ihn herum in Licht und Nebel auf. Er ließ sich treiben, schwebte in Gedanken mit allen. Er hatte keine Drogen genommen, auch war es keine Trance, die er erlebte, aber er sah nicht länger die Tanzfläche, nicht mehr die einzelnen weiß gekleideten Menschen, sondern Licht, eine Weite ohne Horizont und er hörte Gedanken, die er zur Sekunde hätte aussprechen können, wenig später aber schon nicht mehr fassen konnte. Sie hatten sich zu einem Gefühl gewandelt, das ihn wie das Licht zu durchströmen schien. Er vergaß die Zeit und die Bewegung hielt das Gefühl am Leben. Er schloss die Augen und das Licht und die Leichtigkeit blieben in ihm. Vor seinem geschlossenen Auge war es hell. Er tauchte erst wieder auf, als Richard ihn am Arm packte und heftig schüttelte und seinen Namen rief.

Als Lucian Deuter am nächsten Morgen erwachte sah er zwei Frauen mit Strohhut und Bikinis aus einem Zimmer gehen, das er bei Licht nicht kannte. Erst als er Richards Stimme hörte, kamen die Erinnerungen zurück: „Na, hat der Herr Schriftsteller ausgeschlafen?“ Er erinnerte sich an die Rückfahrt zu viert in dem wackeligen Lieferwagen, und dass er nicht mehr mit dem Rad nach Hause gefahren war. Seine Sachen mit denen er am Vorabend gekommen war, lagen noch da, wo er sie ausgezogen hatte. Er zog sie wieder an und ging vor das Haus, wo Richard jetzt alleine mit einem Kaffee saß. Mit dem Rücken an die Wand des Hauses, die aus Natursteinen aufgeschichtet war, gelehnt, blickte er über die abgemähten Felder auf denen noch einzelne rote Mohnblüten zu sehen waren. „Gehört das Haus eigentlich Dir?“, fragte Lucian, nachdem sie so eine Weile gestanden hatten. „Ich nutze es“, sagte Richard. „Und der dem es gehört, überlässt es uns. Ich bin ja nicht alleine hier. Ich kümmere mich darum, dass hier alles läuft und darf dafür hier wohnen.“ Richard schenkte Lucian noch einen Kaffee ein: „Hier gehört alles irgendwie allen. Wer genau der Besitzer ist, wissen wir nicht. Irgendwann sind die anderen hierhergekommen, und später auch ich. Ich hab mir aus Besitz nie viel gemacht, wenn ich alles habe was ich brauche. Ich kann so gut leben und muss mir keine Gedanken darum machen, wem es gehört, und was ich kriegen kann. Alle die ich kenne die etwas besitzen, machen sich ständig Sorgen darum, es zu verlieren, oder wie sie noch mehr bekommen und am Ende bleibt sowieso nichts.“ Richard blickte über das Feld, trank von seinem Kaffee und sprach erst nach einer Weile weiter: „Hier wächst genug um zu essen und ich kann auch noch Geld verdienen, um mir das zu kaufen was ich noch benötige. Mit den Menschen, die auf die Insel kommen, um Partys zu feiern und ihr zu Hause vergessen wollen. Die zuhause so viel arbeiten, dass sie sich einen Urlaub leisten können, dafür aber dann keine Zeit für sich haben und hier ein Leben nachholen wollen, das sie sich für immer vorstellen. Ihr Schriftsteller macht ihnen doch auch eine Welt vor in der sie gerne leben wollen.“ Richard sah Lucian an. „Ich muss los“, sagte Lucian. „Wohin? Auf dich wartet doch niemand. Komm lieber mit zum Baden“, sagte Richard.

