Das dunkle Ende des Traums - Isabella Trummer - E-Book

Das dunkle Ende des Traums E-Book

Isabella Trummer

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Beschreibung

Eine schrecklich zugerichtete Frauenleiche wird aufgefunden. Ihre Verwundungen, die Arrangierung der Leiche und die seltsame Botschaft auf einem Zettel im Mund der Toten lassen an einen Ritualmord denken. Kammerlander und sein Team nehmen die Ermittlung auf. Doch es bleibt nicht bei dem einen Mord, denn vier weitere Leichen machen es zur Gewissheit, dass ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Kammerlander gerät mit seinem Team zunehmend unter Druck. Doch schließlich kommt ihm der Zufall zu Hilfe, denn er macht eine erstaunliche Entdeckung. Inspektor Kammerlanders zweiter Fall führt den Leser in die Sehnsüchte und Abgründe menschlicher Seelen und ihrer verzweifelten Suche nach Glück oder so etwas wie Liebe.

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Isabella Trummer

Das dunkle Ende des Traums

Inspektor Kammerlanders zweiter Fall

Leykam

Wir träumen davon, einen Menschen zu finden, der ganz eins mit uns ist. Weder erfüllt sich der Traum, noch wird er vergebens geträumt; wer ihn nicht träumt, hat von der Liebe nie etwas erfahren.

(Friedrich Georg Jünger)

1

Er sah auf seine Hände. Es waren schöne Hände; lange gerade Finger, aber doch kräftig. Die Nägel waren nicht zu schmal und nicht zu breit und perfekt manikürt. Er legte Wert auf seine Hände, erwartete man in seiner Stellung doch ein gepflegtes Äußeres. Aber was noch wichtiger war: Seine Hände waren sein Werkzeug, oder doch eines der Werkzeuge, derer er sich bediente. Er sah sich eigentlich insgesamt als Werkzeug. Als Diener und Umsetzer einer Geisteshaltung und simpler ethischer Normen.

Wer machte sich heute eigentlich noch Gedanken über Normen? Über eine sittliche Geisteshaltung? Über Moral? Kein Mensch. Selbst das Wort ‚Moral‘ wurde nicht mehr in den Mund genommen, es wurde als antiquiert empfunden. Gewisse Worte und Werte waren nicht mehr zeitgemäß, passten nicht mehr in das aufgeklärte und moderne Leben. Sie waren lästig, langweilig und hinderlich. Man lebte in einer ‚freien‘ Gesellschaft ohne Wertvorstellungen. Es wurde einfach konsumiert, in Anspruch genommen, ausgereizt, wie es einem passte. Ohne Rücksicht auf andere. Grenzen verschwammen. Falls es sie überhaupt noch gab und man willens war, sie wahrzunehmen. Und meistens war das nicht der Fall. Es war viel einfacher, zu nehmen, was sich einem bot, und wieder wegzuwerfen, wenn die Lust darauf verflogen war. Man lebte seinen Egoismus.

Er ging zum Fenster und sah in den Morgenhimmel hinauf. Ein milder Wind kühlte seine heiße Stirn. Er atmete tief die würzige Luft und genoss die Stille ringsum. Das brauchte er jetzt. Stille und Frieden, um über die vergangenen Stunden nachzudenken, die seinem Leben eine neue Richtung gegeben hatten. Die ihn herausgeführt hatten aus der Unzufriedenheit und dem Gefühl der Ohnmacht. Er hatte immer hilflos zugesehen, wie die Dinge sich entwickelten, hatte gewusst, wohin sie das alles brachte, und hatte nichts dagegen unternommen. Aber er hatte genau beobachtet und seine Schlüsse gezogen. Er hatte abgewartet. Ja, so war es. Sein Leben vorher war bestimmt gewesen von Beobachten und Abwarten. Er hatte gefühlt, dass er sich in eine bestimmte Richtung bewegte, auf ein Ziel zu, ohne zu wissen, was es war. Doch jetzt wusste er es. Es war ihm plötzlich klar geworden. Die Zeit des Abwartens war vorbei.

Er hatte angefangen zu handeln.

Er schloss das Fenster und zog die Vorhänge vor.

«««««»»»»»

Der Wind fuhr leicht durch Äste und Gebüsch und ließ die Blätter rascheln. Er war weder kalt noch besonders heftig; vielmehr war es so, als suchte er sich spielerisch einen Weg durch die Bäume, schaukelte ein paar dünne Zweige, umschmeichelte Waldglockenblumen und ließ sie leicht

mit den Blütenköpfen nicken. Dann fuhr er übermütig den Waldboden entlang, wirbelte trockene Blätter hoch und ließ sie sanft zu Boden gleiten. Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Äste und machten das Spiel mit. Sie ließen die Blätter golden aufleuchten, bevor diese wieder mattbraun in den Schatten sanken, und brachten den feinen Morgentau auf Zweigen und Gräsern zum Glitzern. Einige Strahlen durchdrangen das Gebüsch und zeichneten helle Kringel auf das Haar und den Körper der Frau.

