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Der Kinderbuchklassiker für Erwachsene Mogli, das Menschenkind, wird aus den Fängen des Tigers Schir Khan gerettet und von einer Wolfsfamilie im Wald aufgenommen. Der kleine Junge wächst in der liebevollen Obhut seiner Wolfseltern und -brüder auf, lernt den stets gut gelaunten Bären Balu kennen, den weisen Panther Baghira und Akela, den Anführer des Wolfsrudels. Doch bald ist Mogli im Dschungel nicht mehr sicher und muss zurück ins Menschendorf ... Rudyard Kiplings Dschungelbuch ist zweifellos der Glücksfall eines nie alternden Jugendbuchs, eine zeitlose Geschichte voller Abenteuer, Geheimnisse und zugleich ein Lob der Freundschaft. Sie wurde in über 35 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt, darunter die erfolgreiche Verfilmung von Walt Disney aus dem Jahr 1967, die auf Motiven der Dschungelbuch-Erzählungen beruht. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.
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Seitenzahl: 276
Rudyard Kipling
Reclam
Englischer Originaltitel:
The Jungle Book
RECLAM TASCHENBUCH Nr. 962282
1993, 2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg (Illustrationen Mogli und Tiger); © Shutterstock.com/Ezhevika (Hintergrund)
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962282-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020748-2
www.reclam.de
Moglis Brüder
Kaa auf Jagd
»Tiger! Tiger!«
Die weiße Robbe
»Rikki-tikki-tawi«
Elefanten-Tumai
Ihrer Majestät zu Diensten
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Nachwort
Zeittafel
Nun bringt Tschil, der Milan, die Nacht mit heim,
und Mang, die Fledermaus, bringt sie in Gang.
Die Herden sind in Stall und Schuppen eingesperrt,
denn wir gehen nun um, bis es dämmert.
Dies ist die Stunde des Stolzes, der Macht,
der Kralle, des Stoßzahns, der Klaue.
Oh, hört den Ruf! – Gute Jagd all denen,
die das Gesetz des Dschungels einhalten!
»Nachtlied im Dschungel«
Es war sieben Uhr an einem sehr warmen Abend in den Sionibergen, als Vater Wolf von seiner Tagesruhe aufwachte, sich kratzte, gähnte und seine Läufe einen nach dem anderen spreizte, um das schläfrige Gefühl in den Pfoten loszuwerden. Mutter Wolf lag da, die große graue Nase quer über ihre vier übereinander purzelnden, quiekenden Jungen gestreckt, und der Mond schien in den Eingang der Höhle, in der sie alle lebten.
»Ahrrr«, sagte Vater Wolf, »es ist wieder mal an der Zeit, auf die Jagd zu gehen«; und er wollte gerade einen Satz den Hang hinunter machen, als ein kleiner Schatten mit buschigem Schwanz über die Schwelle huschte und winselte: »Glück sei mit dir, o Häuptling der Wölfe; und Glück und starke, weiße Zähne den edlen Kindern, auf dass sie die Hungrigen dieser Welt nie vergessen mögen.«
Es war der Schakal – Tabaqui, der Schüssellecker –, und die Wölfe in Indien verachten Tabaqui, denn er streift umher und stiftet Unheil, verbreitet Klatsch und frisst Lumpen und Lederfetzen von den Abfallhaufen der Dörfer. Aber sie haben auch Angst vor ihm, weil Tabaqui eher als jeder andere im Dschungel dazu neigt, verrückt zu spielen, denn dann vergisst er, dass er jemals vor irgendjemand Angst gehabt hat, rennt durch den Wald und beißt nach allem, was ihm in den Weg kommt. Selbst der Tiger läuft davon und versteckt sich, wenn der kleine Tabaqui verrücktspielt, denn Verrücktheit ist der beschämendste Zustand, der ein wildes Geschöpf überkommen kann. Wir nennen das Tollwut, sie jedoch nennen es Diwanie – Verrücktheit – und laufen davon.
»Dann komm halt rein und schau dich um«, sagte Vater Wolf steif, »aber zu fressen gibt es hier nichts.«
»Nicht für einen Wolf«, sagte Tabaqui, »für ein derart gewöhnliches Tier wie mich aber ist selbst ein trockener Knochen noch ein rechtes Festmahl. Wer sind wir denn, wir Gidur-Log [Volk der Schakale], dass wir wählerisch sein könnten?« Er trippelte tiefer in die Höhle hinein, wo er einen Rehbockknochen mit noch etwas Fleisch daran fand und sich setzte, um vergnügt daran herumzuknabbern.
»Tausend Dank für die gute Mahlzeit«, sagte er und leckte sich die Lippen. »Wie schön die edlen Kinder aber auch geraten sind! Was für große Augen sie haben! Und dabei noch so jung! Doch was Wunder? Also wirklich! – als hätte ich nicht von selbst darauf kommen können, dass Königskinder gleich von Geburt an stattliche Erscheinungen sind!«
Dabei wusste Tabaqui genauso gut wie jeder andere Erwachsene, dass Kindern nichts auch nur annähernd so schlecht bekommt, wie wenn man sie ins Gesicht lobt; und es machte ihm Freude zu sehen, dass den Wolfseltern unbehaglich zumute war.