Richard tat worauf er Lust hatte. Und so waren beide wenig später an einem Strand im Süden der Insel, von wo aus ein großer Felsen zu sehen war, der im Meer lag. Der Felsen war mit Bäumen bewachsen, zwischen denen Ziegen umherliefen und den die Sonne hell in grau und grün erleuchtete. Sie breiteten ihre Handtücher im Sand aus und legten sich darauf. „Stört dich die Musik?“, fragte Richard, der ein Radio mitgenommen hatte. „Nein“, antworte Lucian. Er schloss die Augen und lauschte der Musik und dem Rauschen des Meeres. Der gleichmäßige Rhythmus des hin und her der Wellen und der Musik versetzte Lucian wieder in das Schweben der Nacht. Durch die geschlossenen Augenlider hatte er einen Blick ohne Horizont. Lucian sah sich in einer Welt ohne Worte. Leicht, die Wärme und das Licht genießend, ohne Gedanken. Es fehlte nichts. Es war der Augenblick, der zählte. Zeitlos. Lucian hörte seinen Namen, diesmal war es niemand der ihn rief. Richard schlief neben ihm in der Sonne. Lucian sah niemanden, der seinen Namen sonst hätte rufen können.

Die Sonne begann zu sinken. Richard wachte auf und sah Lucian für einen Moment fragend an, bis er sich daran erinnerte wo er war. Sie gingen ins Wasser, badeten und nachdem sie sich in der Sonne getrocknet hatten, fragte Richard: „Willst du berühmt werden? Lucian sah ihn an, um zu sehen wie Richard die Frage gemeint haben könnte. „Wer will das nicht?“ „Ich“, sagte Richard „wenn man berühmt ist, kann man nicht mehr tun was man will. Auf dieser Insel wollen alle die herkommen reich, schön und berühmt sein, wenigstens für einen Sommer.“

Am Abend fuhren beide mit dem Lieferwagen in den Hafen, um ein Paket abzuholen, in dem sich bunte T-Shirts befanden. „Die halbe Insel trägt diese T-Shirts. Ich verkaufe sie morgen am Strand auf der anderen Inselseite. Davon kann ich dann wieder eine Weile leben.“ „Wenn es so gut läuft, warum verkaufst du diese T-Shirts nicht jeden Tag?“ fragte Lucian. „Dann bin ich nur mit T-Shirts verkaufen beschäftigt und kann nichts anderes tun.“ Richard sprach mit ruhiger Stimme. Es klang nicht wie eine Rechtfertigung. Seine Augen waren gerade auf Lucian gerichtet. Richard hatte keine Sorge nicht zu wissen, was er am nächsten Tag tun würde. „Die vielen Möglichkeiten die sich ergeben, weil man ungebunden ist, keine Verpflichtungen hat, blieben ungenutzt, wenn ich mit Sorgen um die Zukunft, meine Zukunft verpasse“, sagte Richard. „Dich hätte ich auch nicht kennen gelernt, wenn ich an diesem Tag in irgendeiner Fabrik arbeiten gewesen wäre.“ „Warum hast Du mich eigentlich angesprochen?“ „Du bist anders. Schon wie du dort gestanden hast. Nicht wie ein Einheimischer, aber auch nicht wie ein Tourist. Ich wollte wissen wer Du bist!“ Lucian schaute Richard an, der ihn geradewegs ansah und dabei lächelte. „Neulich am Strand hast Du wieder so in die Welt gesehen: Mit geschlossenen Augen. Du nimmst die Welt anders wahr!“ „Früher hat man mich als Träumer bezeichnet, aber ich träume nicht, ich sehe mit geschlossenen Augen eine eigene Welt, und kann sie auch hören.“ „Das könntest Du auch nicht, wenn Du jeden Tag im Büro säßest.“

Lucian verbrachte jetzt fast jeden Tag mit Richard. In seinem Zimmer in der Altstadt war er nur noch selten, er zog nachts mit Richard über die Insel und verbrachte auch den Tag gleich ganz auf dem Hof. Irgendwann fragte Richard ihn, ob er nicht ganz zu ihm auf den Hof ziehen wolle, ein kleines Zimmer im Haupthaus sei frei und würde sicher weniger kosten, als das Zimmer in der Stadt. Lucian packte seine wenigen Sachen, verließ das Zimmer in der Stadt und zog zu Richard aufs Land. Hier lernte er auch die anderen Bewohner kennen und fand das Thema für sein erstes Buch: Er schrieb über den Hof und seine Bewohner und ihre Art auf der Insel zu leben.