Sie lag auf dem Waldboden in einer merkwürdig verdrehten Stellung. Ihre Knie zeigten abgewinkelt zum Wald hin, das Gesicht war in dieselbe Richtung gedreht. Nur der Oberkörper lag gerade; es war, als hätte sich die Frau von etwas abgewandt, vor dem sie großen Abscheu empfand.

Sie lag nicht weit von der Straße. Motorenlärm schwoll an und verebbte wieder. Menschen fuhren ein paar Meter neben ihr vorbei, waren auf dem Weg zur Arbeit. Wenn sie sich aufgerichtet hätte, wäre sie von der Straße aus zu sehen gewesen, vorausgesetzt, jemand hätte den noch verschlafenen Blick dem Wald zugewandt. Doch weder sah jemand zum Waldrand hin noch würde sich die Frau jemals wieder aufrichten. Ihre Arme lagen angewinkelt am Oberkörper, die Unterarme waren über der Brust gekreuzt. Unter den Fingern hatte sich der Stoff ihres Kleides fast schwarz verfärbt.

Eine Fliege kreiste über der rechten Hand und setzte sich an den Rand einer tiefen Wunde am Unterarm. Dann flog sie brummend auf, drehte Spiralen über dem Körper und landete schließlich auf dem Bauch der Frau, angezogen vom süßlichen Duft des Blutes.

Die ursprüngliche Farbe des Kleides war nur mehr an der Seite zu erkennen. Ein warmer Gelbton mit blauen Blüten darauf.

Es wurde allmählich wärmer. Ameisen krabbelten geschäftig auf ihren unsichtbaren Straßen dahin und wurden von dem Hindernis gestoppt. Sie liefen am Körper der Frau entlang, ein Stück am Unterschenkel hoch, und verschwanden zwischen den Zehen, um ein paar Sekunden später wieder um den Fuß herum aufzutauchen.

Leises Knacken und Hundegebell erklangen. Die Tote war nun nicht mehr allein im Wald. Das Rascheln und Knacken wurden lauter; ein schwarzer Jagdhund bewegte sich durch das Unterholz. Er hielt die Schnauze am Boden, wendete sich hierhin und dorthin, machte einen Bogen und erkundete alle wunderbaren und aufregenden Gerüche des Waldbodens. Die Rufe und Pfiffe seines Herrn ignorierte er. Plötzlich verharrte er. Mit erhobener Schnauze nahm er einen neuen Geruch auf. Er setzte sich wieder in Bewegung und verfolgte konzentriert diese intensive Duftspur. Als er die Geruchsquelle gefunden hatte, lief er aufgeregt um den Körper der Frau herum. Er bellte dabei unablässig, um seinem Herrn den Fund anzuzeigen.

Der Mann suchte seinen Weg durch den dichten Mischwaldbestand. Dürre Äste knackten unter seinen Tritten, und er schob raschelnd Zweige aus dem Weg.

„Ja, Ronnie … Ist schon gut, mein Alter, reg dich ab. Ich komm schon …“

Ein junger schlanker Mann tauchte zwischen den Bäumen auf. An seinem Hut und Jagdrock hingen feine Spinnweben, das Gewehr hatte er über die Schulter gehängt. Er ging leicht gebückt und kam rasch näher.

Sein Schrei blieb in den Wipfeln der Bäume hängen.

2

Abteilungsinspektor Kammerlander passierte mit seinem Kollegen Ebner den Stadtrand von Voitsberg. Sie fuhren in westlicher Richtung zum nahe gelegenen Wäldchen. Es war noch früh am Morgen und sie saßen schweigend nebeneinander. Nicht die richtige Tageszeit für eine angeregte Konversation.

Es kam nicht oft vor, dass in Voitsberg ein Mord geschah. Man bekam schon auch seinen Teil Kriminalität ab, wie Diebstähle, Einbrüche, Raufhändel mit Körperverletzung, Raubzüge der organisierten Banden aus dem Osten und vor allem Drogenkriminalität. Aber ein Mord war etwas Außergewöhnliches.

Das Städtchen umfasste etwa 15.000 Einwohner (das Umland mit eingerechnet) und war die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks. Früher einmal war Voitsberg ein Industriebezirk gewesen; Kohlenbergwerke und Glasfabriken hatten einigen tausend Bewohnern Arbeit gegeben. Doch nachdem der Kohlenabbau kostspieliger geworden war als die Nutzung anderer Energieformen, hatte ein Kumpel nach dem anderen den ‚blauen Brief‘ erhalten und sich nach einer neuen Arbeit umsehen müssen. Einige waren in Kleinbetrieben untergekommen, doch die meisten mussten in die dreißig Kilometer entfernte Landeshauptstadt Graz auspendeln. Auch die Glasindustrie hatte mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen gehabt, und es blieben vom einstigen Imperium nur mehr ein

Glasmuseum und Rumpfbetriebe übrig, die sich auf die Herstellung von Spezialgläsern beschränkten. Die Situation verbesserte sich nur langsam, da neue Betriebe es sich zweimal überlegten, sich in Voitsberg anzusiedeln. Die Verkehrssituation des Bezirks lag ziemlich im Argen. Frühere Gemeindeväter hatten eine gewinnbringende Anbindung an die Süd-Autobahn verschlafen. Sie blickten damals stolz auf ihre blühende Kohlenund Glasindustrie, und das genügte ihnen. Man hatte alles im Griff und wollte keine Einflüsse von außen. Doch die Zeiten hatten sich geändert. So war nun die schmale B70 die einzige Verbindung zur Autobahn. Sie musste morgens den Pendlerstrom nach Graz und abends den Rückreiseverkehr aufnehmen. Es war daher nicht überraschend, dass auch der Fremdenverkehr nur langsam in Schwung kam. Touristen wollten rasch ihre Urlaubsziele erreichen und nicht auf verstopften Landstraßen hinter LKWs oder Traktoren hertuckern.

