Das Grab - Isabella Trummer - E-Book

Das Grab E-Book

Isabella Trummer

4,9

Beschreibung

Voitsberg, Weststeiermark. Ulrich Rumbach, der Partiarch der angesehenen Familie Rumbach, wird ermordet aufgefunden. Erhängt am Engel des Familiengrabes und das genau einen Tag nachdem er bekanntgegeben hat, dass er seinen Pflegesohn als Firmennachfolger einsetzen wird. Der Mörder hat eine grausame Botschaft hinterlassen und in die Stirn seines Opfers seltsame Zeichen geritzt. Die Betroffenheit ist groß, zählt doch die Familie Rumbach mit ihren Besitztümern und Firmen – wie dem Steinmetzbetrieb, in dem kunstvolle Grabmäler hergestellt werden, und einem Marmorsteinbruch – zur Highsociety des Bezirks. Doch unter der glanzvollen Oberfläche gärt es gewaltig. Sepp und Paul Rumbach, die beiden Neffen des Firmenoberhauptes, buhlen um die Nachfolge, Manfred Roselli, der Pflegesohn, wird von der Familie geschnitten, Rita Rumbach, die Nichte Ulrichs, verfolgt ihrerseits eigene Pläne und möchte ihren Sohn als Nachfolger sehen. Kommt also der Mörder aus der eigenen Familie oder gibt es da in der Vergangenheit des Patriarchen doch so manches dunkle Geheimnis? Kammerlander steht vor keiner einfachen Aufgabe, gilt es doch, in diesem heiklen Fall äußerst behutsam vorzugehen. Inspektor Kammerlander ermittelt auch in seinem dritten Fall nach bewährter Manier und alter Schule, auch wenn er sich diesmal gefährlich nah am Abgrund menschlicher Verführbarkeit befindet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 363

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Isabella Trummer

Das Grab

Inspektor Kammerlanders dritter Fall

Leykam

Ein Hund

der stirbt

und der weiß

dass er stirbt

wie ein Hund

und der sagen kann

dass er weiß

dass er stirbt

wie ein Hund

ist ein Mensch.

                                                                           Erich Fried Er saß im Ledersessel und starrte auf die Wand vor sich. Der Sessel war hart und unbequem und bei Weitem nicht so ausladend und pompös wie der auf der anderen Seite des riesigen Schreibtisches. Er saß auf dem Besucherstuhl, der etwas tiefer gestellt war, wohl um die Machtverhältnisse noch deutlicher spürbar zu machen. Als ob es dessen bedurft hätte.

Er fuhr fort, die Wand zu fixieren, genauer gesagt die Tür des Tresors, der in die Wand eingemauert war. Er hatte das Klicken gehört, als die Tresortür eilig zugeworfen und das Nummernschloss einmal gedreht worden war. Aber es hatte nur einmal geklickt, der Drehknopf war kein zweites Mal betätigt worden. Das hieß, wenn man den Drehknopf in die Ausgangsstellung brachte und am Türgriff zog …

Nein. Undenkbar. Niemand durfte an den Tresor. Er begann zu schwitzen und rutschte auf dem Sessel ganz nach vorn. Nicht auszudenken, wenn er erwischt würde. Er sah sich hastig nach allen Seiten um. Nein. Niemand war im Raum, niemand beobachtete ihn. Er entspannte seine Finger, die er unwillkürlich zu Fäusten verkrampft hatte, und wischte sie an der Hose trocken. Er fühlte einen Knoten im Hals bei der Vorstellung, wie er am geöffneten Tresor stand und die Tür ging auf. – Er würde es nicht erklären können, er würde dastehen wie ein gemeiner Dieb. Und doch …