Tabaqui blieb auch ganz ruhig sitzen, um sich so recht an dem Unheil, das er angerichtet hatte, zu weiden, und verkündete dann mit einem hämischen Grinsen:
»Schir Khan der Große hat seine Jagdgründe verlegt. Den nächsten Mond über wird er in diesen Bergen hier jagen; das hat er mir erzählt.«
Schir Khan war der Tiger, der in der Nähe des Wainganga-Flusses lebte, etwa zwanzig Meilen entfernt.
»Dazu hat er kein Recht!«, begann Vater Wolf zornig. »Nach dem Gesetz des Dschungels hat er kein Recht, sein Revier ohne angemessene Vorwarnung zu wechseln. Er wird jedes Stück Wildbret im Umkreis von zehn Meilen verscheuchen, und ich – ich muss dieser Tage für zwei jagen.«
»Nicht umsonst hat seine Mutter ihn Lungri [der Lahme] genannt«, sagte Mutter Wolf leise. »Eine seiner Pfoten ist von Geburt an lahm gewesen. Deshalb hat er nur Haustiere erlegt. Jetzt sind die Dörfler am Wainganga wütend auf ihn, darum kommt er hierher, um nun unsere Dörfler wütend zu machen. Sie werden den Dschungel nach ihm durchkämmen, wenn er weit fort ist, und wir und unsere Kinder müssen fliehen, wenn das Gras in Brand gesetzt wird. Wir können Schir Khan wirklich sehr dankbar sein!«
»Soll ich ihm von eurer Dankbarkeit berichten?«, fragte Tabaqui.
»Raus!«, schnauzte Vater Wolf. »Raus und geh mit deinem Herrn und Meister auf die Jagd. Du hast genug Schaden angerichtet für eine Nacht.«
»Ich gehe«, sagte Tabaqui gelassen. »Man kann Schir Khan im Dickicht unten hören. Die Auskunft hätte ich mir sparen können.«
Vater Wolf lauschte, und unten im Tal, das sich zu einem kleinen Fluss hinab senkte, hörte er den trockenen, mürrisch schnarrenden, weinerlichen Singsang eines Tigers, der nichts erwischt hat und sich kein bisschen darum schert, ob der ganze Dschungel davon erfährt.
»Dieser Trottel!«, sagte Vater Wolf. »Sein Nachtwerk mit so einem Lärm zu beginnen! Denkt er denn, unsere Böcke seien so träge wie seine fetten Wainganga-Bullen?«
»Pst! Es sind weder Bullen noch Böcke, die er heute Nacht jagt«, sagte Mutter Wolf. »Es sind Menschen.« Das Wimmern hatte sich in eine Art summendes Schnurren verwandelt, das aus allen vier Himmelsrichtungen zu kommen schien. Es war jenes Geräusch, welches Holzfäller und Zigeuner, die im Freien schlafen, in die Irre führt und sie manchmal genau in den Rachen des Tigers laufen lässt.
»Menschen!«, sagte Vater Wolf und zeigte all seine weißen Zähne. »Pfui! Gibt es nicht genug Käfer und Frösche in den Tümpeln, dass er Menschen fressen muss, und noch dazu auf unserem Boden!«
Das Gesetz des Dschungels, das niemals irgendetwas grundlos anordnet, verbietet jedem Tier, Menschen zu fressen, außer wenn es tötet, um seinen Kindern zu zeigen, wie man tötet, und dann muss es außerhalb der Jagdgründe seines Rudels oder seiner Sippschaft jagen. Der wahre Grund hierfür ist, dass das Töten von Menschen früher oder später die Ankunft weißer Menschen mit Gewehren und Hunderter brauner Menschen mit Gongs, Signalraketen und Fackeln bedeutet. Dann leidet jeder im Dschungel. Der Grund, den die Tiere untereinander anführen, lautet, dass der Mensch das schwächste und wehrloseste aller Lebewesen sei, und deshalb sei es unsportlich, sich an ihm zu vergreifen. Sie sagen auch – und das ist wahr –, dass Menschenfresser räudig werden und die Zähne verlieren.
Das Schnurren wurde lauter und endete in dem vollkehligen »Aaarh!« eines angreifenden Tigers. Dann war da ein Jaulen – ein wenig tigerhaftes Jaulen – von Schir Khan. »Er hat seine Beute verfehlt«, sagte Mutter Wolf. »Was ist es denn?«
Vater Wolf lief ein paar Schritte hinaus und hörte Schir Khan im Gestrüpp herumtapsen und dabei wütend vor sich hinmurmeln und -murren.
»Der Dummkopf hat nicht mehr Verstand gehabt, als das Lagerfeuer eines Holzfällers anzuspringen, und hat sich die Füße verbrannt«, sagte Vater Wolf mit einem Grunzen. »Tabaqui ist bei ihm.«
»Da kommt etwas den Berg herauf«, sagte Mutter Wolf, deren eines Ohr zuckte. »Halt dich bereit!«
Die Büsche im Dickicht raschelten ein wenig, und Vater Wolf kauerte sich auf seine Hinterläufe, bereit zum Sprung. Einem Zuschauer hätte sich sodann der wunderbarste Anblick der Welt geboten – der Wolf hielt mitten im Sprung inne. Er war losgesprungen, noch ehe er gesehen hatte, wonach er eigentlich sprang, und versuchte dann, sich zu bremsen. Das Ergebnis war, dass er vier oder fünf Fuß geradewegs in die Luft hochschoss und fast genau dort wieder landete, wo er den Boden verlassen hatte.
