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Das vermeintliche Wissen, das über Sinti*ze und Rom*nija kursiert, ist geprägt von negativen Stereotypen bei kaum vorhandenen Kontakterfahrungen mit Angehörigen der Minderheit. Die dominierenden Bilder werden durch die Medien verbreitet und als Wahrheiten ausgegeben und rezipiert. Sie beschränken sich außerdem nicht auf Mitglieder der Minderheit, sondern werden ohne Widerspruch auf Menschen aus Bulgarien und Rumänien übertragen. Neben der emanzipatorischen Arbeit einer zunehmenden Zahl an Selbstorganisationen, ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die medialen Inszenierungen, deren Schauplätze und Akteur*innen, sowie die dahintersteckenden Wirkmechanismen und Strukturen aufzudecken. Katharina Peters untersucht am Beispiel der medialen Inszenierung von ›Sinti und Roma‹ im deutschen Fernsehen, wie Rassismen adaptiert und verbreitet werden. Die mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien ausgezeichnete Analyse entlarvt die als Realitäten ausgegebenen Bilder in ihrer Konstruiertheit und schafft so Raum für andere Wirklichkeitsentwürfe, die ein vielfältigeres Bild zulassen und Stereotype negieren. Der diskurs- und medienwissenschaftliche Ansatz leistet einen Beitrag, Erscheinungsformen des Rassismus in Zeiten eines weltweit erstarkenden Nationalismus am Beispiel von Antiziganismus im deutschen Fernsehen detailliert zu beschreiben. Mit dem Ziel, die Sensibilität für eine diskriminierungsfreie mediale Darstellung zu schärfen und das Bewusstsein für die Realität Deutschlands als eine Einwanderungsgesellschaft zu stärken.
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Seitenzahl: 235
Katharina Peters
Das deutsche Fernsehen und der Fall ›Rassismus‹
Mediale Inszenierungen von Sinti und Roma im Tatort und in politischen Talkshows
Die Edition DISS wird im Auftrag des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung herausgegeben von Gabriele Cleve, Margarete Jäger, Wolfgang Kastrup, Helmut Kellershohn, Benno Nothardt, Jobst Paul, Katharina Peters, Regina Wamper.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Katharina Peters:
Das deutsche Fernsehen und der Fall ›Rassismus‹
Edition DISS, Bd. 46
1. Auflage, April 2021
eBook UNRAST Verlag, Oktober 2023
ISBN 978-3-95405-167-0
© UNRAST Verlag, Münster
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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Vorspann – Die Verwischung der Grenzen im Interdiskurs Fernsehen
Drehbuch – Korpus und Struktur der Analyse
Im Visier – Sint*ezza und Rom*nja als Objekte medialer Inszenierung
Wiederholung – Die Rolle des Fernsehens
Immer wieder sonntags – Der Tatort
Modus operandi – Zur Methode
›Sinti und Roma‹ im mediopolitischen Diskurs – Eine Spurensuche
Die Bürde der kollektiven Schuld – Armer Nanosh (1989)
Musikalität und Leidenschaft – Die schlafende Schöne (2005)
Kriminalität und Elend
›Klau-Kids‹ aus ›Osteuropa‹ – Brandmal (2008) und Kleine Diebe (2000)
›Menschenhandel‹, ›Prostitution‹, ›Arbeiterstrich‹, ›Bettel-Clans‹ und ›Müll‹ – Mein Revier (2012), Angezählt (2013), Mi san jetz da, wo’s weh tut (2016), Klingelingeling (2016)
Auflösung oder offenes Ende? Résumé und Ausblick
Literaturverzeichnis
Literatur
Verzeichnis Filme und Fernsehsendungen
Anhang
Übersicht Tatort-Folgen
Übersicht Polit-Talkshows
Übersicht (diskursauslösende) Ereignisse und mediale Bearbeitungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
Anmerkungen
Für Franzi und Wibke.
Für Inspiration und Unterstützung –in dem was zählt.
Und für alle, denen es reicht.
