Das Dorf in den Lüften - Jules Verne. - E-Book

Das Dorf in den Lüften E-Book

Jules Verne.

0,0

Beschreibung

Dies ist die illustrierte Version dieses Klassikers. Die Geschichte zweier Abenteurer, die auf eine von Affen bewohnte Stadt in den Bäumen Afrikas stoßen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 324

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Dorf in den Lüften

Jules Verne

Inhalt:

Jules Verne – Biografie und Bibliografie

Das Dorf in den Lüften

Erstes Capitel. Nach einem langen Wege.

Zweites Capitel. Wandelnde Flammen.

Drittes Capitel. Versprengt.

Viertes Capitel. Ueberlegung-Entschluß.

Fünftes Capitel. Der erste Marschtag.

Sechstes Capitel. Immer weiter nach Südwesten.

Siebentes Capitel. Der leere Käfig.

Achtes Capitel. Der Doctor Johausen.

Neuntes Capitel. Mit der Strömung des Rio Johausen.

Zehntes Capitel. Ngora!

Elftes Capitel. Am 19. März.

Zwölftes Capitel. Unter Bäumen.

Dreizehntes Capitel. Das Dorf in den Lüften.

Vierzehntes Capitel. Die Wagddis.

Fünfzehntes Capitel. Dreiwöchige Studien.

Sechzehntes Capitel. Seine Majestät Mselo-Tala-Tala.

Siebzehntes Capitel. Der Zustand des Doctor Johausen.

Achtzehntes Capitel. Der Ausgang des Abenteuers.

Das Dorf in den Lüften, Jules Verne

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849613617

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Cover Design: © Can Stock Photo Inc. / Angelique

Jules Verne – Biografie und Bibliografie

Franz. Schriftsteller, geb. 8. Febr. 1828 in Nantes, gest. 24. März 1905 in Amiens, studierte in Paris die Rechte, muß sich aber schon früh auch den Naturwissenschaften zugewandt haben, denn gleich sein erster Roman, der die Reihe jener originellen, eine völlig neue Gattung begründenden Produkte Vernes eröffnete: »Cinq semainesen ballon« (1863), zeugt von jenem Studium. Der Erfolg, dessen sich diese Schöpfung erfreute, bestimmte ihn, die dramatische Laufbahn, mit der er sich bereits durch mehrere »Comédies« und Operntexte vertraut gemacht hatte, zu verlassen und sich ausschließlich dem phantastisch-naturwissenschaftlichen Roman zu widmen. V. führt seine Leser auf den abenteuerlichsten, stets aber physikalisch motivierten Fahrten nach dem Monde, um den Mond, nach dem Mittelpunkte der Erde, »20,000 Meilen« unter das Meer, auf das Eis des Nordens, auf den Schnee des Montblanc, durch die Sonnenwelt etc., und man kann nicht leugnen, daß er es verstand, die ernste Lehre, wenigstens die große Fülle seiner realen Kenntnisse, mit dem Faden der poetischen Fiktion geschickt zu verweben und dem unkundigen Leser eine gewisse Anschauung von naturwissenschaftlichen Dingen und Fragen spielend beizubringen. Wir nennen hier seine »Aventures du capitaine Hatteras« (1867), »Les enfants du capitaine Grant«, »La découverte de la terre« (1870), »Voyage autour du monde en 80 jours« (1872), »Le docteur Ox« (1874), »Un hivernage dans le glâces«, »Michel Strogoff (Moscou, Ireoutsk)«, »Un capitaine de 15 aus«, »Les Indes noires« (1875), »La maison à vapeur«, »Mathias Sandorf« (1887), »Claudius Bombarnai«, »Le Château des Carpathes« (1892), alle bereits in vielen Ausgaben erschienen und von der Lesewelt verschlungen, auch meist ins Deutsche übersetzt und in Form von Ausstattungsstücken mit nicht geringem Erfolg auf die Bühne gebracht (vgl. »Les voyages an théâtre« von V. und A.Dennery). Die »Œuvres complètes«

Vernes erschienen 1878 in 34 Bänden (illustrierte Ausg. 15 Bde.).

Romane:

    Fünf Wochen im Ballon. 1875

    Reise zum Mittelpunkt der Erde. 1873

    Von der Erde zum Mond. 1873

    Abenteuer des Kapitän Hatteras. 1875

    Die Kinder des Kapitän Grant. 1875

    Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. 1874

    Reise um den Mond. 1873

    Eine schwimmende Stadt. 1875

    Abenteuer von drei Russen und drei Engländern in Südafrika. 1875

    Das Land der Pelze. 1875

    Reise um die Erde in 80 Tagen. 1873

    Die geheimnisvolle Insel. 1875 und 1876

    Der Chancellor. 1875

    Der Kurier des Zaren. 1876

    Reise durch die Sonnenwelt. 1878

    Die Stadt unter der Erde. 1878

    Ein Kapitän von 15 Jahren. 1879

    Die 500 Millionen der Begum. 1880

    Die Leiden eines Chinesen in China. 1880

    Das Dampfhaus. 1881

    Die „Jangada“. 1882

    Die Schule der Robinsons. 1885

    Der grüne Strahl. 1885

    Keraban der Starrkopf. 1885

    Der Südstern oder Das Land der Diamanten. 1886

    Der Archipel in Flammen. 1886

    Mathias Sandorf. 1887

    Ein Lotterie-Los. 1887

    Robur der Sieger. 1887

    Nord gegen Süd. 1888

    Zwei Jahre Ferien. 1889

    Die Familie ohne Namen. 1891

    Kein Durcheinander. 1891

    Cäsar Cascabel. 1891

    Mistress Branican. 1891

    Das Karpatenschloss. 1893

    Claudius Bombarnac. 1893

    Der Findling. 1894

    Meister Antifers wunderbare Abenteuer. 1894

    Die Propellerinsel. 1895

    Vor der Flagge des Vaterlandes. 1896

    Clovis Dardentor. 1896

    Die Eissphinx. 1897

    Der stolze Orinoco. 1898

    Das Testament eines Exzentrischen. 1899

    Das zweite Vaterland. 1901

    Das Dorf in den Lüften.1901

    Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin.1901

    Die Gebrüder Kip 1903

    Reisestipendien. 1903

    Ein Drama in Livland. 1904

    Der Herr der Welt. 1904

    Der Einbruch des Meeres. 1905

Das Dorf in den Lüften

Erstes Capitel. Nach einem langen Wege.