Alles in allem ließ es sich in diesem Teil der Weststeiermark dennoch gemütlich leben, falls man nicht hoch hinaus wollte oder rege Betriebsamkeit vorzog. Da hatte die Neuigkeit über einen Leichenfund in dem nahe gelegenen Wäldchen natürlich schnell die Runde gemacht. So etwas passierte schließlich nicht alle Tage. Nachdem der junge Mann, der die Leiche gefunden hatte, zum nächsten Haus getaumelt war und die Polizei verständigt hatte, fing die Neuigkeit an zu zirkulieren. Die Hausbewohner riefen Nachbarn und Verwandte an, und diese taten ihrerseits dasselbe.

Als Kammerlander und Ebner eintrafen, stand schon eine erkleckliche Anzahl Schaulustiger vor dem Waldstück und versuchte, wenigstens einen Blick auf die Tote zu erhaschen. Das gelang ihnen freilich nicht; die Polizeibeamten, die zuerst dort eingetroffen waren, hatten den Schauplatz sofort bis zur Straße hin mit orange-weißen Bändern abgesichert. Also stand man in Gruppen herum und tauschte halblaut Vermutungen aus, wie es wohl zugegangen sein könnte, dass hier eine Tote herumlag.

„Das waren mit Sicherheit Ausländer, das sag ich dir. Diese Schwarzen und die Oststaatler, dieses Gesindel, das sich hier ausbreitet wie die Fliegen …“, hörte Kammerlander gerade einen grobschlächtigen Mann in mittleren Jahren sagen, als er aus seinem alten Volvo stieg. Er kannte den Mann vom Sehen. Er war Frührentner und die Polizei hatte im Zusammenhang mit Raufhändeln in Gasthäusern schon mehrmals mit ihm zu tun gehabt.

„Die kommen hierher, leben von der Wohlfahrt und haben nichts anderes zu tun, als sich zu überlegen, wie sie den Staat bescheißen können! Und wenn ihnen jemand nicht passt, wird er umgelegt. Fertig. Scheiß Ausländerpack!“ Er spuckte in hohem Bogen hinter ein Gebüsch.

„Was du immer daherredest“, entgegnete ein kleinerer Mann mit schütterem Haar. „Du weißt doch überhaupt nix. Vielleicht war das eine Fixerin, verstehst du, die eine

Überdosis erwischt hat …“

Die Umstehenden nickten zu den Überlegungen oder wiegten zweifelnd die Köpfe. Kammerlander sah zu seinem Kollegen Ebner und verdrehte die Augen.

„Die Spezialisten sind schon an dem Fall dran.“

„Eindeutig.“

Kammerlander versperrte missmutig sein Auto. Er war bereits schlecht gelaunt aus dem Haus gegangen, nachdem er sich statt eines gemütlichen Frühstücks mit einer hastigen Tasse Instant-Kaffee hatte begnügen müssen. Er hasste das. Ein Tag sollte nicht mit Hektik, sondern mit Eiern, Schinken, Käse und zwei Tassen Filterkaffee beginnen. Alles andere war Schikane. Hätte die Tote nicht eine halbe Stunde später gefunden werden können? Was hätte das für einen Unterschied gemacht? Aber nein.

Er stapfte grußlos an den Anwesenden vorbei, die ihm und Ebner jetzt schweigend Platz machten. Er hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und spielte mit dem Druckknopf seines Kugelschreibers. Klickend marschierte er voran, schlüpfte unter dem Absperrungsband durch und nickte einem sichernden Beamten zu.

„Wo?“

„Da hinten.“ Der Beamte sah zum Wald hin. „Nur ein paar Meter geradeaus in den Wald.“

Vorsichtig schlug Kammerlander die angegebene Richtung ein. Ebner folgte ihm.

„Wahrscheinlich brauchen wir gar nicht so aufzupassen. Auf dem Waldboden gibt es sowieso keine Fußabdrücke.“ Sie wurden von Blitzlichtern empfangen. Ein Fotograf lichtete die Tote aus allen erdenklichen Blickwinkeln ab. Ein großer schlanker Mann stand abwartend mit einer schwarzen Tasche in der Hand daneben. Er hatte volle weiße Haare und, obwohl er schon auf die sechzig zugehen musste, eine drahtige Figur.

„Morgen, Doc.“

Sie reichten sich die Hände und blickten gleichzeitig auf die Tote.