»Du kennst das Wort nicht kaltgestellt
Du hast den Anspruch an die Welt.«
(Herbert Grönemeyer)
Es ist ein ganz ›normaler‹ Sonntag in Deutschland. Rund zehn Millionen Deutsche haben gerade wie jede Woche den neuesten Tatort im Ersten gesehen. Laut Feridun Zaimoglu handelt es sich hierbei um das »letzte Lagerfeuer, um das sich die deutsche Fernsehsippe verlässlich schart«[1] – und die konstant hohen Einschaltquoten geben ihm Recht. Kaum ist der prägnante und bekannte Abspann abgelaufen, ertönt auch schon direkt im Anschluss die Titelmelodie der Polit-Talkshow Anne Will. Der Talk geht ohne Umschweife los und die Moderatorin adressiert ihre Gäste und die Zuschauer*innen im Studio und zu Hause mit folgender Frage: »Tatort Problemviertel – was ist bloße Fiktion und was ist höchst real in einem Deutschland, das reichlich verunsichert ins neue Jahr gestartet ist?« Diese Anmoderation der Sendung mit dem Thema Bürger verunsichert. Wie umgehen mit kriminellen Zuwanderern? vom 15. Januar 2017 nimmt nahtlos Bezug auf den unmittelbar zuvor ausgestrahlten TatortWacht am Rhein des Kölner Ermittler-Duos Max Ballauf und Freddy Schenk, in dem ebenfalls sogenannte »besorgte Bürger« im Fokus stehen. Zum anschließenden Talk sind Personen aus unterschiedlichen Bereichen geladen, mit dem behaupteten Selbstanspruch der Show, das Thema multiperspektivisch zu behandeln. Die Gäste im Einzelnen sind der Sozialarbeiter Samy Charchira, »der sich um nordafrikanische junge Männer in Düsseldorf kümmert«; die Journalistin Düzem Tekkal, »die für ihren neuen Film in einem Mannheimer Problemviertel gedreht hat« und als politische Vertreter*innen der ehemalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der Bürgermeister der Stadt Hamburg Olaf Scholz und Simone Peter, Vorsitzende Bündnis90/Die Grünen. Eröffnet wird die Diskussionsrunde mit den beiden Gästen, die ganz »nah dran« sind an den »kriminellen Zuwanderern« und »besorgten Bürgern«. So wird zunächst der Sozialarbeiter von Will gefragt:
»Herr Charchira, Sie haben sich den Tatort angeguckt. Wenn Sie das, was Sie da gesehen haben, abgleichen mit dem, was Sie für gewöhnlich bei sich im Viertel in Düsseldorf, dem sogenannten ›Maghreb-Viertel‹ erleben: Entspricht das irgendwie der Realität oder nicht?«
Dieser antwortet daraufhin, dass er die Tatort-Folge tatsächlich als »sehr authentisch« und »die Ereignisse in dem Film doch gar nicht so fiktiv empfunden« habe. Auf den Unterschied von Fiktion und Nicht-Fiktion hinweisend und damit scheinbar aufklärend fährt Will fort: »Also es gibt den Tatort, der hat seine eigene Realität, ganz selbstverständlich, das ist ein Film. Aber gucken wir mal nach, wie es in der wahren Realität aussieht.« Es wird ein dokumentarischer Filmbeitrag gezeigt, der durch das Voice-Over »Tatort Berlin Kreuzberg« eingeleitet wird. Es folgen Interviews mit Anwohner*innen im Wechsel mit Aufnahmen der »Problemviertel« aus Berlin und Mannheim. Visuell inszeniert wird das Ganze mit Filmblenden, dem Einsatz von Unschärfe am Bildrand[2] und durch – für eine Interview-Situation ungewöhnliche – Einstellungen (Detail) und Perspektiven (Aufsicht) auf die befragten Anwohner*innen. Unterlegt ist der Beitrag außerdem mit Musik aus dem Action- oder Thriller-Genre und einem durch Prosodie und Wortwahl Gefahr und Bedrohung evozierendem Voice-Over. Im zweiten Teil des Filmbeitrags ist dann die geladene Journalistin Tekkal zu sehen, die investigativ im Mannheimer Problemviertel recherchiert. Im Studio wird diese von Anne Will gefragt, ob die vom Film eingefangenen »Realitäten« dem »Normalzustand« entsprechen oder der Filmsituation geschuldet seien. Die Authentizität ihrer Recherche und ihrer Aufnahmen implizierend antwortet Tekkal: »Also ich hoffe, dass der Zustand derselbe war, wie wenn ich da mit der Kamera bin.«
Bereits in dieser kurzen Sequenz der Sendung zeigen sich zahlreiche Anknüpfungen und Verweise zwischen der nicht-fiktionalen Talkshow und der Folge der fiktionalen Krimi-Reihe Tatort. Nicht nur die Verwendung des Wortes »Tatort« in Bezug auf beide Kontexte, sondern auch die anknüpfende Frage nach Authentizität durch die Moderatorin und die audiovisuelle Inszenierung des dokumentarischen Filmbeitrags in der Ästhetik einer fiktionalen Narration aus dem Krimi-Genre lassen die Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion verwischen. Durch die kontinuierlich hohen Zuschauerraten, die die Nachrichtensendungen um 20.00 Uhr und der Tatort regelmäßig erreichen, sind die darauffolgenden Sendeslots besonders attraktiv und begehrt. Eine inhaltliche Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Formaten scheint unter diesem Gesichtspunkt als keinesfalls zufällig. Die Kopplung von fiktionalen und nicht-fiktionalen filmischen Texten ist insofern allerdings besonders problematisch, als dass sich dadurch der Realitätseindruck[3] der beiden filmischen Gegenstände verstärkt, indem sich die gezeigten Inhalte gegenseitig zu bestätigen scheinen. Gleichzeitig wird der Anspruch auf Authentizität des dokumentarischen Materials durch den von Will angesprochenen Unterschied von Fiktion und Nicht-Fiktion und durch die Proklamation als »wahre Realität« noch erhöht, obgleich auch dieses, wie jedes gefilmte Material, lediglich als Ausschnitt einer nichtfilmischen Realität[4] betrachtet werden kann.[5]