»Und der amerikanische Congo, fragte Max Huber, von dem verlautet wohl noch keine Silbe?

– Wozu auch, lieber Max? antwortete John Cort. Fehlt es uns denn in den Vereinigten Staaten an fast grenzenlosen Landstrecken? Wie viele unbekannte und wüste Gebiete sind zwischen Alaska und Texas noch heute zu erforschen! Nein, ehe wir auswärtige Colonialpolitik treiben, meine ich, ist es besser, zu Hause zu colonisieren...

– Ja, mein bester John, die europäischen Mächte werden aber, wenn das so wie heute weiter geht, ganz Afrika unter sich theilen; bedenke nur, eine Fläche von dreitausend Millionen Hektaren! Sollen die Amerikaner denn diese ganz und gar den Engländern, den Deutschen, den Holländern, Portugiesen, Franzosen, den Italienern, den Spaniern und den Belgiern überlassen?

– Die Amerikaner berührt das ebenso wenig wie die Russen, erwiderte John Cort, und aus dem gleichen Grunde...

– Aus welchem?

– Ist es beiden unnütz, die Beine anzustrengen, wenn man nur die Arme auszustrecken braucht.

– Schön, lieber John, die Unionsregierung wird also früher oder später, meinst Du, ihren Antheil an dem afrikanischen Kuchen beanspruchen. Jetzt giebt es einen französischen Congo, einen belgischen und einen deutschen Congo, ohne den noch unabhängigen Congo, der aber offenbar auch nur darauf wartet, seine Unabhängigkeit einzubüßen. Und dann das weite Land, durch das wir in den letzten drei Monaten gekommen sind...

– Als Neugierige, Max, als einfache Neugierige, nicht als Eroberer...

– Der Unterschied ist im vorliegenden Falle nicht allzu groß, Du würdiger Bürger der Vereinigten Staaten, erklärte Max Huber. Ich wiederhole Dir: aus diesem Theile Afrikas könnte sich die Union noch eine prächtige Colonie herausschneiden. Hier fehlt es nicht an fruchtbaren Gebieten, die nur ihre Ergiebigkeit zu beweisen verlangen, zu beweisen unter der Wirkung einer reichlichen Bewässerung, wofür schon die Natur alle Kosten trüge. Hier giebt es ein ganzes Netz von Wasserläufen, die niemals versiegen...

– Nicht einmal bei dieser abscheulichen Hitze, fiel John Cort ein, während er den Schweiß von der sonnengebräunten Stirn abwischte.

– Bah, lassen wir uns diese nicht anfechten! erwiderte Max Huber. Sind wir denn nicht schon acclimatisiert, ich möchte sagen: »negrisiciert«, wenn Du, lieber Freund, nichts dagegen hast? Jetzt haben wir ja erst März, wie soll es denn da im Juli, im August werden, wenn die Sonnenstrahlen uns gleich glühenden Pfeilen die Haut durchbohren!

– Zugegeben, Max, es wird uns aber doch einige Mühe kosten, mit unserer leichten französischen und amerikanischen Haut zu Pahuins oder Sansibariten zu werden. Ich leugne ja nicht, daß wir eine hübsche, interessante und vom Glücke auffallend begünstigte Reise hinter uns haben, trotzdem verlangt es mich doch danach, wieder in Libreville zu sein und in unseren Factoreien etwas von der Ruhe und Erholung zu finden, worauf Reisende nach einer solchen dreimonatigen Fahrt wohl berechtigten Anspruch haben.

– Ganz recht, Freund John; die abenteuerliche Reise hat uns ja so manches Interessante geboten, dennoch gestehe ich, daß sie meine Erwartungen nicht vollständig befriedigt hat.

– Wie, Max, mehrere hundert Meilen durch ein gänzlich unbekanntes Land, kein Mangel an Gefahren, denen wir inmitten wenig gastfreundlicher Volksstämme zu trotzen hatten, bei mancher Gelegenheit Schüsse gewechselt, gegen drohende Zagaien und Wolken von Pfeilen, Jagden, die der numidische Löwe und der lybische Panther mit ihrer Theilnahme zu beehren geruhten, Hekatomben von Elefanten geschlachtet zum Nutzen unseres Chefs Urdax, eine Ernte von Elfenbein erster Güte, hinreichend, die Tasten der Pianos der ganzen Welt damit zu belegen... und Du erklärst Dich noch immer für unbefriedigt?

– Ja und nein, John. Was Du da aufzählst, ist die gewöhnliche Speisekarte der Forschungsreisenden in Mittelafrika... Das findet der Leser schon alles in den Berichten eines Barth, Burton, Speke, Grant, eines Chaillu, Livingstone und Stanley, eines Serpo Pinto, Anderson, Cameron und Mage, eines Brazza, Gallieni, Dibowsky, Lejean, Massari, Wißmann, Buonfanti, eines Maistre...«

Da unterbrach ein Stoß, den der Vordertheil des Wagens an einem mächtigen Steine erlitt, die Aufzählung der Erforscher Afrikas aus Max Huber's Munde. John Cort machte sich den Zwischenfall zu nutze und sagte:

»Du hofftest also, auf unserer Fahrt noch etwas anderes zu finden?

– Ja freilich, lieber John.

– Etwas unerwartetes?

– Mehr als das, denn daran, das geb' ich zu, hat es uns nicht gefehlt.

– Also etwas ganz außerordentliches?...

– Das ist das richtige Wort, lieber Freund! Nicht einmal, nicht ein einziges Mal hab' ich Gelegenheit gehabt, damit das Echo des alten Lybiens zu wecken, der portentosa Africa, wie die klassischen Aufschneider des Alterthums sich ausdrückten.

– Na, Max, ich sehe schon, daß eine französische Seeleschwerer zufrieden zu stellen ist...

– Als eine amerikanische, das bestätige ich, John, wenn die Erinnerungen, die Du von dieser Reise mit heimbringst, Dir schon genügen...

– Vollkommen, Max!

– Und wenn Du zufrieden zurückkehrst...

– Vor allem zufrieden, daß wir auf der Rückkehr sind.