Wie in Trance erhob er sich und ging um den Schreibtisch herum. Als er vor dem Wandsafe stand, hob er langsam die Hand. Sie zitterte, als er den Drehknopf anfasste. Nichts passierte. Es tat keinen Donnerschlag und die Himmel stürzten nicht ein. Vorsichtig öffnete er den Tresor. Der Innenraum war kleiner, als er es sich vorgestellt hatte. Es gab nur zwei Fächer, die durch eine Stahlplatte getrennt wurden. Im oberen Fach lagen Geschäftspapiere, auf denen einige Bündel Bargeld gestapelt waren. Im unteren Teil des Safes sah er eine Pistole mit dem Griff nach vorne und eine Schachtel Munition daneben. Ganz hinten lag ein brauner Umschlag. Er griff hinein und zog ihn heraus. Der Umschlag war nicht beschriftet. Er besah sich die Rückseite. Auch nichts. Vorsichtig tippte er an die Faltklappe. Der Umschlag war nicht zugeklebt.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwie war er enttäuscht. Er zog zwei Blätter heraus und sah noch einmal nach, ob sich nicht doch noch etwas vor seinen Blicken verbarg. Aber da war nichts mehr. Verwirrt blickte er auf die Seiten und bemerkte, dass sie von Hand beschrieben waren. Die Schrift kam ihm bekannt vor.

1

Es begann vollkommen unspektakulär. Kommandant Starkl betrat Kammerlanders Büro und legte einen Notizzettel auf den Schreibtisch.

„Arbeit, Kammerlander. Ich hatte gerade einen Anruf vom Kunsthaus in Köflach. Da läuft eine Ausstellung über das Mittelalter. Sie haben davon gehört? Na, jedenfalls ist dort eingebrochen worden. Es sind ein paar Masken verschwunden, soweit ich das verstanden habe. Alles Weitere erfahren Sie dort. Setzen Sie sich mit dem Kurator der Ausstellung in Verbindung, einem gewissen Dr. Schneeberger. Ich habe den Namen hier notiert.“ Er wies mit dem Kinn auf den Zettel.

Kammerlander nickte. Er hatte natürlich von der Ausstellung gehört, denn die Lokalblätter, der Bezirkssender und riesige Plakate hatten das Ereignis schon vor Wochen angekündigt. Er selbst hatte vorgehabt, mit seiner Frau Inge die Ausstellung am Wochenende zu besuchen.

Er holte seine Lammfelljacke vom Garderobenhaken und steckte den Zettel ein. Draußen war es eisig kalt. Nun ja, Ende Januar konnte man wohl kaum milde Temperaturen erwarten. Er musste einen Eisfilm von der Windschutzscheibe kratzen. Die Morgensonne versteckte sich noch hinter dem Polizeigebäude, ihre schüchternen Strahlen hatten sein Auto noch nicht erreicht. Äußerst widerwillig begann der kalte Motor zu stottern, und Kammerlander wartete ein wenig, bevor er die Heizung und das Gebläse hochdrehte. Der Volvo war schon ein alter Herr, den man nicht überfordern durfte. Kammerlander hatte sich noch immer kein neues Auto gekauft, obwohl er schon seit Jahren mit der Idee liebäugelte. Als von der Heizung endlich etwas zu merken war, bog er bereits auf den Parkplatz des Kunsthauses ein. ‚Folter und Gerichtsbarkeit des Mittelalters‘ war in riesigen Buchstaben über dem Eingang zu lesen.

Also, packen wir’s an, dachte er. Einbruch, Diebstahl. Eine Routineangelegenheit. Dann schauen wir doch einmal, was sich hier zu stehlen lohnt.

Dr. Schneeberger wartete schon auf ihn. Er begrüßte Kammerlander mit einem festen Händedruck, und der Inspektor war überrascht, wie jung der Kurator war. Er hatte eher einen ältlichen zerstreuten Professor erwartet. Dr. Schneeberger ging mit ihm durch die Ausstellung und führte ihn in ein mittelgroßes Zimmer.