Als Konsequenz daraus muss der Tatort gar nicht versuchen, Geschichten, die sich auf reale Geschehnisse beziehen, möglichst realitätsgetreu zu inszenieren, um dem eigenen Realismus-Anspruch gerecht zu werden. Er kann auf das soziale und kulturelle Wissen im Interdiskurs[6] Fernsehen zurückgreifen (dazu gehören unter anderem eben auch Polit-Talkshows und sogenannte ›investigative‹ Reportagen), das kontinuierlich zu einem bestimmten Thema aufgegriffen und bereitgestellt wird (Thiele 2005: 7). In der medialen Berichterstattung prominente Themen und Fälle finden im Kriminalfilm ihre fiktionale Realisierung, das Spiel mit der Nähe zur ›Realität‹ ist dabei etabliertes Genremerkmal des deutschen Krimis (Brück et al. 2003: 11). Die Moderatorin der Polit-Talkshow kann sich daher wiederum auf den fiktionalen Krimi beziehen, der in Deutschland in langer Tradition als moralische Instanz gilt und gesellschaftsrelevante Themen mit eben jenem Anspruch verhandelt, die Wirklichkeit ›abzubilden‹.[7]
Bereits im Titel der Talkshow wird dabei verknappt behauptet, dass eine Gefahr für die vermeintlich deutschen Bürger[8] durch die (durchweg) kriminellen ›Zuwanderer‹ und damit Nicht-Deutschen besteht, mit der nun entsprechend umgegangen werden müsse.[9] Diese diskursive Verhandlung von Themen wie Flucht, Asyl und Einwanderung, in der variantenreich Bedrohungsszenarien entworfen werden und die auf der permanenten Konstruktion der Anderen fußt, ist im deutschen Fernsehen keineswegs neu[10] und eine solche, zumeist sensationsheischende Berichterstattung nicht allein Themen vorbehalten, die Migration betreffen.[11] Sie ist allerdings in Diskursen um als Minderheiten konstruierte Gruppen als besonders problematisch anzusehen, da sie stereotype Inszenierungen reproduziert, als Wahrheiten ausgibt und das Potential birgt, Angehörige dieser Gruppen zu diskriminieren. Denn durch seine »institutionalisierte Produktion und Distribution von Wissen bestimmt [das Fernsehen] ganz entscheidend mit, was gesellschaftlich sagbar und sichtbar wird, wie Themen definiert und soziale Gegenstände kollektiv wahrgenommen werden« (Thiele 2005: 7). Damit wird durch das Medium der Umgang einer Gesellschaft mit einer Thematik nicht nur aufgegriffen und reflektiert, sondern auch entscheidend mitbeeinflusst (Thiele 2005: 7).
Zu Beginn der Arbeit wurde auf die Kopplungsmechanismen zwischen verschiedenen Formaten im flow des Fernsehens aufmerksam gemacht. Im ersten Unterkapitel wird geschildert, warum die Untersuchung der medialen Inszenierungsprozesse von Sint*ezza und Rom*nja[12] aufgrund der noch immer vorherrschenden Ressentiments dringlich und notwendig ist. Anschließend werden einige grundlegende Überlegungen zum Fernsehen entfaltet. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Mechanismen der Wiederholung, welche anhand von Ausführungen zur programmatischen Struktur und der Serialität des Mediums sowie zu der Rekurrenz von stereotypen Inszenierungen und narrativen Kopplungen skizziert werden. In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche Positionen zur Rolle der Medien und deren Beeinflussungsgrad aufgezeigt, vor allem im Hinblick auf Diskurse um Minderheiten und damit einhergehend Ressentiments und Rassismen. Außerdem wird die Dienlichkeit post-kolonialer Theorien, gendertheoretischer Überlegungen und diskursanalytischer Verfahren für die Betrachtung antiziganistischer Erscheinungsformen hervorgehoben, welche im Zuge der Analyse im Hauptteil der Arbeit produktiv gemacht werden. Im nächsten Abschnitt werden Charakteristika und Grundlegendes zum Format[13]Tatort angeführt. Darauffolgend wird in einem letzten Schritt die Methode der Diskursanalyse mit besonderer Berücksichtigung der Kollektivsymbolik und dem Fernsehen als Interdiskurs vorgestellt.
Während der Themenkomplex Migration im Tatort in der bisherigen Forschung bereits umfangreicher thematisiert wird,[14] gibt es bisher lediglich einige wenige Aufsätze, die sich anhand einzelner Folgen der Reihe mit der Inszenierung von Sint*ezza und Rom*nja im Speziellen beschäftigen.[15] Eine vollständige und zusammenhängende Analyse sowohl für den Tatort als auch für das Fernsehen fehlt bis dato. Dieses Forschungsdesiderat soll die vorliegende Arbeit mittels einer dezidierten Analyse füllen. Dadurch kann sowohl ein vollständigeres Bild der diskursiven Verhandlung des Themenkomplexes ›Sinti und Roma‹ in fiktionalen Fernsehtexten in Deutschland aufgezeigt werden, als auch ein genereller Beitrag geleistet werden, wie im Tatort Wertevermittlung stattfindet und auf welche Weise gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen und bearbeitet werden.[16] Die Arbeit untersucht die mediale Konstruktion von ›Sinti und Roma‹ sowohl in ihren Spezifika als auch in ihren Gemeinsamkeiten mit anderen Ressentiments und damit als exemplarisch für einen xenophoben Diskurs im Rahmen einer »Erzählung der Nation« (Bhabha 1990).
