Das Dschungelbuch - Rudyard Kipling - E-Book

Das Dschungelbuch E-Book

Rudyard Kipling

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Wer kennt nicht den Wolfsjungen Mogli und seine Freunde, den klugen Panther Baghira und Balu, den schläfrigen braunen Bären, oder die Pythonschlange Kaa und Moglis größten Feind, den Tiger Schir Khan? Spätestens seit Walt Disneys wunderbarem Zeichentrickfilm ist Kiplings Abenteuergeschichte eines der populärsten Jugendbücher der Welt. Gerade diese scheinbare Bekanntheit aber lenkt den Blick von dem literarischen Meisterwerk ab, das wie kein zweites die Exotik des Dschungels und die Faszination Indiens beschwört.

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Rudyard Kipling

Das Dschungelbuch

Aus dem Englischen von Peter Torberg

FISCHER E-Books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Moglis Brüder

Chil, der Weih, bringt die Nacht herein,

Fledermaus Mang ließ sie frei –

Das Vieh, das steht in Hof und Scheun’,

bis Morgen sind wir dabei.

Dies ist die Stunde der stolzen Kraft,

Von Klaue, Reißzahn und Kralle.

O, hört den Ruf! – Eine gute Jagd,

das Dschungelgesetz gilt für alle!

Nachtgesang des Dschungels

Es war sieben Uhr an einem sehr warmen Abend in den Seoni-Hügeln, als Vater Wolf aus seiner Tagesruhe erwachte, sich kratzte, gähnte und eine Pfote nach der anderen reckte, um sich den Schlaf aus den Gliedern zu schütteln. Mutter Wolf lag da und hatte ihre große graue Schnauze über die vier durcheinanderpurzelnden, fiependen Jungen gestreckt. In die Höhle, in der sie alle lebten, schien der Mond hinein. »Auuh!«, sagte Vater Wolf, »es ist wieder Zeit für die Jagd«, und er wollte gerade den Hügel hinabspringen, als ein kleiner Schatten mit einem buschigen Schwanz an die Höhle herantrat und winselte: »Ich wünsche Ihnen viel Glück, o Herr der Wölfe; und den hochwohlgeborenen Kinderchen Glück und starke weiße Zähne, auf dass sie die Hungrigen in der Welt nicht vergessen.«

Es war ein Schakal, Tabaqui, der Tellerlecker. Die Wölfe Indiens verachten Tabaqui, weil er umherläuft, Unheil stiftet und Lügengeschichten erzählt und Lumpen und Lederfetzen von den Müllhaufen der Dörfer frisst. Aber sie haben auch Angst vor ihm, weil Tabaqui, mehr als jeder andere im Dschungel, dazu neigt, verrückt zu werden, und dann vergisst er einfach, dass er jemals vor irgendwem Angst gehabt hat und rennt durch den Wald und beißt jeden, der ihm in die Quere kommt. Selbst der Tiger stürzt davon und versteckt sich, wenn der kleine Tabaqui verrückt wird, denn der Wahnsinn ist das schändlichste, was einem wilden Tier widerfahren kann. Wir nennen es Tollwut, aber die Tiere nennen es diwani – den Wahnsinn – und rennen weg.

»Komm herein und sieh dich um«, sagte Vater Wolf steif, »aber hier gibt’s nichts zu fressen.«

»Für einen Wolf nicht«, sagte Tabaqui, »aber für so ein niedriges Wesen wie mich ist schon ein trockener Knochen ein Festschmaus. Wer sind wir, das Gidur-log, das Volk der Schakale, denn, dass wir es uns erlauben könnten, wählerisch zu sein?« Er huschte schnell tiefer in die Höhle, wo er einen Hirschknochen fand, an dem noch Fleisch war, hockte sich hin und zerbiss ihn fröhlich.

»Vielen Dank für dieses gute Mahl«, sagte er dann und leckte sich die Lefzen. »Wie schön doch die hochwohlgeborenen Kinder sind! Was für große Augen sie haben! Und noch so jung! Ich hätte wissen müssen, dass die Kinder von Königen schon von Geburt an richtige Männer sind.«

Nun wusste Tabaqui ganz genau, dass es nichts Unheilvolleres gibt, als Kinder in ihrem Beisein zu loben; und es bereitete ihm großes Vergnügen, als er die peinlich berührten Mienen von Mutter und Vater Wolf sah.

Tabaqui hockte stillvergnügt da und freute sich an dem Schaden, den er angerichtet hatte. Dann sagte er mit boshaftem Unterton: »Schir Khan, der Große, hat sein Jagdrevier gewechselt. Er wird einen Monat lang auf diesen Hügeln jagen, hat er mir gesagt.«

Schir Khan war der Tiger, der zwanzig Meilen entfernt in der Nähe des Flusses Wainganga lebte.

