Das Dorf in den Lüften - Jules Verne - E-Book

Das Dorf in den Lüften E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Bei der Rückkehr von ihrer erfolgreichen Elefantenjagd verlieren die Freunde John Cort und Max Huber mit Ausnahme ihrer Waffen alle Ausrüstungsgegenstände durch eine wilde Elefantenherde und schlagen sich nun mit einem Floß auf einem unbekannten Fluss durch. Dabei müssen sie allerlei Gefahren meistern, bis ihre Reise zunächst an einer gefährlichen Stelle scheitert. Sie werden von unbekannten Eingeborenen gerettet, die sie in ihr Dorf bringen, das sich hoch in den afrikanischen Baumriesen befindet… Das Seltsamste an diesem Volk aber ist ihr geheimnisvoller König...

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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jules Verne

Das Dorf in den Lüften

Jules Verne

Das Dorf in den

Lüften

Edition Corsar D. u. Th. Ostwald

Braunschweig

In dem Roman werden Ausdrücke verwendet, die heute nicht mehr üblich sind. Sie wurden jedoch beibehalten um den Stil der Zeit zu bewahren.

Texte: © 2025 Copyright by Thomas Ostwald nach der Ausgabe des Hartleben-Verlages 1901 und der von mir betreuten Taschenbuchausgabe im Pawlak-Verlag 1984 durchgesehen und korrigiert

Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by

Thomas Ostwald

Edition Corsar

Dagmar u. Thomas Ostwald

Am Uhlenbusch 17

38108 Braunschweig

[email protected]

Erstes Kapitel

Nach einem langen Wege

»Und der amerikanische Kongo«, fragte Max Huber, »von dem verlautet wohl noch keine Silbe?«

»Wozu auch, lieber Max?«, antwortete John Cort.

»Fehlt es uns denn in den Vereinigten Staaten an fast grenzenlosen Landstrecken? Wie viele unbekannte und wüste Gebiete sind zwischen Alaska und Texas noch heute zu erforschen! Nein, ehe wir auswärtige Kolonialpolitik treiben, meine ich, ist es besser, zu Hause zu kolonisieren ...«

»Ja, mein bester John, die europäischen Mächte werden aber, wenn das so wie heute weiter geht, ganz Afrika unter sich teilen; bedenke nur, eine Fläche von dreitausend Millionen Hektaren! Sollen die Amerikaner denn diese ganz und gar den Engländern, den Deutschen, den Holländern, Portugiesen, Franzosen, den Italienern, den Spaniern und den Belgiern überlassen?«

»Die Amerikaner berührt das ebenso wenig wie die Russen«, erwiderte John Cort, und aus dem gleichen Grund ...«

»Aus welchem?« - »Ist es beiden unnütz, die Beine anzustrengen, wenn man nur die Arme auszustrecken braucht.«

»Schön, lieber John, die Unionsregierung wird also früher oder später, meinst du, ihren Anteil an dem afrikanischen Kuchen beanspruchen. Jetzt gibt es einen französischen Kongo, einen belgischen und einen deutschen Kongo, ohne den noch unabhängigen Kongo, der aber offenbar auch nur darauf wartet, seine Unabhängigkeit einzubüßen. Und dann das weite Land, durch das wir in den letzten drei Monaten gekommen sind ... «

»Als Neugierige, Max, als einfache Neugierige, nicht als Eroberer ... «

»Der Unterschied ist im vorliegenden Falle nicht allzu groß, du würdiger Bürger der Vereinigten Staaten«, erklärte Max Huber. »Ich wiederhole dir: aus diesem Teil Afrikas könnte sich die Union noch eine prächtige Kolonie herausschneiden. Hier fehlt es nicht an fruchtbaren Gebieten, die nur ihre Ergiebigkeit zu beweisen verlangen, zu beweisen unter der Wirkung einer reichlichen Bewässerung, wofür schon die Natur alle Kosten trüge. Hier gibt es ein ganzes Netz von Wasserläufen, die niemals versiegen.«

»Nicht einmal bei dieser abscheulichen Hitze«, fiel John Cort ein, während er den Schweiß von der sonnengebräunten Stirn abwischte.

»Bah, lassen wir uns diese nicht anfechten!«, erwiderte Max Huber. »Sind wir denn nicht schon akklimatisiert, ich möchte sagen: »negrifiziert«, wenn du, lieber Freund, nichts dagegen hast? Jetzt haben wir ja erst März, wie soll es denn da im Juli, im August werden, wenn die Sonnenstrahlen uns gleich glühenden Pfeilen die Haut durchbohren! Zugegeben, Max, es wird uns aber doch einige Mühe kosten, mit unserer leichten französischen und amerikanischen Haut zu Pahuins oder Sansibariten zu werden. Ich leugne ja nicht, dass wir eine hübsche, interessante und vom Glück auffallend begünstigte Reise hinter uns haben, trotzdem verlangt es mich doch danach, wieder in Libreville zu sein und in unseren Faktoreien etwas von der Ruhe und Erholung zu finden, worauf Reisende nach einer solchen dreimonatlichen Fahrt wohl berechtigten Anspruch haben.«

»Ganz recht, Freund John; die abenteuerliche Reise hat uns ja so manches Interessante geboten, dennoch gestehe ich, dass sie meine Erwartungen nicht vollständig befriedigt hat.«

»Wie, Max, mehrere hundert Meilen durch ein gänzlich unbekanntes Land, kein Mangel an Gefahren, denen wir inmitten wenig gastfreundlicher Volksstämme zu trotzen hatten, bei mancher Gelegenheit Schüsse gewechselt, gegen drohende Zagaien und Wolken von Pfeilen, Jagden, die der numidische Löwe und der lybische Panther mit ihrer Teilnahme zu beehren geruhten, Hekatomben von Elefanten geschlachtet zum Nutzen unseres Chefs Urdax, eine Ernte von Elfenbein erster Güte, hinreichend, die Tasten der Pianos der ganzen Welt damit zu belegen ... und du erklärst dich noch immer für unbefriedigt?«

»Ja und nein, John. Was du da aufzählst, ist die gewöhnliche Speisekarte der Forschungsreisenden in Mittelafrika ... Das findet der Leser schon alles in den Berichten eines Barth, Burton, Speke, Grant, eines Chaillu, Livingstone und Stanley, eines Serpo Pinto, Anderson, Cameron und Mage, eines Brazza, Gallieni, Dibowsky, Lejean, Massari, Wißmann, Buonfanti, eines Maistre ...«