– Und Du meinst, daß die Leute, die vielleicht einen Bericht über diese Reise lesen, rufen könnten: »Sapperment, das muß merkwürdig gewesen sein!«

– Sie verlangten gar zu viel, wenn sie das nicht riefen.

– Meiner Ansicht nach verlangten sie zu wenig.

– Du hättest recht, entgegnete John Cort, wenn sie verlangten, daß wir unsere Fahrt im Magen eines Löwen oder im Bauche eines Menschenfressers von Ubanghi hätten abschließen sollen!

– O, nein, John, nein, ohne bis zu dieser Art der Lösung zu gehen, die übrigens eines gewissen Interesses der Leser und selbst der Leserinnen nicht entbehrt hätte, würdest Du auf Ehre und Gewissen, vor Gott und den Menschen zu beschwören wagen, daß wir mehr entdeckt und beobachtet hätten, als was unsere Vorläufer in Centralafrika bereits beobachtet und entdeckt hatten?

– Nein, das freilich nicht, Max.

– Nun also; ich aber hoffte, vom Schicksal mehr begünstigt zu werden.

– Du Nimmersatt, der aus seiner Unersättlichkeit gar noch eine Tugend machen möchte! erwiderte John Cort. Ich für meinen Theil erkläre mich für befriedigt und erwartete von unserer Fahrt nicht mehr, als sie geboten hat...

– Das heißt: so viel wie nichts, John.

– Uebrigens, Freund Max, ist die Reise noch nicht zu Ende, und in den fünf bis sechs Wochen, die die Fahrt bis Libreville noch beanspruchen wird...

 Bei der Mahlzeit rasteten die Zungen ebensowenig wie die Kiefer. (S. 15.)

– Ach, geh' mir doch! rief Max Huber. Eine einfache Karawanenpromenade... die abgetretene Heerstraße... eine Spazierfahrt im Postwagen und bei schönem Wetter obendrein...

– O, wer weiß?...« sagte John Cort nachdenklich.

Jetzt hielt der Wagen für den Abend und die Nacht an, und zwar am Fuße einer leichten, von fünf oder sechs prächtigen Bäumen bekrönten Bodenerhebung. Diese Bäume, die jetzt von den Strahlen der untergehenden Sonne zauberisch beleuchtet wurden, waren bis weithin die einzigen in der sich ringsum ausdehnenden Ebene.

Es war jetzt sieben Uhr abends. Infolge der stets nur kurzen Dämmerung unter niedrigen Breitengraden – hier befand man sich unter dem neunten Grade nördlicher Breite – mußte die Nacht bald heran kommen. Sie versprach sehr dunkel zu werden, da ein dichter Wolkenschleier den Glanz der Sterne verhüllte und die Sichel des zunehmenden Mondes schon am westlichen Horizonte herabsank.

Der nur zur Beförderung von Reisenden bestimmte Wagen enthielt weder Waarenballen noch Mundvorräthe. Man denke sich einen auf vier massiven Rädern ruhenden Wohnwagen, der von sechs Ochsen gezogen wurde. Am Vordertheile hatte er eine Thür, an den Seiten kleine Fenster, und im Innern war er durch eine Scheidewand in zwei gleichgroße Räume getheilt. Der hintere Raum beherbergte zwei junge Männer von fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahren: einen Amerikaner Namens John Cort, und einen Franzosen Namens Max Huber. Den vorderen Raum bewohnte ein portugiesischer Händler mit Namen Urdax, und ein sogenannter »Foreloper« Namens Khamis. Dieser Foreloper – d. i. der Mann, der eine Karawane gewöhnlich anführt – war ein Eingeborner von Kamerun und hatte viel Uebung und Erfahrung als Führer durch die brennend heißen Gebiete von Ubanghi.

Selbstverständlich ließ die Bauart des Wagens hinsichtlich der Haltbarkeit nichts zu wünschen übrig. Jetzt, nach einer langen und beschwerlichen Fahrt, befand sich sein Kasten im besten Zustande, seine Räder erschienen am Felgenkranze kaum abgenützt, die Achsen waren weder gesprungen noch verbogen – kurz, man hätte gemeint, er käme nur von einer fünfzehn bis zwanzig (englische) Meilen langen Spazierfahrt heim, während die von ihm durchmessene Strecke doch über zweitausend Kilometer betrug.

Vor drei Monaten hatte dieses Gefährt Libreville, die Hauptstadt des französischen Congogebiets, verlassen. Die Richtung nach Osten einhaltend, war es über die Ebenen von Ubanghi hinweg bis über den Lauf des Bahar-el-Abiad, eines der Zuflüsse des im Süden gelegenen Tchadsees, hinausgekommen.

Die Gegend verdankt ihren Namen einem der bedeutendsten Nebenflüsse am rechten Ufer des Congo oder Zaïre. Sie liegt im Osten von Deutsch-Kamerun, dessen Gouverneur gleichzeitig das Amt eines deutschen Generalkonsuls für Westafrika verwaltet, ihre Grenzen sind aber auch auf den neuesten Landkarten noch nicht mit voller Bestimmtheit eingetragen. Ist das Gebiet auch nicht gerade eine Wüste – höchstens eine solche mit dem üppigsten Pflanzenwuchs. also ohne jede Aehnlichkeit mit der Sahara – so bildet es doch eine ungeheuere Landstrecke, auf der die einzelnen Dörfer stets sehr weit von einander entfernt liegen. Unter den hier siedelnden Volksstämmen herrscht ein unausgesetzter Krieg, sie machen einander zu Sklaven oder tödten sich gegenseitig, ja sie nähren sich sogar vielfach noch von Menschenfleisch, wie z. B. die Mubullus zwischen dem Nil und dem Congobecken. Noch abscheulicher erscheint es, daß gewöhnlich Kinder zur Befriedigung ihrer kannibalischen Gelüste dienen müssen. Die Missionäre sind deshalb eifrig bemüht, die kleinen Wesen zu retten, indem sie diese entweder gewaltsam entführen oder sie von den Siegern zurückkaufen, wonach sie die Kleinen in den längs des Sirambaflusses gelegenen Missionen im christlichen Sinne erziehen. Diese Missionen müßten übrigens alle aus Mangel an Mitteln über kurz oder lang eingehen, wenn sie von den europäischen Staaten, vorzüglich von Frankreich, nicht in hochherziger Weise unterstützt würden.