»Ein Mensch!«, schnappte er. »Ein Menschenjunges. Sieh mal!« Direkt vor ihm stand ein nacktes braunes Baby, das eben erst laufen konnte, und hielt sich an einem niederhängenden Zweig fest. Ein Winzling mit derart weicher Haut und niedlichen Grübchen, wie noch nie einer nachts in eine Wolfshöhle gekommen war. Er sah hoch in Vater Wolfs Gesicht und lachte.
»Ist das ein Menschenjunges?«, fragte Mutter Wolf. »Ich habe noch nie eins gesehen. Bring es her.«
Ein Wolf, der daran gewöhnt ist, seine eigenen Jungen zu tragen, kann notfalls ein Ei ins Maul nehmen, ohne es zu zerbrechen, und Vater Wolfs Kiefer schlossen sich zwar direkt um den Leib des Kindes, doch als er es zwischen den eigenen Jungen niederlegte, hinterließ kein Zahn auch nur einen Kratzer auf der Haut.
»Wie klein! Wie nackt und – wie kühn!«, sagte Mutter Wolf sanft. Das Baby drängelte sich zwischen den Wolfsjungen hindurch, um nahe an das warme Fell zu gelangen. »Ei! Es trinkt mit den anderen. Das also ist ein Menschenjunges. Sag mal, hat es je eine Wölfin gegeben, die sich rühmen konnte, ein Menschenjunges unter ihren Kindern zu haben?«
»Zu Ohren gekommen ist mir so etwas wohl schon einmal«, sagte Vater Wolf, »aber in unserem Rudel kam es noch nie vor, jedenfalls nicht zu meiner Zeit. Es ist ja gänzlich unbehaart, und ein leichter Klaps mit der Pfote würde schon reichen, um es zu töten. Aber sieh mal an, es schaut hoch und hat keine Angst.«
Da wurde dem Mondlicht der Höhleneingang versperrt, denn Schir Khans großer, eckiger Kopf und seine Schultern schoben sich in die Öffnung. Hinter ihm quiekte Tabaqui: »Mein Gebieter, mein Gebieter, es ist hier hineingelaufen!«
»Schir Khan erweist uns eine große Ehre«, sagte Vater Wolf, doch seine Augen waren sehr zornig. »Was wünscht Schir Khan?«
»Meine Jagdbeute. Ein Menschenjunges ist hier vorbeigekommen«, sagte Schir Khan. »Seine Eltern sind davongelaufen. Gib es her.«
Wie Vater Wolf schon vermutete, hatte Schir Khan das Lagerfeuer eines Holzfällers angesprungen und sich dabei die Füße so arg verbrannt, dass er vor Schmerz raste. Die Öffnung der Höhle war jedoch zu eng, um einen Tiger einzulassen, das wusste Vater Wolf. Schon dort, wo er sich befand, waren Schir Khans Schultern und Vorderpfoten aus Platzmangel so eingezwängt, wie die eines Menschen es wären, der in einem Fass zu kämpfen versuchte.
»Die Wölfe sind ein freies Volk«, sagte Vater Wolf. »Befehle nehmen sie von dem Oberhaupt ihres Rudels entgegen und nicht etwa von jedem hergelaufenen gestreiften Haustierschlächter. Das Menschenjunge gehört uns – und uns steht es frei, ob es getötet werden soll.«
»Es steht euch frei, und es steht euch nicht frei. Was redet ihr da von Freisteherei? Bei dem Bullen, den ich erlegt habe, soll ich etwa meine Nase in euer Hundeloch stecken müssen, um das zu bekommen, was mir rechtens zusteht? Ich bin es, Schir Khan, der hier spricht.«
Das Brüllen des Tigers erfüllte die Höhle mit einem Donnern. Mutter Wolf schüttelte die Jungen ab und sprang nach vorn; ihre Augen, die in der Dunkelheit zwei grünen Monden glichen, hielt sie auf die glühenden Augen Schir Khans geheftet.