Anhand ausgewählter Folgen können die Popularität und die damit zusammenhängenden Konjunkturen des thematischen Komplexes um ›Sinti und Roma‹ und mögliche diskursauslösende Ereignisse aufgezeigt werden (eine schematische Übersicht findet sich im Anhang). Außerdem kann anhand der Analysen nachgezeichnet werden, inwiefern sich der Diskurs und die Art der Inszenierung über Jahrzehnte gewandelt hat. Der Forschungszeitraum erstreckt sich von 1989 bis 2016 und begründet sich durch die Verhandlung von ›Sinti und Roma‹ in Tatort-Folgen innerhalb dieser Zeitspanne. Ausgehend von den relevanten Folgen der Krimi-Reihe werden die medialen Kontexte im Zeitraum um die Erstausstrahlungen der Filme betrachtet. Hierzu werden exemplarisch Folgen der Polit-Talkshows sowie Beiträge der öffentlich-rechtlichen Sender sowie Zeitungsberichte und Zeitschriftenartikel analysiert, die sich ebenfalls mit ›Sinti und Roma‹ beschäftigen und in Bezug zu den jeweiligen Tatort-Beispielen gesetzt und diskutiert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den bereits zu Beginn der Arbeit am Beispiel der Sendung Anne Will angedeuteten diskursiven Kopplungen mit ihren wechselseitigen ideologischen und realitätsstiftenden Effekten, die von den Anknüpfungen und Verzahnungen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten ausgehen. Diese werden daher im Folgenden nicht gesondert betrachtet, sondern in ihrem gemeinsamen zeitlichen Rahmen. Die Analyse erfolgt weitestgehend chronologisch, um die Konjunkturen und etwaigen Verschiebungen der Thematik im Diskurs parallel zu real-politischen und diskursauslösenden Ereignissen aufzeigen zu können, denn sich wandelnde Darstellungen (von Themenkomplexen) lassen sich nie allein durch produktionsästhetische Veränderungen erklären, sondern werden maßgeblich auch von gesellschaftlichen beeinflusst.[17] Die Analyse orientiert sich an bestimmten Folgen der populären Tatort-Reihe, in denen als ›Zigeuner‹ oder ›Sinti und Roma‹ inszenierte Figuren vorkommen. Die Austauschbarkeit und Synonymsetzung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten im Diskurs um die Minderheit, welche im Folgenden aufgezeigt wird, hat für die Analyse zur Folge, dass auch Folgen der Krimi-Reihe Tatort, der Polit-Talkshows und Fernsehbeiträge betrachtet werden, in denen zwar nicht explizit die Bezeichnung »Sinti und Roma« verwendet wird, die aber diskursiv und damit sprachlich und/oder visuell mit dem Themenkomplex verknüpft sind.[18] Hierunter fällt nicht nur die Verwendung einer oder mehrerer der synonym gebrauchten (ethnisierenden) Begrifflichkeiten, sondern es wird ebenso die visuelle Inszenierung berücksichtigt (z.B. in Form von stereotyper Kleidung oder des häufig verwendeten Kollektivsymbols ›Müll‹).[19] In diesem Zusammenhang wird auch die besondere Rolle zu klären sein, die den öffentlich-rechtlichen Sendern mit ihrer staatlichen Finanzierung und ihrer rechtlichen Gebundenheit im Rahmen des Rundfunkstaatsvertrages zukommt. Des Weiteren werden Fallbeispiele aus den Print-Medien hinzugezogen, um ein vollständigeres Bild des Mediendiskurses und den Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Medien skizzieren zu können und um aufzuzeigen, dass die fiktional produzierten Ressentiments im realpolitischen Diskurs aufgegriffen werden und vice versa. Am Rande finden auch Betrachtungen des Diskurses im Internet statt. Der diese Arbeit beschließende letzte Teil resümiert die Ergebnisse und gibt darüber hinaus Empfehlungen für eine zukünftige mediale, aber auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ressentiment.
Warum aber ist die Auseinandersetzung mit der Inszenierung dieser Gruppe notwendig und wichtig? Das Forschungsinteresse begründet sich unter anderem daraus, dass Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma in Deutschland aber auch innerhalb Europas besonders stark von Ressentiments betroffen sind.
»[Deren] [Fremdw]ahrnehmung […] wird [dabei] von zwei gegensätzlichen Bildern bestimmt: einem negativen voller Ablehnung und Zuschreibung unerwünschter Eigenschaften und einem positiven, das vor allem als romantisches Zigeunerbild entstanden ist. Dabei ist das romantische Bild als Projektion unerfüllter Wünsche deutlich schwächer ausgeprägt« (Hamburger 2010: 61).
Diese Dichotomie der Stigmatisierungen zeigt sich dabei in einer Vielzahl von Erscheinungsformen und Ausprägungen.[20] Nach jahrhundertelangem Bestehen haben die Stigmatisierungen dabei nichts von ihrer Wirkmächtigkeit verloren und sind sowohl Indiz als auch Katalysator für aktuelle Ressentiments gegenüber der marginalisierten Gruppe. Große Teile der Dominanzgesellschaft[21] stehen der Gruppe mit einer gefährlichen Mischung aus Ablehnung und Gleichgültigkeit gegenüber und assoziieren diese in erster Linie mit vorübergehender Zuwanderung (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014: 6). Die Grundlagen für die vorherrschenden Ressentiments sind dabei keinesfalls naturgegeben, sondern »beruhen auf einem konstruierten Bildgefüge, [von denen] jedoch […] reale Personen betroffen [sind]« (Severin 2011: 66), denen diese essentialisierenden Eigenschaften zugeschrieben werden. Bei den Betroffenen handelt es sich vorrangig, allerdings nicht ausschließlich um Sint*ezza und Rom*nja:
»Einige Gruppen, wie z.B. bestimmte Manusch und Kale, die sich nicht unter dem Begriff Roma subsumieren lassen wollen, oder Irish Travellers, Jenische und andere, die aufgrund sozialer, kultureller oder rassifizierender Zuschreibungen als [›Zigeuner‹] bezeichnet werden, sich aber nicht als Sinti und Roma [Hervorhebungen K.P.] definieren, werden mitunter ebenso unter der Kategorie diskriminiert« (Severin 2011: 67).