Hier sei auch daran erinnert, daß in Ubanghi die Kinder der Eingebornen bei vorkommenden Handelsgeschäften geradezu als Münze betrachtet werden. Man bezahlt mit kleinen Knaben und kleinen Mädchen die Bedarfsgegenstände, die von reisenden Kaufleuten bis ins Herz des Landes gebracht werden. Der reichste Eingeborne ist hier also der, dessen Familie die zahlreichste ist.

War der Portugiese Urdax nun auch nicht aus Handelsinteresse durch diese weiten Ebenen gezogen und mit den Uferbewohnern in Ubanghi nicht in näheren Verkehr getreten, da er keinen anderen Zweck verfolgte als den, sich durch die gerade hier noch sehr ergiebige Elefantenjagd eine gewisse Menge Elfenbein zu verschaffen, so konnte ihm doch nicht jede Berührung mit den wilden Völkerschaften des Congobeckens erspart bleiben. Wiederholt hatte er die Angriffe feindseliger Horden abweisen und zu Vertheidigungszwecken die Feuerwaffen gebrauchen müssen, die ursprünglich nur zur Jagd auf Pachydermen bestimmt waren. Im ganzen war der Jagdzug jedoch glücklich abgelaufen und hatte unter den Leuten der Karawane kein einziges Opfer gefordert.

Am Rande eines Dorfes in der Nähe der Quellen des Bahar-el-Abiad war es nun John Cort und Max Huber gelungen, ein Kind dem es erwartenden, schrecklichen Lose zu entreißen, indem sie den Knaben um den Preis einiger Glaswaaren loskauften. Der glücklich Befreite war etwa zehn Jahre alt, von kräftigem Körperbau und von ansprechendem, freundlichem Gesicht, das kaum den Negertypus erkennen ließ. Wie es bei manchen Stämmen vorkommt, hatte der Knabe eine fast ganz helle Haut, blondes Haar statt des krausen Wollkopfes der Neger, mehr eine Adler- als eine aufgeworfene Nase und seine, nicht wie gewöhnlich wulstige, Lippen. Aus seinen Augen leuchtete eine angeborene Intelligenz, und er empfand für seine Retter bald eine Art kindlicher Liebe.

Das arme, seinem Stamme, nicht seiner Familie entrissene Kind – denn es kannte weder Vater noch Mutter – führte den Namen Llanga. Nachdem es kurze Zeit von Missionären unterrichtet worden war, die ihm auch ein wenig Französisch und Englisch gelehrt hatten, war es durch unglücklichen Zufall feindlichen Denkas in die Hände gefallen, und welches Schicksal seiner hier wartete, kann man ja leicht errathen. Eingenommen von seiner herzlichen Zuneigung und der ungeheuchelten Dankbarkeit, die er ihnen bezeugte, empfanden die beiden Freunde eine immer wachsende Theilnahme für den Knaben; sie ernährten ihn, kleideten ihn und ertheilten ihm Unterricht, der sich bei der guten Veranlagung ihres Schützlings recht erfolgreich gestaltete. Doch wie anders war auch die Lage Llangas gegen früher geworden! Statt eine lebende Waare zu sein, wie die unglücklichen kleinen Eingebornen, sollte er später als Adoptivkind Max Huber's und John Cort's in den Factoreien von Libreville leben. Die beiden jungen Männer hatten sich seiner einmal angenommen und würden ihn auch niemals verlassen. Trotz seiner großen Jugend hatte er dafür schon Verständniß, er wußte sich geliebt, und eine Thräne des Glückes perlte ihm allemal aus den Augen, wenn Max Huber oder John Cort ihm die Hände auf das Haupt legten.

Als der Wagen Halt gemacht hatte, lagerten sich die von dem langen Wege in der verzehrenden Hitze erschöpften Zugochsen auf der Prairie. Sofort eilte auch Llanga, der eine Strecke, bald vor, bald hinter dem Gespann einhergetrottet war, auf seine Beschützer zu, als diese eben den Wagen verließen.

»Bist doch nicht zu sehr ermüdet, Llanga? fragte John Cort, indem er die Hand des Knaben ergriff.

– Nein, nein!... Gute Beine... liebe es, ein Stück zu laufen, versicherte Llanga, der John Cort und Max Huber unbefangen anlächelte.

– Jetzt ist's aber Zeit, etwas zu essen, sagte der Franzose.

– Essen... ja... mein Freund Max!«

Schnell küßte Llanga noch die ihm entgegengestreckten Hände und mischte sich dann unter die Träger bei den großen Bäumen des Hügels.

Während der Wagen ausschließlich dem Portugiesen Urdax, ferner Khamis und deren zwei Begleitern vorbehalten war, befand sich das Gepäck und die Elfenbeinlast in der Obhut der Leute der Karawane – in der von etwa fünfzig Männern, meist aus Kamerun gebürtigen Schwarzen. Diese hatten sich bereits der schweren Stoßzähne der Elefanten entledigt und die Kisten und Kasten abgeladen, die den täglichen Proviant enthielten, Vorräthe, die durch die Jagd in den wildreichen Gegenden von Ubanghi immer erneuert werden konnten.

Diese Schwarzen sind alle an ihre Beschäftigung gewöhnte Miethlinge und werden gern ziemlich hoch entlohnt, was ja der reiche Ertrag solcher Jagdzüge leicht gestattet. Man kann sogar sagen, daß sie nie »ihre Eier ausgebrütet haben« – ein dort zu Lande gebräuchlicher Ausdruck zur Bezeichnung der seßhaften Eingebornen. Von Kindheit an, an das Tragen gewöhnt, werden sie Lasten schleppen, so lange ihre Beine den Dienst nicht versagen. Dieser »Beruf« ist anstrengend genug, wenn er in einem solchen Klima ausgeübt werden muß. Die Schultern mit dem schweren Elfenbein oder großen Proviantbehältern beladen, wodurch die Haut nicht selten durchgescheuert wird, und oft mit blutenden Füßen, und der Körper von Stachelgräsern verletzt, denn sie sind fast ohne jede Bekleidung, so wandern sie zwischen dem Sonnenaufgang und der elften Vormittagsstunde dahin und nehmen, wenn die größte Tageshitze vorüber ist, ihren Marsch bis zum Abend wieder auf. Es liegt jedoch im Interesse der Händler, diese Leute gut zu bezahlen, und sie thun das denn auch, sie gut zu ernähren, und sie ernähren sie auch gut, sie nicht übermäßig anzustrengen, und sie vermeiden das auch stets. Die mit den Elfenbeinjagden verbundenen Gefahren sind schon nicht gering, ohne von dem immer möglichen Zusammentreffen mit Löwen und Panthern zu reden, und der Herr der Karawane muß sich da auf sein Personal verlassen können. Ist die Ernte an kostbarer Beute beendigt, dann gilt es immer noch, glücklich und womöglich schnell nach den Factoreien an der Küste zurückzukehren. Für die Karawane ist es allemal wichtig, weder durch Versäumniß infolge übermäßiger Anstrengung der Leute aufgehalten zu werden, noch etwa durch Krankheiten, unter denen die gefährlichen Blattern am meisten zu fürchten sind. Von diesen Grundsätzen erfüllt und durch lange Erfahrung gewitzigt, hatte der Portugiese Urdax, der auf seine Leute die sorgsamste Rücksicht nahm, bisher mit seinen Fahrten bis ins Herz des Schwarzen Erdtheiles auch immer die besten Erfolge erzielt.