»Dazu hat er kein Recht!«, erboste sich Vater Wolf. »Nach dem Gesetz des Dschungels hat er nicht das Recht, sein Revier ohne angemessene Vorwarnung zu wechseln. Er wird alles Wild im Umkreis von zehn Meilen verscheuchen, und ich, ich muss doch für zwei jagen.«

»Seine Mutter hat ihn nicht ohne Grund Lungri, den Lahmen, genannt.« Mutter Wolf sprach ganz leise. »Er lahmt von Geburt an auf einem Bein. Deshalb hat er nur Vieh getötet. Und weil die Dorfbewohner am Wainganga wütend auf ihn sind, kommt er nun hierher und wird unsere Dörfler wütend machen. Sie werden den Dschungel nach ihm durchkämmen, wenn er schon längst wieder weg ist, und wir und die Kinder müssen fliehen, wenn sie das Gras in Brand stecken. Wir sind Schir Khan sehr zu Dank verpflichtet!«

»Soll ich ihm von Eurer Dankbarkeit berichten?« fragte Tabaqui.

»Raus!«, fuhr ihn Vater Wolf an. »Raus, geh mit deinem Herrn jagen. Für eine Nacht hast du schon genug Schaden angerichtet.«

»Ich geh ja schon«, sagte Tabaqui leise. »Ihr könnt Schir Khan bereits unten im Gestrüpp hören. Ich hätte mir meine Worte auch sparen können.«

Vater Wolf lauschte, und unten im Tal, das auf einen kleinen Fluss zulief, hörte er den fauchenden, wütenden, knurrenden Singsang eines winselnden Tigers, der nichts gefangen hat und dem es egal ist, ob es der ganze Dschungel weiß.

»Dieser Dummkopf!«, sagte Vater Wolf. »Die Nachtarbeit mit so einem Krach zu beginnen! Glaubt er vielleicht, dass unsere Hirsche so fett sind wie Wainganga-Ochsen?«

»Schsch! Er jagt heute Nacht weder Ochse noch Hirsch«, sagte Mutter Wolf. »Er jagt Mensch.« Das Gewinsel hatte sich zu einer Art leisem Schnurren gewandelt, das aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig zu kommen schien. Das war das Geräusch, das Holzfäller und Zigeuner, die im Freien schlafen, so verwirrt und sie dazu verleitet, dem Tiger manchmal direkt in den Rachen zu laufen.

»Mensch!«, sagte Vater Wolf und bleckte seine weißen Zähne. »Pfui! Gibt es denn nicht genug Käfer und Frösche in den Wassertanks, dass er Mensch fressen muss, und das ausgerechnet in unserem Revier?«

Das Gesetz des Dschungels, das nichts ohne Grund vorschreibt, verbietet es allen wilden Tieren, Mensch zu fressen, es sei denn, sie töten ihn, um ihren Kindern beizubringen, wie man tötet, und auch das nur außerhalb der Jagdgründe seiner Horde oder seines Stammes. Der wahre Grund dafür ist: Die Menschenjagd führt früher oder später dazu, dass bewaffnete weiße Männer auf Elefanten und Hunderte brauner Männer mit Gongs, Raketen und Fackeln kommen. Dann müssen alle im Dschungel leiden. Die wilden Tiere nennen als Grund, dass der Mensch das schwächste und wehrloseste aller Geschöpfe ist, und es unsportlich ist, ihn zu jagen. Und außerdem sagen sie – und es stimmt –, dass Menschenfresser räudig werden und ihnen die Zähne ausfallen.

Das Schnurren wurde lauter und endete beim Angriff des Tigers in einem kehligen »Uuaarh!«

Und dann heulte Schir Khan – ganz untigerisch. – auf. »Er hat es nicht geschafft«, sagte Mutter Wolf. »Was ist los?«

Vater Wolf lief ein paar Schritte hinaus und hörte, wie Schir Khan mit wütendem Murmeln und Grummeln durchs Gestrüpp stolperte.

»Diesem Dummkopf fällt nichts Besseres ein, als ein Lagerfeuer der Holzfäller anzuspringen. Er hat sich die Pfoten dabei verbrannt.« Vater Wolf grunzte. »Tabaqui ist bei ihm.«

»Da kommt jemand den Hügel hinauf«, sagte Mutter Wolf und spitzte ein Ohr. »Pass auf.«

Die Büsche raschelten im Dickicht ein wenig, und Vater Wolf kauerte sich sprungbereit auf die Hinterbeine. Wer dabei hätte zuschauen können, hätte die merkwürdigste Sache der Welt gesehen: Er sprang los, bevor er sah, worauf er zusprang, und dann versuchte er, mitten im Sprung innezuhalten. Das führte er so aus, dass er einen, anderthalb Meter senkrecht in die Luft stieg und fast genau dort landete, wo er den Boden verlassen hatte. »Ein Mensch!«, schnappte er. »Ein Menschenjunges. Schau nur!«

Unmittelbar vor ihm tauchte ein nackter brauner Junge auf, der gerade erst laufen konnte und sich an einem niedrig hängenden Ast festhielt – ein Sonnenteilchen, so zart und mit Grübchen, wie noch niemals zuvor eins bei Nacht zur Höhle eines Wolfes vorgedrungen ist. Er sah Vater Wolf ins Gesicht und lachte ihn an.

»Ist das ein Menschenjunges?«, fragte Mutter Wolf. »Ich habe noch nie eins gesehen. Bring es her.«

Ein Wolf, der es gewohnt ist, seine eigenen Jungen umherzutragen, kann, wenn er muss, ein Ei ins Maul nehmen, ohne es zu zerbrechen, und obwohl sich Vater Wolfs Kiefer um den Rücken des Kindes schlossen, ritzten seine Zähne nicht mal dessen Haut, als er es zwischen seine eigenen Jungen legte.

»So klein! So nackt und so mutig!«, sagte Mutter Wolf mit sanfter Stimme. Der Junge schob sich zwischen die Jungen und schmiegte sich eng an das warme Fell. »Ahai! Er nuckelt mit den anderen. Das ist also ein Menschenjunges. Hat es eigentlich jemals eine Wölfin gegeben, die sich rühmen konnte, ein Menschenjunges unter ihren Kindern zu haben?«

»Ich habe schon mal davon gehört, aber das war nicht in unserem Rudel und nicht zu meiner Zeit«, sagte Vater Wolf. »Es hat überhaupt keine Haare, und ich könnte es mit einem Schlag meiner Pfote töten. Aber sieh doch nur, es schaut auf und hat gar keine Angst.«

Ein dunkler Schatten verfinsterte den vom Mondlicht beschienenen Höhleneingang, denn Schir Khan hatte seinen großen kantigen Schädel und seine Schultern in den Eingang gezwängt. Tabaqui, der hinter ihm stand, winselte: »Mein Herr, mein Herr, hier ist es hineingelaufen!«

»Schir Khan erweist uns große Ehre«, sagte Vater Wolf. Seine Augen aber blitzten äußerst böse. »Was wünscht Schir Khan?«

»Meine Beute. Ein Menschenjunges ist in dieser Richtung verschwunden«, erwiderte Schir Khan. »Seine Eltern sind weggelaufen. Gib es mir.«

Schir Khan hatte ein Lagerfeuer von Holzfällern angesprungen, wie Vater Wolf gesagt hatte, und er tobte wegen der Schmerzen in seinen verbrannten Pranken. Aber Vater Wolf wusste, dass der Höhleneingang zu schmal für einen Tiger war. Schon dort, wo er sich jetzt befand, waren Schir Khans Schultern und Vorderpfoten eingezwängt, so als wäre er jemand, der in einem Fass steckt und zu kämpfen versucht.

»Die Wölfe sind ein freies Volk«, sagte Vater Wolf. »Sie nehmen vom Oberhaupt ihres Rudels Befehle entgegen, aber nicht von einem gestreiften Viehschlächter. Das Menschenjunge gehört uns. Und wenn wir wollen, werden wir es töten.«

»Was ihr schon wollt! Was soll dieses Geschwätz von wegen ›wollen‹? Bei dem Stier, den ich getötet habe, muss ich jetzt hier stehen und in deinem Hundeloch nach meinem gerechten Lohn schnüffeln? Schir Khan ist es, der hier spricht!«

Das Gebrüll des Tigers erfüllte die Höhle wie ein Donnerschlag. Mutter Wolf schüttelte die Jungen ab und sprang vor, und mit ihren in der Dunkelheit wie zwei grüne Monde blitzenden Augen stellte sie sich Schir Khans glühendem Blick.

»Und Rakscha, die Dämonin, ist es, die dir antwortet. Das Menschenjunge gehört mir, Lungri, mir ganz allein! Es wird nicht getötet. Es wird mit dem Rudel leben und im Rudel jagen; und dann, merk es dir gut, du Jäger kleiner nackter Kinder, du Froschfresser, du Fischfänger, wird es dich jagen! Und nun verschwinde, sonst gehst du, bei dem Sambhur, den ich getötet habe, ich fresse nämlich kein verhungertes Vieh, lahmer zu deiner Mutter zurück, als du in diese Welt gekommen bist, du angesengte Bestie des Dschungels! Verschwinde!«

Vater Wolf schaute verwundert. Er hatte schon fast die Zeit vergessen, als er Mutter Wolf im fairen Kampf gegen fünf andere Wölfe gewonnen hatte, als sie noch mit dem Rudel lief und man sie nicht nur aus Schmeichelei die Dämonin genannt hatte. Schir Khan hätte es vielleicht mit Vater Wolf aufnehmen können, aber nicht mit Mutter Wolf, denn er wusste, dort, wo er steckte, lagen alle Vorteile des Geländes auf ihrer Seite, und sie würde bis zum Äußersten kämpfen.

Also zog er sich aus dem Höhleneingang zurück, und als er in Sicherheit war, rief er: »Jeder Köter bellt auf seinem eigenen Hof! Wir werden ja sehen, was das Rudel von der Aufzucht von Menschenjungen hält. Das Junge gehört mir, und am Ende wird es mir doch unter die Zähne kommen, ihr Diebe mit den buschigen Schwänzen!«

Mutter Wolf warf sich keuchend zwischen ihre Jungen, und Vater Wolf sprach ernst zu ihr: »Schir Khan hat in einem Punkt recht. Wir müssen das Junge dem Rudel zeigen. Willst du es immer noch behalten, Mutter?«

»Es behalten?« Sie schnappte nach Luft. »Es kam nackt hierher, mitten in der Nacht, es war allein und sehr hungrig; und doch hatte es keine Angst! Schau doch, es hat schon eines meiner Jungen beiseitegeschubst. Und dieser lahme Schlächter hätte es getötet und wäre zum Wainganga verschwunden, während die Dorfbewohner hier aus Rache alle unsere Verstecke bejagt hätten! Es behalten? Natürlich behalte ich es. Bleib ruhig liegen, kleiner Frosch, Mogli. Denn ich werde dich Mogli, Frosch, nennen. Die Zeit wird kommen, wenn du Schir Khan jagen wirst, wie er dich gejagt hat.«

Das Gesetz des Dschungels legt eindeutig fest, dass jeder Wolf sich von seinem Rudel zurückziehen darf, wenn er eine Familie gründet; doch wenn die Jungen groß genug sind, um laufen zu können, muss er sie vor den Rudelrat bringen, der meist einmal im Monat bei Vollmond abgehalten wird, damit die anderen Wölfe sie identifizieren können. Nach dieser Begutachtung können die Jungen herumtollen, wo sie wollen, und bis sie ihren ersten Hirsch gejagt haben, gibt es keine Entschuldigung dafür, dass ein ausgewachsener Wolf des Rudels eines der Jungen tötet. Die Strafe dafür ist der Tod, wenn der Mörder dingfest gemacht werden kann; und wenn man einen Augenblick darüber nachdenkt, wird man feststellen, dass es so richtig ist.

Vater Wolf wartete damit, bis seine Jungen einigermaßen von selbst laufen konnten, dann brachte er sie, Mogli und Mutter Wolf in der Nacht des Rudeltreffens zum Ratsfelsen – eine Hügelkuppe voller Steine und Felsbrocken, wo sich hundert Wölfe verstecken konnten. Akela, der große, graue Einsame Wolf, der dank seiner überlegenen Kraft und Gerissenheit das Rudel anführte, lag ausgestreckt auf seinem Felsen, und unter ihm lagen vierzig oder mehr Wölfe, von den dachsfarbenen Veteranen, die ganz allein einen Hirsch erlegen konnten, bis zu den jungen schwarzen Dreijährigen, die glaubten, sie könnten das. Der Einsame Wolf führte das Rudel nun schon seit einem Jahr. Er war in seiner Jugend zweimal in eine Wolfsfalle getappt, und einmal war er verprügelt und, für tot erachtet, liegengelassen worden – er kannte also die Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Menschen. Auf dem Felsen wurde nicht viel gesprochen. Im Inneren des Kreises, den ihre Mütter und Väter bildeten, purzelten die Jungen übereinander, und ab und zu trat ein älterer Wolf zu einem der Jungen, betrachtete es sorgfältig und kehrte geräuschlos an seinen Platz zurück. Manchmal schubste eine der Mütter ihr Junges weit hinaus ins Mondlicht, um sicherzustellen, dass es nicht übersehen worden war. Von seinem Felsen rief Akela: »Ihr kennt das Gesetz! Ihr kennt das Gesetz! Seht sie Euch genau an, Ihr Wölfe!«, und die besorgten Mütter nahmen den Ruf auf: »Schaut! Schaut genau hin, Ihr Wölfe!«

Endlich – und Mutter Wolf sträubten sich die Nackenhaare – schob Vater Wolf »Mogli, den Frosch«, wie sie ihn nannten, in die Mitte, wo dieser sich lachend hinsetzte und mit einigen Steinchen spielte, die im Mondlicht glitzerten.

Akela hob nicht ein einziges Mal seinen Kopf von den Pfoten, sondern wiederholte immer nur gleichförmig den Ruf: »Seht sie Euch genau an!« Hinter den Felsen war gedämpftes Brüllen zu hören – die Stimme Schir Khans, der rief: »Das Junge gehört mir. Gebt ihn mir. Was hat das Freie Volk mit einem Menschenjungen zu schaffen?« Akela spitzte nicht mal die Ohren. Er sagte nur: »Seht sie Euch genau an, Ihr Wölfe! Was hat das Freie Volk mit den Befehlen von jemand anderem als dem Freien Volk zu schaffen? Schaut genau hin!«

Darauf erschallte ein vielstimmiges tiefes Knurren, und ein junger Wolf im vierten Jahr schleuderte Akela Schir Khans Frage entgegen: »Was hat das Freie Volk mit einem Menschenjungen zu schaffen?« Nun fordert das Gesetz des Dschungels, dass mindestens zwei Mitglieder des Rudels, außer Vater und Mutter, für das Junge sprechen müssen, wenn es einen Streit darüber gibt, ob es das Recht hat, vom Rudel aufgenommen zu werden.

»Wer spricht für dieses Junge?«, fragte Akela. »Wer aus dem Freien Volk spricht?« Niemand antwortete, und Mutter Wolf machte sich auf ihren, wie sie wusste, letzten Kampf gefasst, falls es zu einem Kampf kommen sollte.

Dann erhob sich das einzige andere Tier, das im Rudelrat geduldet wird; Balu, der schläfrige braune Bär, derjenige, der den Wolfsjungen das Gesetz des Dschungels beibringt; der alte Balu, der kommen und gehen kann, wie es ihm gefällt, weil er nur Nüsse, Wurzeln und Honig frisst. Balu setzte sich auf die Hinterbeine und stieß einen Grunzer aus.

»Das Menschenjunge? Das Menschenjunge?«, brummte er. »Ich spreche für das Menschenjunge. Ein Menschenjunges kann keinen Schaden anrichten. Ich bin kein guter Redner, aber ich sage die Wahrheit. Lasst es im Rudel leben, laßt es zu allen anderen dazugehören. Ich werde es selbst unterrichten.«

»Wir brauchen noch einen zweiten«, sagte Akela. »Balu hat gesprochen, und er ist unser Lehrer für die Jungen. Wer spricht noch für das Menschenjunge, außer Balu?«

Ein schwarzer Schatten fiel in den Kreis, es war Baghira, der Schwarze Panther. Er war schwarz wie Tinte, aber bei entsprechendem Lichteinfall schimmerte die Zeichnung seines Pantherfells wie Seidendamast. Alle kannten Baghira, und niemand wagte es, seinen Pfad zu kreuzen; denn er war so gerissen wie Tabaqui, so mutig wie ein wilder Büffel und so rücksichtslos wie ein verwundeter Elefant. Aber er hatte eine Stimme, die so sanft war wie wilder Honig, der vom Baum tropft, und ein Fell, weicher als Flaum.

»Akela, Freies Volk«, schnurrte er, »ich habe keine Stimme in Eurer Versammlung; aber das Gesetz des Dschungels sagt, wenn es einen Zweifel hinsichtlich der Aufnahme eines Jungen gibt, dann kann man das Leben dieses Jungen zu einem bestimmten Preis erkaufen. Das Gesetz sagt nicht, wer diesen Preis zu zahlen hat und wer nicht. Habe ich recht?«

»Gut! Gut!«, sagten die jungen Wölfe, die stets hungrig sind. »Hört auf Baghira. Das Junge kann zu einem bestimmten Preis gekauft werden. So lautet das Gesetz.«

»Ich weiß, ich habe kein Rederecht, und ich bitte um Eure Erlaubnis.«

»Also sprich!«, riefen zwanzig Stimmen.

»Ein nacktes Junges zu töten, ist eine Schande. Außerdem ist es eine größere Herausforderung für Euch, wenn es größer ist. Balu hat für ihn gesprochen. Zu Balus Worten gebe ich noch einen Stier dazu, einen fetten, frisch geschlagen, keine halbe Meile von hier, wenn Ihr das Menschenjunge aufnehmt, wie das Gesetz es befiehlt. Ist das so schwierig?«

Daraufhin setzte ein wildes Durcheinander Dutzender Stimmen ein, die sagten: »Was soll’s? Er wird im Winterregen sterben. Er wird in der Sonne verdorren. Was kann uns denn schon ein nackter Frosch anhaben? Soll er doch mit dem Rudel laufen. Wo ist der Stier, Baghira? Nehmen wir das Junge auf.« Und dann hörte man Akelas tiefes Heulen, und er rief: »Seht ihn Euch an! Seht ihn Euch genau an, Ihr Wölfe!«

Mogli war immer noch ausschließlich mit seinen Steinchen beschäftigt und merkte gar nicht, wie ein Wolf nach dem anderen zu ihm kam und ihn betrachtete. Schließlich liefen sie alle den Hügel hinab zu dem toten Stier, und nur Akela, Baghira, Balu und Moglis Wolfsfamilie blieben zurück. Schir Khan brüllte noch immer durch die Nacht, denn er war sehr wütend, dass man ihm Mogli nicht überlassen hatte.

»Ja, ja, brüll du nur«, murmelte Baghira in seine Schnurrhaare, »denn es kommt die Zeit, da wird dieses nackte Wesen dich zu einer anderen Melodie brüllen lassen, oder ich verstehe nichts von Menschen.«

»Das war gut getan«, sagte Akela. »Menschen und ihre Jungen sind sehr klug. Er kann uns zu gegebener Zeit eine Hilfe sein.«

»Das ist wahr, eine Hilfe in schwierigen Zeiten; denn niemand kann darauf hoffen, für immer das Rudel anzuführen«, sagte Baghira.

Akela entgegnete nichts. Er dachte an die Zeit, die für jeden Anführer jedes Rudels einmal kommt, wenn ihn seine Stärke verlässt und er immer schwächer wird, bis er schließlich von den Wölfen getötet wird und ein neuer Anführer auftritt – den wieder das gleiche Schicksal ereilen wird.

»Nehmt ihn mit«, sagte er zu Vater Wolf, »und unterrichtet ihn, wie es sich für das Freie Volk geziemt.«

Und so wurde Mogli um den Preis eines Stiers und auf Balus Fürsprache hin in das Seoni-Wolfsrudel aufgenommen.

Nun sollten wir bereit sein, zehn oder elf Jahre zu überspringen, und können nur Vermutungen über das wunderbare Leben anstellen, das Mogli bei den Wölfen führte, denn es würde viele Bände füllen, das alles aufzuschreiben. Er wuchs mit den Wolfsjungen auf, obwohl sie natürlich schon ausgewachsene Wölfe waren, bevor er überhaupt ein richtiges Kind war. Vater Wolf brachte ihm seine Kunst des Überlebens bei und unterrichtete ihn über alles, was im Dschungel vorkam, bis jedes Rascheln im Gras, jeder Hauch der warmen Nachtluft, jeder Eulenruf über seinem Kopf, jedes Krallenkratzen einer Fledermaus, die sich für eine Weile in einem Baum ausruhte, und jeder Platscher all der kleinen Fische, die im Teich sprangen, Mogli so vertraut waren wie einem Geschäftsmann die Arbeit in seinem Büro. Wenn er nicht lernte, saß er in der Sonne und schlief und aß und schlief wieder ein; war er dreckig, oder war es ihm zu heiß, dann schwamm er in den Waldteichen; und wenn er Honig wollte – Balu zeigte ihm, dass Honig und Nüsse genauso lecker waren wie rohes Fleisch –, dann kletterte er auf Bäume; das hatte Baghira ihm beigebracht. Baghira hatte sich auf einen Ast gelegt und gerufen: »Komm herauf, Kleiner Bruder!« Zuerst war Mogli wie ein Faultier dagehangen, aber nach einer Weile schwang er sich fast so mutig durchs Geäst wie der graue Affe. Er nahm auch seinen Platz am Ratsfelsen ein, wenn sich das Rudel traf, und dort stellte er fest, dass er einen Wolf dazu zwingen konnte, den Blick zu senken, wenn er ihn nur fest ansah, also starrte Mogli die Wölfe zum Spaß an. Bisweilen zupfte er seinen Freunden die langen Dornen aus den Pfoten, denn Wölfe leiden schrecklich unter den Dornen und Kletten in ihrem Fell. Des Nachts schlich er sich den Hügel hinab in bewohnte Gegenden und beobachtete neugierig die Dörfler in ihren Hütten, aber er misstraute den Menschen, denn Baghira hatte ihm eine rechteckige Kiste mit einer Falltür gezeigt, die so geschickt im Dschungel versteckt war, dass Mogli beinahe hineingetappt wäre, und hatte ihm gesagt, dass das eine Falle sei. Doch am allermeisten liebte Mogli es, mit Baghira tief in den Dschungel hineinzugehen, wo es dunkel und warm war, und den ganzen Tag träge zu verschlafen und bei Nacht Baghira bei der Jagd zuzuschauen. Wenn er hungrig war, tötete Baghira alles, was ihm in die Quere kam; Mogli auch – mit einer Ausnahme. Als Mogli alt genug war, um schon einiges zu verstehen, sagte Baghira zu ihm, dass er niemals Vieh anfallen dürfe, weil er um den Preis eines Stiers ins Rudel eingekauft worden war. »Der ganze Dschungel gehört dir«, sagte Baghira, »und du kannst alles töten, wozu deine Kraft reicht; aber wegen des Stieres, des Preises, für den du gekauft wurdest, darfst du weder junge noch alte Rinder töten oder essen. Sie sind für dich tabu. So lautet das Gesetz des Dschungels.« Mogli hielt sich immer daran.

Und er wurde immer kräftiger, wie es ein Junge ganz von selbst wird, der gar nicht weiß, dass er irgendwelche Lektionen lernt, und der an nichts anderes in der Welt denken muss als an seine Nahrung.

Mutter Wolf erzählte ihm ein paarmal, dass man Schir Khan, dem Tiger, nicht trauen könne und dass er eines Tages Schir Khan töten müsse; ein junger Wolf hätte wohl jeden Augenblick an diesen Rat gedacht, aber Mogli vergaß ihn, weil er nur ein Junge war – obwohl er sich selbst als Wolf bezeichnet hätte, wenn er in einer menschlichen Sprache hätte sprechen können.

Schir Khan lief ihm im Dschungel ständig über den Weg, denn während Akela immer älter und schwächer wurde, waren der lahme Tiger und die jüngeren Wölfe im Rudel die besten Freunde geworden; sie folgten ihm der Fleischreste wegen, was Akela niemals zugelassen hätte, wenn er es darauf angelegt hätte, seine Autorität bis zum Äußersten einzusetzen. Schir Khan schmeichelte ihnen und wunderte sich, dass solche feinen jungen Jäger sich damit zufriedengaben, von einem sterbenden Wolf und einem Menschenjungen angeführt zu werden. »Man hat mir gesagt«, sagte Schir Khan, »dass ihr euch beim Rat nicht traut, ihm in die Augen zu schauen«; und die jungen Wölfe knurrten, und sie sträubten ihr Fell.

Baghira, der seine Augen und Ohren überall hatte, wusste davon, und ein paarmal sagte er Mogli rundheraus, dass Schir Khan ihn eines Tages töten werde; Mogli lachte nur und entgegnete: »Ich habe das Rudel, und ich habe dich; und Balu wird sich auch für mich schlagen, auch wenn er faul ist. Warum sollte ich Angst haben?«

An einem sehr warmen Tag kam Baghira ein neuer Gedanke – er hatte ein Gerücht gehört, vielleicht von Ikki, dem Stachelschwein. Jedenfalls sagte er zu Mogli, als sie tief im Dschungel waren und der Junge seinen Kopf an Baghiras schönes schwarzes Fell gelehnt hatte: »Kleiner Bruder, wie viele Male habe ich dir gesagt, dass Schir Khan dein Feind ist?«

»So viele Male, wie Nüsse an der Palme dort hängen«, antwortete Mogli, der natürlich nicht zählen konnte. »Na und? Ich bin müde, Baghira, und Schir Khan hat einen langen Schwanz und ein großes Mundwerk wie Mao, der Pfau.«

»Aber jetzt ist nicht die Zeit zum Schlafen. Balu weiß es, ich weiß es, das Rudel weiß es, und selbst die dummen, dummen Hirsche wissen es. Und Tabaqui hat es dir ebenfalls gesagt.«

»Ha! Ha!« Mogli lachte. »Tabaqui kam vor kurzem zu mir und lästerte, dass ich ein nacktes Menschenjunges sei und nicht mal nach Erdkastanien graben könne. Ich habe ihn beim Schwanz gepackt und zweimal gegen eine Palme geschleudert, um ihm bessere Manieren beizubringen.«

»Das war dumm von dir; Tabaqui ist zwar ein Unruhestifter, aber er hätte dir etwas für dich sehr Wichtiges erzählt. Mach die Augen auf, Kleiner Bruder. Schir Khan traut sich nicht, dich im Dschungel zu töten; aber denk dran, Akela ist sehr alt, und bald kommt der Tag, an dem er seinen Hirsch nicht mehr töten kann, und dann wird er nicht länger Anführer sein. Viele der Wölfe, die dich begutachtet haben, als man dich das erste Mal zum Rat brachte, sind selbst alt, und die jungen Wölfe glauben, dass ein Menschenjunges keinen Platz im Rudel hat, wie ihnen Schir Khan eingetrichtert hat. Und schon bald wirst du ein Mann sein.«

»Und was ist das für ein Mann, dass er nicht mit seinen Brüdern laufen soll?«, fragte Mogli. »Ich bin im Dschungel geboren. Ich habe dem Gesetz des Dschungels gehorcht, und es gibt keinen Wolf unter uns, dem ich nicht einen Dorn aus den Pfoten gezogen habe. Sie sind doch meine Brüder!«

Baghira reckte und streckte sich und kniff kurz die Augen zu. »Kleiner Bruder«, sagte er, »fühl an die Unterseite von meinem Hals.«

Mogli streckte seine kräftige Hand aus und stieß knapp unterhalb von Baghiras seidigem Kinn, dort wo die starken Halsmuskeln unter den glänzenden Haaren verborgen sind, auf eine kleine kahle Stelle.

»Niemand im Dschungel weiß, dass ich, Baghira, diese Narbe habe, eine Narbe, die von einem Halsband herrührt. Ich bin bei den Menschen geboren worden, Kleiner Bruder, und bei den Menschen starb meine Mutter, in den Käfigen des Königspalastes von Udaipur. Das ist der Grund, warum ich beim Rat für dich den Preis entrichtet habe, als du ein kleines nacktes Junges warst. Ja, auch ich bin bei den Menschen geboren worden. Ich hatte noch nie den Dschungel gesehen. Sie fütterten mich hinter Gittern aus einem Blechnapf, bis ich eines Nachts spürte, dass ich Baghira war, der Panther, kein Spielzeug für Menschen, und ich zerbrach das lächerliche Schloss mit einem Prankenschlag und entkam; und weil ich das Verhalten der Menschen gelernt hatte, wurde ich im Dschungel noch furchterregender als Schir Khan. Oder etwa nicht?«

»Doch«, sagte Mogli, »alle im Dschungel haben Angst vor Baghira. Alle außer Mogli.«

»Ja, aber du bist und bleibst ein Menschenjunges«, sagte der Schwarze Panther mit zärtlicher Stimme, »und so wie ich in meinen Dschungel zurückgekehrt bin, so musst du wieder zu den Menschen zurück, zu den Menschen, die deine Brüder sind, falls du nicht vorher im Rat getötet wirst.«

»Aber warum? Warum sollte mich jemand töten wollen?«, fragte Mogli.

»Sieh mich an«, sagte Baghira, und Mogli blickte ihm fest in die Augen. Der große Panther wandte schnell den Blick ab.

»Darum«, sagte er und scharrte mit seiner Pfote im Laub. »Nicht einmal ich kann dir in die Augen schauen, und ich wurde bei den Menschen geboren, und ich liebe dich, Kleiner Bruder. Die anderen hassen dich, weil ihr Blick nicht dem deinen standhalten kann, weil du Verstand hast, weil du ihnen die Dornen aus den Pfoten ziehen kannst, kurzum, weil du ein Mensch bist.«

»All das habe ich nicht gewusst.« Mogli war mürrisch und runzelte seine dichten schwarzen Augenbrauen.

»Wie lautet das Gesetz des Dschungels? Erst zuschlagen und dann Laut geben. Durch deine Unvorsichtigkeit wissen sie, dass du ein Mensch bist. Aber sei klug. Ich spüre es in meinem Herzen: Sobald Akela auf der Jagd versagt, und bei jeder Jagd kostet es ihn mehr und mehr Mühe, den Hirsch zu erlegen, wird das Rudel sich gegen ihn und gegen dich stellen. Sie werden einen Dschungelrat am Felsen abhalten, und dann … und dann … Ich hab’s!«, rief Baghira und sprang auf. »Lauf schnell zu den Hütten ins Tal und hol dir ein paar von den Roten Blumen, die dort wachsen, damit du, wenn die Zeit reif ist, einen noch stärkeren Freund hast als mich oder Balu oder diejenigen aus dem Rudel, die zu dir halten. Hol dir die Rote Blume.«

Mit Roter Blume meinte Baghira das Feuer, aber kein Geschöpf des Dschungels wird es jemals bei seinem richtigen Namen nennen. Die Tiere haben eine Todesangst vor dem Feuer, und sie erfinden hunderterlei Arten, es zu umschreiben.

»Die Rote Blume?«, fragte Mogli. »Die wächst außerhalb der Hütten im Zwielicht. Ich werde sie holen gehen.«

»So spricht ein Menschenjunges«, sagte Baghira stolz. »Vergiss nicht, dass sie in kleinen Töpfen wächst. Hol schnell einen, und hebe ihn gut auf, bis du ihn brauchst.«

»Gut!«, sagte Mogli. »Ich gehe. Aber bist du sicher, mein lieber Baghira«, er legte einen Arm um den Hals des Panthers und sah ihm tief in die großen Augen, »bist du dir sicher, dass Schir Khan hinter all dem steckt?«

»Bei dem zerbrochenen Schloss, das mir die Freiheit gegeben hat, ich bin mir sicher, Kleiner Bruder.«

»Und bei dem Stier, dem Preis, für den ich gekauft wurde, werde ich es Schir Khan mit Zins und Zinseszins heimzahlen.« Mogli stürzte davon.

»Das ist ein Mensch. Ganz und gar Mensch«, sagte Baghira zu sich selbst und legte sich wieder hin. »O Schir Khan, nie hat es eine unglückseligere Jagd gegeben als deine Froschjagd vor zehn Jahren!«

Mogli war schon im Wald verschwunden, und er rannte schnell, und sein Herz schlug wild in seiner Brust. Als die Abendnebel aufstiegen, kam er bei der Höhle an, schöpfte Atem und sah ins Tal hinab. Die jüngeren Wölfe waren fort, aber Mutter Wolf, die in der Höhle hockte, erkannte an Moglis Keuchen, dass irgendetwas ihren Frosch beunruhigte.

»Was ist los, mein Sohn?«, fragte sie.

»Fledermausgeschwätz von Schir Khan«, entgegnete er. »Ich jage heute auf den gepflügten Feldern«, und er stürzte durchs Unterholz hinab zu dem Bach im Tal. Dort blieb er stehen, denn er hörte den Ruf des jagenden Rudels, hörte das Bellen eines aufgestörten Sambhur, eines Bockes, der sich, in die Enge getrieben, schnaubend umdrehte. Und dann hörte man das hinterhältige, bittere Heulen der jungen Wölfe: »Akela! Akela! Lasst den Einsamen Wolf seine Stärke beweisen. Platz für den Anführer des Rudels! Spring, Akela!«

Der Einsame Wolf musste wohl gesprungen sein und sein Ziel verfehlt haben, denn Mogli hörte, wie seine Kiefer zuschnappten, und dann einen Aufschrei, als der Sambhur ihn mit einem Stoß seines Vorderlaufs umwarf.

Mogli zögerte nicht länger, sondern rannte weiter; die Rufe hinter ihm wurden leiser, als er ins Ackerland hinauslief, wo die Dörfler lebten.

»Baghira hat wahr gesprochen«, keuchte er, als er sich neben dem Fenster einer Hütte ins Heu kauerte. »Morgen ist der Tag für Akela und mich gekommen.«

Dann drückte er sein Gesicht ans Fenster und sah das Feuer in der Feuerstelle. Er sah, wie die Frau aufstand und es im Dunkeln mit schwarzen Brocken speiste; und als der Morgen anbrach und die Nebelschwaden ganz weiß und kalt waren, sah er, wie das Kind einen Bastkorb nahm, der innen mit Ton beschichtet war, Brocken rot glühende Holzkohle hineinfüllte, es unter sein Gewand steckte und hinausging, um sich um die Kühe im Stall zu kümmern.

»Ist das alles?«, fragte sich Mogli. »Wenn ein Junges das tun kann, dann habe ich nichts zu befürchten.« Er schlenderte um die Hausecke, traf auf den Jungen, riss ihm den Topf aus der Hand und verschwand im Nebel, während der Junge voller Angst aufheulte.