Für diese Form von Rassismus hat sich in den letzten Jahren der Begriff des Antiziganismus[22] zu etablieren begonnen. Markus End versteht darunter
»ein historisch gewachsenes und sich selbst stabilisierendes soziales Phänomen, das eine homogenisierende und essenzialisierende Wahrnehmung und Darstellung bestimmter sozialer Gruppen und Individuen unter dem Stigma ›Zigeuner‹ oder anderer verwandter Bezeichnungen, eine damit verbundene Zuschreibung spezifischer devianter Eigenschaften und die so Stigmatisierten sowie vor diesem Hintergrund entstehende diskriminierende soziale Strukturen und gewaltförmige Praxen umfasst« (End 2015: 47).
Mit zu bedenken sind jeweils auch immer die konkreten Ausprägungen, die sich nach regionalen, historischen und nationalen Kontexten unterscheiden (Severin 2011: 66). Deutschland blickt dabei, wie fast alle europäischen Länder, auf eine jahrhundertlange Tradition dieser Form des Rassismus zurück, der hierzulande seinen schrecklichen Höhepunkt im Porrajmos[23] während des Nationalsozialismus fand.[24] Die für Deutschland spezifischen Ausprägungen sowie die Gemeinsamkeiten mit anderen europäischen Ländern und mögliche Ursachen werden im Rahmen der Analyse ebenfalls Berücksichtigung finden.
Studien konnten einen erheblichen Anstieg der Abwertung von ›Sinti und Roma‹ in der deutschen Bevölkerung seit 2011 verzeichnen,[25] bei einem gleichzeitig signifikanten Rückgang für alle anderen Bevölkerungsgruppen, die auch von xenophoben Einstellungen betroffen sind (Brähler/Decker/Kiess 2014: 59). 2016 konnte ein weiterer Anstieg der abwertenden Haltungen beobachtet werden. So gaben 58,5 Prozent der Befragten an, dass sie der Meinung sind, dass ›Sinti und Roma‹ zur Kriminalität neigen und 57,8 Prozent ein Problem damit hätten, wenn diese in ihrer Nähe wohnen würden (Brähler/Decker/Kiess 2016: 50). Während festgestellt werden kann, dass Deutschland sich zur Zeit der Befragungen in einer wirtschaftlich gesehen stabilen und im europäischen beziehungsweise weltweiten Vergleich durchaus privilegierten Lage befindet, kommen Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess zunächst zu der Beobachtung, dass rechtsextreme Einstellungen und Ausländerfeindlichkeit der Erhebung nach zurückzugehen (2014: 65). Doch kann diese Annahme stimmen? Die anhaltende beziehungsweise wachsende Stigmatisierung, die ›Sinti und Roma‹ zusammen mit ›Muslimen‹ und ›Asylsuchenden‹ entgegengebracht wird und die weitaus höher als bei anderen Gruppen ausfällt, die auch von xenophoben Haltungen und Handlungen betroffen sind (Brähler/Decker/Kiess 2014: 62), verneint dies. Der erste Eindruck rückläufiger rechtsextremer Einstellungen täusche, so auch die Autoren. Die Empfänglichkeit für die »Ideologie der Ungleichheit« bleibt nach wie vor bestehen, lediglich das Ziel der Abwertung ist austauschbar: »Derzeit werden [vor allem] jene Gruppen zum Objekt der Aggression, von denen eine Schwächung der ›starken Wirtschaft‹ erwartet wird« (Brähler/Decker/Kiess: 68). Von ihnen geht die imaginierte Gefahr der Denormalisierung moderner Industriegesellschaften aus, deren Normalitätsstatus durch protonormalistische, vor allem aber flexibel-normalistische Verfahren permanent stabilisiert werden muss (Link 2001: 83f.). Bei diesen Verfahren handelt es sich um Normalitäts-Dispositive, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen und Diskursen, vor allem auch den Massenmedien, identifizieren lassen und die die »Attraktionskraft der Mitte und die Repulsionskraft der Extreme […] stärken« sollen (Link 2001: 84). Die Forschungsergebnisse zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind ein Hinweis auf ein Narrativ im wiedervereinigten Deutschland, bei dem Ökonomisierung und Leistungsdenken entscheidende Rollen spielen (Krauß 2016: 227).