Da unterbrach ein Stoß, den das Vorderteil des Wagens an einem mächtigen Stein erlitt, die Aufzählung der Erforscher Afrikas aus Max Hubers Munde. John Cort machte sich den Zwischenfall zunutze und fragte:

»Du hofftest also, auf unserer Fahrt noch etwas anderes zu finden?« - »Ja freilich, lieber John.« - »Etwas Unerwartetes?«

»Mehr als das, denn daran, das geb' ich zu, hat es uns nicht gefehlt.«

»Also etwas ganz Außerordentliches?«

»Das ist das richtige Wort, lieber Freund! Nicht einmal, nicht ein einziges Mal hab' ich Gelegenheit gehabt, damit das Echo des alten Lybiens zu wecken, der portentosa Afrika, wie die klassischen Aufschneider des Altertums sich ausdrückten.«

»Na, Max, ich sehe schon, dass eine französische Seele schwerer zufrieden zu stellen ist ... «

»Als eine amerikanische, das bestätige ich, John, wenn die Erinnerungen, die du von dieser Reise mit heimbringst, dir schon genügen ... «

»Vollkommen, Max!«

»Und wenn du zufrieden zurückkehrst ... «

»Vor allem zufrieden, dass wir auf der Rückkehr sind.«

»Und du meinst, dass die Leute, die vielleicht einen Bericht über diese Reise lesen, rufen könnten: »Sapperment, das muss merkwürdig gewesen sein!«

»Sie verlangten gar zu viel, wenn sie das nicht riefen.«

»Meiner Ansicht nach verlangten sie zu wenig.«

»Du hättest recht«, entgegnete John Cort, »wenn sie verlangten, dass wir unsere Fahrt im Magen eines Löwen oder im Bauch eines Menschenfressers von Ubanghi hätten abschließen sollen!«

»O, nein, John, nein, ohne bis zu dieser Art der Lösung zu gehen, die übrigens eines gewissen Interesses der Leser und selbst der Leserinnen nicht entbehrt hätte, würdest du auf Ehre und Gewissen, vor Gott und den Menschen zu beschwören wagen, dass wir mehr entdeckt und beobachtet hätten, als was unsere Vorläufer in Zentralafrika bereits beobachtet und entdeckt hatten?«

»Nein, das freilich nicht, Max.«

»Nun also; ich aber hoffte, vom Schicksal mehr begünstigt zu werden.« - »Du Nimmersatt, der aus seiner Unersättlichkeit gar noch eine Tugend machen möchte!«, erwiderte John Cort. »Ich für meinen Teil erkläre mich für befriedigt und erwartete von unserer Fahrt nicht mehr, als sie geboten hat ... «

»Das heißt: so viel wie nichts, John.«

»Übrigens, Freund Max, ist die Reise noch nicht zu Ende, und in den fünf bis sechs Wochen, die die Fahrt bis Libreville noch beanspruchen wird ... «

»Ach, geh' mir doch!«, rief Max Huber. »Eine einfache Karawanenpromenade . . . die abgetretene Heerstraße ... eine Spazierfahrt im Postwagen, und bei schönem Wetter obendrein ... «

»O, wer weiß?«, sagte John Cort nachdenklich.

Jetzt hielt der Wagen für den Abend und die Nacht an, und zwar am Fuß einer leichten, von fünf oder sechs prächtigen Bäumen bekrönten Bodenerhebung. Diese Bäume, die jetzt von den Strahlen der untergehenden Sonne zauberisch beleuchtet wurden, waren bis weithin die einzigen in der sich ringsum ausdehnenden Ebene.

Es war jetzt sieben Uhr abends. Infolge der stets nur kurzen Dämmerung unter niedrigen Breitengraden - hier befand man sich unter dem neunten Grad nördlicher Breite - musste die Nacht bald herankommen. Sie versprach sehr dunkel zu werden, da ein dichter Wolkenschleier den Glanz der Sterne verhüllte und die Sichel des zunehmenden Mondes schon am westlichen Horizont herabsank.

Der nur zur Beförderung von Reisenden bestimmte Wagen enthielt weder Warenballen noch Mundvorräte. Man denke sich einen auf vier massiven Rädern ruhenden Wohnwagen, der von sechs Ochsen gezogen wurde. Am Vorderteil hatte er eine Tür, an den Seiten kleine Fenster, und im Innern war er durch eine Scheidewand in zwei gleichgroße Räume geteilt. Der hintere Raum beherbergte zwei junge Männer von fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahren: einen Amerikaner Namens John Cort, und einen Franzosen Namens Max Huber. Den vorderen Raum bewohnte ein portugiesischer Händler mit Namen Urdax, und ein sogenannter »Foreloper« namens Khamis. Dieser Foreloper - d. i. der Mann, der eine Karawane gewöhnlich anführt - war ein Eingeborener von Kamerun und hatte viel Übung und Erfahrung als Führer durch die brennend heißen Gebiete von Ubanghi.

Selbstverständlich ließ die Bauart des Wagens hinsichtlich der Haltbarkeit nichts zu wünschen übrig. Jetzt, nach einer langen und beschwerlichen Fahrt, befand sich sein Kasten im besten Zustand, seine Räder erschienen am Felgenkranz kaum abgenutzt, die Achsen waren weder gesprungen noch verborgen - kurz, man hätte gemeint, er käme nur von einer fünfzehn bis zwanzig (englische) Meilen langen Spazierfahrt heim, während die von ihm durchmessene Strecke doch über zweitausend Kilometer betrug. Vor drei Monaten hatte dieses Gefährt Libreville, die Hauptstadt des französischen Kongogebiets, verlassen. Die Richtung nach Osten einhaltend, war über die Ebenen von Ubanghi hinweg bis über den Lauf des Bahar-el-Abiad, eines der Zuflüsse des im Süden gelegenen Tchadsees, hinausgekommen.