Lucian Deuter konnte hier schreiben. Andere hätten gesagt, weil er Zeit hatte, sich konzentrieren konnte und nicht abgelenkt war. Aber das war für Lucian nicht der Grund. Er hätte auch nicht gesagt, dass er eine Spannung in seinem Leben bräuchte, um zu schreiben, dass es ihm sehr gut oder sehr schlecht gehen müsse, damit er etwas ausdrücken könne und dies als Antrieb zum Schreiben bräuchte. Es fiel ihm einfach zu, es war so wie es sich ergab, es war der Ort an dem er seinen ersten Roman schreiben sollte. Ohne Bedingungen, ohne dass er den Ort gesucht hätte, ohne dass es ihn Mühe gekostet hätte. Es war eine Möglichkeit und die führte zu dem was er schrieb. Er nahm sie, wandelte sie in die Tat, in das was geschrieben stand, in das was wurde und nicht länger nur Möglichkeit blieb. Unsichtbar, vorstellbar, nicht unwirklich, weder wahr noch unwahr, ein Buch.

Wie viele Monate er dort verbrachte, zählte er nicht. Auch der Winter war auf dem Hof keine Zeit, die mit Warten auf bessere Tage zugebracht wurde.

Das Buch war fast geschrieben. Richard war die Hauptfigur. Es gab nicht viel, was er sich ausdenken musste. Eigentlich musste er ihn nur begleiten und aufschreiben was Richard tat.

Er folgte ihm. Richard kannte fast jeden Einheimischen auf der Insel, der irgendein Geschäft betrieb. Tagsüber saßen beide oft in Cafés oder fuhren in eine der abgelegenen Buchten, oft nur um aufs Meer zu sehen. Wenn etwas am Haus zu erledigen war, taten sie es zu zweit. Er sah Richard mit seinen Bekanntschaften, die er mit nach Hause brachte. Sie blieben jedoch meistens nur ein paar Tage. Lucian sah Richard von seinem Zimmer aus, wie er in seinem kleinen Reich wirkte. Richard machte sich keine Gedanken über die Zukunft, die er sich ausschließlich als eine Vielzahl von Entscheidungen vorstellen konnte, die je nachdem wie diese getroffen werden, zu einem Fortkommen führen. Jeder Gedanke an Schwierigkeiten, Rückschläge oder unlösbare Probleme, die zu Not und Elend führen könnten, hielt er für überflüssig, da sie, was die Zukunft betrifft, reine Spekulation sind. Er wunderte sich nur über Menschen, die sich Probleme, die entstehen können, oder Schwierigkeiten, die in der Zukunft auftreten können, schon jetzt in ihrer Gegenwart und dann immerzu vorstellten und deswegen in dauernder Sorge und Angst lebten, es könnte etwas Schlimmes passieren, oder etwas könnte nicht passieren. Aus Angst vor dem Leben würden sie ihr Leben verpassen.

Wenn es etwas zu entscheiden gab, dann nur in der Gegenwart. Und auch wenn die Situation für ihn schwierig erschien, war er davon überzeugt, dass sich etwas finden ließe, das die Situation verbesserte. Dieses zeigte sich schon bei so einfachen Dingen, wie der Beschaffung von Lebensmitteln und Nahrung. Wenn kein Geld da war um etwas zu kaufen, ging er fischen. Im Sommer wuchs genug auf den Feldern und eine Gelegenheitsarbeit, um doch noch einkaufen zu gehen, fand sich für ihn immer. Richard war kräftig, hatte immer ein Lächeln. Man traute ihm schlichtweg jede Arbeit zu, sei es als Skipper oder Verkäufer. Da er immer etwas zu erzählen hatte, war er auch ein gern gesehener Gast. Er war nie in Verlegenheit. Nachbarn und Freunde saßen oft bei ihm auf dem Hof mit am Tisch. Er erzählte und verbreitete gute Laune. Dabei half ihm, dass er um Komplimente nie verlegen war. Er vermied es in der Vergangenheit zu denken. Fragen, warum er nicht wieder mit seinen Eltern nach Deutschland gegangen war, wich er aus, machte höchstens Andeutungen. Die Eltern führten wohl ein Hippieleben auf der Insel und hatten ihren Sohn einfach mitlaufen lassen, und weil dieser gut alleine zurechtkam, war es auch gut vorstellbar, dass die Eltern ihn einfach vergessen hatten, was Richard, zu mindestens dem Anschein nach, nie bedauert hatte.