Neben der konstruierten Gefahr für die Wirtschaft stellen ›Sinti und Roma‹ und ›Muslime‹ laut Decker, Kiess und Brähler nach wie vor eine Projektionsfläche für eigene abgewehrte Wünsche der Dominanzgeselllschaft dar (2014: 69), was sich in romantisierenden Bildern und Vorstellungen äußert, die stark reduktionistisch sind und den Minoritäten zugeschrieben werden. Im Falle der ›Sinti und Roma‹ sind diese vermeintlich ›positiven‹ Stereotype zwar nicht so explizit negativ, jedoch wird auch hier häufig ein homogenisierendes Bild der Gruppe entworfen, das diese als ›nomadische Freigeister‹ entwirft und das in starkem Kontrast zu einer kapitalistisch imaginierten Dominanzgesellschaft steht, die stets als arbeitend und produktiv gedacht wird. Bedenkenswert ist diese teilweise widersprüchliche Stigmatisierung aber in jedem Fall, gleicht sie doch in auffälliger Weise einem Exotismus im Kolonialdiskurs. Die Kolonialisierten werden von den Kolonisierenden zum Beispiel mit Attributen einer zügellosen Sexualität und zeitgleich mit einer kindlichen Unschuld belegt, ohne dass dabei der offensichtliche Widerspruch aufgelöst wird (Castro Varela/Dhawan 2015: 223). Wird die Verfolgungsgeschichte der europäischen Rom*nja und Sint*ezza in Europa betrachtet, so kann die Konstruktion eines europäischen Kontinents ohne Rassismus oder gar ohne nichtweiße Bewohner*innen schnell als reines Narrativ entlarvt werden, welches viel zu selten in Frage gestellt wird (El-Tayeb 2016: 91). Die daraus resultierenden diskursiven und gewaltvollen Praxen der Vergangenheit und Gegenwart sind im kollektiven Selbstbild nicht zu finden (El-Tayeb 2016: 91). In Deutschland kommt die Tabuisierung der Auseinandersetzung mit Rassismus hinzu, dessen Ursache Birgit Rommelspacher vor allem in der Verdrängung des Nationalsozialismus sieht (1994: 203).[26]
Im aktuellen Einwanderungsdiskurs mischen sich zunehmend traditionsreiche und aktualisierte Stereotypisierungen gegen Minderheiten. So lässt sich im Fall der Konstruktion von ›Sinti und Roma‹ schon seit einigen Jahren in der Berichterstattung eine Vermengung der diskursiven Kategorien ›Sinti und Roma‹ und ›Asyl‹ unter dem Schlagwort ›Armutszuwanderung‹ beobachten.[27] Äquivalent ist auch von »Zuwanderung aus Osteuropa«, »Rumänen und/oder Bulgaren« sowie von »Flüchtlingen«, »Armutsflüchtlingen«, »(Neu-)Zuwanderern«,[28] »Asylsuchenden«, »Armutswanderung«, »Sozialtourismus«, »Scheinasylanten«, »Asylmissbrauch«, »Wirtschaftsflüchtlingen« und vereinzelt auch noch von »Zigeunern« die Rede.[29] Diese Synonymsetzung wurde spätestens im Rahmen der Asylrechtsdebatte der 1990er Jahre eingeübt:
»Die Phantasien über ›den Zigeuner‹ deckten insgesamt die Vorstellungen von ›Scheinasylanten‹, ›Asylmissbrauch‹ und ›Wirtschaftsflüchtlingen‹. Und die geschürte Angst vor den ›Zigeunern‹ konnte für die restriktive Asylgesetzgebung instrumentalisiert werden« (Mihok 2017: 105).
Diese jahrelange Austauschbarkeit und Vermischung der Begrifflichkeiten im mediopolitischen Diskurs hat zur Folge, dass bei der Nennung einer dieser Bezeichnungen die anderen quasi-automatisch mitgedacht werden (Arbeitskreis Antiziganismus 2015: 5). Die diskursive Vermengung führt in Kombination mit einer vorherrschenden stereotypen Charakterisierung dazu, dass das Auftauchen einer der genannten Bezeichnungen ein ganzes Ensemble an negativ konnotierten Eigenschaften hervorruft, während die realen Menschen zu einer homogenen Masse verschmelzen (End 2014a: 32). Dieser Umstand wirkt in zweifacher Hinsicht: Zum einen werden die Angehörigen der Minderheit zusätzlich zu den tradierten Stigmatisierungen mit negativen Konnotationen des allgemeinen Zuwanderungsdiskurses belegt. Zum anderen werden auch Migrant*innen, Geflüchtete oder Asylbewerber*innen, die nicht der Minderheit angehören, ebenso mit den diskursiv an die Gruppe der (osteuropäischen) Rom*nja gekoppelten »Zigeunerbildern« verbunden. Sowohl Joachim Krauß (2016) als auch Brigitte Mihok (2017) gehen hier von einer bewussten Synonymsetzung als Agenda-Bildung aus, auf die im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung noch genauer eingegangen werden wird und die die Frage aufwirft, ob Antiziganismus nicht isoliert, sondern vielmehr im Kontext anderer Ressentiments im Rahmen einer großen Erzählung der Nation (Bhabha 1990; Link 1999) und unter Gesichtspunkten ökonomischer Optimierung betrachtet und analysiert werden sollte.