„Können Sie schon was sagen?“

„Ich habe nur einen Blick auf sie geworfen und ihren Tod festgestellt. Es war Mord, mit Sicherheit. Aber sehen Sie selbst. Ich denke, der Fotograf ist jetzt fertig.“

Sie näherten sich vorsichtig, und Kammerlander beugte sich über die Tote. Eine klaffende Wunde sprang ihm in die Augen. Was war mit ihrem Mund geschehen, um Gotteswillen? Es war vielleicht doch besser, kein ausgiebiges Frühstück im Magen zu haben. Er überwand den ersten Impuls sich abzuwenden und zwang sich, die Frau von oben bis unten anzusehen.

„Himmelherrgott!“

Im ersten Moment sah er nur geronnenes Blut und rotbraunes klaffendes Fleisch. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn und er schluckte den aufsteigenden sauren Speichel hinunter. Ein Fernsehkommissar hätte jetzt einen coolen Spruch auf den Lippen, dachte er. Er hingegen musste Acht geben, dass er nicht umkippte. Ihm fehlte eindeutig die nötige Abgebrühtheit. Auf das hier war er nicht vorbereitet gewesen.

Erschüttert richtete er sich auf.

„So was habe ich noch nicht gesehen. Überall Schnittwunden. Und die Blässe … Man kann ja fast durch sie durchsehen.“

Der Arzt nickte. „Sie hat eine Menge Blut verloren.“ Ebner hatte sich die Tote auch angesehen. Er blies die Backen auf und ließ zischend die Luft entweichen. Kammerlander atmete tief durch.

„Was sagen Sie zu den Schnittwunden am Mund und an den Fingern, Doc?“

„Das ist interessant, nicht wahr? Aber die Klärung der Einzelheiten ist ja Ihr Problem. Die Spurensicherung habe ich verständigt. Der Abtransport in die Gerichtsmedizin ist auch veranlasst. Die Leute sind unterwegs.“ Kammerlanders Blick glitt noch einmal über die Tote. Diese Frau war entsetzlich zugerichtet worden. Er drehte sich um und sah Ebner mit einem Beamten sprechen.

„Wer hat sie gefunden?“

„Ein Jäger.“ Der Beamte zeigte auf eine zusammengesunkene Gestalt, die ein paar Meter entfernt auf einer großen Baumwurzel kauerte. Der junge Mann starrte regungslos auf einen Haselnussstrauch. Sein Hund lag ausgestreckt neben ihm, den Kopf auf den Vorderpfoten. Kammerlander war immer noch leicht benommen. Er gab sich einen Ruck, steckte die Hände in die Jackentaschen und stapfte entschlossen auf den Jäger zu. Plötzlich rutschte er aus und schlitterte über den Waldboden. Seine Hände schnellten aus den Taschen. Mit rudernden Bewegungen konnte er das Gleichgewicht gerade noch halten. Sein Notizbuch und Kugelschreiber flogen in hohem Bogen ins Gebüsch.

„Himmelkreuzdonnerwetternochmal! Hat da jemand

Schmierseife ausgegossen?“

Ebner sah erschrocken zu ihm hin.

„Der Jäger hat sich erbrochen. Nachdem er die Frau gefunden hat. Ist ihm doch nicht zu verdenken.“ Kammerlander brummte etwas Unverständliches und fuhr wie ein veitstanzender Schlittschuhläufer mit seinen Schuhen im Gras herum. Angewidert begutachtete er die Schuhe, dann ging er zu dem jungen Mann. Der Hund hob aufmerksam den Kopf.

„Sie haben die Leiche gefunden?“

„Ja … nein … eigentlich der Hund.“

Er wiederholte noch einmal, was er schon den uniformierten Beamten gesagt hatte, dann durfte er gehen. Kammerlander suchte im Gebüsch nach seinem Notizblock und Schreiber. Inzwischen waren die Leute von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung eingetroffen.

„Also, ich bin hier fertig.“ Der Arzt nickte den Männern in den weißen Anzügen zu. „Sie gehört euch.“

Die behandschuhten Männer öffneten ihre großen Taschen und begannen, Leiche und Fundort genau unter die Lupe zu nehmen. Kammerlander hatte seine Notizutensilien gefunden und steckte sie wieder in die Jackentasche. Er wandte sich an den Arzt.

„Was können Sie uns bis jetzt sagen?“

„Nun ja. Nach erster oberflächlicher Untersuchung habe ich Schnittverletzungen am gesamten Körper der Frau gefunden. Die Schnittwunden an den Fingerkuppen und den Lippen haben Sie ja selbst gesehen. Die Obduktion wird uns Gewissheit bringen, doch meine erste Einschätzung der Todesursache lautet: Sie ist verblutet.“

„Hat sie sich gewehrt?“

„Kann ich noch nicht eindeutig sagen. An Händen und Armen sind keine Abwehrverletzungen festzustellen. Doch ich glaube nicht, dass es keine Gegenwehr gegeben hat.“

Er winkte Kammerlander näher heran.