Dasselbe konnte auch von dem jetzt ausgeführten Zuge gelten, denn dieser hatte ihm eine beträchtliche Menge sehr schönes Elfenbein eingebracht, das in den Gebieten jenseits des Bahar-el-Abiad, fast an der Grenze von Darfur, erbeutet worden war.

Jetzt wurde nun im Schatten prächtiger Tamarinden ein Lager aufgeschlagen, und als John Cort, nachdem die Träger mit dem Auspacken des Proviants begonnen hatten, den Portugiesen fragte, was er von der Stelle halte, antwortete Urdax in dem ihm völlig geläufigen Englisch:

»Ich denke, Herr Cort, die Haltestelle ist für uns ganz passend, und auch für unsere Zugthiere bietet sie einen reichbesetzten Tisch.

– Ja freilich, sie finden hier hohes fettes Gras in Ueberfluß, sagte John Cort.

– Das verzehrte man selbst mit Vergnügen, setzte Max Huber hinzu, wenn man den Organismus eines Wiederkäuers und drei Magen zum Verdauen hätte!

– Danke schön, erwiderte John Cort, ich bevolzuge aber doch ein über Kohlen gebratenes Antilopenviertel, den Zwieback, womit wir ja reichlich versehen sind, und unsere Tönnchen Cap-Madeira...

– Dem man einige Tropfen aus dem klaren Rio, der durch die Ebene verläuft, zusetzen könnte,« bemerkte der Portugiese.

Er zeigte dabei nach einem Wasserlaufe, jedenfalls einem Nebenflusse des Ubanghi, der sich etwa einen Kilometer weit vom Hügel entfernt dahinschlängelte.

Die Lagereinrichtung wurde bald vollendet. Das Elfenbein hatte man in großen Haufen dicht neben dem Wagen niedergelegt. Die Zugochsen tummelten sich in der Umgebung der Tamarinden. Da und dort flammte aus herabgefallenem, dürrem Holze schon ein Feuer auf. Der Foreloper überzeugte sich, daß es den verschiedenen Gruppen der Leute an nichts fehle. Elch- und Antilopenfleisch, frisches sowie gedörrtes, gab es in Ueberfluß, die Jagd lieferte mehr, als man brauchte. Bald verbreitete sich nun ein angenehmer Bratengeruch, und alle entwickelten dann einen tüchtigen Appetit, den der letzte Halbtagesmarsch gewiß rechtfertigte.

Waffen und Munition waren natürlich im Wagen gelassen worden. Dieser enthielt mehrere Kistchen mit Patronen, verschiedene Jagdgewehre, Karabiner und Revolver, lauter vortreffliche Erzeugnisse der modernen Waffentechnik, die dem Portugiesen, Khamis, John Cort und Max Huber im Nothfalle zur Verfügung standen.

Eine Stunde später war die Mahlzeit beendet. Den Magen befriedigt und tüchtig ermüdet, mußte die Karawane bald in tiefen Schlaf fallen.

Der Foreloper vertraute ihre Bewachung einigen seiner Leute an, die sich alle zwei Stunden ablösen sollten. In jenen entlegenen Gebieten muß man eben stets gegen zwei- und vierfüßige Uebelthäter auf der Hut sein. Urdax unterließ es auch niemals, alle von der Vorsicht gebotenen Maßregeln zu treffen. Bei seinen fünfzig Jahren noch sehr kräftig und vertraut mit Zügen dieser Art, erfreute er sich einer außerordentlichen Ausdauer; doch auch der fünfunddreißigjährige Khamis, der ebenso gewandt und geschmeidig wie kräftig, ebenso kaltblütig wie muthig war, bot jede erwünschte Garantie für die Führung von Karawanen durch Afrika.

Am Fuße einer der Tamarinden hatten die beiden Freunde und der Portugiese sich zum Abendessen niedergesetzt, das der kleine Knabe gebracht und einer der Eingebornen, der als Koch für die Gesellschaft waltete, zubereitet hatte.

Bei der Mahlzeit rasteten die Zungen ebensowenig wie die Kiefer. Das Essen hindert ja nicht am Sprechen, wenn man sich dabei nicht zu sehr beeilt. Wovon war denn nun die Rede?... Von den Erlebnissen der Reisegesellschaft auf dem Wege nach Nordosten?... O nein, Zwischenfälle, die sich noch auf dem Rückwege ereignen konnten, boten ein mehr actuelles Interesse. Bis zu den Factoreien von Libreville war es noch ein weiter, über zweitausend Kilometer langer Weg, dessen Zurücklegung recht wohl neun bis zehn Wochen beanspruchen konnte. Bezüglich dieses zweiten Theiles der Reise hatte John Cort auch sein »Wer weiß?« gegen seinen Begleiter geäußert, der nicht nur Unerwartetes, sondern auch etwas Außerordentliches zu erleben verlangte.

Bis nach dem jetzt erreichten Punkte war die Karawane von den Grenzen Darfurs an nach Ubanghi zu heruntergezogen, wobei sie die Furten des Aukadebe und seiner zahlreichen Nebenflüsse passiert hatte. Heute rastete sie nahe der Stelle, wo der zweiundzwanzigste Längen- und der neunte Breitengrad einander kreuzen.