„Dieser Raum ist den Schandmasken vorbehalten.“

Sie blieben vor einer Wand stehen, die nicht fertig dekoriert wirkte. Merkwürdige Masken aus Eisenblech hingen dort, dazwischen klafften drei Lücken. Die dargestellten Gesichter waren teils zu komischen, teils zu ekelhaften Grimassen verzerrt.

„Sie wissen, was Schandmasken sind?“, fragte Dr. Schneeberger und gab auch gleich die Antwort: „Sie wurden im Mittelalter für sogenannte ‚Ehrenstrafen‘ verwendet. Wenn beispielsweise einer Frau Unzucht vorgeworfen wurde, dann musste sie so eine Maske eine Zeit lang tragen. Oder wenn jemand log oder betrog. Die Masken wurden für jedes Vergehen entsprechend gestaltet, sodass die Leute sofort wussten, was man dem armen Teufel zur Last legte. Oft wurde er auf dem Marktplatz an den Pranger gestellt, und ihm wurde die entsprechende Maske aufgesetzt. Das war natürlich eine Volksbelustigung ersten Ranges, und der Pöbel durfte den armen Kerl verspotten, beschimpfen, bespucken und mit Unrat bewerfen.“

„Die guten alten Zeiten.“ Kammerlander grinste. „Das sollte man sich vielleicht als erzieherische Maßnahme überlegen.“

Er zeigte auf die leeren Flächen. „Hier hingen wohl die gestohlenen Masken?“

Dr. Schneeberger nickte. „Alle drei waren Schweinemasken. Wenn ein Mann sich in jenen Tagen wie ein Schwein verhielt, dann wurde ihm eine Maske in Form eines Schweinskopfs aufgesetzt.“

„Wann haben Sie den Verlust der Stücke bemerkt?“

„Heute Morgen. Als ich gestern Abend meinen Kontrollgang gemacht habe, waren die Masken noch an ihrem Platz. Das war kurz nach achtzehn Uhr. Dann habe ich abgeschlossen.“

„War der Eingang heute früh versperrt?“

„Die Eingänge. Ja. Alles, wie es sein soll. Es gibt zwei Eingänge, müssen Sie wissen. Rechts und links vom Stiegenaufgang. Die Ausstellungsräume führen die Besucher im Kreis herum, und sie kommen an ihrem Ausgangspunkt wieder an. Allerdings …“ Er furchte die Stirn. „Da gibt es noch einen Notausgang. Eine kleine Tür hinter einer Schautafel.“

Er ging voran in den nächsten Raum und zog eine Schautafel von der Wand weg. Es war sofort zu sehen, dass das Schloss der Tür beschädigt war.

„Das wäre also geklärt“, murmelte Kammerlander und beugte sich hinunter. Ein Profi war das nicht gewesen. Wahrscheinlich mit einem normalen Schraubenschlüssel aufgebrochen.

„Sagen Sie, sind die Masken eigentlich sehr wertvoll?“

Dr. Schneeberger zog hörbar die Luft ein. „Selbstverständlich sind sie das. Sie sind von unschätzbarem kulturhistorischen Wert –“

„Ja, natürlich. Was ich meine, ist Folgendes: Was kann der Dieb mit den Masken herausschlagen? Wie viel Geld kann er bei einem Verkauf bekommen? Und gibt es überhaupt einen Markt dafür?“

„Hm.“ Der Kurator rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wenn man an die richtigen Leute verkauft … betuchte Sammler zum Beispiel … Ich würde sagen, fünfzig- bis siebzigtausend Euro sind da schon drin. Vielleicht auch noch mehr.“

„Das hätte ich nicht gedacht.“ Kammerlander ging zurück zum Schandmaskenraum und betrachtete die Exponate nun mit anderen Augen. „Sie haben doch sicher Fotografien von den gestohlenen Masken?“