„Sehen Sie die streifenartigen Hämatome an Handund Fußgelenken?“

„Sie könnte also gefesselt gewesen sein.“

„Nicht mit einem Seil oder Ähnlichem. Dann würden wir Einschnitte der Fesseln sehen. Nein … Es muss etwas Breites gewesen sein. Ich tippe auf ein breites Klebeband. Das könnte solche Spuren hinterlassen.“

„Konnten Sie Anzeichen einer Vergewaltigung feststellen?“

„Auf den ersten Blick nicht. Aber Bauch und Schambereich sind übel zugerichtet – ob sie Geschlechtsverkehr hatte oder dazu gezwungen wurde, wird uns erst der Obduktionsbefund sagen können.“

„Wann ist der Tod eingetreten?“

„Auch das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Kommen Sie, Doc …“

Der Arzt hob resigniert die Arme.

„Nun, mit allen Vorbehalten: Ich vermute den Todeszeitpunkt zwischen elf und ein Uhr heute Nacht.“

„Na, das ist doch schon was.“

„Aber etwas anderes kann ich mit Bestimmtheit sagen. Hier ist sie nicht ermordet worden. Viel zu wenig Blut hier angesichts dieser Verletzungen.“

„Fundort ist also nicht gleich Tatort.“

„Genau. Und noch etwas – aber das ist Ihnen sicher schon aufgefallen.“

Kammerlander blickte auf die Tote, aber ihm fiel nichts weiter auf. Ungeduldig schüttelte er den Kopf. Auf Ratespielchen konnte er heute verzichten.

„Das Kleid“, half der Arzt lächelnd nach. Da dämmerte es ihm.

„Es ist heil.“

„Genau. Kein Riss, kein Schnitt im Stoff. Die Tote ist nackt unter diesem Kleid. Es ist ihr nach ihrer Ermordung angezogen worden.“

Kammerlander sah lange auf die tote Frau hinab. Die Qualen, die sie durchlitten hatte, mussten unvorstellbar gewesen sein. Die Augen, die vielleicht noch die Schmerzen und das Entsetzen widergespiegelt hätten, waren geschlossen. Hatte sie ihr der Mörder noch zugedrückt? Und wie sie dalag … Etwas daran kam ihm vertraut vor. Eine vage Erinnerung wehte ihn an, doch er konnte sie nicht fassen. Er wendete sich wieder an den Arzt, der ihn schweigend beobachtete.

„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“ Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Ein Fall von solcher Grausamkeit ist mir noch nicht untergekommen.“

Kammerlander nickte Ebner zu. Sie verabschiedeten sich vom Arzt und gingen zurück zum Wagen. Die Blicke der wartenden Gaffer verfolgten sie neugierig.

Im Wagen blieben sie eine Weile schweigend sitzen.

„Das heißt also, jemand hat die Tote hierher gekarrt und abgeladen, nachdem er sie vorher noch angezogen hat?“ Ebner schüttelte den Kopf.

„Ja, das war ziemlich fürsorglich von unserem Mörder.“ Kammerlander starrte nachdenklich auf die Windschutzscheibe. Er hatte das Bild der Toten noch immer vor Augen. Sie wurde hierher gekarrt und abgeladen, hatte sein Kollege gesagt. Doch das passte nicht. Sie war nicht einfach abgeladen worden.

„Woran denkst du?“ Ebner sah ihn neugierig an.

„Ich weiß nicht genau … Es ist etwas … Die Art, wie sie dalag …“

„Ja. Kein schöner Anblick. Das ist bei so einem Tod auch nicht zu erwarten.“

Das hatte Kammerlander nicht gemeint, doch er sagte nichts.

Ebner starrte nun auch auf die Windschutzscheibe und runzelte die Stirn. Er machte eine unbestimmte Bewegung mit den Händen.

„Es wirkte … irgendwie … arrangiert.“

„Genau. Arrangiert.“ Kammerlander nickte energisch. Das war einer der Gründe, warum er gerne mit Ebner zusammenarbeitete. Er brachte die Dinge auf den Punkt.

„Sie wurde nicht einfach nur hingelegt. Sie wurde in eine bestimmte Position gebracht.“

Er startete den Motor, und eine Weile fuhren sie schweigend dahin. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase.

„Was stinkt hier eigentlich so?“

Er schnüffelte nach allen Seiten. Da fielen ihm seine Schuhe ein.

„Ach ja, mein Fehltritt vorhin. Ist echt mein Glückstag heute.“

Ebner kurbelte das Seitenfenster herunter.

„Vielleicht solltest du öfter duschen?“

Kammerlander warf ihm einen bösen Blick zu, doch Ebner sah stur geradeaus.

„Das war’s, was mir heute noch gefehlt hat“, seufzte Kammerlander. „Ein witziger Kollege vor dem Frühstück.“

Doch der Appetit auf ein Frühstück war ihnen sowieso vergangen.

3

Zwei Tage später saß Kammerlander an seinem Schreibtisch und las den schriftlichen Bericht des Arztes. Sie hatten in den vergangenen achtundvierzig Stunden fieberhaft versucht, Zeugen zu finden, die zur fraglichen Zeit ein Fahrzeug beobachtet hatten, das nachts Richtung Wäldchen unterwegs gewesen war. Doch niemandem war etwas aufgefallen. Die Anrainer entlang der Straße hatten nichts bemerkt. Es war auch niemand in der Nacht unterwegs gewesen, mit Ausnahme eines jungen Mannes, der kurz vor elf sein Mädchen nach Hause begleitet hatte. Doch auch den beiden war kein Wagen aufgefallen.