Die Gegend verdankt ihren Namen einem der bedeutendsten Nebenflüsse am rechten Ufer des Kongo oder Zarre. Sie liegt im Osten von Deutsch-Kamerun, dessen Gouverneur gleichzeitig das Amt eines deutschen Generalkonsuls für Westafrika verwaltet, ihre Grenzen sind aber auch auf den neuesten Landkarten noch nicht mit voller Bestimmtheit eingetragen. Ist das Gebiet auch nicht gerade eine Wüste - höchstens eine solche mit dem üppigsten Pflanzenwuchs, also ohne jede Ähnlichkeit mit der Sahara - so bildet es doch eine ungeheure Landstrecke, auf der die einzelnen Dörfer stets sehr weit voneinander entfernt liegen. Unter den hier siedelnden Volksstämmen herrscht ein unausgesetzter Krieg, sie machen einander zu Sklaven oder töten sich gegenseitig, ja sie nähren sich sogar vielfach noch von Menschenfleisch, wie z.B. die Mubuttus zwischen dem Nil und dem Kongobecken. Noch abscheulicher erscheint es, dass gewöhnlich Kinder zur Befriedigung ihrer kannibalischen Gelüste dienen müssen. Die Missionare sind deshalb eifrig bemüht, die kleinen Wesen zu retten, indem sie diese entweder gewaltsam entführen oder sie von den Siegern zurückkaufen, wonach sie die Kleinen in den längs des Sirambaflusses gelegenen Missionen im christlichen Sinne erziehen. Diese Missionen müssten übrigens alle aus Mangel an Mitteln über kurz oder lang eingehen, wenn sie von den europäischen Staaten, vorzüglich von Frankreich, nicht in hochherziger Weise unterstützt würden.

Hier sei auch daran erinnert, dass in Ubanghi die Kinder der Eingeborenen bei vorkommenden Handelsgeschäften geradezu als Münze betrachtet werden. Man bezahlt mit kleinen Knaben und kleinen Mädchen die Bedarfsgegenstände, die von reisenden Kaufleuten bis ins Herz des Landes gebracht werden. Der reichste Eingeborne ist hier also der, dessen Familie die zahlreichste ist.

War der Portugiese Urdax nun auch nicht aus Handelsinteresse durch diese weiten Ebenen gezogen und mit den Uferbewohnern in Ubanghi nicht in näheren Verkehr getreten, da er keinen anderen Zweck verfolgte als den, sich durch die gerade hier noch sehr ergiebige Elefantenjagd eine gewisse Menge Elfenbein zu verschaffen, so konnte ihm doch nicht jede Berührung mit den wilden Völkerschaften des Kongobeckens erspart bleiben. Wiederholt hatte er die Angriffe feindseliger Horden abweisen und zu Verteidigungszwecken die Feuerwaffen gebrauchen müssen, die ursprünglich nur zur Jagd auf Pachydermen bestimmt waren. Im Ganzen war der Jagdzug jedoch glücklich abgelaufen und hatte unter den Leuten der Karawane kein einziges Opfer gefordert.

Am Rande eines Dorfes in der Nähe der Quellen des Bahar-el-Abiad war es nun John Cort und Max Huber gelungen, ein Kind dem es erwartenden, schrecklichen Los zu entreißen, indem sie den Knaben um den Preis einiger Glaswaren loskauften. Der glücklich Befreite war etwa zehn Jahre alt, von kräftigem Körperbau und von ansprechendem, freundlichem Gesicht, das kaum den Negertypus erkennen ließ. Wie es bei manchen Stämmen vorkommt, hatte der Knabe eine fast ganz helle Haut, blondes Haar statt des krausen Wollkopfes der Neger, mehr eine Adler- als eine aufgeworfene Nase und feine, nicht wie gewöhnlich wulstige Lippen. Aus seinen Augen leuchtete eine angeborene Intelligenz, und er empfand für seine Retter bald eine Art kindlicher Liebe. Das arme, seinem Stamm, nicht seiner Familie entrissene Kind - denn es kannte weder Vater noch Mutter - führte den Namen Llanga. Nachdem es kurze Zeit von Missionaren unterrichtet worden war, die es auch ein wenig Französisch und Englisch gelehrt hatten, war es durch unglücklichen Zufall feindlichen Denkas in die Hände gefallen, und welches Schicksal seiner hier wartete, kann man ja leicht erraten. Eingenommen von seiner herzlichen Zuneigung und der ungeheuchelten Dankbarkeit, die er ihnen bezeugte, empfanden die beiden Freunde eine immer wachsende Teilnahme für den Knaben; sie ernährten ihn, kleideten ihn und erteilten ihm Unterricht, der sich bei der guten Veranlagung ihres Schützlings recht erfolgreich gestaltete. Doch wie anders war auch die Lage Llangas gegen früher geworden! Statt eine lebende Ware zu sein, wie die unglücklichen kleinen Eingeborenen, sollte er später als Adoptivkind Max Hubers und John Corts in den Faktoreien von Libreville leben. Die beiden jungen Männer hatten sich seiner einmal angenommen und würden ihn auch niemals verlassen. Trotz seiner großen Jugend hatte er dafür schon Verständnis, er wusste sich geliebt, und eine Träne des Glückes perlte ihm allemal aus den Augen, wenn Max Huber oder John Cort ihm die Hände auf das Haupt legten.

Als der Wagen haltgemacht hatte, lagerten sich die von dem langen Weg in der verzehrenden Hitze erschöpften Zugochsen auf der Prärie. Sofort eilte auch Llanga, der eine Strecke, bald vor, bald hinter dem Gespann einhergetrottet war, auf seine Beschützer zu, als diese eben den Wagen verließen.

»Bist doch nicht zu sehr ermüdet, Llanga?«, fragte John Cort, indem er die Hand des Knaben ergriff.

»Nein, nein! ... Gute Beine ... liebe es, ein Stück zu laufen«, versicherte Llanga, der John Cort und Max Huber unbefangen anlächelte.

»Jetzt ist's aber Zeit, etwas zu essen«, sagte der Franzose.

»Essen ... ja ... mein Freund Max!«

Schnell küsste Llanga noch die ihm entgegengestreckten Hände und mischte sich dann unter die Träger bei den großen Bäumen des Hügels. Während der Wagen ausschließlich dem Portugiesen Urdax, ferner Khamis und deren zwei Begleitern vorbehalten war, befand sich das Gepäck und die Elfenbeinlast in der Obhut der Leute der Karawane - in der von etwa fünfzig Männern, meist aus Kamerun gebürtigen Schwarzen. Diese hatten sich bereits der schweren Stoßzähne der Elefanten entledigt und die Kisten und Kasten abgeladen, die den täglichen Proviant enthielten, Vorräte, die durch die Jagd in den wildreichen Gegenden von Ubanghi immer erneuert werden konnten.