„Selbstverständlich. Kommen Sie mit in mein Büro. Ich suche sie Ihnen heraus.“

Als Kammerlander wieder in seinem Wagen saß, holte er die Fotos aus dem Umschlag und betrachtete sie genau. Der hohe Erlös der Beute war natürlich ein Motiv. Trotzdem störte ihn etwas. Wenn der Dieb so viel Geld mit dem Verkauf der Masken bekommen konnte, wieso nahm er dann nicht alle mit? Selbst wenn man das Gewicht berücksichtigte, hätten es bestimmt ein paar mehr sein können. Wieso also nur diese drei? War er gestört worden? Oder hatte er es ganz gezielt auf diese Schweinemasken abgesehen gehabt?

Er startete den Wagen und fuhr vom Parkplatz. Als Erstes musste er die Fotos in die Fahndung geben und die Abteilung für Kunstdiebstähle und Hehlerei informieren. Wenn es ein Auftragsdiebstahl war, saß der Auftraggeber bestimmt nicht im Bezirk Voitsberg. Das war wohl eher etwas für Europol. Die Hehlerszene musste unter die Lupe genommen werden. Und wenn der Auftraggeber die Masken bereits hatte und sie glückselig im privaten Kellerraum betrachtete, sahen sie sowieso alt aus.

Wie auch immer. Ein Routinefall. Etwas sonderbar vielleicht, aber mehr auch nicht.

Kammerlander ahnte nicht, wie sehr er seine Meinung revidieren würde.

Der kleine Hase saß zitternd im hohen Gras und rührte sich nicht. Er wusste nicht, was ihn draußen erwartete, im freien Feld und im Wald. Es war noch finstere Nacht und er hatte große Angst. Eine Eule auf einem Baum in der Nähe sah auf ihn herab und fragte: „Was machst du dort unten ganz allein?“

„Ich bin auf der Suche“, sagte der Hase.

Die Eule nickte. „Dann musst du jetzt aufbrechen. Bald geht die Sonne auf.“

„Ich weiß aber den Weg nicht“, sagte der Hase.

„Folge deinem Herzen und du wirst ankommen.“ Die Eule schüttelte die Flügel und erhob sich in die Lüfte. „Es ist alles nicht wirklich!“, rief sie zum Abschied.

Der Hase sammelte all seinen Mut und lief los.

2

Es war ein Wintertag, wie er schöner nicht sein könnte. Kein Wolkenschleier trübte das makellose Blau des Himmels. Die Sonne hatte nicht die Kraft, Wärme zu spenden, doch ihre Strahlen zogen scharfe Grenzen zwischen Licht und Schatten, modellierten Erhebungen und Vertiefungen der Landschaft mit einer Intensität, die kein Verwischen, keine Unklarheit zuließ. Das intensive Licht ließ die Hügel näher heranrücken, verwischte Entfernungen, täuschte Nähe vor. Die Ternbachalm im Norden und der breite Rücken der Hirschegger Alm im Westen überstrahlten die Landschaft mit einem blendenden Weiß.

Der einsame Spaziergänger nahm nichts von den Schönheiten dieses Wintertages wahr. Mit gesenktem Kopf, die Hände in die Manteltaschen vergraben, ging er mit ausladenden Schritten den Feldweg entlang. Die Abdrücke seiner Stiefel folgten ihm lautlos.

Josef Rumbach war denkbar schlechter Laune. Nichts lief so, wie er es sich vorgestellt hatte. Ja, es schien, als würden sich all seine Träume in Luft auflösen.