»Von jetzt an, sagte Urdax, werden wir aber in südwestlicher Richtung weiter ziehen...

– Und das erscheint um so mehr geboten, als der Horizont – wenn meine Augen mich nicht trügen – durch einen Wald abgeschlossen ist, dessen Ende man weder im Osten noch im Westen erkennen kann.

– Jawohl, durch einen ungeheueren Wald! bestätigte der Portugiese. Wären wir gezwungen, ihn nach der Ostseite zu zu umwandern, so würden Monate vergehen, ehe wir ihn hinter uns hätten.

– Im Westen dagegen...

– Im Westen, fiel Urdax ein, treffen wir, wenn wir seinem Rande folgen, ohne besondere Verlängerung unseres Weges in der Nähe der Stromschnellen des Zongo auf den Ubanghi.

– Würde es unsere Reise nicht abkürzen, wenn wir quer hindurch zögen? fragte Max Huber.

– Ja freilich, um etwa vierzehn Marschtage.

– Nun, warum sollen wir das denn nicht thun?

– Weil jener Wald ganz undurchdringlich ist.

– Oho... undurchdringlich! erwiderte Max Huber mit dem Ausdrucke des Zweifels.

– Für Fußgänger vielleicht nicht, fuhr der Portugiese fort, und doch bin ich mir dessen nicht sicher, weil es noch keiner versucht hat; sich aber mit den Zugochsen hinein zu wagen, wäre ein Unterfangen, das mißglücken müßte.

– Sie sagen, Urdax, daß es noch niemand versucht hat, durch diesen Wald zu kommen?

– Ob versucht, das weiß ich nicht, Herr Huber, doch ausgeführt hat es noch keiner, und in Kamerun wie im Congogebiete wird es niemand einfallen, es zu unternehmen. Wer getraute sich auch wohl, da hindurchzudringen, wo es nur stachlige Dickichte und dorniges Strauchwerk, doch keine Spur von einem Pfade giebt? Ich glaube, kaum mit Feuer und Axt könnte man sich dort einen Weg bahnen, von den umgestürzten Bäumen gar nicht zu reden, die fast unüberwindliche Hindernisse bilden müssen...

– Unüberwindliche, Herr Urdax?...

– Ich bitte Dich, lieber Freund, nahm John Cort jetzt das Wort, gieb den Gedanken, Dich in jenen Wald zu wagen, getrost auf. Ein Glück für uns, daß wir nur um ihn herumzufahren brauchen. Ich gestehe, daß es mir nie einfallen könnte, mich in ein derartiges Labyrinth von Bäumen zu verirren.

– Nicht einmal, um zu sehen, was sich darin findet?

– Ja, was in aller Welt soll sich denn da finden, Max?... Etwa unbekannte Königreiche, verzauberte Städte, mythologische Eldorados, bisher nie gesehene Geschöpfe, vielleicht Raubthiere mit fünf Füßen oder menschliche Wesen mit drei Beinen?

– Warum denn nicht, John! Man braucht ja nur hinzugehen, um darüber klar zu werden.«

Llanga, der mit weit offenen Augen und gespannter Aufmerksamkeit dem Meinungsaustausche gefolgt war, schien sagen zu wollen, daß er nicht davor zurückschrecken werde, Max Huber gegebenen Falles in den unheimlichen Wald zu folgen.

»Da nun Urdax, fuhr John Cort fort, bestimmt davon absieht, ihn zu durchkreuzen, um nach dem Ufer des Ubanghi zu gelangen...

– Ja, ja, sicherlich, bekräftigte der Portugiese; hinein können wir wohl, doch nimmer wieder heraus.

– Nun also, lieber Max, machen wir es kurz: Dir mag es gestattet sein, die Geheimnisse dieses Waldes zu ergründen, Dich in seine undurchdringlichen Dickichte zu wagen, doch... selbstverständlich nur im Traume, und selbst das halte ich noch für etwas unklug.

– Lache Du nur, John, lache mich aus, wie Du willst. Ich erinnere mich aber, daß einer unserer Dichter – ich weiß nicht gleich, welcher – gesagt hat: Das Unbekannte aufsuchen, um das Neue zu finden!

– Wirklich, Max?... Und wie heißt denn die Verszeile, die sich mit dieser reimt?

– Wahrhaftig... die hab' ich vergessen, John!

– So vergiß auch die erste, wie Du die zweite vergessen hast, und laß uns nun endlich ruhig schlafen gehen.«

 »Alle Wetter, jetzt geht etwas unbegreiflich Fremdartiges vor sich!« (S. 29.)

Das war wohl das Klügste, was sie thun konnten, und zwar ohne dazu den Wagen aufzusuchen.

Eine Nacht am Fuße der Anhöhe unter den breitästigen Tamarinden, deren Frische die noch nach Sonnenuntergang sehr starke Wärme der Luft milderte, das war für Stammgäste des »Hôtels zum freien Himmel« ja nichts Besonderes, wenn die Witterung es nur irgend erlaubte. Heute Abend, wo kein Regen drohte, obwohl die Sterne von dichten Wolken verdeckt waren, empfahl es sich ganz besonders, in freier Luft zu schlafen.

Der junge Eingeborne brachte Decken herbei. Gut eingehüllt, streckten die beiden Freunde sich zwischen den Wurzeln einer Tamarinde, wie auf einer richtigen Cabinenlagerstatt aus, und Llanga sachte sich, wie ein Wachhund, ein Plätzchen neben ihnen.

Ehe Urdax und Khamis das Gleiche thaten, wollten sie noch einmal um den Lagerplatz herumgehen, sich überzeugen, daß die gefesselten Ochsen sich nicht auf der Ebene verlieren könnten, daß die Träger auf ihrem Wachposten und daß die Feuer sorgsam gelöscht wären, denn hier hätte ein einziger Funke genügt, das dürre Gras und das abgestorbene Holz in der Umgebung in Brand zu setzen. Dann kamen auch die beiden Männer nach dem Hügel zurück.

Bald hatte alle der Schlaf umfangen... ein Schlaf, bei dem sie Gottes Donner nicht gehört hätten. Und vielleicht schliefen gar auch die bestellten Wächter ein?... Ja, wirklich; nach zehn Uhr gab es keinen mehr, der da hätte melden können, daß sich am Saume des großen Waldes eine Anzahl verdächtiger Flammen unablässig hin und her bewegte.