Diese Schwarzen sind alle an ihre Beschäftigung gewöhnte Mietlinge und werden gern ziemlich hoch entlohnt, was ja der reiche Ertrag solcher Jagdzüge leicht gestattet. Man kann sogar sagen, dass sie nie »ihre Eier ausgebrütet haben« - ein dort zu Lande gebräuchlicher Ausdruck zur Bezeichnung der sesshaften Eingeborenen. Von Kindheit an an das Tragen gewöhnt, werden sie Lasten schleppen, solange ihre Beine den Dienst nicht versagen. Dieser »Beruf« ist anstrengend genug, wenn er in einem solchen Klima ausgeübt werden muss. Die Schultern mit dem schweren Elfenbein oder großen Proviantbehältern beladen, wodurch die Haut nicht selten durchgescheuert wird, und oft mit blutenden Füßen, und der Körper von Stachelgräsern verletzt, denn sie sind fast ohne jede Bekleidung, so wandern sie zwischen dem Sonnenaufgang und der elften Vormittagsstunde dahin und nehmen, wenn die größte Tageshitze vorüber ist, ihren Marsch bis zum Abend wieder auf. Es liegt jedoch im Interesse der Händler, diese Leute gut zu bezahlen, und sie tun das denn auch, sie gut zu ernähren, und sie ernähren sie auch gut, sie nicht übermäßig anzustrengen, und sie vermeiden das auch stets. Die mit den Elfenbeinjagden verbundenen Gefahren sind schon nicht gering, ohne von dem immer möglichen Zusammentreffen mit Löwen und Panthern zu reden, und der Herr der Karawane muss sich da auf sein Personal verlassen können. Ist die Ernte an kostbarer Beute beendigt, dann gilt es immer noch, glücklich und womöglich schnell nach den Faktoreien an der Küste zurückzukehren. Für die Karawane ist es allemal wichtig, weder durch Versäumnis in Folge übermäßiger Anstrengung der Leute aufgehalten zu werden, noch etwa durch Krankheiten, unter denen die gefährlichen Blattern am meisten zu fürchten sind. Von diesen Grundsätzen erfüllt und durch lange Erfahrung gewitzigt, hatte der Portugiese Urdax, der auf seine Leute die sorgsamste Rücksicht nahm, bisher mit seinen Fahrten bis ins Herz des Schwarzen Erdteiles auch immer die besten Erfolge erzielt.

Dasselbe konnte auch von dem jetzt ausgeführten Zug gelten, denn dieser hatte ihm eine beträchtliche Menge sehr schönes Elfenbein eingebracht, das in den Gebieten jenseits des Bahar-el-Abiad, fast an der Grenze von Darfur, erbeutet worden war.

Jetzt wurde nun im Schatten prächtiger Tamarinden ein Lager aufgeschlagen, und als John Cort, nachdem die Träger mit dem Auspacken des Proviants begonnen hatten, den Portugiesen fragte, was er von der Stelle halte, antwortete Urbax in dem ihm völlig geläufigen Englisch: »Ich denke, Herr Cort, die Haltestelle ist für uns ganz passend, und auch für unsere Zugtiere bietet sie einen reichbesetzten Tisch.«

»Ja freilich, sie finden hier hohes fettes Gras in Überfluss«, sagte John Cort.

»Das verzehrte man selbst mit Vergnügen«, setzte Max Huber hinzu, »wenn man den Organismus eines Wiederkäuers und drei Mägen zum Verdauen hätte!«

»Danke schön«, erwiderte John Cort, »ich bevorzuge aber doch ein über Kohlen gebratenes Antilopenviertel, den Zwieback, womit wir ja reichlich versehen sind, und unsere Tönnchen Cap-Madeira ... «

»Dem man einige Tropfen aus dem klaren Rio, der durch die Ebene verläuft, zusetzen könnte«, bemerkte der Portugiese.

Er zeigte dabei nach einem Wasserlauf, jedenfalls einem Nebenfluss des Ubanghi, der sich etwa einen Kilometer weit vom Hügel entfernt dahinschlängelte.

Die Lagereinrichtung wurde bald vollendet. Das Elfenbein hatte man in großen Haufen dicht neben dem Wagen niedergelegt. Die Zugochsen tummelten sich in der Umgebung der Tamarinden. Da und dort flammte aus herabgefallenem, dürrem Holz schon ein Feuer auf. Der Foreloper überzeugte sie, dass es den verschiedenen Gruppen der Leute an nichts fehle. Elch- und Antilopenfleisch, frisches sowie gedörrtes, gab es in Überfluss, die Jagd lieferte mehr, als man brauchte. Bald verbreitete sich nun ein angenehmer Bratengeruch, und alle entwickelten dann einen tüchtigen Appetit, den der letzte Halbtagesmarsch gewiss rechtfertigte.

Waffen und Munition waren natürlich im Wagen gelassen worden. Dieser enthielt mehrere Kistchen mit Patronen, verschiedene Jagdgewehre, Karabiner und Revolver, lauter vortreffliche Erzeugnisse der modernen Waffentechnik, die dem Portugiesen, Khamis, John Cort und Max Huber im Notfall zur Verfügung standen.

Eine Stunde später war die Mahlzeit beendet. Den Magen befriedigt und tüchtig ermüdet, musste die Karawane bald in tiefen Schlaf fallen.

Der Foreloper vertraute ihre Bewachung einigen seiner Leute an, die sich alle zwei Stunden ablösen sollten. In jenen entlegenen Gebieten muss man eben stets gegen zwei- und vierfüßige Übeltäter auf der Hut sein. Urdax unterließ es auch niemals, alle von der Vorsicht gebotenen Maßregeln zu treffen. Bei seinen fünfzig Jahren noch sehr kräftig und vertraut mit Zügen dieser Art, erfreute er sich einer außerordentlichen Ausdauer; doch auch der fünfunddreißigjährige Khamis, der ebenso gewandt und geschmeidig wie kräftig, ebenso kaltblütig wie mutig war, bot jede erwünschte Garantie für die Führung von Karawanen durch Afrika.

Am Fuß einer der Tamarinden hatten die beiden Freunde und der Portugiese sich zum Abendessen niedergesetzt, das der kleine Knabe gebracht und einer der Eingeborenen, der als Koch für die Gesellschaft waltete, zubereitet hatte.