Er dachte an den vergangenen Abend. Da hatte es ein großes Fest gegeben im Hause Rumbach. Der Chef des Familienunternehmens Ulrich Rumbach war siebzig geworden und hatte zu einem Festessen geladen. Alle hatten der Einladung Folge geleistet. Ein Fernbleiben wäre schlicht undenkbar gewesen, wenn der Patron zu feiern wünschte. Der Bankdirektor und seine Gattin waren erschienen, einige langjährige Geschäftsfreunde, der Steuerberater, der Hausarzt und dessen Frau, der schmierige Notar und der Rechtsanwalt. Und natürlich die Familie. Die waren die Schlimmsten. Sein versoffener Bruder Paul, Onkel Wendelin mit seiner eigenwilligen Tochter – eine Künstlerin! Ha! – und deren Sohn, der in den Keller ging, wenn er einmal lachen musste. Und natürlich Manfred, der Liebling des Alten. Selbst seine Mutter, seine Frau und die Zwillinge hatten dem Jubilar Honig ums Maul geschmiert. Wie sie um den Alten herumgewuselt waren und sich bei ihm eingeschleimt hatten. Zum Kotzen! ‚Alles Liebe wünschen wir dir und bleib uns noch recht lang erhalten.‘ – Von wegen! Die konnten es doch einer wie der andere kaum erwarten, dass der Alte endlich ins Gras biss.

Wütend stapfte er durch den Schnee. Die Vormittagssonne überzog die Schneedecke mit einem Teppich aus Glitzerpünktchen. Geblendet kniff Sepp Rumbach die Augen zusammen. Er dachte an das Gespräch mit seinem Onkel. Er hatte sich viel davon versprochen. Als die Gäste fort waren und Ulrich Rumbach sich in seine Gemächer zurückgezogen hatte, war er in den ersten Stock gegangen und hatte an die Tür seines Onkels geklopft. Es war ihm als der ideale Zeitpunkt erschienen. Er musste mit ihm über die Nachfolge im Unternehmen sprechen. Ulrich Rumbach war schließlich siebzig geworden. Er konnte doch nicht auf immer und ewig die Leitung in seinen Händen behalten. Er hatte seinem Onkel mit wohlgesetzten Worten vorgeschlagen, ihm Schritt für Schritt die Firmenleitung zu übergeben. In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters des Chefs nur vernünftig.

Der Alte hatte keine Miene verzogen und ihn ruhig angesehen.

„Und wieso glaubst du, dass ich dir die Leitung übergeben soll?“, hatte er gefragt.

Nun, er war schließlich der älteste Nachkomme und riss sich den Arsch auf für das Unternehmen.

Ulrich Rumbach hatte geringschätzig den Mund verzogen.

„Für deine Arbeit wirst du ausreichend entlohnt, und ansonsten wüsste ich nicht, was dich für die Leitung unseres Unternehmens qualifiziert.“

„Also hör mal …“

„Dir reicht wohl das Geld nicht? Würde mich nicht wundern bei dem Doppelleben, das du führst. Die Dame stellt wohl hohe Ansprüche?“

Er war völlig überrumpelt gewesen. Er hatte versucht, seine Wut zu zügeln. Woher hatte der Kerl das schon wieder erfahren? Er fühlte, wie sich sein Gesicht mit Röte überzog, und das machte ihn noch wütender.

„Denkst du etwa, Paul könnte es besser machen?“

„Natürlich nicht. Dein Bruder ist ein verweichlichter Trunkenbold. Ihr beide seid wahrlich nicht das, was mir als Nachfolger vorschwebt. Auf moralischer Ebene schon gar nicht, wie du wohl weißt. Seid froh, dass euer wahrer Charakter nicht ans Tageslicht gekommen ist.“

Eine heiße Welle war in ihm hochgeschossen. Dieser gemeine Hund. Würde er nie damit aufhören? Es war nun schon so lange her, dieses … Unglück. Ja, das war es. Ein Unglück. Und ihr liebender Onkel war eifrig darauf bedacht, es sie ja nie vergessen zu lassen. Sie zu erpressen und ihnen seinen Willen aufzuzwingen.

Er hatte sich mühsam beherrscht und tief durchgeatmet.