»Und ich bin es, Rakscha [die Dämonin], die dir antwortet. Das Menschenjunge gehört mir, Lungri, mir ganz allein! Es wird nicht getötet werden. Es wird leben, um mit dem Rudel zu laufen und mit dem Rudel zu jagen; sieh dich nur vor, du Jäger kleiner nackter Kinder – Froschfresser – Fischfänger – zuletzt wird es nämlich dich jagen! Jetzt verzieh dich, oder, bei dem Sambur, den ich erlegt habe (ich fresse keine verhungerten Haustiere), du wirst lahmer zu deiner Mutter zurückkehren, als du auf die Welt gekommen bist! Geh!«
Vater Wolf sah verblüfft zu. Fast hatte er die Tage vergessen, da er Mutter Wolf fünf anderen Wölfen in fairem Kampf abgewonnen hatte, als sie noch mit dem Rudel lief und nicht aus Gründen der Schmeichelei »die Dämonin« genannt wurde. Schir Khan hätte vielleicht Vater Wolf die Stirn geboten, aber mit Mutter Wolf konnte er es nicht aufnehmen, denn er wusste, dass sie dort, wo sie war, die Vorteile auf ihrer Seite hatte und auf Leben und Tod kämpfen würde. Also wich er knurrend aus dem Höhleneingang zurück, und als er im Freien war, schrie er:
»Ein jeder Hund bellt auf seinem eigenen Hof. Wir werden noch sehen, was das Rudel zu dieser Aufzucht von Menschenjungen zu sagen hat. Das Menschenjunge gehört mir, und zwischen meine Zähne wird es letztlich geraten, o ihr struppigen Diebe!«
Schnaubend warf sich Mutter Wolf zwischen die Jungen, und Vater Wolf sagte ernst:
»Was Schir Khan da sagt, ist die reine Wahrheit, das Junge muss dem Rudel gezeigt werden. Willst du es trotzdem behalten, Mutter?«
»Es behalten!«, keuchte sie. »Es kam nackt, nachts, allein und sehr hungrig; doch es hatte keine Angst! Sieh nur, es hat schon eins meiner Kleinen zur Seite gedrängelt. Der lahme Schlächter hätte es getötet und wäre auf und davon zum Wainganga gelaufen, indes die Dörfler hier aus Rache quer durch all unsere Höhlen gejagt wären! Es behalten? Mit Sicherheit werde ich es behalten. Lieg still, kleiner Frosch. O du Mogli – denn Mogli, Fröschlein, will ich dich nennen – die Zeit wird kommen, da du Schir Khan jagen wirst, wie er dich gejagt hat.«
»Aber was wird unser Rudel sagen?«, fragte Vater Wolf.
Das Gesetz des Dschungels legt eindeutig fest, dass jeder Wolf sich von dem Rudel, zu dem er gehört, zurückziehen kann, wenn er heiratet; aber sobald seine Jungen alt genug sind, um auf eigenen Füßen stehen zu können, muss er sie zur Ratsversammlung des Rudels mitbringen, die im Allgemeinen einmal im Monat bei Vollmond abgehalten wird, damit die anderen Wölfe sie identifizieren können. Nach dieser Musterung steht es den Jungen frei zu laufen, wohin es ihnen beliebt, und bis sie ihren ersten Bock erlegt haben, gibt es keine Entschuldigung, falls ein erwachsener Wolf des Rudels eines tötet. Wenn der Mörder ermittelt werden kann, wird die Todesstrafe verhängt, und denkt man einen Augenblick darüber nach, so sieht man ein, dass das so sein muss.
Vater Wolf wartete, bis seine Jungen ein wenig laufen konnten, dann nahm er sie und Mogli und Mutter Wolf in der Nacht des Rudeltreffens mit zu dem Versammlungsfelsen – einem von Steinen und Geröll bedeckten Bergrücken, wo sich Hunderte von Wölfen verstecken konnten. Akela, der große, graue, einsame Wolf, der das ganze Rudel mit Kraft und Schlauheit anführte, streckte sich in voller Länge auf seinem Felsen aus, und unter ihm saßen über vierzig Wölfe jeder Größe und Farbe, von dachsfarbenen Veteranen, die einen Bock allein erledigen konnten, bis zu jungen schwarzen Dreijährigen, die bloß dachten, sie könnten es. Der Einsame Wolf führte sie nun seit einem Jahr. In seiner Jugend war er zweimal in eine Wolfsfalle geraten, einmal hatte man ihn für totgeprügelt gehalten und liegengelassen. So kannte er die Sitten und Gepflogenheiten der Menschen. Beim Felsen wurde nur sehr wenig gesprochen. In der Mitte des Kreises, in dem ihre Mütter und Väter saßen, purzelten die Jungen durcheinander, und ab und zu ging ein erwachsener Wolf leise zu einem Jungen hin, musterte es aufmerksam und kehrte auf lautlosen Pfoten zu seinem Platz zurück. Manchmal schubste eine Mutter ihr Junges weit in das Mondlicht hinaus, um sicherzugehen, dass es nicht übersehen wurde. Akela rief von seinem Felsen: »Ihr kennt das Gesetz – ihr kennt das Gesetz. Seht genau hin, o Wölfe!«, und die besorgten Mütter nahmen den Ruf auf: »Seht – o seht genau hin, ihr Wölfe!«
Endlich – Mutter Wolfs Nackenhaare sträubten sich, als die Zeit nahte – schob Vater Wolf Mogli den Frosch, wie sie ihn nannten, in die Mitte, wo er sitzenblieb, lachte und mit ein paar Kieselsteinen spielte, die im Mondlicht glänzten.
Akela hob nicht einmal den Kopf von seinen Pfoten, sondern setzte seinen eintönigen Ruf fort: »Seht genau hin!« Hinter dem Felsen hervor kam ein undeutliches Knurren – es war die Stimme Schir Khans: »Das Junge gehört mir. Gebt es her. Was geht das Freie Volk ein Menschenjunges an?« Akela zuckte nicht einmal mit den Ohren; alles, was er sagte, war: »Seht genau hin, o Wölfe! Was gehen das Freie Volk irgendwelche Anordnungen an, abgesehen von denen des Freien Volkes? Seht genau hin!«
Da kam ein mehrstimmiges, tiefes Knurren auf, und ein junger Wolf in seinem vierten Jahr warf Akela erneut Schir Khans Frage an den Kopf: »Was geht das Freie Volk ein Menschenjunges an?« Nun legt das Gesetz des Dschungels fest, dass ein Junges, dessen Recht auf Anerkennung durch das Rudel umstritten ist, mindestens zwei Fürsprecher im Rudel haben muss, die weder sein Vater noch seine Mutter sind.