Bei der Mahlzeit rasteten die Zungen ebenso wenig wie die Kiefer. Das Essen hindert ja nicht am Sprechen, wenn man sich dabei nicht zu sehr beeilt. Wovon war denn nun die Rede? ... Von den Erlebnissen der Reisegesellschaft auf dem Weg nach Nordosten? ... O nein, Zwischenfälle, die sich noch auf dem Rückweg ereignen konnten, boten ein mehr aktuelles Interesse. Bis zu den Faktoreien von Libreville war es noch ein weiter, über zweitausend Kilometer langer Weg, dessen Zurücklegung recht wohl neun bis zehn Wochen beanspruchen konnte. Bezüglich dieses zweiten Teiles der Reise hatte John Cort auch sein »Wer weiß?« gegen seinen Begleiter geäußert, der nicht nur Unerwartetes, sondern auch etwas Außerordentliches zu erleben verlangte.

Bis nach dem jetzt erreichten Punkt war die Karawane von den Grenzen Darfurs an nach Ubanghi zu heruntergezogen, wobei sie die Furten des Aukadebe und seiner zahlreichen Nebenflüsse passiert hatte. Heute rastete sie nahe der Stelle, wo der zweiundzwanzigste Längen- und der neunte Breitengrad einander kreuzen.

»Von jetzt an«, sagte Urdax, »werden wir aber in südwestlicher Richtung weiterziehen.«

»Und das erscheint umso mehr geboten, als der Horizont - wenn meine Augen mich nicht trügen - durch einen Wald abgeschlossen ist, dessen Ende man weder im Osten noch im Westen erkennen kann«.

»Jawohl, durch einen ungeheuren Wald!«, bestätigte der Portugiese. »Wären wir gezwungen, ihn nach der Ostseite zu umwandern, so würden Monate vergehen, ehe wir ihn hinter uns hätten.«

»Im Westen dagegen ... «

»Im Westen«, fiel Urdax ein, »treffen wir, wenn wir seinem Rand folgen, ohne besondere Verlängerung unseres Weges in der Nähe der Stromschnellen des Zongo auf den Ubanghi.«

»Würde es unsere Reise nicht abkürzen, wenn wir quer hindurch zögen?«, fragte Max Huber.

»Ja freilich, um etwa vierzehn Marschtage.«

»Nun, warum sollen wir das denn nicht tun!«

»Weil jener Wald ganz undurchdringlich ist.«

»Oho ... undurchdringlich!«, erwiderte Max Huber mit dem Ausdruck des Zweifels.

»Für Fußgänger vielleicht nicht«, fuhr der Portugiese fort, »und doch bin ich mir dessen nicht sicher, weil es noch keiner versucht hat; sich aber mit den Zugochsen hinein zu wagen, wäre ein Unterfangen, das missglücken müsste.«

»Sie sagen, Urdax, dass es noch niemand versucht hat, durch diesen Wald zu kommen?«

»Ob versucht, das weiß ich nicht, Herr Huber, doch ausgeführt hat es noch keiner, und in Kamerun wie im Kongogebiet wird es niemand einfallen, es zu unternehmen. Wer getraute sich auch wohl, da hindurchzudringen, wo es nur stachlige Dickichte und dorniges Strauchwerk, doch keine Spur von einem Pfad gibt? Ich glaube, kaum mit Feuer und Axt könnte an sich dort einen Weg bahnen, von den umgestürzten Bäumen gar nicht zu reden, die fast unüberwindliche Hindernisse bilden müssen ...«

»Unüberwindliche, Herr Urdax? ...«

»Ich bitte dich, lieber Freund«, nahm John Cort jetzt das Wort, »gib den Gedanken, dich in jenen Wald zu wagen, getrost auf. Ein Glück für uns, dass wir nur um ihn herumzufahren brauchen. Ich gestehe, dass es mir nie einfallen könnte, mich in ein derartiges Labyrinth von Bäumen zu verirren.«

»Nicht einmal, um zu sehen, was sich darin findet?«

»Ja, was in aller Welt soll sich denn da finden, Max? ... Etwa unbekannte Königreiche, verzauberte Städte, mythologische Eldorados, bisher nie gesehene Geschöpfe, vielleicht Raubtiere mit fünf Füßen oder menschliche Wesen mit drei Beinen?«

»Warum denn nicht, John! Man braucht ja nur hinzugehen, um darüber klar zu werden.«

Llanga, der mit weit offenen Augen und gespannter Aufmerksamkeit dem Meinungsaustausch gefolgt war, schien sagen zu wollen, dass er nicht davor zurückschrecken werde, Max Huber gegebenen Falles in den unheimlichen Wald zu folgen.

»Da nun Urdax«, fuhr John Cort fort, »bestimmt davon absieht, ihn zu durchkreuzen, um nach dem Ufer des Ubanghi zu gelangen ...«

»Ja, ja, sicherlich«, bekräftigte der Portugiese, »hinein können wir wohl, doch nimmer wieder heraus!«

»Nun also, lieber Max, machen wir es kurz: Dir mag es gestattet sein, die Geheimnisse dieses Waldes zu ergründen, dich in seine undurchdringlichen Dickichte zu wagen, doch ... selbstverständlich nur im Traum, und selbst das halte ich noch für etwas unklug.«

»Lache du nur, John, lache mich aus, wie du willst. Ich erinnere mich aber, dass einer unserer Dichter - ich weiß nicht gleich, welcher - gesagt hat: Das Unbekannte aufsuchen, um das Neue zu finden!«

»Wirklich, Max? ... Und wie heißt denn die Verszeile, die sich mit dieser reimt?«

»Wahrhaftig ... die hab' ich vergessen, John!«

»So vergiss auch die erste, wie du die zweite vergessen hast, und lass uns nun endlich ruhig schlafen gehen.«

Das war wohl das Klügste, was sie tun konnten, und zwar ohne dazu den Wagen aufzusuchen. Eine Nacht am Fuße der Anhöhe unter den breitästigen Tamarinden, deren Frische die noch nach Sonnenuntergang sehr starke Wärme der Luft milderte, das war für Stammgäste des »Hotels zum freien Himmel« ja nichts Besonderes, wenn die Witterung es nur irgend erlaubte. Abend, wo kein Regen drohte, obwohl die Sterne von dichten Wolken verdeckt waren, empfahl es sich ganz besonders, in freier Luft zu schlafen.

Der junge Eingeborene brachte Decken herbei. Gut eingehüllt, streckten die beiden Freunde sich zwischen den Wurzeln einer Tamarinde, wie auf einer richtigen Kabinenlagerstatt aus, und Llanga suchte sich, wie ein Wachhund, ein Plätzchen neben ihnen. Ehe Urdax und Khamis das gleiche taten, wollten sie noch einmal um den Lagerplatz herumgehen, sich überzeugen, dass die gefesselten Ochsen sich nicht auf der Ebene verlieren könnten, dass die Träger auf ihrem Wachposten und dass die Feuer sorgsam gelöscht wären, denn hier hätte ein einziger Funke genügt, das dürre Gras und das abgestorbene Holz in der Umgebung in Brand zu setzen. Dann kamen auch die beiden Männer nach dem Hügel zurück.