Das zweite Problem war die Identifizierung der Toten gewesen. Sie hatte nichts bei sich gehabt, das ihnen hätte helfen können zu erfahren, wer sie war. Die Spurensicherung hatte das Gelände um den Fundort großräumig abgesucht, aber weder eine Handtasche noch Schuhe gefunden. Sie hatten schon daran gedacht, ein Bild in die Zeitungen zu setzen und die Bevölkerung um Mithilfe bei der Identifizierung zu bitten. Doch der grausam zugerichtete Mund der Toten, der das Gesicht entstellte, hatte sie noch zuwarten lassen. Sie hofften auf eine entsprechende Vermisstenanzeige. Ihre Geduld war bis letzten Abend strapaziert worden. Dann endlich hatte die Tote einen Namen bekommen.

Kammerlander blätterte zur letzten Seite. Er hatte gerade noch Platz, seine Ellbogen neben der Akte aufzustützen, der übrige Schreibtisch war übersät mit Fotos, Notizblättern, einer leeren Kaffeetasse, zwei Telefonen, einem Aschenbecher, in dem seine kalte Pfeife abgelegt war, einem Brillenetui, einer Tischlampe und zwei Aktenordnern. Ebner hatte ihn schon oft gefragt, wie er bei all dem Durcheinander arbeiten oder auch nur etwas finden konnte. ‚Das Genie überblickt das Chaos‘, hatte er geantwortet.

Etwas Neues erfuhr er nicht. Der Bericht war nur eine schriftliche Zusammenfassung dessen, was der Arzt ihm bereits gesagt hatte. Er fuhr sich durch sein noch immer dichtes Haar und sah über den Brillenrand zu seinem Kollegen Ebner. Seit neuestem brauchte er eine Lesebrille. Nun ja, man wurde halt nicht jünger.

Ebners Schreibtisch stand im rechten Winkel zu seinem. Darauf waren ein Computerbildschirm, Tastatur, Drucker, Scanner und allerlei anderes Gerät der modernen Kommunikation angeordnet. Kammerlander nannte Ebners Schreibtisch die ‚Hightech-Abteilung‘ des Büros.

Er sah Ebner auf den Bildschirm starren und ab und zu die Tastatur bedienen. Diesen Teil der Arbeit überließ er ihm gerne. Er hatte zwar einen Computer-Grundkurs besucht, aber mit diesen ‚EDV-Geschichten‘ konnte er sich nicht anfreunden.

Bisher hatten ihm jedenfalls logisches Denken, das Erkennen von Zusammenhängen und seine Menschenkenntnis gereicht, um einen Fall zu lösen.

„Wann kriegen wir eigentlich den Obduktionsbefund?“, fragte er.

Ebner schrieb den Satz fertig, drückte noch eine Taste und sah dann hoch. Der Drucker begann zu summen.

„Heute Nachmittag. Per Fax.“

„Und der Bericht der Spurensicherung?“

„Noch nichts bis jetzt. Sollte aber schon da sein.“

„Hm. Wer hat heute Innendienst?“

„Witt, soviel ich weiß.“

„Oje.“

Kammerlander seufzte. Er hatte eine besondere Beziehung zu Inspektor Witt. Es war nicht so, dass er ihn nicht mochte, er reagierte nur allergisch auf ihn. Witts unendlicher Gleichmut und seine Sinnsprüche, die er für alle Gelegenheiten parat zu haben schien, gingen Kammerlander manchmal entsetzlich auf die Nerven. Außerdem unterstellte er Witt ein gewisses Maß an Faulheit, nein, Behäbigkeit würde es wohl eher treffen. Bloß keinen Schritt zuviel machen! Witt hingegen schien seinen Unmut nicht zu bemerken, im Gegenteil. Manchmal kam es Kammerlander vor, als suchte er geradezu seine Nähe. Oft schon hatte er ihn angeschnauzt, aber das schien Witt nichts auszumachen. Über seine bissigen Bemerkungen ging er einfach hinweg. Gegen dieses Phlegma kam Kammerlander nicht an.

Eines allerdings musste er Witt positiv anrechnen: Er wusste einfach alles über jeden. Seine Frau traf sich jeden Nachmittag mit ihren Freundinnen im Kaffeehaus, wo alles Wissenswerte besprochen wurde. Böse Zungen würden es ‚tratschen‘ nennen. Auf diese Weise wusste Witt vieles über die persönlichen Verhältnisse der Leute und war schon einige Male mit einem Hinweis nützlich gewesen.

„Na schön.“ Kammerlander verschränkte die Arme. „Was haben wir bis jetzt?“

Ebner zog das Blatt aus dem Drucker und las vor.

„Also: Der Name des Opfers ist – war Elfriede Teunig, achtunddreißig, ledig, ein Kind. Das Mädchen ist zehn Jahre alt. Teunig wohnte mit ihrer Tochter in Voitsberg, Gutenhofweg fünfzehn. Gearbeitet hat sie als Sekretärin bei einer Speditionsfirma in Graz. Sie fuhr einen PKW, Marke Opel Corsa, auf sie zugelassen. Ihre einzige Verwandte war ihre Mutter, die in Köflach wohnt. Sie unterhielt seit vier Jahren eine Beziehung zu einem Bankkaufmann, sechsunddreißig, geschieden, wohnhaft in Rosental.“

Kammerlander nickte.