Es war die Stimmung, die Lucian Deuter in Erinnerung blieb. Die Ereignisse der Zeit seines ersten Aufenthaltes auf der Insel blieben scheinbar bedeutungslos. Es war die scheinbare Gleichmäßigkeit der Ereignisse und deren heitere Art, die einen Tag so sonnig wie den anderen erscheinen ließen.

Nachdem er sich auf dem Hof mit seinen wenigen Habseligkeiten eingerichtet hatte, vergingen die Tage in der Erwartung, dass auch der nächste sicher in der gleichen leichten und unbeschwert sonnigen Art vergehen würde.Die Tage begannen in der hellen Kühle des Morgens, auf den Feldern ohne Plan, verliefen am Strand oder bei der Arbeit auf dem Hof und endeten in der Nacht vor dem Haus oder irgendwo auf der Insel ohne ein absehbares Ende. Niemand verbreitete mit Erwartungen einen Druck, niemand gab einen Zeitplan vor, niemand störte die heitere, unbeschwerte Lebensweise. Lucian schrieb vor seinem Zimmer, schrieb am Strand oder in einem Café. Es war diese Stimmung, die er in seinem Buch einfangen konnte, das unbeschwerte In -den -Tag –Hineinleben, das Genießen von Sonne, Licht und Luft, von Bäumen, Wasser und Nächten.

Zum ersten Mal hatte er auf der Insel Orangenbäume gesehen. Stundenlang konnte er in dem Hain, der an den Hof grenzte, umhergehen. Die groben rötlichen durch die Trockenheit gehärteten Schollen zwischen den dunkelgrünen Bäumen, gaben unter seinen Füßen nach und zerbrachen in kleinere Teile, mit dem oft einzigen Geräusch, was in der Stille zu hören war, an Tagen an denen das Meer ruhig war und silbern glänzte.

Das gleichzeitige Blühen und Früchtetragen der Bäume erschien ihm wie ein überreiches Wunder der Natur. Stundenlang konnte er zwischen den Blüten und den reifen Früchten stehen und ihren Duft in sich aufnehmen. Er betrachtete das hellere Grün der frischen Triebe und zerrieb ältere Blätter zwischen seinen Händen, um auch diesen Geruch einzuatmen. Unter einem der größeren Bäume auf einem Stück der Wiese, hatte er einen Platz gefunden, an dem er sich unter die Bäume legte, und in den Himmel durch die Blätter sah. Er liebte die Apfelsine, den Apfel aus China, der an den Bäumen hing und eine Versuchung war, eine Versuchung ihn zu pflücken, obwohl die Frucht mehr als ein Jahr am Baum hängen konnte, bevor sie reif war.

Er schloss die Augen. Sein Herzschlag gab einen Rhythmus vor. Es kam ein leichter Wind auf. Er hörte Musik. Musik die nur er hörte, aus seinen Gedanken, aus seinem Körper. Ein gleichmäßiger Rhythmus, wie sein Puls, der an Lautstärke langsam an und abschwoll. Darüber eine Melodie, leise beginnend. Gleichmäßig tönend, und immer größere Kreise um ihn ziehend, lauter und weiter werdend, wie ein Rausch, wie ein Rauschen überall. Laut wie das Meer. Er fühlte, wie die Erde sich mit ihm drehte, wie der Planet sich durch das Universum bewegte, auf dem er ausgestreckt lag, als ob er mit der Erde unter sich verwachsen wäre.

Er hörte seinen Namen, niemand der ihn rief war zu sehen.Irgendwann antwortete er. In Gedanken, irgendwann sagte er fragend: „Ja?“ Er lauschte. Seine Gedanken antworteten ihm. „Du bist hier!“ Was siehst Du? Was fühlst Du? Was bist Du? Lucian Deuter wunderte sich nicht, genauso wie er sich nicht darüber wunderte, dass ein Baum gleichzeitig blühen und Früchte tragen kann. Er schrieb was er hörte. Geschrieben wunderte sich darüber niemand.