Zweites Capitel. Wandelnde Flammen.

Eine Entfernung von zwei Kilometern trennte den Hügel von dem tiefdunkeln Waldesdickicht, an dessen Rande sich qualmende und flackernde Flammen hier-und dorthin bewegten. Es mochten ihrer gegen zehn sein, die jetzt vereinigt, dann wieder vereinzelt aufleuchteten und manchmal so heftig hin und her schwankten, wie es die Ruhe der Atmosphäre nicht zu rechtfertigen schien. Man konnte wohl vermuthen, daß eine Rotte Eingeborner sich dort gelagert habe, um an dieser Stelle den Tag abzuwarten. Eigentliche Lagerfeuer waren die Flammen jedoch nicht, dafür irrten sie viel zu launisch auf etwa hundert Toisen weit weg und wieder zurück, ohne einen einzigen Feuerherd für Sicherung eines Nachtlagers zu bilden.

In der Nähe des Ubanghi schwärmen übrigens ziemlich häufig nomadisierende Stämme umher, die meist von Adamaua oder Barghimi im Westen, oder selbst von Uganda im Osten kommen. Eine Händlerkarawane wäre nicht so unklug gewesen, ihre Anwesenheit durch so viele, sich im Dunkeln umherbewegende Feuerbrände zu verrathen. Nur Eingeborne konnten sich da drüben zum Ausruhen niedergelassen haben. Und wer weiß, ob diese nicht feindliche Absichten gegen die unter der Krone der Tamarinden schlummernde Karawane hegten.

War diese aber auch von großer Gefahr bedroht, wenn vielleicht mehrere hundert Pahuins, Fundjis, Chiloux, Baris, Denkas und andere nur den Augenblick abwarteten, sie in erdrückender Menge zu überfallen, so hatte hier – mindestens bis halb elf Uhr – noch niemand die geringste Vorbereitung zu einer Abwehr getroffen. Im Lager schliefen eben alle, Herren und Diener, und das Schlimmste, auch die Träger, die sich auf ihrem Wachposten ablösen sollten, waren in tiefen Schlaf versunken.

Zum Glück erwachte einmal der junge Eingeborne. Ohne Zweifel hätten sich seine Augen aber sofort wieder geschlossen, wenn die Blicke des Knaben nicht nach dem südlichen Horizonte zu gerichtet gewesen wären. Unter den halbgeschlossenen Lidern hatte er zuerst die unbestimmte Empfindung von einem Lichtschein, der die finstere Nacht durchdrang. Er reckte die Glieder, rieb sich die Augen und schaute aufmerksamer hinaus. Nein, das war keine Täuschung: am Saume des Waldes bewegten sich vereinzelte Flammen hin und her.

Llanga kam der Gedanke, daß die Karawane angegriffen werden könnte. Dabei leitete ihn mehr ein gewisser Instinct als eine wirkliche Ueberlegung, denn Raubgesellen, die ein Gemetzel und eine Plünderung im Schilde führen, wissen doch recht gut, daß ihre Aussichten auf Erfolg steigen, wenn ihnen eine Ueberraschung der Gegenpartei gelingt. Sie suchen sich also vorher versteckt zu halten, und diese hier sollten sich geradezu angemeldet haben?

Der Knabe wollte Max Huber und John Cort nicht sogleich wecken und schlich sich deshalb lautlos nach dem Wagen. Als er den Foreloper gefunden hatte, legte er ihm die Hand auf die Schulter, weckte ihn auf und wies mit dem Finger nach den Feuerpunkten am Horizonte.

Khamis richtete sich auf, beobachtete einen Augenblick die wandelnden Flammen und rief dann mit gellender Stimme:

»Herr Urdax! Herr Urdax!«

Der Portugiese, von jeher gewöhnt, sich schnell aus dem Schlafe zu reißen, war augenblicklich auf den Füßen.

»Was giebt es, Khamis?

– Sehen Sie dorthin!«

Mit ausgestrecktem Arme wies er nach dem erleuchteten Waldsaume am Ende der Ebene.

»Alle auf!« rief der Portugiese mit der vollen Kraft seiner Lungen.

Binnen wenigen Secunden war das ganze Personal der Karawane auf den Füßen, alle aber von dem Ernste der Lage so sehr ergriffen, daß es keinem einfiel, den pflichtvergessenen Wächtern jetzt Vorwürfe zu machen. Ohne Llanga wäre das Lager jedenfalls überrumpelt worden, während Urdax und seine Begleiter in friedlichem Schlummer lagen.

Selbstverständlich hatten sich Max Huber und John Cort, die eiligst von ihrer Lagerstatt aufgesprungen waren, dem Portugiesen und dem Foreloper angeschlossen.

Es war jetzt ein wenig über halb elf Uhr. Tiefe Finsterniß bedeckte die Ebene auf drei Viertel ihres Umkreises im Norden, Osten und Westen. Nur im Süden funkelten die seltsamen Flammen und warfen aufflackernd lange Lichtstreifen vor sich her. Jetzt konnte man ihrer etwa fünfzig zählen.

»Da draußen müssen sich Eingeborne angesammelt haben, begann Urdax, und wahrscheinlich sind das Budjas, die meist an den Ufern des Congo und des Ubanghi umherschwärmen.

– Natürlich, meinte Khamis, von allein werden sich jene Fackeln nicht entzündet haben.

– Und daneben, bemerkte John Cort, sind auch Arme da, die sie halten und umhertragen.

– Diese Arme aber, fuhr Max Huber fort, müssen an Schultern sitzen, und die Schultern wieder zu Menschenkörpern gehören, doch inmitten des Lichtscheins erblickt man davon keinen einzigen...

– Sie halten sich jedenfalls ein wenig jenseit des Waldesrandes, hinter den Bäumen, ließ sich Khamis vernehmen.

– Man erkennt überdies auch, nahm Max Huber wieder das Wort, daß die Rotte da draußen nicht auf dem Wege um den Wald herum ist, denn die Lichtpunkte entfernen sich einmal nach rechts oder links hin, vereinigen sich dann aber immer aufs neue...

– Gewiß an der Stelle, wo sich das Lager der Eingebornen befindet, bemerkte der Foreloper.

