Das Duell - Anton Tschechow - E-Book

Das Duell E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Der despotische Sozialdarwinist Nikolai Wassiljewitsch von Koren fordert den jungen pflichtvergessenen Staatsdiener Iwan Andrejitsch Lajewskij, einen studierten Philosophen, zum Duell. Die Ehrenstreitigkeit wird in einem kaukasischen Küstenort am Schwarzen Meer an einem Morgen um fünf Uhr ausgetragen. In der Nacht vor dem Schusswechsel überdenkt Lajewskij in Erwartung des Todes sein verpfuschtes Leben. Das Buch wurde vielfach adaptiert für Theater und Film.

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LUNATA

Das Duell

Anton Tschechow

Das Duell

© 1896 Anton Tschechow

Originaltitel Duėl

Aus dem Russischen von Korfiz Holm

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

1

Acht Uhr morgens war es, die Zeit, wo die Offiziere, Beamten und Sommergäste nach der schwülen, heißen Nacht im Meer zu baden pflegten. Nach dem Bade ging man in den Pavillon und trank Kaffee oder Tee. Iwan Andrejitsch Lajewskij, ein blonder, hagerer Mann von achtundzwanzig Jahren, traf, als er, die Uniformmütze des Finanzressorts auf dem Kopf und Pantoffeln an den Füßen, zum Baden kam, am Strande viele Bekannte und darunter seinen Freund, den Militärarzt Samoilenko.

Doktor Samoilenko war ein Mann von dicker, aufgedunsener Gestalt, auf der ohne Hals ein großer, kurzgeschorener Kopf saß. Er hatte ein rotes Gesicht, eine gewaltige Nase, struppige schwarze Brauen und einen grauen Backenbart. Seine Stimme war ein heiserer Militärbass. So machte er bei der ersten Begegnung einen unangenehm raubeinigen Eindruck auf jedermann. Aber schon nach wenigen Tagen fand man sein Gesicht ungewöhnlich gutmütig, liebenswürdig und sogar hübsch. Trotz seiner Plumpheit und seiner rauen Art war er ein friedliebender, unendlich gutmütiger, wohlwollender und verbindlicher Mensch. Mit der ganzen Stadt stand er auf du, allen pumpte er Geld, kurierte alle, stiftete Verlobungen und Versöhnungen und arrangierte Picknicks, bei denen er dann Hammelfleisch am Spieß briet und aus Thunfischen eine sehr wohlschmeckende Suppe kochte. Es war nur eine Stimme, er war ein ausgezeichneter Mensch. Nur zwei Schwächen hatte er: erstens schämte er sich seiner Gutmütigkeit und suchte sie durch grimmiges Dreinschauen und künstliche Grobheit zu maskieren und zweitens liebte er es, wenn die Lazarettgehilfen und Soldaten zu ihm Exzellenz sagten, obwohl er erst Staatsrat war.

»Eine Frage, Alexander Dawidowitsch,« begann Lajewskij, als sie beide bis an die Schultern im Wasser waren, »gesetzt den Fall, du hättest ein Weib geliebt und mit ihr zusammengelebt mehr als zwei Jahre, und dann, wie es geht, hört die Liebe auf, und du fühlst, daß sie für dich eine Fremde geworden ist. Was würdest du in diesem Fall tun?«

»Sehr einfach: geh, mein Engel, wohin dich der Wind trägt. Und Schluß.«

»Das ist leicht gesagt. Aber wenn sie nirgends hin kann? Sie steht allein in der Welt, hat keinen Verwandten, keinen Pfennig, sie versteht auch nicht zu arbeiten.«

»Ach was? Schmeiß ihr eine einmalige Zahlung von fünfhundert Rubeln in den Rachen, oder fünfundzwanzig im Monat. Was weiter? Furchtbar einfach.«

»Gesetzt den Fall, du hättest fünfhundert oder fünfundzwanzig im Monat, aber das Weib, von dem ich rede, ist intelligent und stolz. Könntest du dich entschließen, ihr Geld anzubieten? Und in welcher Form?«

Samoilenko wollte antworten, aber in diesem Augenblick schlug eine große Welle ihnen über die Köpfe, brach sich am Ufer und floß plätschernd zwischen den Steinchen zurück. Die Freunde verließen das Wasser und begannen sich anzuziehen.