Bald hatte alle der Schlaf umfangen ... ein Schlaf, bei dem sie Gottes Donner nicht gehört hätten und vielleicht schliefen gar auch die bestellten Wächter ein? ... Ja, wirklich; nach zehn Uhr gab es keinen mehr, der da hätte melden können, dass sich am Saum des großen Waldes eine Anzahl verdächtiger Flammen unablässig hin und her bewegte.

Zweites Kapitel

Wandelnde Flammen

Eine Entfernung von zwei Kilometern trennte den Hügel von dem tiefdunklen Waldesdickicht, an dessen Rand sich qualmende und flackernde Flammen hier und dorthin bewegten. Es mochten ihrer gegen zehn sein, die jetzt vereinigt, dann wieder vereinzelt aufleuchteten und manchmal so heftig hin und her schwankten, wie es die Ruhe der Atmosphäre nicht zu rechtfertigen schien. Man konnte wohl vermuten, dass eine Rotte Eingeborener sich dort gelagert habe, um an dieser Stelle den Tag abzuwarten. Eigentliche Lagerfeuer waren die Flammen jedoch nicht, dafür irrten sie viel zu launisch auf etwa hundert Toisen weit weg und wieder zurück, ohne einen einzigen Feuerherd für Sicherung eines Nachtlagers zu bilden.

In der Nähe des Ubanghi schwärmen übrigens ziemlich häufig nomadisierende Stämme umher, die meist von Adamaua oder Barghimi im Westen, oder selbst von Uganda im Osten kommen. Eine Händlerkarawane wäre nicht so unklug gewesen, ihre Anwesenheit durch so viele, sich im dunkeln umherbewegende Feuerbrände zu verraten. Nur Eingeborene konnten sich da drüben zum Ausruhen niedergelassen haben. Und wer weiß, ob diese nicht feindliche Absichten gegen die unter der Krone der Tamarinden schlummernde Karawane hegten. War diese aber auch von großer Gefahr bedroht, wenn vielleicht mehrere hundert Pahuins, Fundjis, Chilouic, Baris, Denkas und andere nur den Augenblick abwarteten, sie in erdrückender Menge zu überfallen, so hatte hier - mindestens bis halb elf Uhr - noch niemand die geringste Vorbereitung zu einer Abwehr getroffen. Im Lager schliefen eben alle, Herren und Diener, und das Schlimmste, auch die Träger, die sich auf ihrem Wachposten ablösen sollten, waren in tiefen Schlaf versunken.

Zum Glück erwachte einmal der junge Eingeborene. Ohne Zweifel hätten sich seine Augen aber sofort wieder geschlossen, wenn die Blicke des Knaben nicht nach dem südlichen Horizont zu gerichtet gewesen wären. Unter den halbgeschlossenen Lidern hatte er zuerst die unbestimmte Empfindung von einem Lichtschein, der die finstere Nacht durchdrang. Er reckte die Glieder, rieb sich die Augen und schaute aufmerksamer hinaus. Nein, das war keine Täuschung: am Saum des Waldes bewegten sich vereinzelte Flammen hin und her.

Llanga kam der Gedanke, dass die Karawane angegriffen werden könnte. Dabei leitete ihn mehr ein gewisser Instinkt als eine wirkliche Überlegung, denn Raubgesellen, die ein Gemetzel und eine Plünderung im Schilde führen, wissen doch recht gut, dass ihre Aussichten auf Erfolg steigen, wenn ihnen eine Überraschung der Gegenpartei gelingt. Sie suchen sich also vorher versteckt zu halten, und diese hier sollten sich geradezu angemeldet haben?

Der Knabe wollte Max Huber und John Cort nicht sogleich wecken und schlich sich deshalb lautlos nach dem Wagen. Als er den Foreloper gefunden hatte, legte er ihm die Hand auf die Schulter, weckte ihn auf und wies mit dem Finger nach den Feuerpunkten am Horizont.

Khamis richtete sich auf, beobachtete einen Augenblick die wandelnden Flammen und rief dann mit gellender Stimme:

»Herr Urdax! Herr Urdax!« Der Portugiese, von jeher gewöhnt, sich schnell aus dem Schlaf zu reißen, war augenblicklich auf den Füßen.

»Was gibt es, Khamis?«

»Sehen Sie dorthin!«

Mit ausgestrecktem Arm wies er nach dem erleuchteten Waldsaum am Ende der Ebene.

»Alle auf!«, rief der Portugiese mit der vollen Kraft seiner Lungen.

Binnen weniger Sekunden war das ganze Personal der Karawane auf den Füßen, alle aber von dem Ernst der Lage so sehr ergriffen, dass es keinem einfiel, den pflichtvergessenen Wächtern jetzt Vorwürfe zu machen. Ohne Llanga wäre das Lager jedenfalls überrumpelt worden, während Urdax und seine Begleiter in friedlichem Schlummer lagen.

Selbstverständlich hatten sich Max Huber und John Cort, die eiligst von ihrer Lagerstatt aufgesprungen waren, dem Portugiesen und dem Foreloper angeschlossen. Es war jetzt ein wenig über halb elf Uhr. Tiefe Finsternis bedeckte die Ebene auf drei Viertel ihres Umkreises im Norden, Osten und Westen. Nur im Süden funkelten die seltsamen Flammen und warfen aufflackernd lange Lichtstreifen vor sich her. Jetzt konnte man ihrer etwa fünfzig zählen.

»Da draußen müssen sich Eingeborene angesammelt haben«, begann Urdax, »und wahrscheinlich sind das Budjas, die meist an den Ufern des Kongo und des Ubanghi umherschwärmen.«

»Natürlich«, meinte Khamis, »von allein werden sich jene Fackeln nicht entzündet haben.«

»Und daneben«, bemerkte John Cort, »sind auch Arme da, die sie halten und umhertragen.«

»Diese Arme aber«, fuhr Max Huber fort, »müssen an Schultern sitzen, und die Schultern wieder zu Menschenkörpern gehören, doch inmitten des Lichtscheins erblickt man davon keinen einzigen ...«

»Sie halten sich jedenfalls ein wenig jenseits des Waldrandes, hinter den Bäumen«, ließ sich Khamis vernehmen.