„Und an wen hast du dann gedacht?“

Er sah, wie Ulrich sich verstohlen ans Herz fasste. Stand es etwa schlecht um ihn? Er erinnerte sich, dass der Hausarzt in den letzten Wochen häufiger als sonst bei seinem Onkel gewesen war.

„Tja. Mit meiner Familie ist nicht viel Staat zu machen. Du bist übrigens nicht der Erste, der mir die Leitung abschwatzen will. Ich bin eigentlich überrascht, dass du erst jetzt gekommen bist.“

Wie Ulrich es genossen hatte, ihn zu demütigen. Er hatte an sich halten müssen, um dem Alten nicht an die Gurgel zu springen und ihn mit bloßen Händen zu erwürgen. Eine wohlige Gänsehaut hatte ihn bei der Vorstellung überzogen.

„Wer also?“

„Ich habe mich entschlossen, Manfred als meinen Nachfolger einzusetzen. Mit dem Notar habe ich bereits gesprochen. Der Termin ist für Dienstag kommender Woche angesetzt.“

„Aber …“

Er hatte seinen Onkel nur anstarren können. Das konnte einfach nicht sein. War der Alte jetzt endgültig verrückt geworden?

„Aber … er gehört doch gar nicht zur Familie!“

„Meinst du? Das ist Ansichtssache, denke ich. Er steht mir sehr nahe, näher als ihr alle. Und wegen der rechtlichen Seite: Eine Adoption ist rasch durchgeführt. Findest du nicht auch, dass wir dem Jungen etwas schuldig sind? – Und noch was, Sepp: Wenn du jetzt hinuntergehst, sage gleich allen Bescheid. Dann muss ich die Sache nicht jedem einzeln erklären.“

Und wirklich war die Familie im Wohnzimmer vollzählig anwesend gewesen, und alle hatten ihn gespannt angesehen. Sie hatten sich natürlich denken können, was er oben bei Onkel Ulrich gewollt hatte.

Er sah noch ihre fassungslosen Gesichter vor sich und grinste schadenfroh. Ja, meine Lieben, da habt ihr wohl auch anders kalkuliert, was? Er erinnerte sich an das eisige Schweigen, das sich nach seiner Eröffnung ausgebreitet hatte, und an die giftigen Blicke, die sich auf Manfred konzentriert hatten. Der war wortlos aufgestanden und ohne jemanden anzusehen aus dem Raum gegangen.

Das war nun der unerfreuliche Stand der Dinge. Aber diese himmelschreiende Ungerechtigkeit würde er nicht hinnehmen. Er war der einzig logische Nachfolger in der Hierarchie, da konnte der Alte sagen, was er wollte. Außerdem brauchte er Geld. Das stand ihm zu. Jahrelang hatte er sich geduckt und den Wünschen des Onkels gefügt. Aber jetzt war Schluss. Er musste an das Familienvermögen herankommen.

Heute war Sonntag, der neunte Februar. In zwei Tagen war Deadline. Dann würde Ulrich zum Notar gehen. Nicht viel Spielraum, um etwas zu unternehmen.

Hermine Rumbach stand zur gleichen Zeit vor dem Atelier. Atelier – dass sie nicht lachte. Es befand sich ein Stück vom Herrenhaus entfernt und war früher einmal das Haus der Dienstboten gewesen. Vor mehr als zwanzig Jahren war es nach den Wünschen von Sepps Cousine Rita umgebaut worden, die es seither bewohnte. Im ersten Stock befand sich eine geräumige Wohnung, die sich Rita und ihr unehelicher Sohn Thomas teilten. Das Erdgeschoß bestand aus zwei sehr großen Räumen, das sogenannte Atelier. ‚Bastelstube‘ oder ‚Hobbyräume‘ würde den Tatsachen eher entsprechen, fand Hermine. Das, was sie bis jetzt von Ritas Arbeiten gesehen hatte, stufte sie als dilettantisch und nichtssagend ein. Mit sehr wenigen Ausnahmen. All diese abstrakten Gebilde waren wahrlich nicht ihr Geschmack.

Sie erinnerte sich an die Zeit vor fünfzehn Jahren, als sie Sepp Rumbach geheiratet hatte und in den linken Flügel des großen Hauses eingezogen war. Schon damals hatte sie mitbekommen, dass Rita das Sorgenkind der Familie war. Ihr Mann hatte ihr erzählt, dass Rita als Teenager ein ‚unmögliches Kind‘ gewesen war, laut, frech, renitent, und sie hatte sich über alle Regeln hinweggesetzt. Sie war früh mit den Burschen herumgezogen, war mehr als einmal betrunken und bekifft nach Hause gekommen. Sie hatte sich den Teufel um die Meinung der anderen geschert. Ihr Vater, Wendelin Rumbach, war zu schwach gewesen, um dem Treiben seiner Tochter Einhalt zu gebieten. „Ihr fehlt die Mutter“, hatte er immer als Entschuldigung angeführt. Was wohl auch stimmte, denn Rita war dreizehn gewesen, als ihre Mutter einem Krebsleiden erlegen war. Wendelin Rumbach war bedeutend älter gewesen als seine Frau, und nach ihrem Tod hatte er sich völlig zurückgezogen. Er war als Professor für Geschichte in Pension gegangen und hatte sich kaum mehr um die Familiengeschicke gekümmert.

Rita war also ohne feste Hand aufgewachsen, und es hatte niemanden besonders überrascht, als sie mit siebzehn schwanger wurde. Bis heute hatte sie niemandem den Namen des Vaters verraten – wahrscheinlich wusste sie ihn selbst nicht. Hermine lächelte boshaft. Sie hatte Rita noch nie ausstehen können: Attraktiv, schlank, selbstsicher und mit roter Mähne war sie das Gegenteil von ihr selbst.

Aber das war Schnee von gestern. Jetzt musste man sich um andere Dinge kümmern. Ihr war kalt und sie massierte ihre erstarrten Finger. Sie hörte klopfende Geräusche aus dem unteren Bereich des Hauses und ging zur Werkstatttür. Die Schiebetür ließ sich schwer bewegen, und Hermine öffnete sie nur gerade so weit, dass sie durchschlüpfen konnte. Dann zog sie die Tür rasch wieder zu, um nicht zu viel Wärme entweichen zu lassen. Rita stand mit dem Rücken zu ihr an einem Tisch und rückte einem Steinbrocken mit Hammer und Meißel zu Leibe. Ihr langes rotbraunes Haar fiel über ihren grauen Arbeitskittel.

„Guten Morgen, Rita!“

Mit einem Aufschrei wirbelte die Angesprochene herum. Ihr Gesicht war so weiß wie der Stein, den sie gerade bearbeitete.

„Mein Gott, musst du dich so anschleichen?“

„Das wollte ich nicht, tut mir wirklich leid.“

Mit einem Gesichtsausdruck, der ihre Worte Lügen strafte, kam sie näher.

„Wir müssen reden.“

„Ach.“ Rita lächelte sie ohne Wärme an. „Ich muss wohl nicht raten, worüber?“

Ohne darauf einzugehen, holte Hermine einen Sessel heran und zog ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche. Sie wischte penibel den Staub von der Sitzfläche und nahm Platz.

„Wir müssen etwas unternehmen, und zwar rasch.“

„Was du nicht sagst. Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen.“

Hermine quittierte die Bemerkung mit einem bösen Blick.

„Wir können nicht zulassen, dass das Familienvermögen in fremde Hände fällt. Das wäre unser aller Ruin.“

„Wäre es das?“ Rita stand mit verschränkten Armen an den Arbeitstisch gelehnt und sah spöttisch auf ihre Besucherin herab.

„Ach, tu bloß nicht so.“ Hermines Stimme hatte an Schärfe gewonnen. „Setz dich doch nicht aufs hohe Ross, als ob dich das gar nichts anginge. Du bist genauso betroffen wie wir alle. Was meinst du, was mit dir passiert, wenn Manfred alles bekommt? Gehört dieses Haus vielleicht dir? Nein, es ist Teil des Familienvermögens. Du darfst hier gratis wohnen, alle Kosten werden vom Familienfonds getragen und du kannst dir ein feines Leben machen. Stell dir vor, du müsstest von dem leben, was du als … Künstlerin verdienst. Könntest du die Miete zahlen, alle Auslagen für das Haus und die Lebenshaltungskosten? Und dein Sohn Thomas? Meinst du, du könntest ihm das Studium finanzieren?“

Ein Schatten hatte sich bei ihren Worten über Ritas Gesicht gelegt.

„Das würde Onkel Ulrich niemals zulassen.“

„Bist du dir da so sicher?“

„Was schlägst du also vor?“

„Ein Treffen. Heute Nachmittag. Wir müssen sehen, dass Sepp die Nachfolge Ulrichs antritt. Das ist für uns alle das Beste.“

„Ach. Meinst du.“

„Ja, was denn sonst? Jetzt ist die nächste Generation dran. Und wen haben wir da? Paul ist haltlos, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Und ich bezweifle, dass er die ganzen geschäftlichen Zusammenhänge versteht. Das Gleiche gilt übrigens auch für dich. Du hast dich dein Leben lang nicht um die Firma und die Finanzen gekümmert, sondern bist frei von allen Geldsorgen deinen Interessen nachgegangen. Bleibt doch nur Sepp übrig. Er hat Einblick in alle Belange der Firma und wird das Familienvermögen so verwalten, dass sich für keinen von uns etwas ändert und jeder sein Auskommen hat.“

Hermine sah, wie es hinter der Stirn ihrer angeheirateten Cousine brodelte.

Gut so. Sollte sie nur über das Gesagte nachdenken. Sie würde sehr bald merken, dass ihr Vorschlag das Beste für sie alle war.

Als Hermine die Tür der Werkstatt hinter sich zuzog, umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Wenn Sepp erst die Zügel in der Hand hielt, würde sich hier manches ändern. Vor allem für einige Schmarotzer. Dann würde ein anderer Wind wehen, auch für Möchtegern-Künstlerinnen.

3

Manfred ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Er hoffte niemanden anzutreffen. Die Frühaufsteher hatten wohl schon gefrühstückt und die Haushälterin würde erst in einer Stunde kommen. Nach der überraschenden Erklärung von Ulrich Rumbach hatte sich die Atmosphäre im Haus verändert. Das Haus selbst hatte sich verändert. Es schien auf der Lauer zu liegen.

Das Glück war ihm nicht hold. Paul Rumbach saß am Küchentisch und hielt sich an einem Glas Bloody Mary fest. Seine Augen waren gerötet, seine Gesichtshaut teigig. Kein ungewohnter Anblick.

„Ja, wen haben wir denn da?“ Pauls Stimme schnarrte, und er musste sich räuspern. „Wenn das nicht unser Glückskind ist!“

„Guten Morgen.“ Manfred ging an ihm vorbei zur Anrichte. Er nahm die Kanne von der Warmhalteplatte und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.

„Was? Nur guten Morgen? Das ist alles? Kein Siegerlächeln, kein Triumphgeheul? Das ist ja erbärmlich in dieser Situation!“

Manfred hob die Tasse an die Lippen. Er hätte den Kaffee gerne in einem Zug ausgetrunken, um so schnell wie möglich hier rauszukommen, aber das Getränk war zu heiß.

„Was ist denn los? Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Paul trank gierig sein Glas leer. „Oder spricht der Herr nicht mehr mit dem gewöhnlichen Volk? Jetzt, nachdem er den Jackpot abgeräumt hat?“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!