»Natürlich ist es kein Vergnügen, mit einer Frau zu leben, die man nicht liebt,« sagte Samoilenko und schüttelte den Sand aus seinen Stiefeln, »aber, Wanja, man muß doch menschlich denken. Sieh mich an, ich würde es ihr überhaupt nicht zeigen, daß ich sie nicht mehr liebe, und mit ihr zusammenleben bis an mein seliges Ende.«

Aber plötzlich wurde er verlegen, arretierte seine Phantasie und sagte:

»Meinetwegen braucht's überhaupt keine Weiber zu geben. Hol sie der Teufel!«

Sie waren fertig und gingen in den Pavillon. Dort fühlte sich Samoilenko ganz wie zu Hause und hatte sogar sein eigenes Stammgeschirr. Jeden Morgen brachte man ihm auf einem Tablett seine Tasse Kaffee, ein hohes, geschliffenes Glas mit Eiswasser und ein Gläschen Kognak. Zuerst trank er den Kognak, dann den heißen Kaffee und zum Schluß das Eiswasser. Und das schmeckte ihm augenscheinlich sehr gut. Als er getrunken hatte, wurden seine Augen noch freundlicher, er strich sich mit beiden Händen den Backenbart, blickte aufs Meer hinaus und sagte:

»Die wundervolle Aussicht!«

Lajewskij fühlte sich matt und zerschlagen nach einer langen Nacht voll unfroher, nutzloser Gedanken, die ihm den Schlaf geraubt und die Schwüle und Dunkelheit noch schwerer gemacht hatten. Vom Bad und dem Kaffee wurde ihm nicht besser.

»Also weiter, Alexander Dawidowitsch,« sagte er, »ich will es nicht verheimlichen und dir, meinem Freunde, offen gestehen, die Geschichte mit Nadeschda Fjodorowna ist faul, äußerst faul! Verzeih', daß ich dich in meine Geheimnisse ziehe, aber ich muß mich aussprechen.«

Samoilenko wußte im voraus, wovon die Rede sein würde, er senkte den Blick und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

»Zwei Jahre hab' ich mit ihr gelebt. Ich lieb' sie nicht mehr,« fuhr Lajewskij fort, »das heißt, richtiger, ich weiß jetzt, daß wir uns nie geliebt haben. Diese zwei Jahre waren – ein Betrug.«

Lajewskij hatte die Gewohnheit, beim Sprechen aufmerksam seine rosigen Handflächen zu betrachten, an seinen Nägeln zu kauen oder an seinen Manschetten zu nesteln. Auch jetzt tat er das.

»Ich weiß ja genau, daß du mir nicht helfen kannst,« sagte er, »aber ich erzähle es dir, weil für uns Unglücksvögel und überflüssige Menschen das Heil im Aussprechen liegt. Ich muß alles mitteilen, was ich tue, ich muß eine Erklärung und Rechtfertigung meines abgeschmackten Lebens finden in irgendwelchen Theorien oder in Typen aus der Literatur. Vorige Nacht habe ich mich so mit dem ewigen Gedanken getröstet: Wie recht hat doch Tolstoi, wie erbarmungslos recht! Und davon wurde mir leichter. Wahrhaftig, er ist ein großer Dichter.«

Samoilenko hatte Tolstoi nie gelesen und wollte jeden Tag damit anfangen. Er wurde verwirrt und sagte:

»Ja, andere Dichter dichten aus ihrer Phantasie, er aber direkt nach der Natur –«