»Man erkennt überdies auch«, nahm Max Huber wieder das Wort, »dass die Rotte da draußen nicht auf dem Weg um den Wald herum ist, denn die Lichtpunkte entfernen sich einmal nach rechts oder links hin, vereinigen sich dann aber immer aufs Neue ... «

»Gewiss an der Stelle, wo sich das Lager der Eingeborenen befindet«, bemerkte der Foreloper. - »Und was ist Ihre Ansicht?«, wendet sich Urdax an John Cort.

»Ich glaube, dass uns ein Angriff droht«, versicherte dieser, »und dass wir uns sofort zur Verteidigung rüsten müssen ... «

»Warum sollten uns die Eingeborenen aber nicht überfallen haben, bevor sie sich zeigten?«

»Oh, Neger sind eben keine Weißen«, erklärte der Portugiese. »Fehlt es ihnen auch an kluger Vorsicht, so sind sie wegen ihrer Zahl und ihrer Wildheit doch nicht minder zu fürchten.«

»Reine Panther, die unsere Missionare große Mühe haben werden, in Lämmer zu verwandeln«, antwortete Max Huber.

»Halten wir uns bereit!«, schloss der Portugiese.

Ja, jetzt galt es, sich auf alles bereit zu machen, sich bis zum Tod zu verteidigen. Von den wilden Völkerschaften Ubanghis darf man kein Erbarmen erwarten. Wie grausam sie sind, kann man sich kaum vorstellen; selbst die wildesten Stämme Australiens, der Salomonsinseln, der Hebriden und Neuguineas würden mit ihnen schwerlich den Vergleich aushalten. Im Herzen des hiesigen Landesteiles gibt es nur Kannibalendörfer, und die Väter der Missionen, die dem schrecklichsten Tod furchtlos ins Antlitz schauen, wissen das auch sehr wohl. Man wäre wirklich versucht, diese Wesen, ein Raubzeug mit Menschenangesicht, hier im äquatorialen Afrika unter die Tiere zu rechnen, und ihnen gegenüber ist Schwäche ein Verbrechen und nur die Gewalt berechtigt. Selbst im reifen Mannesalter haben diese Schwarzen nicht einmal soviel Kenntnisse, wie bei uns ein fünf- bis sechsjähriges Kind.

Man darf auch behaupten - Beweise gibt es in Überfluss, und die Missionare sind oft genug Zeugen von entsetzlichen Auftritten gewesen - dass hierzulande Menschenopfer noch vielfach im Schwung sind. Man ermordet die Sklaven auf dem Grab ihres Herrn, und ihre an einen elastischen Zweig gehängten Köpfe werden weit fortgeschleudert, sobald der Fetischdiener sie abgeschnitten hat. Im Alter von zehn bis zu sechzehn Jahren dienen Kinder als Nahrung bei größeren Festen, und manche Häuptlinge sollen sich ausschließlich von solchen nähren.

Zu ihren Kannibalengelüsten gesellt sich noch eine ungezähmte Raubgier. Diese führt sie oft auf die Straßen der Karawanen, die sie überfallen, ausplündern und vernichten. Sind sie auch weniger gut gewaffnet als die Händler und deren Begleitmannschaft, so haben sie doch den Vorteil der größeren Zahl, und einige tausend Eingeborene nehmen es allemal mit ein paar hundert Trägern auf. Die Forelopers wissen das recht gut; sie hüten sich auch sorgsamst, Negerdörfern wie Ngombe Dara, Kalaka Taimo und anderen in der Umgebung des Aukadepe und des Bahar-el-Abiad zu nahe zu kommen, wo noch keine Missionare tätig gewesen sind, wohin diese aber auch noch vordringen werden. Keine Furcht vermag deren Feuereifer zu dämpfen, wo es sich darum handelt, zarte Menschengeschöpfe vor dem Tod zu retten und jene wilden Rassen durch christliche Zivilisation aus ihrer Versunkenheit emporzuheben.

Vom Anfang seines Zuges an hatte der Porutgiese Urdax nicht immer Angriffen durch Eingeborene aus dem Weg gehen können, dabei war es ihm jedoch stets gelungen, ohne größeren Schaden davonzukommen, und er führte sein Personal jetzt in unverminderter Zahl heim. Die Rückkehr versprach eigentlich in vollster Sicherheit zu verlaufen. Nach Umgehung dieses Waldes an der Westseite, gelangte man an das rechte Ufer des Ubanghi, und längs dieses Flusses gedachte man bis zu seiner Einmündung am rechten Kongoufer hinzuziehen. Vom Ubanghi aus trifft man dann häufig auf reisende Händler und auf Missionare. Hier ist auch weniger zu fürchten von einer Begegnung mit eingeborenen Stämmen, die durch das Eingreifen Frankreichs, Deutschlands, Englands und Portugals immer weiter nach den Gebieten von Darfur zurückgedrängt werden.

Sollte die Karawane jetzt, wo einige Marschtage genügten, den Fluss zu erreichen, auf ihrem Weg aufgehalten werden oder einer so starken Anzahl mordgieriger Gesellen vielleicht gar zum Opfer fallen? ... Das war leider zu befürchten. Jedenfalls sollte sie nicht, ohne sich verteidigt zu haben, zugrunde gehen, und entsprechend dem Aufruf des Portugiesen wurden alle Maßregeln zu einer kräftigen Abwehr getroffen.

Im Handumdrehen waren Urdax, der Foreloper, John Cort und Max Huber bewaffnet und hatten ein Gewehr bereit, einen Revolver im Gürtel und eine wohlgefüllte Patronentasche daran befestigt. Der Wagen enthielt überdies ein Dutzend Flinten und Pistolen, die an einige, bezüglich ihrer Treue erprobte Träger verteilt wurden.

Gleichzeitig befahl Urdax seinen Leuten, sich immer in der Nähe der großen Tamarinden zu halten, um leicht besseren Schutz gegen Pfeile finden zu können, deren vergiftete Spitzen meist tödliche Verletzungen erzeugen. Jetzt wartete alles voller Spannung. Kein Geräusch unterbrach die Stille der Umgebung. Es schien nicht so, als ob die Eingeborenen vom Wald her über die Ebene vorgedrungen wären. Noch sah man wie vorher den feurigen Schein, und da und dort wirbelten lange Säulen gelblichen Rauches empor

»Was dort an den ersten Baumreihen hin und her getragen wird, müssen sehr harzhaltige Fackeln sein.«

»Ganz gewiss«, stimmte Max Huber ein. »Ich begreife nur nicht, was die Kerle dort anfangen, wenn sie wirklich einen Angriff auf uns beabsichtigen.«

»Und ich begreife es ebenso wenig«, fügte John Cort hinzu, »wenn sie diese Absicht nicht haben.«

Die Sache war in der Tat unerklärlich, doch worüber hätte man überhaupt erstaunen können, wenn solche vertierte Gesellen vom oberen Ubanghi in Betracht kamen?

Eine halbe Stunde verrann ohne Veränderung der Sachlage. Das ganze Lager blieb unausgesetzt auf der Hut. Alle Blicke durchforschten die dunkle Feme im Osten und im Westen. Während die Feuer im Süden weiter brannten, konnte sich ja ein Teil der Wilden von der Seite heranschleichen und die Karawane unter dem Schutz der Finsternis überfallen.

Nach jenen beiden Seiten blieb die Ebene jedoch völlig verlassen. So dunkel die Nacht auch war, hätten hier doch keine Feinde den Portugiesen und seine Begleiter überraschen können, ohne dass diese von ihren Waffen Gebrauch gemacht hätten.

Kurz nachher, gegen elf Uhr, rief Max Huber, der von der aus Urdax, Khamis und John Cort bestehenden Gruppe einige Schritte vorwärtsgegangen war: »Wir werden selbst nachsehen müssen, mit wem wir es hier zu tun haben!«

»Könnte das etwas nützen«, warf John Cort dagegen ein, »und empfiehlt es sich nicht weit mehr, bis zum Tagesanbruch auf der Wacht zu bleiben?«

»Warten ... noch warten«, entgegnete Max Huber, »wo unser Schlaf so abscheulich unterbrochen worden ist, noch sechs Stunden, die Hand am Gewehrabzug, warten! Nein, da ist es doch besser, zu sehen, woran man ist. Hegten die Eingeborenen übrigens keine schlechten Absichten gegen uns, so wäre ich gern bereit, mich wieder bis zum Morgen in mein Wurzelbettgestell niederzulegen, wo ich schon so angenehm träumte.«

»Was meinen Sie dazu?«, fragte John Cort den Portugiesen, der sich bisher ganz still verhalten hatte.

»Vielleicht verdient der Vorschlag Beachtung«, antwortete dieser; »er muss mit der größten Vorsicht ausgeführt werden.«

»Ich erbiete mich zu dem Versuch«, rief Max Huber eifrig, »und verlassen Sie sich darauf ... «

»Und ich werde Sie begleiten«, meldete sich der Foreloper, »wenn Herr Urdax dem zustimmt.«

»Es würde jedenfalls besser sein«, meinte der Portugiese.

»Und ich kann mich auch noch anschließen«, erklärte John Cort.

»Nein, bleib' du zurück, lieber Freund«, bat Max Huber. »Zu zweit sind wir genug. Übrigens werden wir nicht weiter als nötig hinausgehen. Erspähen wir einen Trupp, der sich von dieser Seite nähert, so kommen wir schleunigst zurück.«

»Überzeugt euch auch, dass eure Feuerwaffen gut instand sind«, mahnte noch John Cort.

»Das ist schon geschehen«, erwiderte Khamis, »ich hoffe jedoch, dass sie auf unserem Streifzug nicht in Tätigkeit kommen. Das Wichtigste für uns ist doch, selbst unentdeckt zu bleiben.« - »Das meine ich auch«, erklärte der Portugiese.

Nebeneinander hingehend, hatten Max Huber und der Foreloper den Tamarinden-Hügel bald hinter sich gelassen. Weiterhin war die Ebene weniger dunkel, obwohl man auf hundert Schritte hin einen Mann noch kaum hätte wahrnehmen können.

Beide hatten kaum fünfzig Schritte gemacht, als sie Llanga hinter sich bemerkten. Ohne ein Wort zu sagen, war der Knabe ihnen vom Lager aus gefolgt.

»Warum bist du denn gekommen, Kleiner?«, sagte Khamis.

»Jawohl, Llanga«, fuhr Max Huber fort, »warum bist du denn nicht bei den anderen geblieben?«

»Vorwärts ... trolle dich zurück«, befahl der Foreloper.

»Oh, Herr Max«, murmelte Llanga, »ich bei Ihnen ... ich bei Ihnen sein ...«

»Du weißt aber doch, dass Dein Freund John Cort dort hinter uns ist.«

»Ja, dafür mein Freund Max ... hier sein!«

»Wir brauchen dich aber nicht!«, sagte Khamis schon mit weniger strengem Tonfall.

»Lassen wir ihn hier, da er einmal da ist«, meinte Max Huber. »Er wird uns nicht im Wege sein, Khamis, und vielleicht entdeckt er mit seinen Katzenaugen sogar, was wir noch nicht erkennen können.«

»Ja, ja, ich werde ausschauen ... weit hinaus!«, versicherte das Kind.

»Nun gut; so halte dich neben mir«, sagte Max Huber, »und halte hübsch die Augen offen!«

Alle drei gingen weiter. Nach einer Viertelstunde befanden sie sich in der Mitte zwischen dem Lager und dem großen Wald. Die Flammen verbreiteten noch immer ihren Schein am Fuß der Bäume, leuchteten aber, aus größerer Nähe gesehen, umso heller. So scharf aber auch der Gesichtssinn des Foreloper und so gut das Fernrohr Max Hubers war, das dieser eben aus dem Etui gezogen hatte, so durchdringend die Blicke der jungen »Wildkatze« ohne Zweifel waren: es erwies sich doch noch immer unmöglich, jemand, der die Fackeln trüge, gewahr zu werden.

Das bestätigte die Ansicht des Portugiesen, wonach diese Feuerpunkte sich zum Teil verdeckt durch die Baumstämme und hinter dichtem Strauchwerk bewegten. Offenbar hatten die Eingeborenen die Grenze des Waldes nicht überschritten und dachten vielleicht gar nicht daran, es zu tun. Wahrlich, die Geschichte wurde immer unerklärlicher. Befand sich hier nur ein Ruheplatz von Schwarzen und beabsichtigten diese, am nächsten Morgen weiter zu ziehen, wozu dann die seltsame Beleuchtung des Waldsaumes? Hielt vielleicht eine nächtliche Feier die Leute um diese Stunde noch wach?