Während Birgit Rommelspacher (1994) und Markus End (2016) in ihren Ausführungen zu Rassismus beziehungsweise Antiziganismus in Deutschland berechtigterweise die Unterschiede in der Beschaffenheit der Konstruktion des ›Anderen‹ in den verschiedenen Erscheinungsformen und den damit verbundenen Abwertungsmechanismen betonen, möchte Yvonne Robel Parallelen und Anschlüsse zwischen antiziganistischen Zuschreibungen und rassistischen bzw. xenophoben Blickrichtungen in den Vordergrund rücken (2015: 185). Die Kulturwissenschaftlerin sieht in den postcolonial studies theoretische Anknüpfungspunkte, die für die Auseinandersetzung mit Rassismen produktiv gemacht werden können, ohne die jeweils spezifische Beschaffenheit der Erscheinungsformen und deren (historischen) Kontext zu leugnen oder zu überschreiben (Robel 2015: 196f.). Auch Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard können in der Verbindung von Rassismus und Kolonialismus keinen Widerspruch ausmachen. Ganz im Gegenteil bringe erst die konsequente Analyse der einzelnen Rassismen in ihren unterschiedlichen Wirkweisen und historischen Kontexten die gemeinsame Schnittmenge zu Tage, die sich als vielfältige »Machtbeziehung zwischen einem weißen christlichen, sich als überlegene Norm definierenden Selbst und den jeweils als ›anders‹ und ›Andere‹ konstruierten Menschen und Gesellschaften« äußert (2011: 12). Kolonialismus sollte in diesem Zusammenhang als Katalysator und »konzeptuelle Meistererzählung wahr- und ernst[genommen]« (ebd.) werden und ist dabei nicht gleichbedeutend mit Kolonialherrschaft zu verstehen, sondern beschreibt ein »Phänomen, welches Herrschaftsräume durchkreuzt und bis heute festlegt« und dessen Bedeutung sich keinesfalls auf die kolonialisierten und kolonialisierenden Staaten und Subjekte beschränkt als vielmehr global erstreckt(e) (Robel 2015: 187). Auch Rassismen, die sich nicht vorrangig gegen als ›außer-europäisch‹ wahrgenommene Personen bzw. Personengruppen richten, wie der Antisemitismus oder der Antiziganismus (Wippermann 1997), können somit letztlich nur unter Berücksichtigung der konzeptuellen Grundlagen des Kolonialismus ergründet werden (Arndt/Ofuatey-Alazard 2011: 12). Diese Sichtweise verweist auf die These Homi K. Bhabhas, dass Nationalismus im Grunde nichts anderes ist als der Versuch, eine große Erzählung zu schaffen, die die Einheit der Nation sichern soll. Dies geschieht jedoch immer auf Kosten der ›Anderen‹, indem diese kontinuierlich erkennbar gemacht und abgewertet werden müssen, um deren Exklusion zu rechtfertigen (Bhabha 1990: 4).
Es ist fraglich, ob Rassismen sich aufgrund ihrer Simultaneität und ihren vielfältigen Verstrickungen überhaupt klar voneinander abgegrenzt betrachten lassen. Ein systematischer Vergleich von Antiziganismus und Antisemitismus, wenn auch nicht aus postkolonialer Sicht, findet sich etwa bei Wolfgang Wippermann (1997). In diesem gelingt es ihm, zahlreiche Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen beiden Rassismen herauszuarbeiten, wie etwa der gemeinsamen »Dämonisierung« von ›Sinti‹ und ›Juden‹, deren wechselseitige Wirkung sich vor allem nachteilig auf das Bild von den ›Juden‹ auswirkt (ebd.: 102f.).[30] Eine erkenntnisbringende Betrachtung antiziganistischer Inszenierungen wird von Rafaela Eulberg (2009) geleistet, indem sie gender und race beziehungsweise Sexismus und Rassismus im antiziganistischen Diskurs intersektional betrachtet. In dekonstruktivistischer Tradition spricht sie in diesem Zusammenhang in Anlehnung an den performativen Charakter der Geschlechtszuschreibung von der Konstruktion der »Zigeuneridentität« als doing gypsy (ebd.: 42). Die Kategorien ›Rasse‹ und ›Ethnizität‹ sind dabei als Produkte von Diskursen und als kulturelle Inszenierungspraktiken zu verstehen, wobei die »Konstruktion einer homogenen ›Zigeuneridentität‹« als ›nahe Fremde‹ eine Sonderstellung einnimmt (ebd.: 42f.) und für den Status der »Einheitsfantasie der Nation« eine konstitutive Rolle spielt (Schößler 2008: 130). In dem Prozess der permanenten Reproduktion und Aktualisierung dieser Fantasie beziehungsweise Erzählung, besetzt das Fernsehen unter den Massenmedien eine der Hauptrollen.
Folgt man Baudrillards simulationstheoretischen Ansätzen, so betreten die Zuschauer als Folge der Struktur der massenmedialen Kommunikationsprozesse mit dem Anschalten des Fernsehens keinen weiteren Raum im Sinne eines ›Fensters zur Welt‹, sondern eine eigenständige und simulierte Welt (Kraemer 1994: 52), bei der sich das Reale durch die wiederholte Reproduktion von Medium zu Medium verflüchtigt (Baudrillard 1991: 113f.). Baudrillard formuliert zugespitzt: »Am Ende dieses Entwicklungsprozesses der Reproduzierbarkeit ist das Reale nicht nur das, was reproduziert werden kann, sondern das, was immer schon reproduziert ist. Hyperreal« (ebd.: 116). Und weiter: »Überall leben wir schon in der ›ästhetischen‹ Halluzination der Realität« (ebd.). Stefan Wehmeier sieht den Anschluss dieser These auch in den Ausführungen Wolfgang Welschs. Dieser konstatiert, dass das Fernsehen durch die Zunahme des Angebots die Wirklichkeit in einem solchen Ausmaß präge, dass es zur Wirklichkeit selbst werde und eine andere Realität kaum noch zu erkennen sei (Wehmeier 1998: 78). Dieser radikalen These muss nicht zwingend gefolgt werden, um die Dominanz der Medienrealität in unserem Alltag anzuerkennen. Zahlreiche Disziplinen beschäftigen sich in unterschiedlichen Ansätzen mit der Rolle der Medien im Allgemeinen und des Fernsehens im Speziellen. Die Kommunikationswissenschaftler Peter Gregg, Edward Schiappa und Dean Hewes (2005) konnten zeigen, dass allein schon das Konsumieren von Fernsehprogrammen mit gezeigtem Intergruppenkontakt[31] die Vorurteile gegenüber der gezeigten anderen Gruppen verringern konnte.[32] Die Wirkungsforschung möchte dies bestätigt wissen, indem sie darlegt, dass Darstellungen in fiktionalen Fernsehformaten durchaus Haltungen bei Zuschauern beeinflussen beziehungsweise verstärken können (Dörner 2017: 59). Dies scheint ganz besonders dann wichtig, wenn wie im Fall von ›Sinti und Roma‹ keine persönlichen Begegnungen mit Sint*ezza und Rom*nja stattfinden, sodass häufig bei Angehörigen der Dominanzgesellschaft aber auch anderen marginalisierten[33] Gruppen ein »sicheres stereotypes Wissen ohne persönliche Anschauung [besteht]« (Hamburger 2010: 61). Dies gilt vor allem dann, wenn reale Gegenstände medial aufgegriffen werden:
»When media content more closely resembles real-world counterparts, various theories hold that it is more likely to have an effect […] and more realistic media content is more likely to activate mental images […]« (Perse 2000: 31).
Christina Ortner sieht die Erkenntnisse der Wirkungsforschung dagegen eher als Hinweis einer schwachen Beeinflussung »medialer Inhalte auf bestehende Einstellungen«, betont aber auch, dass die Grenzen der Zugehörigkeit einer Gesellschaft sehr wohl in den Medien ausgetragen werden (2007: 7). Medien sind in jedem Fall als Orte zu verstehen, an denen Prozesse des Ein- und Ausgrenzens und der Konstruktion des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ stattfinden, indem Informationen sowie Bilder aufgegriffen und bereitgestellt werden, die die Bildung von Vorurteilen begünstigen beziehungsweise beeinflussen können. In ihrer Interdiskursivität wirken[34] sie dabei in zweifacher Weise: Zum einen beeinflussen sie das individuelle und kollektive Bewusstsein, zum anderen äußert sich dieses Bewusstsein in individuellen Handlungen und Gestaltungsformen auf gesellschaftlicher Ebene (Jäger/Zimmermann 2010: 19). Wiederkehrende Argumente, Stereotype, Symbole und Inhalte können durch ihre Rekurrenz dazu beitragen, Bewusstsein zu formieren und damit Machtwirkungen produzieren (ebd.).
Auf diese Machteffekte und deren einseitige Ausrichtung zielt auch Teun A. van Dijk mit seiner Kritik ab. Er hält die Medien, und damit auch das Fernsehen, für ein wichtiges Instrument in einem Rassismus der Eliten, bei dem Personen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien den öffentlichen Diskurs zwar nicht ausschließlich, aber dennoch in erheblichem Maße steuern. Der Zugang zur Produktion und Beeinflussung ist dabei institutionell geregelt und vorwiegend den diskriminierten Minderheiten verwehrt, wobei die weiße Dominanzgesellschaft in diesen Diskursen permanent ihre eigene Machtstellung reproduziert, aktualisiert und sicherstellt (van Dijk 1992: 289). In den Medienbetrieben Europas und damit auch Deutschlands herrschen vielerorts die dominanzkulturellen Ansichten und Interessen beziehungsweise die der Eliten vor (Ruhrmann/Shooman/Widmann 2016: 13). Trotz vieler Gegenströmungen im Internet, die bislang marginalisierte Themen für die Öffentlichkeit sichtbar machen wollen, beziehen die meisten Menschen in Deutschland ihre Informationen nach wie vor über etablierte Sender und Verlage, die ihre Reichweite durch digitale Angebote im Internet noch erhöhen konnten (z.B. Spiegel, Tagesschau, Bildzeitung) (ebd.: 14). Zwar hat es in diesem Bereich zahlreiche Initiativen gegeben, Menschen mit Migrationserfahrung zu fördern und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen, Sint*ezza und Rom*nja sind hiervon jedoch nahezu ausgeschlossen. (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014: 3). Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes fordern deshalb eine Öffnung beispielsweise der Rundfunkanstalten für Angehörige der Minderheit und die Beteiligung von Selbstorganisationen in den Rundfunkräten (ebd.). Aktuell sind Rom*nja und Sint*ezza, wie der Politikwissenschaftler Markus End betont, fast ausschließlich auf das Objektsein in den Medien beschränkt (2014a: 137), deren Stimme als Subalterne strukturell nicht zugelassen oder wahrgenommen wird.[35]