»Ach Gott,« seufzte Lajewskij, »wie hat die Zivilisation uns ausgemergelt! Ich hatte mich verliebt in eine verheiratete Frau, und sie sich in mich. Anfangs gab's bei uns Küsse und stille Abende und Schwüre und Philosophie und Ideale und gemeinsame Interessen... Was für eine Lüge! Wir flohen in Wahrheit vor ihrem Mann, logen uns aber vor, vor der Oede unserer gebildeten Welt zu fliehen. Unsere Zukunft malten wir uns so aus: Ich würde anfangs im Kaukasus, bis wir uns mit Land und Leuten bekannt gemacht hätten, die Beamtenuniform anziehen und eine Zeitlang im Staatsdienst bleiben, dann aber würden wir uns ein Stück Land nehmen und im Schweiße des Angesichts schaffen, einen Weinberg, ein Feld bebauen usw. Wärest du an meiner Stelle, oder dein Zoolog, dieser Herrn von Koren, ihr würdet vielleicht dreißig Jahre mit Nadeschda Fjodorowna zusammenleben und euren Erben einen reichen Weinberg und tausend Dessjatinen Maisland hinterlassen. Ich habe mich vom ersten Tage an bankerott gefühlt. In der Stadt unerträgliche Hitze und Langeweile, kein Mensch, und kommt man hinaus, da lauern unter dem Strauch Skorpione oder Schlangen. Und weiterhin Berge und Einöde. Fremde Menschen, eine fremde Natur, eine traurige Kultur. Lieber Freund, es ist viel leichter mit Nadeschda Fjodorowna am Arm im Pelz den Newskij Prospekt entlangzubummeln und von warmen Ländern zu plaudern. Hier gilt es nicht den Kampf ums Leben, sondern den Kampf um den Tod, und was bin ich denn für ein Kämpfer? Ich trauriger Neurastheniker mit meinen gepflegten Händen. Am ersten Tage hab' ich's eingesehen, daß meine schönen Gedanken von einem arbeitsamen Leben, von einem Weinberg den Teufel nichts taugten. Und was die Liebe angeht, so kann ich dir sagen, daß es ebenso uninteressant ist, mit einem Frauenzimmer zu leben, das Spencer gelesen hat und dir zuliebe bis ans Ende der Welt mitgelaufen ist, als mit irgendeiner beliebigen Akulina. Sie riecht genau so nach dem Bügeleisen, nach Puder und Medikamenten, sie trägt genau so jeden Morgen ihre Papilloten, und es ist genau derselbe Selbstbetrug ...«

»Ohne Bügeleisen kommt man in keiner Wirtschaft aus,« sagte Samoilenko und wurde rot, weil Lajewskij so intime Details von einer bekannten Dame erzählte, »du bist, merk' ich, heute nicht bei Laune, Wanja. Nadeschda Fjodorowna ist eine reizende und gebildete Frau, du bist ein sehr begabter Mensch. Warum solltet ihr nicht zusammenpaffen? Es ist ja wahr, ihr seid nicht verheiratet,« sagte Samoilenko und sah sich nach den Nachbartischen um, »aber das ist doch nicht eure Schuld, und außerdem – der Mensch soll keine Vorurteile haben und sich auf das Niveau zeitgemäßer Ideen erheben. Ich bin selbst für die Ehe ohne Formen, ja –. Aber, ich meine, wenn man einmal zusammenlebt, so soll man auch bis ans Lebensende zusammenbleiben.«

»Ohne Liebe?«

»Das erkläre ich dir gleich,« sagte Samoilenko. »Vor acht Jahren hatten wir hier einen alten Agenten. Er war ein sehr kluger Mensch. Siehst du, der sagte immer: im Familienleben ist die Hauptsache – Geduld ... Verstehst du, Wanja? Nicht die Liebe, sondern die Geduld. Die Liebe kann nicht lange dauern. Zwei Jahre hast du in Liebe gelebt, jetzt ist dein Familienleben augenscheinlich in die Phase getreten, wo du all deine Geduld in Anwendung bringen mußt, um das Gleichgewicht zu erhalten.«

»Du glaubst deinem alten Agenten, für mich aber ist sein Rat ein Blödsinn. Der Alte konnte heucheln. Er vermochte es, einen ungeliebten Menschen für ein Instrument anzusehen, das ihm zur Übung seiner Geduld sehr gute Dienste leisten konnte. So tief bin ich noch nicht gesunken. Wenn ich meine Geduld üben will, kaufe ich mir einen Turnapparat oder ein störrisches Pferd, die Menschen lass' ich in Ruhe.«

Samoilenko bestellte eine Flasche Weißwein mit Eis.