„Sein Alibi habe ich überprüft. Er war zur Tatzeit bei der Hauptanstalt seiner Bank in Wien. Er war bis halb elf in einer Sitzung und ist anschließend in sein Hotel gegangen. Er hätte es zeitlich nicht schaffen können.“

Er dachte an die Abgängigkeitsanzeige des Bankkaufmanns, die er gestern Abend auf seinem Schreibtisch gefunden hatte. Er hatte sofort gewusst, dass es sich um das Mordopfer handelte.

„Was ist mit dem Kindesvater?“

„Der scheidet als Täter ebenfalls aus. Er ist seit sechs Jahren verheiratet und lebt mit seiner Familie in Niederösterreich. Er hatte keinen Kontakt mehr zu Elfriede Teunig und der Tochter, abgesehen von den monatlichen Schecks natürlich. Und er hat auch ein gesichertes Alibi für die Tatnacht. Ich hab’s überprüft.“

Es klopfte, und herein kam Inspektor Witt.

„Tag, meine Herren.“

„Tag, Witt.“

Witt schloss bedächtig die Tür und grinste breit, was sein rundes Gesicht wie einen Vollmond auf Kinderzeichnungen aussehen ließ. Er fächelte sich mit einer Aktenhülle Kühlung zu und ging zu Kammerlanders Schreibtisch.

„Eine Affenhitze heute wieder! Dachte, es würde kühler, aber naja. Der Mensch denkt, und Gott lenkt.“

Er lächelte gutmütig.

Kammerlander sah ihn stirnrunzelnd an. Witts Gesicht und die Stirn glänzten feucht, das Hemd war am Hals aufgeknöpft, spannte über dem Bauch und stand hinten ein Stück aus der Uniformhose.

„Dachte, ich komm einmal rein und bring Ihnen was Hübsches.“

Er hörte auf zu fächeln und legte eine Akte und ein paar Briefe auf Kammerlanders Schreibtisch.

Dieser griff nach der Akte. Der Bericht der Spurensicherung. Endlich.

„Danke, Witt. Wann ist das gekommen?“

„Heute morgen, so um neun.“

„Was? Wieso bringen Sie den Bericht erst jetzt?“ Er sah auf die Uhr. „Es ist fast Mittag!“

„Tja, ich hab Sie heute morgen weggehen sehen, und ich wusste nicht, wann Sie zurückkommen würden. Da dachte ich, es ist doch besser, wenn ich auf die Post warte, dann kann ich Ihnen alles gleich auf einmal geben.“ Er beugte sich mit wichtiger Miene zu Kammerlander hinunter. „Außerdem wollte ich Ihnen den Bericht persönlich übergeben. Er soll nicht in falsche Hände kommen.“

„Und dass Sie zweimal die Treppe hätten heraufsteigen müssen, hat wohl nichts damit zu tun?“

Witts Schreibtisch stand in einem Büro ein Stockwerk tiefer. „Mann, wir brauchen die Informationen sofort!“

Witts rundes Gesicht legte sich in Kummerfalten.

„Jetzt haben Sie ja, was Sie brauchen. Sie dürfen sich nicht so in die Arbeit stürzen, Herr Abteilungsinspektor. Das ist schlecht für Herz und Blutdruck. Eile mit Weile!“ Kammerlander biss die Zähne zusammen.

„Tja, ich geh dann wieder …“ Witt zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt auf die Tür zu. Kammerlander holte tief Luft.

„Das nächste Mal legen Sie jede Akte, jeden Bericht, jedes Futzelchen Papier für mich sofort auf meinen Schreibtisch, egal, ob ich da bin oder nicht. Ist das klar?“

„Jawoll, Chef!“

Witt salutierte militärisch. Er warf Ebner noch einen verschwörerischen Blick zu und verließ das Büro.

„Der bringt mich bestimmt Jahre früher ins Grab“, brummte Kammerlander.

Ebner grinste. „Was steht nun in dem Bericht?“ Kammerlander vertiefte sich in die Akte und schüttelte den Kopf.

„Sie haben nichts gefunden. Keine Abdrücke im Boden, keine Fasern, kein abgerissener Knopf, keine Zigarettenkippe, gar nichts. Der Mörder hat nicht einmal ein Haar hinterlassen.“

„Er hat sich der Toten wohl so schnell wie möglich entledigt und ist verduftet.“

„Wahrscheinlich. Wir fahren jetzt zur Mutter der Teunig und holen uns den Schlüssel zu ihrer Wohnung.“

Das kleine Mädchen öffnete ihnen die Tür und sah sie mit großen Augen an.

„Hallo, junge Dame. Ist deine Oma da?“

Sie fuhr fort, sie schweigend anzusehen. Endlich trat sie von der Tür zurück.

„Sie ist in der Küche.“ Damit drehte sie sich um und überließ es den beiden Beamten einzutreten oder nicht. Sie folgten ihr in den Vorraum.