– Und was ist Ihre Ansicht? wendete sich Urdax an John Cort.

– Ich glaube, daß uns ein Angriff droht, versicherte dieser, und daß wir uns sofort zur Vertheidigung rüsten müssen...

– Warum sollten uns die Eingebornen aber nicht überfallen haben, bevor sie sich zeigten?

– O, Neger sind eben keine Weißen, erklärte der Portugiese. Fehlt es ihnen auch an kluger Vorsicht, so sind sie wegen ihrer Zahl und ihrer Wildheit doch nicht minder zu fürchten.

– Reine Panther, die unsere Missionäre große Mühe haben werden, in Lämmer zu verwandeln, antwortete Max Huber.

– Halten wir uns bereit!« schloß der Portugiese.

Ja, jetzt galt es, sich auf alles bereit zu machen, sich bis zum Tode zu vertheidigen. Von den wilden Völkerschaften Ubanghis darf man kein Erbarmen erwarten. Wie grausam sie sind, kann man sich kaum vorstellen; selbst die wildesten Stämme Australiens, der Salomonsinseln, der Hebriden und Neuguineas würden mit ihnen schwerlich den Vergleich aushalten. Im Herzen des hiesigen Landestheiles giebt es nur Kannibalendörfer, und die Väter der Missionen, die dem schrecklichsten Tode furchtlos ins Antlitz schauen, wissen das auch sehr wohl. Man wäre wirklich versucht, diese Wesen, ein Raubzeug mit Menschenangesicht, hier im äquatorialen Afrika unter die Thiere zu rechnen, und ihnen gegenüber ist Schwäche ein Verbrechen und nur die Gewalt berechtigt. Selbst im reisen Mannesalter haben diese Schwarzen nicht einmal soviel Kenntnisse, wie bei uns ein fünf- bis sechsjähriges Kind.

Man darf auch behaupten – Beweise giebt es in Ueberfluß und die Missionäre sind oft genug Zeugen von entsetzlichen Auftritten gewesen – daß hierzulande Menschenopfer noch vielfach im Schwange sind. Man ermordet die Sklaven auf dem Grabe ihres Herrn, und ihre an einen elastischen Zweig gehängten Köpfe werden weit fortgeschleudert, sobald der Fetischdiener sie abgeschnitten hat. Im Alter von zehn bis zu sechzehn Jahren dienen Kinder als Nahrung bei größeren Festen, und manche Häuptlinge sollen sich ausschließlich von solchen nähren.

Zu ihren Kannibalengelüsten gesellt sich noch eine ungezähmte Raubgier. Diese führt sie oft auf die Straßen der Karawanen, die sie überfallen, ausplündern und vernichten. Sind sie auch weniger gut bewaffnet als die Händler und deren Begleitmannschaft, so haben sie doch den Vortheil der größeren Zahl, und einige tausend Eingeborne nehmen es allemal mit ein paar hundert Trägern auf. Die Forelopers wissen das recht gut; sie hüten sich auch sorgsamst, Negerdörfern wie Ngombe Dara, Kalaka Taimo und andern in der Umgebung des Aukadepe und des Bahar-el-Abiad zu nahe zu kommen, wo noch keine Missionäre thätig gewesen sind, wohin diese aber auch noch vordringen werden. Keine Furcht vermag deren Feuereifer zu dämpfen, wo es sich darum handelt, zarte Menschengeschöpfe vor dem Tode zu retten und jene wilden Rassen durch christliche Civilisation aus ihrer Versunkenheit emporzuheben.

Vom Anfang seines Zuges an hatte der Portugiese Urdax nicht immer Angriffen durch Eingeborne aus dem Wege gehen können, dabei war es ihm jedoch stets gelungen, ohne größeren Schaden davonzukommen, und er führte sein Personal jetzt in unverminderter Zahl heim. Die Rückkehr versprach eigentlich in vollster Sicherheit zu verlaufen. Nach Umgehung dieses Waldes an der Westseite, gelangte man an das rechte Ufer des Ubanghi und längs dieses Flusses gedachte man bis zu seiner Einmündung am rechten Congouser hinzuziehen. Vom Ubanghi aus trifft man dann häufig auf reisende Händler und auf Missionäre. Hier ist auch weniger zu fürchten von einer Begegnung mit eingebornen Stämmen, die durch das Eingreifen Frankreichs, Deutschlands, Englands und Portugals immer weiter nach den Gebieten von Darfur zurückgedrängt werden.

Sollte die Karawane jetzt, wo einige Marschtage genügten, den Fluß zu erreichen, auf ihrem Wege aufgehalten werden oder einer so starken Anzahl mordgieriger Gesellen vielleicht gar zum Opfer fallen?... Das war leider zu befürchten. Jedenfalls sollte sie nicht, ohne sich vertheidigt zu haben, zu Grunde gehen, und entsprechend dem Aufruf des Portugiesen wurden alle Maßregeln zu einer kräftigen Abwehr getroffen.

Im Handumdrehen waren Urdax, der Foreloper, John Cort und Max Huber bewaffnet und hatten ein Gewehr bereit, einen Revolver im Gürtel und eine wohlgefüllte Patronentasche daran befestigt. Der Wagen enthielt überdies ein Dutzend Flinten und Pistolen, die an einige, bezüglich ihrer Treue erprobte Träger vertheilt wurden.

Gleichzeitig befahl Urdax seinen Leuten, sich immer in der Nähe der großen Tamarinden zu halten, um leicht besseren Schutz gegen Pfeile finden zu können, deren vergiftete Spitzen meist tödtliche Verletzungen erzeugen.

Jetzt wartete alles voller Spannung. Kein Geräusch unterbrach die Stille der Umgebung. Es schien nicht so, als ob die Eingebornen vom Walde her über die Ebene vorgedrungen wären. Noch sah man wie vorher den feurigen Schein und da und dort wirbelten lange Säulen gelblichen Rauches empor.

»Was dort an den ersten Baumreihen hin und her getragen wird, müssen sehr harzhaltige Fackeln sein.

– Ganz gewiß, stimmte Max Huber ein. Ich begreife nur nicht, was die Kerle dort anfangen, wenn sie wirklich einen Angriff auf uns beabsichtigen.

– Und ich begreife es ebensowenig, fügte John Cort hinzu, wenn sie diese Absicht nicht haben.«