Nach dem ersten Glas fragte Lajewskij plötzlich:

»Sag' doch mal, was ist das, Gehirnerweichung?«

»Das, ja, wie soll ich dir's gleich erklären – das ist so eine Krankheit, wenn die Gehirnmasse sich erweicht, gleichsam flüssig wird.«

»Ist sie heilbar?«

»Ja, wenn die Krankheit noch nicht eingerissen ist. – Kalte Duschen, spanische Fliegen. Auch innerliche Mittel gibt's.«

»So, so ... Also siehst du, so liegt die Sache. Ich kann nicht mit ihr leben. Es übersteigt meine Kräfte. Wenn ich mit dir zusammen bin, siehst du, dann philosophiere ich und bin heiter, zu Hause aber verliere ich ganz meinen Mut. Ich fühle mich so hochgradig beengt; wenn man mir z. B. sagte, ich müßte auch nur noch einen Monat mit ihr zusammenleben, ich glaube, ich würde mir eine Kugel vor den Kopf schießen. Und auseinander können wir auch wieder nicht ... Sie steht allein in der Welt, versteht nicht zu arbeiten, Geld haben wir beide keins. Wohin soll sie gehen? Zu wem? Kein Ausweg ... Nun sag' mir mal, was ist da zu machen?«

»M– ja,« brummte Samoilenko, er wußte keine Antwort, »liebt sie dich denn?«

»Ja, sie liebt mich gerade so weit, als sie in ihren Jahren und bei ihrem Temperament einen Mann nötig hat. Von mir würde sie sich ebenso schwer trennen wie von ihrem Puder und ihren Papilloten. Ich bin ihr ein notwendiges Boudoirrequisit.«

Samoilenko wurde verlegen.

»Du bist heute schlecht aufgelegt, Wanja,« sagte er, »du hast offenbar nicht gut geschlafen.«

»Ja, ich habe schlecht geschlafen. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl. Ich habe so eine Leere im Kopf, der Herzschlag stockt, und dabei fühle ich mich so schwach. Ich muß entfliehen.«

»Wohin denn?«

»Dahin, nach dem Norden. Zu den Tannen, zu den Pilzen, zu den Menschen, zu den Ideen. Mein halbes Leben gäbe ich darum, könnte ich jetzt irgendwo im Gouvernement Moskau oder Tula sein und in einem Bach baden, weißt du, daß man ganz durchkältet wird, und dann spazieren bummeln ein paar Stunden, wenn auch mit dem minimalsten Studentlein, und schwatzen, schwatzen. – Und wie es da nach Heu duftet! Weißt du noch? Und abends, wenn man im Garten auf und abgeht und aus dem Hause das Klavier ertönt und in der Ferne die Eisenbahn vorbeirasselt –«

Lajewskij lachte vor Vergnügen, und die Tränen traten ihm in die Augen. Um sie zu verbergen, reckte er sich, ohne aufzustehen, nach Zündhölzern zum Nebentisch hinüber.

»Achtzehn Jahre sind's jetzt, daß ich nicht mehr in Russland war,« sagte Samoilenko, »ich weiß gar nicht mehr, wie es dort aussieht. Ich glaube, es gibt auch kein herrlicheres Land als den Kaukasus auf der ganzen Welt.«

»Wereschtschagin hat ein Bild gemalt: da quälen sich die zum Tode Verurteilten auf dem Grunde eines tiefen Schachtes. Wie solch ein Schacht kommt mir dein herrlicher Kaukasus vor. Wenn ich die Wahl hätte und könnte entweder Schornsteinfeger in Petersburg oder Fürst auf dem Kaukasus werden, ich würde lieber Schornsteinfeger sein, als hier unter einer Platane liegen und irgendeine idiotische, dreckige Lesghinierin anglotzen. Und die Tscherkessinnen, was für ein Schund ist das bei Licht besehen.«

»Sag' das nicht.«

Lajewskij versank in Gedanken. Samoilenko musterte seine gebeugte Gestalt, die ins Leere starrenden Augen, das blasse, schweißige Gesicht, die eingefallenen Schläfen, die abgekauten Nägel und den Pantoffel, der von der Ferse hinunterhing und einen mangelhaft gestopften Strumpf sehen ließ, und fühlte Mitleid mit ihm. Und wahrscheinlich, weil er ihm wie ein hilfloses Kind vorkam, fragte er:

»Lebt deine Mutter noch?«

»Ja, aber wir sind ganz auseinander. Sie konnte mir diese Verbindung nicht verzeihen.«

Samoilenko hatte seinen Freund gern. Er sah in ihm einen guten Kerl, eine studentische Seele, einen zwanglosen Menschen, mit dem man gut ein Glas Wein trinken, einen Scherz machen und nach Herzenslust schwatzen konnte. Was er an ihm verstand, gefiel ihm durchaus nicht. Lajewskij trank viel und außer der Zeit, spielte Karten, kümmerte sich nicht um seine Arbeit, lebte über seine Mittel, gebrauchte häufig im Gespräch unpassende Ausdrücke und zankte sich in Gegenwart dritter mit Nadeschda Fjodorowna – das alles gefiel Samoilenko durchaus nicht. Andererseits hatte Lajewskij Philosophie studiert, war auf zwei dickleibige Zeitschriften abonniert, redete oft so klug, daß nur wenige es verstanden, und lebte mit einer intelligenten Frau zusammen – das alles verstand Samoilenko nicht, und es gefiel ihm. Dafür stellte er Lajewskij über sich und empfand Hochachtung vor ihm.

»Noch eine Kleinigkeit,« sagte Lajewskij kopfschüttelnd, »es bleibt aber unter uns. Ich verheimliche es noch vor Nadeschda Fjodorowna, verplappere dich nicht ihr gegenüber. Vorgestern hab' ich einen Brief bekommen: ihr Mann ist an Gehirnerweichung gestorben.«

»Gott hab ihn selig!« stieß Samoilenko hervor, »warum verheimlichst du ihr das denn?«

»Ihr diesen Brief zeigen, das hieße einfach: sei so freundlich und komm in die Kirche zur Trauung. Aber zuerst muß Klarheit in unsere Beziehungen kommen. Wenn sie sich überzeugt hat, daß ein weiteres Zusammenleben zwischen uns unmöglich ist, dann zeig' ich ihr den Brief. Dann hat es keine Gefahr mehr.«

»Ich will dir was sagen, Wanja,« sagte Samoilenko, und sein Gesicht bekam plötzlich einen betrübten und bittenden Ausdruck, als wollte er eine sehr große Bitte tun und fürchtete ein Nein: »Heirate sie, lieber Freund.«

»Warum?«

»Erfülle deine Pflicht gegen diese reizende Frau. Ihr Mann ist gestorben, und auf diese Weise hat dir ja die Vorsehung selbst gezeigt, was du tun sollst.«

»Merkwürdiger Kauz, kapierst du denn nicht, daß das unmöglich ist? Heiraten ohne Liebe ist ebenso schlecht und menschenunwürdig wie das Abendmahl nehmen ohne Glauben.«

»Aber es ist deine Pflicht.«

»Warum ist es meine Pflicht?« fragte Lajewskij ärgerlich.

»Du hast sie ihrem Mann entführt und die Verantwortung für sie übernommen.«

»Verstehst du denn nicht? Ich spreche doch russisch: ich lieb' sie nicht.«

»Wenn du sie nicht liebst, so achte sie, verehre sie –«

»Achte sie, verehre sie,« äffte Lajewskij nach, »ist sie denn eine Heilige? Ein schlechter Psychologe und Physiologe bist du, wenn du glaubst, man könnte mit einem Frauenzimmer nur auf der Basis von Achtung und Verehrung zusammenleben. Den Weibern kommt es vor allem auf das Bett an.«

»Wanja, Wanja –« sagte der Doktor verlegen.

»Du bist ein altes Kind und ein Theoretiker, ich aber bin ein junger Greis und ein Praktiker. Wir werden uns nie verstehen. Hören wir lieber auf. – Mustapha,« rief Lajewskij den Kellner, »zahlen!«

»Nein, nein,« sagte der Doktor erschrocken und ergriff Lajewskijs Hand, »ich bezahle das, ich hab's bestellt. – Schreib es auf meine Rechnung,« schrie er Mustapha zu.

Die Freunde standen auf und gingen. Am Anfang des Boulevards blieben sie stehen und drückten sich zum Abschied die Hand.