»Wer befürwortet die Anerkennung dieses Jungen?«, fragte Akela. »Wer unter den Angehörigen des Freien Volkes legt Fürsprache für es ein?« Er bekam keine Antwort, und Mutter Wolf machte sich bereit für den Kampf, der, wie sie wusste, ihr letzter sein würde, wenn es denn zum Kämpfen käme.
Dann erhob sich das einzige andere Geschöpf, das zu der Ratsversammlung des Rudels zugelassen ist: Balu, der Braunbär, der den Wolfsjungen das Gesetz des Dschungels beibringt, der alte Balu, der überall kommen und gehen kann, wie es ihm beliebt, weil er bloß Nüsse und Wurzeln und Honig frisst – er setzte sich auf sein Hinterteil und brummte.
»Das Menschenjunge – das Menschenjunge?«, fragte er. »Ich lege Fürsprache für das Menschenjunge ein. Ein Menschenjunges schadet niemandem. Ich besitze nicht die Gabe, mich gut auszudrücken, aber ich spreche die Wahrheit. Lasst es mit dem Rudel laufen und nehmt es mit den anderen auf. Ich selbst werde es unterrichten.«
»Wir brauchen noch jemanden«, sagte Akela. »Balu hat gesprochen, und er ist unser Lehrer für die Wolfsjungen. Wer außer Balu legt Fürsprache ein?«
Ein schwarzer Schatten plumpste von oben in den Kreis. Es war Baghira, der Schwarze Panther, ganz tintenschwarz, aber in bestimmten Lichtverhältnissen tauchten die Pantherzeichnungen auf wie die Muster moirierter Seide. Jeder kannte Baghira, und niemand legte Wert darauf, ihm in die Quere zu kommen, denn er war so listig wie Tabaqui, so unerschrocken wie der wilde Büffel und so rücksichtslos wie ein verwundeter Elefant. Aber er hatte eine Stimme, so weich wie Wildhonig, der von einem Baum tropft, und ein Fell, noch weicher gar als Daunen.
»O Akela und ihr vom Freien Volk«, schnurrte er, »ich habe zwar kein Stimmrecht in eurer Versammlung, aber das Gesetz des Dschungels besagt doch, das Leben eines neuen Jungen dürfe im Zweifelsfall, sofern es nicht um Leben und Tod geht, zu einem bestimmten Preis erkauft werden. Es besagt aber nicht, wer diesen Preis entrichten darf und wer nicht. Stimmt das?«
»Ganz recht!«, meinten die jungen Wölfe, die immer hungrig sind. »Hören wir doch auf Baghira. Gegen einen Preis kann das Junge aufgenommen werden. So will es das Gesetz.«
»Da ich weiß, dass ich kein Recht habe, hier vorzusprechen, ersuche ich euch hiermit um eure Erlaubnis.«
»So sprich denn«, riefen zwanzig Stimmen.
»Es ist beschämend, ein nacktes Junges zu töten. Außerdem könntet ihr mehr Spaß daran haben, wenn es aufgewachsen ist. Balu hat zu seinen Gunsten gesprochen. Nun, Balus Worten werde ich einen Bullen hinzufügen, und zwar einen fetten, den ich keine halbe Meile von hier eben erst erlegt habe, wenn ihr das Menschenjunge dem Gesetz entsprechend annehmt. Fällt euch das schwer?«
Da riefen zig Stimmen durcheinander: »Was soll’s? Während der Regenfälle im Winter wird es sterben. Die Sonne wird es versengen. Welchen Schaden kann ein nacktes Fröschlein uns schon zufügen? Soll es doch mit dem Rudel laufen. Wo ist der Bulle, Baghira? Nehmen wir es halt auf.« Dann setzte Akelas tiefes Bellen ein, das besagte: »Seht genau hin, seht genau hin, o Wölfe!«
Mogli war noch immer stark an den Kieselsteinen interessiert und nahm gar nicht wahr, dass die Wölfe kamen und einer nach dem anderen ihn musterte. Schließlich liefen alle den Berghang hinab zu dem toten Bullen, und nur Akela, Baghira, Balu und Moglis eigene Wolfsfamilie blieben da. Schir Khan brüllte immer noch in die Nacht hinaus, denn es ärgerte ihn sehr, dass man ihm Mogli nicht ausgeliefert hatte.
»Ja, brüll du nur«, murmelte Baghira in seinen Bart; »denn die Zeit wird kommen, da dieses nackte Ding dich zu einer anderen Melodie brüllen lässt, oder ich verstehe nichts von den Menschen.«
»Das haben wir gut gemacht«, sagte Akela. »Menschen und ihre Jungen sind sehr klug. Es könnte sich eines Tages als hilfreich erweisen.«
»Ganz recht, eine Hilfe in Zeiten der Not; denn niemand kann erwarten, das Rudel ewig anzuführen«, sagte Baghira.
Akela sagte nichts. Er dachte an die Zeit, die für jeden Anführer eines jeden Rudels anbricht, wenn seine Kraft ihn verlässt und er schwächer und schwächer wird, er schließlich von den Wölfen getötet wird und ein neuer Anführer aufsteigt – um seinerseits getötet zu werden, wenn die Reihe an ihn kommt.
»Nimm es mit«, sagte er zu Vater Wolf, »und ziehe es auf, wie es sich für einen Angehörigen des Freien Volkes geziemt.«
So also wurde Mogli um den Preis eines Bullens und auf Balus Zuspruch hin in das Sioni-Wolfsrudel aufgenommen.
Nun müsst ihr euch damit abfinden, zehn oder elf ganze Jahre zu überspringen und nur Mutmaßungen über das wundervolle Leben anzustellen, das Mogli unter den Wölfen führte, denn niedergeschrieben würde es unglaublich viele Bücher füllen. Er wuchs mit den Wolfsjungen auf, obwohl diese natürlich, fast noch bevor er den Babyspeck verloren hatte, ausgewachsene Wölfe waren, und Vater Wolf lehrte ihn sein Geschäft und die Bedeutung der Dinge im Dschungel, bis ihm jedes Rascheln im Gras, jeder Hauch der warmen Nachtluft, jeder Ton im Ruf der Eulen über seinem Kopf, jedes Kratzen der Krallen einer Fledermaus, die sich ein Weilchen in einem Baum ausruht, und jedes Platschen eines Fischleins, das in seinem Weiher Luftsprünge vollführt, genauso viel bedeutete wie einem Geschäftsmann seine Büroarbeit. Wenn er nicht lernte, saß er draußen in der Sonne und schlief und aß und schlief wieder ein; wenn er sich schmutzig fühlte oder ihm heiß war, schwamm er in den Weihern im Wald; und wenn er Honig wollte (Balu hatte ihm beigebracht, dass Honig und Nüsse ebenso gut schmecken wie rohes Fleisch), dann kletterte er dafür in die Bäume hinauf; wie das ging, zeigte ihm Baghira. Dazu begab er sich weit auf einen Ast hinaus und rief: »Komm mir nach, Kleiner Bruder«, und anfangs klammerte sich Mogli daran wie ein Faultier, aber später schwang er sich fast so kühn wie der graue Affe durch das Geäst. Auch nahm er seinen Platz auf dem Versammlungsfelsen ein, wenn das Rudel sich traf, und dort entdeckte er, dass jeder Wolf, dem er in die Augen starrte, den Blick senken musste; so machte er sich einen Spaß daraus, sie anzustarren. Manchmal zog er lange Dornen aus den Fußballen seiner Freunde, denn Wölfe leiden schrecklich unter Dornen und unter Kletten in ihrem Fell. Nachts ging er zuweilen den Berg hinab zu den bebauten Ländereien, wo er die Dörfler in ihren Hütten mit großer Neugier betrachtete, aber er misstraute den Menschen, weil Baghira ihm eine viereckige Kiste mit einer Falltür gezeigt hatte, die so geschickt im Dschungel versteckt worden war, dass er beinahe hineingetappt wäre, und ihm gesagt hatte, dass das eine Falle sei. Am allerliebsten ging er mit Baghira in das dunkle, warme Herz des Waldes, um dort den ganzen schläfrigen Tag über zu schlummern und nachts zuzusehen, wie Baghira seine Beute erlegte. Baghira tötete rechts und links, wann immer er Hunger hatte, und das tat auch Mogli – mit einer Ausnahme: Sobald er alt genug war, manches zu begreifen, erklärte ihm Baghira, dass er sich nie an Rindern vergreifen dürfe, weil der Preis für seine Aufnahme in das Rudel das Leben eines Bullen gewesen war. »Der ganze Dschungel gehört dir«, sagte Baghira, »und du kannst alles töten, was zu töten du stark genug bist; aber um des Bullen willen, der dir dein Leben erkauft hat, darfst du niemals irgendwelche Rinder, ob jung oder alt, töten oder essen. Das ist das Gesetz des Dschungels.« Mogli hielt sich gewissenhaft daran.
Und er wuchs und wurde stärker, wie ein Junge eben werden muss, der nicht weiß, was lernen heißt, und der auf der ganzen Welt an nichts weiter zu denken hat als an sein Essen.
Mutter Wolf sagte ihm ein- oder zweimal, dass man Schir Khan nicht trauen könne und dass er Schir Khan eines Tages töten müsse; auf diesen Ratschlag hätte ein junger Wolf sich jederzeit besonnen, Mogli hingegen vergaß ihn, denn er war bloß ein Knabe – auch wenn er selbst sich als Wolf bezeichnet hätte, wäre ihm eine menschliche Sprache geläufig gewesen.
Schir Khan lief ihm im Dschungel ständig über den Weg, denn als Akela älter und schwächer wurde, hatte sich der lahme Tiger eng mit den jüngeren Wölfen des Rudels befreundet, die ihm folgten, um zu fressen, was er übrig ließ, etwas, das Akela nie erlaubt hätte, hätte er noch gewagt, seine Autorität in vollem Maß auszuüben. Schir Khan pflegte ihnen zu schmeicheln und sich darüber zu wundern, dass so vortreffliche junge Wölfe sich damit zufrieden gaben, von einem sterbenden Wolf und einem Menschenjungen angeführt zu werden. »Man hat mir erzählt«, sagte Schir Khan dann, »dass ihr euch bei den Versammlungen nicht traut, ihm in die Augen zu schauen«; daraufhin knurrten die jungen Wölfe, und ihr Fell sträubte sich.
Baghira, der überall Augen und Ohren hatte, wusste davon und erklärte Mogli ein- oder zweimal überaus wortreich, dass Schir Khan ihn eines Tages umbringen werde; daraufhin lachte Mogli und antwortete: »Ich habe das Rudel, und ich habe dich; und so faul Balu auch ist, einen Hieb oder zwei würde er um meinetwillen wohl austeilen. Wovor sollte ich da noch Angst haben?«
An einem sehr warmen Tag kam Baghira auf eine neue Idee – entstanden durch etwas, das er gehört hatte. Vielleicht hatte es ihm Ikki, das Stachelschwein, erzählt; jedenfalls fragte er Mogli, als sie tief im Dschungel waren und der Junge mit dem Kopf auf Baghiras schönem schwarzen Fell lag: »Kleiner Bruder, wie oft habe ich dir gesagt, dass Schir Khan dein Feind ist?«
»So viele Male, wie es Nüsse an der Palme hier gibt«, sagte Mogli, der natürlich nicht zählen konnte. »Was soll’s? Ich bin schläfrig, Baghira, und Schir Khan ist nichts weiter als ein langer Schwanz und ein großes Maul – wie Mao, der Pfau.«
»Jetzt ist aber keine Schlafenszeit. Balu weiß das; ich weiß es; das Rudel weiß es; und sogar die einfältigen, törichten Hirsche wissen es. Dir hat Tabaqui es auch gesagt.«
»Ho, ho!«, höhnte Mogli. »Tabaqui kam vor kurzem zu mir und sagte mir einige Gemeinheiten: zum Beispiel, dass ich ein nacktes Menschenjunges sei und nicht einmal dazu tauge, Erdkastanien auszugraben; aber ich habe Tabaqui am Schwanz erwischt und zweimal gegen eine Palme geschleudert, um ihm bessere Manieren beizubringen.«
»Das war dumm; denn auch wenn Tabaqui ein Unheilstifter ist, hätte er dir doch von etwas erzählt, das dich sehr wohl etwas angeht. Mach die Augen auf, Kleiner Bruder. Im Dschungel wagt Schir Khan nicht, dich zu töten; aber denk daran, dass Akela sehr alt ist und bald der Tag kommen wird, an dem er seinen Bock nicht mehr töten kann, und dann wird er nicht länger Anführer sein. Viele der Wölfe, die dich aufnahmen, als du das erste Mal vor die Ratsversammlung gebracht wurdest, sind auch alt, und die jungen Wölfe glauben, wie Schir Khan es sie gelehrt hat, dass ein Menschenjunges keinen Platz im Rudel hat. Binnen kurzem wirst du ein Mensch sein.«
»Und was hat ein Mensch an sich, dass er nicht mit seinen Brüdern laufen dürfte?«, fragte Mogli. »Ich bin im Dschungel geboren. Ich habe die Dschungelgesetze befolgt, und es gibt keinen unter unseren Wölfen, aus dessen Pfoten ich nicht einen Dorn herausgezogen habe. Selbstverständlich sind sie meine Brüder!«
Baghira streckte sich in voller Länge aus und schloss die Augen halb. »Kleiner Bruder«, sagte er, »fühl mal unter meinen Kiefer.«
Mogli hob seine starke braune Hand unter Baghiras seidiges Kinn und traf genau dort, wo die gewaltigen Kaumuskeln unter dem schimmernden Haar verborgen sind, auf einen kleinen kahlen Fleck.
»Es gibt niemanden im Dschungel, der weiß, dass ich, Baghira, dieses Zeichen trage – das Mal, das ein Halsband hinterlässt, denn ich, Kleiner Bruder, nun, ich kam unter Menschen zur Welt, und bei den Menschen ließ meine Mutter ihr Leben – in den Käfigen des Königspalastes zu Udaipur. Deshalb habe ich den Preis für dich bei der Ratsversammlung bezahlt, als du ein kleines, nacktes Junges warst. Ja, auch ich wurde unter Menschen geboren. Ich hatte den Dschungel nie gesehen. Hinter Gittern wurde ich aus einem eisernen Napf gefüttert, bis ich eines Nachts spürte, dass ich Baghira bin – der Panther – und keines Menschen Spielzeug; ich sprengte das lächerliche Schloss mit einem Hieb meiner Tatze und machte mich auf und davon; und weil ich die Machenschaften der Menschen kennengelernt habe, verbreite ich im Dschungel noch mehr Schrecken als Schir Khan, oder etwa nicht?«
»Doch«, sagte Mogli, »der ganze Dschungel fürchtet Baghira – alle außer Mogli.«
»O du Menschenjunges«, sagte der schwarze Panther sehr zärtlich, »und genau wie ich in meinen Dschungel zurückgekehrt bin, so musst du schließlich wieder zu den Menschen gehen – zu deinen Brüdern, den Menschen –, wenn du nicht vorher auf der Ratsversammlung getötet wirst.«
»Aber warum – warum nur sollte jemand mich töten wollen?«, fragte Mogli.
»Sieh mich an«, sagte Baghira; und Mogli sah ihm fest in die Augen. Nach einer halben Minute wandte der schwarze Panther seinen Kopf zur Seite.
»Deshalb«, sagte er und fuhr mit seiner Pfote über das Laub. »Nicht einmal ich kann dir in die Augen sehen, und ich wurde unter Menschen geboren, und ich liebe dich, Kleiner Bruder. Die anderen hassen dich, weil ihre Augen den deinen nicht standhalten können – weil du klug bist – weil du ihnen Dornen aus den Pfoten gezogen hast – weil du ein Mensch bist. Aber sei klug. In meinem Herzen weiß ich, dass das Rudel sich, wenn Akela seine nächste Beute verfehlt – und bei jeder Jagd kostet es ihn mehr, den Bock zu stellen –, gegen ihn und gegen dich wenden wird. Sie werden eine Dschungelratsversammlung bei dem Felsen abhalten, und dann – und dann – ich hab’s!«, sagte Baghira und sprang auf. »Geh du schnell hinunter zu den Hütten der Menschen im Tal und nimm dir ein wenig von der Roten Blume, die sie dort züchten, damit du, wenn die Zeit kommt, einen noch stärkeren Freund hast als mich oder Balu oder diejenigen im Rudel, die dich lieben. Hol die Rote Blume.«
Mit der Roten Blume meinte Baghira das Feuer, das bloß kein Geschöpf im Dschungel bei seinem richtigen Namen nennt. Jedes wilde Tier lebt in tödlicher Angst davor und erfindet hundert Wege, es zu umschreiben.
»Die Rote Blume«, fragte Mogli, »die im Zwielicht vor ihren Hütten wächst? Ich werde etwas davon holen.«
»Da spricht das Menschenjunge«, sagte Baghira stolz. »Denk daran, dass sie in kleinen Töpfen wächst. Hol rasch einen davon und behalt ihn bei dir für die Zeit, wenn du ihn brauchen wirst.«
»Gut!«, sagte Mogli, »ich gehe. Aber bist du sicher, o mein Baghira« – er schlang seinen Arm um den glänzenden Nacken und blickte tief in die großen Augen – »bist du sicher, dass all das Schir Khans Werk ist?«
»Bei dem gesprengten Schloss, das mir die Freiheit geschenkt hat, ich bin sicher, Kleiner Bruder.«
»Dann werde ich es Schir Khan mit gleicher Münze heimzahlen, bei dem Bullen, der mir mein Leben erkauft hat, und es könnte sogar ein wenig mehr werden«, sagte Mogli und hüpfte davon.
»Das ist ein Mensch. Das ist ganz und gar ein Mensch«, sagte Baghira zu sich selbst und legte sich wieder hin. »O Schir Khan, nie hat es eine unheilvollere Jagd gegeben als deine Froschjagd vor zehn Jahren!«
Weiter und weiter lief Mogli durch den Wald; er rannte schnell, und sein Herz pochte hitzig vor Zorn. Als der Abendnebel aufstieg, kam er an seiner Höhle an, schöpfte Luft und sah in das Tal hinab. Die Jungen waren unterwegs, aber Mutter Wolf im Innern der Höhle hörte seinem Atem an, dass ihr Fröschlein etwas bekümmerte.
»Was ist los, Sohn?«, fragte sie.
»Nur Fledermausgeschwätz über Schir Khan«, rief er zurück, »ich jage heute Nacht auf dem gepflügten Land«, und stürzte davon durch die Büsche hinunter zu dem Bach in der Talsohle. Dort hielt er inne, weil er das Gebell des jagenden Rudels hörte, das Gebrüll eines gejagten Samburs und das Schnauben, mit dem der Bock sich zur Wehr setzte. Daraufhin ließ sich das bitterböse Geheul der jungen Wölfe vernehmen: »Akela! Akela! Der Einsame Wolf soll seine Stärke beweisen. Platz da für den Anführer des Rudels! Los, spring doch, Akela!«
Da muss der Einsame Wolf gesprungen sein und gefehlt haben, denn Mogli hörte seine Zähne zuschnappen und dann ein Jaulen, als der Sambur ihn mit dem Vorderfuß niederschmetterte. Mogli wartete nicht länger, sondern raste weiter; das Gebell hinter ihm wurde leiser, als er auf das bebaute Land zulief, wo die Dörfler wohnten.
»Baghira hat die Wahrheit gesagt«, keuchte er, als er sich auf etwas Viehfutter neben dem Fenster einer Hütte niederließ. »Morgen ist unser beider Tag, Akelas und meiner.«
Dann presste er sein Gesicht dicht an die Fensterscheibe und beobachtete das Feuer im Kamin. Nachts sah er die Frau des Bauern aufstehen und es mit schwarzen Klumpen füttern; als der Morgen nahte und der Nebel ganz weiß und kalt war, sah er, wie das Kind des Menschen einen mit Ton ausgekleideten Weidenkorb aufhob, diesen mit Klumpen rotglühender Holzkohle füllte, ihn zudeckte und hinausging, um die Kühe im Stall zu versorgen.