„Wer ist es denn, Schätzchen?“

Die alte Frau kam aus der Küche und wischte sich die Finger an ihrer Schürze ab. Ihre Augen waren rot verschwollen.

„Mein Name ist Kammerlander, das ist mein Kollege Ebner. Wir ermitteln im Fall Ihrer Tochter.“

„Ja, so … Dann kommen Sie bitte mit.“

Sie führte sie in ein kleines Wohnzimmer und bat sie Platz zu nehmen. Das Mädchen ging wortlos in ein anderes Zimmer und schloss die Tür.

„Frau Teunig, wir wissen, dass es Ihnen schwer fällt, darüber zu reden, aber …“

„Das Schwerste hab ich schon hinter mir. Ich musste meine Elfi gestern identifizieren …“

Sie fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen.

„Haben Sie gesehen, was mit ihr passiert ist? Wie sie ausgesehen hat? Ihr Mund …“

Sie presste ihre Faust auf die Lippen. Kammerlander hoffte, dass man bei der Identifizierung das Tuch nur vom Gesicht der Toten gezogen hatte.

„Hat sie … Hat sie sehr leiden müssen?“ Ihr Blick bettelte um ein Nein.

Er schluckte. Was sollte er sagen? Gerne hätte er geantwortet, dass alles sehr schnell gegangen war und die Tochter kaum etwas gespürt hätte. Doch nicht einmal das bisschen Trost konnte er ihr spenden. Sie würde über kurz oder lang die Wahrheit aus der Zeitung erfahren. Hilflos sah er Ebner an, aber der starrte auf den Boden.

„Das … Das kann man nicht mit Bestimmtheit sagen …“ Kammerlander hatte das Gefühl, dass seine Drüsen die Speichelproduktion eingestellt hätten, so trocken war sein Mund.

Die Lippen der alten Frau zitterten.

„Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, sein einziges Kind zu verlieren? Nein, das können Sie nicht … Ich sag Ihnen alles, was Sie wissen wollen. Vielleicht hilft es ja, diesen Lumpen zu kriegen. Denn kriegen müssen Sie ihn. Er muss für das bezahlen, was er Elfie angetan hat. Sonst hab ich mein Lebtag keine Ruhe mehr ...“

Sie schnäuzte sich geräuschvoll.

„Gut … Fangen wir mit den Lebensumständen Ihrer Tochter an. Sie arbeitete tagsüber in Graz. Um die Kleine haben dann wohl Sie sich gekümmert?“

„Ja. Nach der Schule kam sie zum Mittagessen und blieb hier, bis sie Elfriede am Abend nach der Arbeit abholte.“

„Und vor drei Tagen? Hat sie das Mädchen da auch abgeholt?“

„Nein. Elfriede bat mich, meine Enkelin die Woche über bei mir zu behalten, da sie in der Firma so viel Arbeit und bis in die Nacht zu tun hätte.“

„Kam das öfter vor?“, fragte Ebner.

„Eigentlich nicht. Aber sie sagte, es stünde eine Buchprüfung ins Haus oder so, und ihr Chef wollte Buchhaltung und Bilanzen tipptopp vorweisen können.“

„Ihnen ist also gar nicht bewusst gewesen, dass Ihre Tochter seit zwei Tagen verschwunden war?“

„Nein. Wie denn auch? Wenn sie nach Hause kam, war es sicher zu spät, um hier anzurufen. Dachte ich …“

„Hm … Wer hatte alles einen Schlüssel zur Wohnung Ihrer Tochter?“

„Außer Elfriede selbst nur ihr Freund und ich.“

„Wie war die Beziehung Ihrer Tochter zu ihrem Lebensgefährten, Herrn, äh …Stiefmann?“

„Zu Werner? Ach, ganz gut, glaub ich. Ich hab nicht viel von ihm zu sehen gekriegt. Was sollte er auch mit einer alten Frau wie mir anfangen? Elfi war ganz zufrieden, glaub ich. Aber … die große Liebe war’s wohl nicht. Zumindest kam es mir so vor.“

Die Beamten bedankten sich und ließen sich von der Frau noch die Schlüssel zu Elfriede Teunigs Wohnung geben.

4

Das Haus, in dem ihre Wohnung lag, war ein Relikt aus den Sechzigern. Ein schmuckloser Betonklotz inmitten anderer, ähnlicher Gebäude, von der Gemeinde als Arbeiterwohnstätten errichtet. Inzwischen waren sie innen saniert worden, aber an die Fassade hatte man außer einem neuen Anstrich kein Geld verschwendet. Kammerlander und Ebner stiegen die Treppe hinauf in den zweiten Stock und öffneten die Tür mit der Nummer acht.

Sie kamen in eine kleine Diele; es war eigentlich ein langer Gang, in dem nur ein schmaler Schuhschrank, ein Spiegel und an die Wand montierte Garderobenhaken Platz fanden. Die beiden Türen links führten in Toilette und Bad. Gegenüber befand sich das Kinderzimmer. Die nächste Tür führte zum Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, nichts lag unordentlich herum, bis auf einen Schlafrock, der über einen Sessel geworfen worden war. Auch in der Küche war alles aufgeräumt, nur eine benutzte Kaffeetasse und ein Teller mit Krümeln standen in der Spüle.

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