»Sehr verwöhnt bist du, mein Lieber,« seufzte Samoilenko, »da schickt dir der Himmel eine junge, schöne, gebildete Frau, und du willst sie los sein. Und ich – wenn mir der liebe Gott nur eine bucklige alte Schachtel bescherte, wie zufrieden wäre ich, wenn sie nur gutmütig und freundlich wäre. Ich würde mit ihr auf meinem Weinberg leben und –«

Samoilenko wurde verlegen und sagte:

»Und da könnte mir die alte Hexe Tee kochen.«

Als er sich von Lajewskij verabschiedet hatte, schlenderte er den Boulevard hinunter. Er gefiel sich außerordentlich, und ihm schien, jedermann betrachte ihn mit Vergnügen, wenn er so daherkam, gewichtig, majestätisch, mit strengem Gesichtsausdruck, in seinem schneeweißen Waffenrock und mit den vorzüglich blankgewichsten Stiefeln, die Brust mit dem Wladimirorden darauf mächtig vorgewölbt. Ohne den Kopf zu wenden, blickte er nach beiden Seiten und fand, daß der Boulevard vorzüglich angelegt wäre, daß die jungen Zypressen, Eukalyptus und die häßlichen, kümmerlichen Palmen sehr schön wären und mit der Zeit einmal prachtvoll Schatten geben würden, und daß die Tscherkessen ein ehrliches und gastfreundliches Volk wären. Merkwürdig, dachte er, daß der Kaukasus Lajewskij nicht gefällt, höchst merkwürdig. Jetzt begegneten ihm fünf Soldaten mit Gewehren und machten ihre Ehrenbezeugung. Dann ging auf dem rechten Trottoir die Frau eines Beamten vorüber mit ihrem Sohn, der Gymnasiast war.

»'n Morgen, Marja Konstantinowna,« rief Samoilenko ihr liebenswürdig lächelnd zu, »kommen Sie vom Baden? Ha, ha, ha – Empfehlung an Nikodim Alexandrowitsch.«

Er ging weiter und lächelte noch immer liebenswürdig. Da erblickte er aber den Oberlazarettgehilfen Bylin, der ihm entgegenkam; plötzlich zog er die Stirn in Falten, hielt ihn an und fragte:

»Keine Kranken im Lazarett?«

»Nein, Exzellenz!«

»Was?«

»Niemand, Exzellenz.«

»Gut. Marsch.«

Majestätisch schaukelnden Ganges schritt er auf die Selterswasserbude zu, hinter deren Ladentisch eine dicke alte Jüdin saß, die sich für eine Georgierin ausgab, und sagte laut, als gelte es ein Regiment zu kommandieren:

»Bitte schön, ein Sodawasser.«

2

Daß Lajewskij Nadeschda Fjodorowna nicht liebte, äußerte sich vornehmlich darin, daß er alles, was sie sagte und tat, für eine Lüge oder etwas Ähnliches hielt. Und alles, was er gegen die Weiber und die Liebe las, schien ihm, als könnte es nicht treffender in Bezug auf ihn, Nadeschda Fjodorowna und ihren Mann gesagt sein. Als er nach Hause kam, saß sie schon angezogen und frisiert am Fenster und trank mit sorgenvollem Gesicht Kaffee und blätterte in einer dickleibigen Zeitschrift. Er dachte: das Kaffeetrinken ist doch wirklich kein so wichtiges Ereignis, daß man deshalb ein sorgenvolles Gesicht zu machen braucht. Und die Zeit, die sie auf ihre moderne Frisur verwandt hat, ist auch fortgeworfen. Hier war niemand, dem man gefallen konnte. Auch in der Zeitschrift erblickte er eine Lüge. Er dachte: sie putzt und frisiert sich, um hübsch, und liest, um klug zu erscheinen.

»Was meinst du, soll ich heute baden gehen?« fragte sie.

»Ach was? Geh' oder geh' nicht. Deswegen wird wohl kein Erdbeben entstehen, glaub ich.«

»Nein, ich frage, weil sich der Doktor vielleicht darüber ärgern könnte.«

»Na, dann frag' den Doktor. Ich bin doch kein Doktor.«

Diesmal mißfiel Lajewskij an Nadeschda Fjodorowna ganz besonders ihr weißer, offener Hals; er erinnerte sich, daß Anna Karenina, als in ihr die Liebe zu ihrem Mann erlosch, sich zuerst von seinen Ohren angewidert fühlte, und sagte sich: »Wie richtig! Wie richtig!«

Er fühlte sich schwach und leer im Kopf und ging in sein Kabinett. Dort legte er sich auf den Diwan und deckte das Taschentuch übers Gesicht, um sich vor den Fliegen zu schützen. Welke schleichende Gedanken, die sich immer um dasselbe drehten, zogen durch sein Gehirn, wie ein langer Wagenzug an einem regnerischen Herbstabend, und er verfiel in einen schläfrigen, gedrückten Zustand. Er dünkte sich schuldig Nadeschda Fjodorowna und ihrem Mann gegenüber, als trüge er die Schuld an seinem Tode. Er dünkte sich schuldig seinem eigenen Leben gegenüber, das er verpfuscht hatte, schuldig gegenüber der erhabenen Welt von Ideen, Wissenschaften und Arbeit. Und diese wunderbare Welt schien ihm möglich und wirklich bestehend, nicht hier am Strande, wo hungrige Türken und faule Tscherkessen herumstrolchten, sondern dort, im Norden, wo es eine Oper gab und ein Schauspiel und Zeitungen und alle Früchte geistiger Arbeit. Ehrlich, klug, edel und rein kann man nur dort, aber nicht hier sein. Er warf sich vor, daß er keine Ideale habe, keine leitende Idee im Leben, obwohl er nur eine recht vage Vorstellung davon hatte, was das bedeutete. Vor zwei Jahren, als er sich in Nadeschda Fjodorowna verliebte, glaubte er, daß es genüge, mit ihr nach dem Kaukasus zu fahren, um sich von der Banalität und Leere des Lebens zu retten; ebenso fest glaubte er jetzt daran, daß es genüge, Nadeschda Fjodorowna zu verlassen und nach Petersburg zu gehen, um alles zu erreichen, was er brauchte.

»Entfliehen,« flüsterte er, setzte sich auf und kaute an seinen Nägeln, »entfliehen!«

Er malte sich aus, wie er den Dampfer besteigen würde und dort frühstücken, kaltes Bier trinken und sich auf Deck mit den Damen unterhalten. Dann würde er sich in Sewastopol in den Zug setzen und losfahren. Sei mir gegrüßt, Freiheit! Eine Station nach der anderen taucht auf, die Luft wird immer kälter und rauher. Birken und Tannen. Da ist schon Kursk, Moskau –. In den Bahnhofsrestaurants gibt es Kohlsuppe, Hammelfleisch mit Buchweizen, Stör, Bier, kurzum, nicht mehr dies verdammte Asien, sondern Russland, das wirkliche Russland. Die Mitreisenden sprechen von Geschäften, von neuen Sängern, von den frankorussischen Sympathien. Überall spürt man ein kultiviertes, intelligentes Leben – Schneller, schneller! Endlich, der Newskij Prospekt, die große Morskajastraße, und da ist auch die Kownogasse, wo er einst als Student gewohnt hat. Der liebe graue Himmel, der kalte Regen, die nassen Droschkenkutscher –

»Iwan Andrejitsch«, rief jemand aus dem Nebenzimmer, »sind Sie zu Hause?«

»Jawohl,« antwortete Lajewsky, »was ist denn los?«

»Ich bringe einige Papiere.«

Lajewsky erhob sich träge, ihn schwindelte, er gähnte und ging mit schlürfenden Pantoffeln ins Nebenzimmer. Draußen am offenen Fenster stand ein junger Kollege von ihm und breitete einige amtliche Schriftstücke aufs Fensterbrett.

»Sofort, mein Lieber,« sagte Lajewskij sanft und suchte das Tintenfass. Dann ging er zum Fenster, unterschrieb die Papiere, ohne sie anzusehen, und sagte:

»Eine scheußliche Hitze!«

»Ja. – Kommen Sie heute aufs Bureau?«

»Ich glaube kaum. Ich fühle mich nicht ganz wohl. Sagen Sie doch Scheschkowskij, daß ich am Nachmittag zu ihm komme.«

Der junge Beamte ging. Lajewskij legte sich wieder auf seinen Diwan und begann zu grübeln: