Das dunkle Herz - Lukas Hainer - E-Book

Das dunkle Herz E-Book

Lukas Hainer

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Beschreibung

Während einer Gedenkfeier für ihren verschwundenen Bruder wird Anna schwarz vor Augen, und sie erwacht am Rande einer verlassenen Wüstenstadt. Als alle Versuche scheitern, Kontakt zu ihren Eltern aufzunehmen, sucht sie in der Stadt nach Antworten und stößt auf weitere Ankömmlinge, unter ihnen der junge Nick. Bald entbrennt ein Kampf ums Überleben, sowohl mit ihrer unwirtlichen Umgebung als auch unter den Gestrandeten selbst. Während die Spannungen eskalieren und es sogar zu Toten kommt, findet Anna plötzlich Hinweise auf ihren Bruder – ist es möglich, dass er noch lebt? Als sie der Spur folgen, stoßen Nick und sie auf ein furchtbares Geheimnis, das dieser Ort und seine Bewohner hüten: das dunkle Herz. Und plötzlich geht es um weit mehr als nur um ihr eigenes Schicksal.

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ISBN 978-3-492-99076-9© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Prolog

Trauerglocken

Die Kirche

Die Burg

Jäger und Kundschafter

Die Heuler

Die Kinder

Hinterhalt

Feuervogel

Maus

Taubenjagd

Bem

Antworten

In höchster Not

Ein Denkmal

Ein Plan

Maik

Sturm auf die Burg

Freund oder Feind

Der Weg hinaus

Ben

Epilog

Prolog

Der alte Mann schritt durch die staubigen Straßen der Stadt. Es lag ein Wispern in der Luft, ein Flüstern von Ereignissen, die sich bereits anbahnten. Diese Zeit, bevor es begann, machte den Alten immer nervös. Ihm blieb nichts mehr zu tun, nichts mehr vorzubereiten. Er konnte jetzt nur abwarten, bis sich dieser verlassene Ort zumindest vorübergehend erneut mit Leben füllen würde.

Er nahm ein paar Stufen und fand sich in einem Gewirr aus schmalen Gassen und schiefen Wänden wieder. Lehmziegel in allen erdenklichen Braun- und Rottönen bildeten einen steinernen Irrgarten. Manche Korridore endeten in eingestürzten Ruinen, manche wurden einfach zu eng, als dass man sie hätte passieren können. Der Alte hatte keine Mühe, sich zu orientieren. Er kannte diesen Ort bis in den letzten Winkel, spürte ihn um sich wie die zerknitterte Haut seiner Hände.

So viele hatte er schon kommen und gehen sehen, in diesem Reich, das auf eine erschreckende Art und Weise auch sein Reich war. Er teilte es mit dem Bösen, das unter der Stadt lauerte und das schon so lange hier war, wie er zurückdenken konnte. Auch jetzt nahm er es wahr. Sein dumpfes, drängendes Pochen: nicht ganz wach, aber auch nicht ganz schlafend. Manchmal war der Alte sich sicher, dass die Ankömmlinge es ebenfalls bemerkten. Er hatte beobachtet, wie sie sich an die Brust griffen, als könnte das die Kälte vertreiben, die sich an diesem Ort um ihr Herz legte.

Als er an einem großen Gebäude vorbeiging, hob er kurz den Blick. Hoch oben waren eine Menge Schriftzeichen in den Stein gehauen, die er nicht lesen konnte. Ein windschiefer Turm, verziert mit seltsam geformten Glassteinen, klammerte sich an eine der Mauern und wäre ohne die starke Schulter an seiner Seite vermutlich einfach umgefallen. Die Menschen hatten ihn für ihre Götter errichtet, so viel hatte er verstanden. Mit viel Hingabe hatten sie daran gearbeitet, als würde das Bauwerk über ihr Schicksal entscheiden.

Es stand ihm nicht zu, ein Urteil darüber zu fällen, und er erlaubte sich keines. Sie alle, die daran gearbeitet hatten, waren ihm vorausgegangen, während er hier zurückblieb und seine Pflicht erfüllte.

Die Schritte lenkten ihn weiter, dorthin, wo Mauern und Häuser zu Stückwerk wurden. Wo der Stadtrand ausfranste, öffnete sich eine wüste Ebene vor ihm. Sein grauer, schäbiger Umhang malte geschwungene Linien in den Sand, und schließlich kam der alte Mann an einer scheinbar wahllosen Stelle zum Stehen. Er mühte sich in die Hocke, wobei seine Knie ein trockenes Knacken von sich gaben. Bis auf das stete Rumoren der fernen Mahlwerke herrschte Totenstille.

Der Alte strich mit der Handfläche über den Boden, und der körnige Sand gab eine Oberfläche aus dunklem Metall frei. Nach und nach erschien eine Platte mit einem Durchmesser von etwa zwei Metern. Sie trug fremdartige Zeichen, fremdartig zumindest für jeden anderen, der sie erblickt hätte. Mit den Fingerkuppen tastete der Alte sie ab und eine tiefe Sehnsucht ergriff Besitz von ihm. Er stellte sich vor, das Tor würde sich öffnen und ihn durchlassen. Er stellte sich vor, er könnte die Stufen hinabschreiten und die Welt dort unten noch einmal betreten.

Es war der Zugang zur eigentlichen Stadt. Einem Ort, der einmal sein Zuhause und das vieler anderer gewesen war. Die steinernen Trümmer und Ruinen hier oben waren nur etwas, das die Ankömmlinge wieder und wieder besiedelten und verließen, ohne den Sinn darin zu verstehen.

Der alte Mann strich über das verschlossene Tor und sprach die Worte, deren Bedeutung irgendwann mit ihm verloren gehen würde:

Die Stadt ist versiegelt.Der Weg hinein ist versperrt.Der Weg hinaus führt durch das dunkle Herz.

Trauerglocken

»Zum heutigen Gottesdienst erinnern wir uns auch an einen Jungen, der vor zehn Jahren von uns gegangen ist.« Der Pfarrer hatte nach seiner Predigt vor dem Altar Stellung bezogen.

Anna fand nicht, dass es etwas Besonderes war, wenn sie heute an den Jungen dachten, der ihr Bruder gewesen war. Sie konnte sich an keinen Tag in den letzten zehn Jahren erinnern, an dem sie nicht an ihn gedacht hatten. Sein Schatten lag in ihrem Elternhaus über jeder gemeinsamen Mahlzeit. Er lag in den Sorgenfalten ihrer Mutter und sein Name schien noch immer auf der Tür zu dem leeren Zimmer im Haus zu prangen, auch wenn die Buchstaben dort schon lange nicht mehr hingen:

»Ben«, der Junge, der von uns gegangen ist.

»Familie Engel schickt ihre Gedanken und Fürbitten zum Heiligen Vater. Wir beten gemeinsam mit den Eltern Susanne und Frank und mit der Schwester Anna für die Seele des kleinen Ben.«

Der Pfarrer suchte Blickkontakt mit Annas Mutter, und diese trat aus der Kirchenbank und machte sich auf den Weg nach vorne. Es war bis ins kleinste Detail dieselbe Szene wie im Jahr davor und davor und davor. Anna hätte wetten können, dass es auch an Bens Beerdigung so abgelaufen war, aber daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie war vor zehn Jahren immerhin erst vier gewesen. Annas Mutter hatte vermutlich dasselbe schwarze Leinenhemd und die schwarze Hose getragen und war ebenso von einem Pfarrer nach vorne gebeten worden. Nur war sie dann wohl nicht an der Osterkerze, sondern an einem kleinen, leeren Sarg vorbeigelaufen.

Die meisten würden einen Sarg mit einem Kind darin vermutlich für schlimmer halten als einen leeren. Aber Anna wusste, dass ihre Eltern alles, was passiert war, weitaus besser verkraftet hätten, wenn sie Ben damals tatsächlich hätten beerdigen können.

»Danke«, sagte Annas Mutter mit brüchiger Stimme am Lesepult. Sie legte einen kleinen Zettel darauf und begann.

»Heute ist es zehn Jahre her, dass wir unseren Sohn Ben verloren haben. Meiner Familie und mir fällt es immer noch schwer, es bei unserem Abschied von ihm zu belassen.« Mit einer zittrigen Bewegung strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Anna hatte ihr volles Haar geerbt, doch bei ihrer Mutter wirkte es inzwischen matt und kraftlos. »Selbst nach all der Zeit suche ich ihn manchmal noch unter den Kindern, die von der Grundschule nach Hause gehen, obwohl er jetzt schon siebzehn Jahre alt wäre und vielleicht sein Abitur gemacht hätte.«

Sie musste eine Pause machen und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Anna senkte den Blick, auch wenn es traurige Gewohnheit geworden war, ihre Mutter so zu sehen. Alles, was sie sagte, hatte Anna so oder so ähnlich schon zigmal gehört. Sie stellte sich vor, ihre Mutter spräche dort vorn über sie, und ihr großer Bruder säße hier an ihrer Stelle. Würde er weinen? Mit Sicherheit hätte er sich besser an Anna erinnern können als umgekehrt, denn die meisten Bilder in ihrem Kopf stammten aus alten Videos ihrer Eltern.

Auf einem davon war sie erst knapp zwei, wackelte ständig vergnügt quietschend hinter ihrem fünfjährigen Bruder her und rief: »Bem, Bem!«, während dieser sich von ihr fangen ließ. Sie hatte keine eigene Erinnerung an die Szene, kannte sie nur aus der Kameraperspektive ihrer Mutter. »Bem« hatte sie ihn noch bis zu seinem Verschwinden manchmal genannt, zwei Jahre später. Ob ihr Bruder tatsächlich nicht mehr lebte? Oder gab es doch irgendwo den mittlerweile siebzehnjährigen Jungen, von dem ihre Mutter sprach?

»Bis heute fällt es uns nicht leicht, damit zu leben«, fuhr diese am Pult fort. »Jeden Tag frage ich mich, ob ich an irgendetwas nicht gedacht habe. Ob es noch einen Hinweis gibt, den man verfolgen könnte, oder ob man erneut einen Aufruf starten sollte. Ich weiß nicht, wie wir mit der Situation jemals hätten umgehen sollen, ohne den vielen Rückhalt, gerade hier in der Gemeinde. Dafür möchten wir euch heute noch einmal danken.«

Anna konnte ihren Eltern nicht den Vorwurf machen, sie hätten nach Bens Verschwinden nicht alles versucht, um etwas Normalität zurückzugewinnen. Sie waren bei allen möglichen Therapeuten gewesen: für sich selbst, für ihre Ehe und für die Familie. Auch für Anna, als sie noch zu jung gewesen war, um sich dagegen zu wehren. Sie hatten sich bemüht, ihr die Kindheit zu ermöglichen, die die Umstände zuließen.

Natürlich hatte Anna selbst damals kaum etwas begriffen. Ihr Bruder war plötzlich fort gewesen und der »Tod« kaum mehr als ein abstrakter Begriff, den sie von angefahrenen Tieren auf der Straße kannte. Was sollte er im Zusammenhang mit ihrem Bruder bedeuten, mit dem sie jeden Tag spielte oder stritt oder durch die Wohnung tobte? Und dann war Ben ja nicht einmal wirklich gestorben, zumindest nicht auf eine Art, die irgendwie begreifbar war. Wie sollte eine Vierjährige damit umgehen, wenn das selbst Erwachsene nicht hinbekamen? Am allerwenigsten ihre Eltern.

Die ersten Tage hatte die ganze Familie praktisch durchgehend geweint. Noch für Wochen hatte Anna ihre Mutter nur mit verheulten Augen zu Gesicht bekommen. Doch im Nachhinein war diese erste Zeit nicht das Schlimmste gewesen. Es war der lange Schatten, den sie geworfen hatte.

Normalerweise, wenn ein Elternteil oder Geschwister starb, dann überschattete das vielleicht ein Jahr lang alles und danach normalisierte sich das Leben langsam wieder, so weit wie möglich. Anna kannte die Abläufe aus den Trauergruppen ihrer Eltern und den vielen Links in irgendwelche Foren, die sie von ihnen bekommen hatte. Doch bei ihr war es nicht nach einem Jahr Kindergarten vorbei gewesen. Ganz im Gegenteil hatten ihre Eltern den Jahrestag zum Anlass genommen, die Suche noch einmal so richtig in die Medien zu bringen. Und im Jahr danach hatte es einen neuen Aufruf wegen ganz neuer Verfahren und Möglichkeiten gegeben, Ben doch noch zu finden, und so weiter und so fort. Seit sie denken konnte, war sie gefangen in ihrer Rolle, weil es immer und immer wieder von vorne losging: Familie Engel mit ihrem verlorenen Sohn.

Manchmal kam es Anna vor, als hätten sich alle mit ihrem Schicksal abgefunden: Ihr Bruder war das vergötterte, verlorene Kind und ihre Eltern waren die gezeichneten Erwachsenen mit dem tragischen Schicksalsschlag. Aber niemand schien zu kapieren, dass sie selbst nun mal nicht wollte, dass das Verschwinden ihres Bruder vor zehn Jahren für immer jede Facette ihres Lebens bestimmte.

»… und deshalb bitte ich euch jetzt um eine Schweigeminute für Ben, während die Kirchenglocken für ihn läuten.«

Annas Mutter hatte ihre Trauerrede beendet und steckte den Zettel wieder ein. Anna fühlte sich schuldig für ihre egoistischen Gedanken, ausgerechnet hier und jetzt. Als sich alle erhoben und Anna ihre Mutter dort vorne stehen sah, fragte sie sich, wer sie vor dem Schleier aus Tränen gewesen war. Erinnern konnte Anna sich daran ebenso spärlich wie an ihren Bruder.

Gong … begannen die Kirchenglocken zu läuten, und der Klang erschien ihr schwer. Sie spürte das Dröhnen bis in ihren Bauch.

Gong … Gong …

Es schlug ihr auf den Magen, und bei jedem Glockenschlag wurde es schlimmer. Als ihr schwindlig wurde, hielt sie sich mit den Händen an der Rückenlehne der Kirchenbank vor ihr fest. Sie hatten sich nicht in die erste Reihe gesetzt, Anna hatte sich geweigert. Sie fand, sie sitze durch die Erwähnung der »Familie Engel« mehr als genug auf dem Präsentierteller. Anna sah sich nervös um, doch die Kirchgänger waren allesamt ins Gebet versunken. Was war los mit ihr? Bloß nicht umkippen, betete sie sich vor. Es würde keinen Tag dauern, bis die ganze Schule wusste, dass sie einen Schwächeanfall während der Trauerglocken für ihren Bruder gehabt hatte.

Gong …

Ihre Beine wurden zittrig. Vielleicht lag es daran, dass sie heute Morgen kaum etwas gegessen hatte. Annas Vater stand mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen neben ihr. Sie wollte ihn nicht aus seiner Andacht reißen, aber es ging ihr immer schlechter.

Gong …

Schwarze Flecken tanzten in ihrem Sichtfeld. Anna hatte Schweiß auf der Stirn und hätte sich gern übers Gesicht gewischt, doch sie traute sich nicht mehr, die Bank vor ihr loszulassen. Mit beiden Händen klammerte sie sich daran fest, wie eine Ertrinkende. Sie spürte noch die bleierne Schwere in den Beinen, als ihr Blut plötzlich nach unten sackte – dann verlor sie das Bewusstsein. Sie würde sich später noch oft fragen, ob sie nicht doch für längere Zeit ohnmächtig gewesen war. Doch es fühlte sich nicht danach an: Ihre Sinne kehrten sofort zurück und Schwindel und Übelkeit waren nahezu verschwunden. Tatsächlich war sie auch nicht umgekippt, sondern stand noch immer aufrecht da. Nur eben nicht mehr neben ihrem Vater in der Kirche.

Anna fand sich in einer staubig roten Wüste wieder. Die Menschen, die Kirche, alles war plötzlich fort. Die Silhouette einer Stadt befand sich in einiger Entfernung. Doch diese Stadt hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Zuhause. Es waren niedrige Bauten aus grau-braunem Lehm, die sich aus dem roten Sand hoben. Kaum fähig, sich zu rühren, spürte sie ein dumpfes Dröhnen im Boden. Sie hielt es zunächst für die Kirchenglocken, doch es hörte nicht auf, sondern war ein stetiges, leises Wummern.

Hinter Anna knirschte etwas im Sand und ein wirrer Redefluss in einer Sprache begann, die nach Arabisch klang. Anna fuhr zusammen und drehte sich um. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Dort krabbelte ein kleiner Junge auf dem Boden rückwärts von ihr weg und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Seine Worten klangen ängstlich und aggressiv zugleich.

»Shaitan!« Dieses Wort fiel immer wieder.

Anna war völlig überfordert. Die plötzliche Bewegung hatte einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf geweckt. Sie hob beschwichtigend die Hände, doch das nahm seinem Blick nichts von der Furcht oder der offensichtlichen Feindseligkeit. Er hatte dunkle Haut und trug ein dreckiges Hemd aus grobem Leinen.

»Warte. Hör doch auf«, beschwor Anna das Kind. Es hatte den gegenteiligen Effekt.

»SHAITAN!«, schrie der Junge angsterfüllt. Er atmete heftig und die Angst schüttelte seinen ganzen Körper.

Anna hatte noch kaum ihren eigenen Schock verarbeitet. Lag sie etwa ohnmächtig in der Kirche und fantasierte?

»Beruhige dich«, bat sie den zitternden Jungen, der sich gerade aufrappelte, und machte selbst ein paar vorsichtige Schritte rückwärts. »Bitte!«

Er blieb auf der Stelle stehen und blickte sich gehetzt um.

Bis auf die Silhouette der Stadt schien es nichts als Wüste um sie herum zu geben. Der Horizont bildete eine klare Linie, und obwohl das karge Land weit in die Ferne reichte, weckte der bedeckte Himmel dennoch ein beklemmendes Gefühl in ihr. Die rissigen Mäuerchen und Torbögen der Stadt erinnerten Anna an Nachrichtenbilder aus dem Nahen Osten. Verlassene Ruinen im Niemandsland zwischen Sprengfallen hinterlassenden Terroristen und Drohnenangriffen der USA. Alles weit weg. Erneut fragte sie sich, ob sie fantasierte. Es sah verdammt real aus und fühlte sich auch so an …

Mit noch immer klopfendem Herzen zog sie ihr Handy aus der Tasche, während der Junge sie misstrauisch beäugte.

»Ich hole Hilfe«, murmelte sie dabei vor sich hin, mehr für sich selbst als für das Kind. »Keine Panik, ich hole jetzt Hilfe.«

Das Handy zeigte keinen Empfang. Trotzdem suchte Anna die Nummer ihres Vaters heraus – es baute sich keine Verbindung auf.

»Scheiße«, murmelte sie und versuchte es fieberhaft wieder und wieder, rief den Browser für das Internet auf. Nichts. Es fiel ihr immer schwerer, Ruhe zu bewahren. Mit zitternden Fingern schrieb sie eine Nachricht an ihren Vater: »Ruf mich schnell zurück!« Doch ein rotes Ausrufezeichen zeigte an, dass sie nicht gesendet werden konnte. Das dunkelhäutige Kind beobachtete sie weiter argwöhnisch.

»Hey, weißt du, was hier los ist?«, versuchte sie es auf Englisch. »Weißt du, wo wir sind?«

Keine Reaktion, doch der Junge verriet sich, indem er sich erneut kurz umblickte. Er schien die Frage also verstanden zu haben, antwortete aber wieder nicht. Für Anna schien er viel eher in diese Landschaft zu passen als sie selbst. Aber er wirkte nicht so, als würde er sich hier auskennen. Eher, als könnte er sich auch keinerlei Reim auf seine Ankunft hier machen.

Anna fühlte sich immer hilfloser. Sie hatte nicht die leiseste Idee, wie sie an diesem Ort gelandet war, und offensichtlich konnte sie niemanden verständigen. Der Junge, der nicht mit ihr redete, verschlimmerte das Gefühl, vollkommen auf sich allein gestellt zu sein, fast noch.

Bis auf die verlassen wirkende Stadt gab es keinen Anhaltspunkt, wohin sie sich wenden konnte. Also machte sie mit zunehmender Verzweiflung ein paar Schritte in Richtung der Häuser. Ihre ganze Hoffnung war, dort Handy-Empfang zu bekommen.

»Kommst du mit?«, fragte sie den Jungen nach ein paar Schritten und deutete auf die Stadt.

Der Junge folgte ihr zögerlich, hielt aber weiter großen Abstand. So bewegten sie sich auf die fremde Kulisse zu. Anna in ihren Jeans und der schwarzen Bluse, die sie zur Trauerfeier angezogen hatte, und der dunkelhäutige Junge in dem heruntergekommenen Hemd, das ihm bis über die Knie hing. Beide ahnten nicht, wie weit sie von zu Hause weg waren.

Während sie gingen, wanderte Annas Blick nach oben. Ein einziger, dunstiger Schirm spannte sich hellgelb über ihnen auf. Er wirkte künstlich, wie die Studioleuchten eines Fotografen.

Als sie den Blick wieder senkte, war es ihr, als bewegte sich dort eine Gestalt zwischen den Gebäuden.

»Hallo?«, rief sie. »Hey, hallo!«

Die Gestalt war schon wieder mit den Schatten der Stadt verschmolzen. Anna beschleunigte ihre Schritte und der Junge folgte ihr weiter in vorsichtigem Abstand.

»Wir werden jemanden finden, der weiß, was hier los ist«, murmelte sie, als bräuchte sie sich nur selbst davon zu überzeugen, damit es wahr wurde. Sie musste herausfinden, wo sie war, sonst konnte sie ihrem Vater schlecht sagen, wo er sie abholen sollte. Allein seine Stimme zu hören, würde ihr schon ein gutes Stück ihrer Beklemmung nehmen. Sie sah noch einmal auf ihr Handy: Noch tat sich nichts auf der Statusleiste.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich an den ersten Gebäuden ankamen. Das dumpfe Dröhnen wurde dabei lauter und schien von linker Hand zu kommen. Dort wuchsen in der Ferne ein paar größere Konstruktionen aus dem Boden, die sich von den übrigen Lehmziegelbauten abhoben. Gigantische Hallen, die weit moderner wirkten als der Rest der Stadt. Ihre Fassaden waren weiß, und ein Schimmer lag auf ihrer wabenartigen Oberfläche.

Gemeinsam betraten Anna und der Junge den Weg in die Stadt. Kein Geräusch, außer dem tiefen Wummern. Kein Anzeichen, dass hier irgendjemand wohnte, und trotzdem fühlte sich Anna aus den Schatten der Fensterlöcher beobachtet. Sie dachte wieder an verschanzte Terroristen im Nahen Osten.

»Hallo?«, rief Anna ängstlich. »Wir brauchen Hilfe!«

In diesem Moment spürte sie eine Berührung von hinten an der Hüfte und gleichzeitig traf sie ein Stoß in die Kniekehle. Anna schrie auf und fiel hilflos zu Boden. Sie hörte schnelle Schritte und sah auf. Der Junge hatte sie umgestoßen und rannte, so schnell er konnte, die Gasse entlang.

»Was machst du?«, rief Anna ihm wütend hinterher, während sie sich schnell wieder aufrappelte. »Was soll das?«

Sie sah sich hastig um, klopfte sich den Staub von der Jeans – und erstarrte. Die Taschen ihrer dreckigen Hosen waren leer. Der Junge hatte ihr das Handy geklaut.

»Nein, HALT!«, schrie sie verzweifelt und stürzte ihm nach. Das Kind war längst um die nächste Ecke verschwunden und Anna spürte die Panik wie eine Hand, die sich in ihre Brust krallte. Ohne ihr Handy war die letzte Rettungsleine nach Hause verloren. »KOMM ZURÜCK!«

Im Laufen hörte sie einen erschrockenen Laut, und die schnellen Schritte des Jungen kamen aus dem Takt. Mit klopfendem Herzen erreichte Anna die Stelle, wo er um die Ecke gebogen war. Ein anderer Junge, etwas größer als Anna, stand einige Schritte entfernt vor einem Hauseingang und bückte sich gerade zum Boden herunter. Der Dieb musste gestolpert sein, oder der ältere Junge hatte ihn zu Fall gebracht, denn er kam ein paar Meter weiter gerade erst wieder auf die Beine. Als er augenblicklich seine Flucht fortsetzte, wollte Anna ihm schon nach, da sah sie, wie der Ältere sich wieder aufrichtete und etwas in der Hand hielt. Es war ihr Handy.

»Das ist meins!«, keuchte sie erleichtert, während sie auf ihn zulief.

Sie musste einen ziemlich erschreckenden Eindruck machen, nach dem Geschrei und der wilden Jagd. Doch der Junge mit den braunen, leicht gelockten Haaren hatte ein vorsichtiges Lächeln auf den Lippen, als er ihr das Smartphone entgegenhielt. Mit klopfendem Herzen nahm sie es und vergewisserte sich, dass es keinen Schaden davongetragen hatte. Der Bildschirm zeigte ihre Nachricht im Ausgang und keinen Empfang.

»Sprichst du Englisch?«, fragte er.

Anna konnte seinen leichten Akzent nicht zuordnen. Hastig strich sie ein paar widerspenstige Haarsträhnen hinters Ohr, die ihr nach der Rennerei ins Gesicht hingen.

»Ja, schon. Bist du von hier? Kannst du mir sagen, wo wir sind?«

Er sah sie bedauernd an. »Nein, keine Ahnung … O Mann, ich dachte, du wüsstest vielleicht was. Ich war eben noch zu Hause und hatte so eine Art Kollaps. Plötzlich bin ich hier.«

Anna erzählte ihm, dass es ihr ähnlich ergangen war. Ihr Gegenüber trug Jeans und ein weiß-blaues Streifenshirt. Man konnte den Jungen zweifellos als gut aussehend bezeichnen mit seinen lockigen Haaren und dem klaren Blick seiner braunen Augen.

»Ich heiße Nikos. Oder Nick, wenn du magst.«

»Anna«, stellte sie sich vor.

»War der vielleicht von hier?« Nick deutete den Weg entlang, den der Junge genommen hatte. »Ich hab gesehen, wie er dich geschubst hat und weggelaufen ist.«

Anna wollte eben antworten, als plötzlich ein fernes Heulen erklang. Es kam aus Richtung der riesigen Hallen und dehnte sich über einige Augenblicke, ehe es so abrupt abbrach, wie es begonnen hatte.

»Was war das?«, flüsterte sie erschrocken, und machte unwillkürlich einen Schritt vom offenen Weg in den Schatten der Mauern. Anna konnte den Laut keinem Tier zuordnen, das sie kannte.

»Komm mit nach oben!«, forderte Nick sie mit bleichem Gesicht auf und drückte sich in den Hauseingang hinter ihm.

Anna folgte ihm hinein und entdeckte die bruchstückhaften Reste einer Treppe hinter dem Eingang, die auf ein teilweise eingestürztes Dach führten. Als sie oben ins Freie traten, zog sie sofort das Handy aus der Tasche. Während sie auf den Home-Button drückte, betete sie im Stillen, doch ihre Gebete wurden nicht erhört: kein Empfang.

»Scheiße«, murmelte sie wie vorhin auf Deutsch, und Nick, der sich nach dem Ursprung des Heulens umgesehen hatte, brauchte wohl keine Übersetzung.

»Ich hab auch keinen Empfang«, wandte er sich ihr zu. »Ich seh da draußen nichts. Vielleicht war es nur ein Wolf oder so was.«

Die Unsicherheit in seiner Stimme verriet, dass er es selbst nicht glaubte. Anna hatte den Klang noch immer im Ohr. Das war kein Wolf gewesen.

»Wir müssen irgendjemanden finden, der uns sagen kann, wo wir sind«, sagte Nick.

Anna nickte und steckte das Handy entmutigt wieder weg. Hier oben standen sie wie auf einer zweiten Ebene über den Straßen und Gassen. Von dieser Stelle aus hatte Nick wohl beobachtet, wie der Junge sie umgestoßen hatte. Die Fläche aus Dächern war unregelmäßig, denn keine zwei Häuser waren gleich hoch. Anna fand einen windschiefen Turm neben einem großen Gebäude mit Kuppeldach. Symbole aus dunklem Glas schillerten unter der Turmspitze. Anna glaubte, ein Kreuz zu erkennen.

»Da ist eine Kirche«, deutete sie darauf.

»Ja, hab ich auch schon gesehen«, antwortete Nick. »Sollen wir es da versuchen? Oder willst du dem Jungen nach?«

Anna schüttelte den Kopf. Das Kind hatte sich vorhin genauso unsicher auf die Stadt zubewegt wie sie selbst. Sie glaubte nicht, dass es hier zu Hause war. »Den finden wir nicht wieder. Lass uns lieber zur Kirche gehen.«

Sie wollte sich schon wieder der Treppe zuwenden, da hielt Nick sie zurück.

»Wir könnten den Weg über die Dächer nehmen«, schlug er vor und Anna sah ihm an, dass er Angst hatte. Das Schattenlabyrinth unter ihnen war seit dem unheimlichen Laut auch Anna nicht mehr geheuer. Es würde eine ziemliche Kletterpartie werden, aber wo sie nicht eingestürzt waren, standen die Dächer so dicht, dass sie sich frei über weite Teile der Stadt bewegen konnten.

Anna nickte zögerlich und Nick wirkte erleichtert. Während er schon über einen Mauervorsprung zum nächsten Gebäude kletterte, plapperte er los.

»Hast du den Jungen in der Wüste getroffen? Er ist so komisch hinter dir hergeschlichen. Die Kirche sieht ziemlich heruntergekommen aus, was?« Er schien der Stille keine Chance geben zu wollen, ihre unheimliche Wirkung zu entfalten.

»Alles hier sieht ziemlich heruntergekommen aus«, antwortete Anna, während sie vorsichtig über eine Lücke zwischen zwei Dächern stieg. Und bevor sie auf den Rest antworten konnte, fuhr er schon fort.

»Schon, oder? Und dann dieser baufällige Turm.« Nick schien Übung im Klettern zu haben. Anna staunte, wie behände er über die Dächer stieg, wobei seine Worte kein bisschen Anstrengung verrieten. »Irgendwie ist hier alles falsch. Weißt du, was ich meine?«

Sie wusste es. Der Staub unter ihren Füßen, der gelbe Himmel, alles wirkte unnatürlich, es passte nicht.

Anna versuchte es unterwegs noch einmal mit ihrem Handy, doch sie bekam kein Netz. Ihre Hoffnung, dass sich das so bald ändern würde, schwand allmählich dahin. Alleine hätte sie dieser Gedanke sicher zum Verzweifeln gebracht. Umso dankbarer war sie, Nick gefunden zu haben, der vor ihr über die Dächer kletterte. Er blickte sich suchend nach ihr um, und als sie das Handy wieder einsteckte, musste sie an ihre Eltern denken.

Anna konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie es passiert war, aber sie war nun mal hier und damit nicht mehr zu Hause in der Kirche. Allem Anschein nach war nach zehn Jahren Suche nach ihrem Sohn nun auch noch ihre Tochter spurlos verschwunden …

Die Kirche

Es gab keine Dachziegel, nur Lehm und Stein, mal zu Kuppel- mal zu Flachdächern geformt. Einige wenige waren mit Stroh oder trockenem Gras gedeckt, aber das waren Ausnahmen. Bei jedem Schritt betete Anna, dass der bröckelige Lehm sie auch trug und sie nicht einfach durchbrechen und unter einer nachgebenden Mauer begraben werden würden. Einmal sah Anna ein paar Vögel aus den Schatten aufflattern, ansonsten blieb es ruhig. Ihre Fantasie malte sich dennoch allerlei Schreckgestalten zu dem Heulen aus, das ihr desto unheimlicher in den Ohren klang, je länger es zurücklag.

»Du bist Deutsche, oder?«, fragte Nick sie unvermittelt, während er ihr auf einen Vorsprung half.

»Ja. Woher weißt du das?«

»Ein bisschen dein Akzent, aber ich liege fast immer richtig. Im Sommer kommen viele Deutsche zu uns in die Stadt.«

Einen Akzent hatte er selbst auch, für Annas Begriffe sogar einen deutlich ausgeprägteren, doch er gefiel ihr. Nick sprach melodisch und rollte das R, wenn auch nicht so hart wie ein Spanier.

»Wo kommst du denn her?«, fragte Anna. Englisch zu sprechen fiel ihr nicht schwer, sie hatte es schon seit der Grundschule.

»Aus Thessaloniki.«

»Griechenland?«, fragte Anna. Es war mehr geraten, aber er nickte nur beiläufig, als wäre das selbstverständlich.

»Es sieht hier ein bisschen nach Vergina aus.« Mit einem Sprung setzte Nick auf das nächste Dach hinüber. »Vielleicht sind wir dort in der Nähe.«

Anna verharrte wie angewurzelt.

»Ich dachte, du wüsstest nicht, wo wir sind?«, fragte sie verwirrt.

»Ist auch bloß eine Vermutung«, zuckte er mit den Schultern.

Anna sprang hinterher und erreichte das nächste Dach gerade so. Steinchen lösten sich unter ihrem Schuh und rieselten herab und Nick streckte schnell die Hand aus. Sie ergriff sie und zog sich zu ihm hinüber, ehe sie das Gleichgewicht verlieren konnte. Schnell hasteten sie weiter, bevor dort unten noch etwas auf sie aufmerksam wurde.

»Wo sollte das denn sein, dieses Vergina?«, fragte sie und hatte Mühe, es so auszusprechen wie er.

»Na, hier irgendwo, in der Nähe von Thessaloniki.«

»Du glaubst, wir sind in Griechenland?« Anna hatte keine Vorstellung, wie es dort aussah. Angesichts der Landschaft hatte sie zuerst an Syrien gedacht, aber Griechenland lag immerhin in derselben Richtung. Der Gedanke, sie könnte binnen eines Wimpernschlags so eine Distanz überwunden haben, war zwar verrückt, aber doch weit weniger erschreckend als die Ungewissheit.

»Wo denn sonst? Ich glaube nicht, dass wir weit weg von Thessaloniki sein können. Ich bin ziemlich sicher, dass ich nur kurz ohnmächtig war.«

Anna blieb erneut stehen.

»Ich komme aus Deutschland, das hast du doch selbst erraten«, sagte sie entgeistert. »Wie soll mich denn dann irgendwer so schnell nach Griechenland gebracht haben, wenn es darum geht?«

»Du bist aus Deutschland hier aufgetaucht?« Nick starrte sie betroffen an. »Ich dachte, du wärst eine Touristin …«

Plötzlich hörte Anna ein lautes Poltern und Krachen und fuhr zusammen. Die Steine unter ihren Füßen bebten und sie dachte schon, das Haus stürze unter ihnen ein. Erschrocken streckten Nick und sie die Hände aus und klammerten sich aneinander fest. Doch statt abzurutschen, offenbarte sich ihnen die Ursache des Bebens: Mit einem lauten Quieken brach ein Tier aus dem Gemäuer unter ihnen und rannte mit Hufgetrappel die Gasse entlang. Es war ein braun geflecktes, stattliches Schwein, das dort um die Ecke jagte, und ehe sich Anna und Nick wieder sammeln konnten, stolperte eine Gestalt auf die Gasse. Es schien sich zwar um einen Menschen zu handeln, aber es hätte nicht viel gefehlt, und Anna hätte ihn für ein weiteres Schwein gehalten.

Der Mann war klein und dicklich. Er trug einen blauen Strickpulli und braune Hosen und hatte eine Daunenjacke um die Hüfte gebunden. Sein lichtes Haar war über den kugelrunden Kopf gekämmt, und als er sich umsah, entdeckte Anna ein rundes Brillengestell auf seiner Nase. Er stieß ein paar harte Silben hervor und beugte sich laut schnaufend vornüber.

Anna hatte sich wieder von Nick gelöst. »Ähm … Hallo?«, rief sie von oben auf dem Dach, und der Mann stieß einen überraschten Laut aus.

»Hast du mich erschreckt«, murmelte er in gebrochenem Englisch. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Anna«, stellte sie sich vor. Sie hatte nicht das Gefühl, als müssten sie vor diesem erfolglosen Schweinefänger Angst haben.

»Und ich Nick«, schloss Nick sich an.

»Ich heiße Lev«, antwortete der Mann schnaufend. »Was macht ihr da oben?« Alles, was er hervorbrachte, klang rau und sperrig. Anna war sich ziemlich sicher, dass er Russe war.

»Lev!«, ertönte eine Frauenstimme. »Le-ev!«

»Jelena!«, antwortete Lev. »Schau, ich habe was gefunden!«

Die Frau, die nun um die Ecke kam, trug ebenfalls eine Brille, auch wenn ihre rechteckig und deutlich moderner war als die von Lev. Ihre dunkelblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Während Anna und Nick sich an den Abstieg machten, musterte sie die beiden.

»Ihr seid auch nicht von hier, oder?« Ihr Englisch klang deutlich besser als das des Russen.

»Nein«, antwortete Anna, »wir wissen nicht, was passiert ist oder wie wir hergekommen sind. Nick und ich waren gerade auf dem Weg zu der Kirche.«

»Uns geht es wie euch«, sagte Jelena stirnrunzelnd. »Wir wollten auch zur Kirche, bevor Lev diesem Schwein nachgejagt ist.« Die Frau verdrehte hinter ihrer modischen Brille die Augen und Nick und Anna tauschten einen belustigten Blick. Lev wurde noch röter im Gesicht, als er es durch die Anstrengung ohnehin schon war.

»Vielleicht hätte ich es erwischt, ohne die Kinder.«

Anna verkniff sich einen Kommentar, obwohl ihr schon auf der Zunge lag, dass höchstens die Kinderihn erwischt hätten, so kopflos, wie er durch die Gassen gerannt war. Sie musste an den Jungen denken, der sie von hinten angegriffen hatte, und wollte die beiden schon nach ihm fragen.

»Und was hättest du mit dem Schwein gemacht?«, kam Jelena ihr zuvor.

»Ich habe eben Hunger«, maulte Lev schulterzuckend.

Auch Anna bemerkte jetzt ihr Loch im Bauch, aber noch schlimmer war der Durst. Ihr plötzliches Erwachen hier lag nun schon eine Weile zurück und keiner, auch nicht Lev und Jelena, schien etwas zu trinken bei sich zu haben. Die Stadt war staubtrocken, es gab kaum grün und sah auch sonst nicht danach aus, als ob es hier oft regnete …

»Bevor wir anfangen, Schweine zu jagen«, fuhr Jelena fort, »sollten wir vielleicht nach jemandem suchen, der uns sagen kann, wo wir sind. Dann ist dieser Albtraum hoffentlich bald wieder vorbei. Gehen wir zusammen?«

Es war verlockend, Jelena als Erwachsener zu vertrauen und zu glauben, es gäbe eine logische Erklärung und vielleicht sogar eine einfache Lösung für alles. Doch etwas in Anna wehrte sich dagegen und das mulmige Gefühl blieb, während sie gemeinsam das letzte Stück Weg zur Kirche zurücklegten. Hier war gar nichts in Ordnung. Hier war alles falsch, der Himmel, die Erde und was immer sich außer ihnen in diesem Labyrinth herumtrieb.

Es gab keinen Vorplatz oder Kirchenhof. Sie kletterten aus einer engen Gasse, deren Eingang teilweise verschüttet war, und standen auf einmal vor dem großen Bauwerk. Das gelbe Licht des Himmels hatte sich etwas verdüstert, aber es reichte, um das Gebäude eingehend betrachten zu können. Der Turm zu ihrer Linken wirkte aus der Nähe noch baufälliger. An einigen Stellen war der Stein einfach herausgebröckelt und es klafften Löcher in den Mauern. In ungefähr fünfzehn Metern Höhe schillerten dunkle Glassteine in der Fassade.

Sie bildeten das Kreuz, das Anna schon aus der Ferne gesehen hatte, und daneben einen Halbmond und einen Davidstern: Christentum, Islam und Judentum … drei Religionen in einem Haus? Doch rings um die Glassteine waren noch eine Menge anderer Symbole in roter, weißer und schwarzer Farbe auf den Turm aufgemalt: ein Rad mit vielen Speichen, dieses indische Zeichen, das wie eine verschnörkelte Drei aussah, die unterschiedlichsten Kreuze, ein Yin-Yang und noch alles Mögliche. Was war das für ein Gebäude? Wer hatte es erbaut?

Die lange Seite des Kirchenschiffs vor ihnen war ebenfalls bemalt, allerdings nicht mit Symbolen, sondern einer Vielfalt von Schriftzeichen aller erdenklichen Sprachen. Anna hätte nie gedacht, dass es so viele verschiedene Möglichkeiten gab, Worte niederzuschreiben. Ganz oben, unter dem Kuppeldach, war eine Botschaft in den Schriften der drei großen Religionen in den Stein gehauen und mit Glassteinen gefüllt. Ganz links in arabischen Schnörkeln, in der Mitte auf Hebräisch und rechts in Buchstaben, die auch Anna lesen konnte:

Du sollst nicht töten.

Auch wenn es als mahnendes Gebot und Bibelzitat dort stand, Annas Augen hingen nur an dem Wort töten fest.

»Das soll uns Hoffnung machen?«, murmelte Lev. Er blickte auf etwas an der Mauer, das wohl kyrillische Zeichen des russischen Alphabets darstellte, und war ganz bleich geworden. Auch Jelena hatte sichtlich Mühe, sich von dem Anblick loszureißen, trotzdem war sie die Erste, die sich wieder bewegte.

»Na los, suchen wir den Eingang«, sagte sie und machte ein paar zaghafte Schritte.

Annas Blick glitt über die vielen Schriftzeichen, von denen sie die meisten in ihrem Leben noch nie gesehen hatte, und blieb an etwas hängen. Sie war auf einmal wie elektrisiert: In dem Wust von hastigen Strichen und Punkten und sorgfältig gezogenen feinen Linien war sie über drei kleine Buchstaben gestolpert. »Bem« stand dort in unruhiger Schrift und das »e« war spiegelverkehrt. »Bem«, so wie sie ihren Bruder immer genannt hatte.

Sofort sah Anna den Film ihrer Mutter vor sich, den ihre Eltern ihr so oft gezeigt hatten, wenn sie nach dem Verschwinden ihres Bruders nach ihm gefragt hatte. Sie sah sich selbst mit knapp zwei Jahren, wie sie ihrem Bruder hinterherstolperte. »Bem, Bem!«, hatte sie gerufen, und ihre Mutter hatte beim Filmen gelacht, wie Anna sie in den ganzen letzten zehn Jahren nicht mehr hatte lachen hören.

»Anna?« Die anderen waren schon weiter, nur Nick sah sie fragend an. Sie stand noch immer wie in Trance. Mühsam wandte sie sich von den krakeligen Buchstaben ab und schloss sich Nick an, der sie stirnrunzelnd ansah, während Jelena schon um die Ecke bog.

»Was hast du?«, fragte Nick.

»Ich … weiß nicht«, antwortete Anna wahrheitsgemäß, denn tatsächlich wusste sie nicht, ob die Buchstaben überhaupt etwas zu bedeuten hatten. Die Kirche war übersät mit Zeichen und Symbolen. Es war doch kein Wunder, dass ihr nun diese drei ins Auge stachen, da die Trauerfeier für ihren Bruder erst einen halben Tag her war …

Als sie durch das Eingangstor auf der Stirnseite die Kirche betraten, hörten sie sofort ein leises, jammerndes Gemurmel, das im Hall des Raumes verschwamm. Anna überkam eine Gänsehaut. Die Abenddämmerung war hereingebrochen und das Innere des Kirchenschiffs offenbarte sich ihnen nur allmählich. Es gab keine Fenster, nur schmale Scharten in den Mauern. Die Fugen des Deckengewölbes waren löchrig und ungenau, sodass einzelne Lichtstrahlen einfallen konnten. Einige Bänke standen in zwei Reihen links und rechts auf dem Lehmboden. Das Jammern kam von einer Gestalt weit vorne, die ihnen den Rücken zuwandte. Zwei weitere, eine davon klein wie ein Kind, saßen auf einer Bank näher am Eingangstor.

»H-hallo?«, fragte Jelena zögerlich, und es hallte im Kirchenschiff nach, als hätte sie laut gerufen. Das Jammern setzte sich fort, doch die beiden am Eingangstor drehten sich abrupt zu ihnen um und schälten sich aus der Bank. Die größere Gestalt entpuppte sich als ein Mädchen, wohl etwas älter als Anna. Unter der knappen Häkelmütze auf ihrem Kopf lugten ein paar blonde Strähnen hervor. Die kleinere war ein schwarzes Kind, das die Neuankömmlinge aus großen, ängstlichen Augen ansah.

»Hallo, wisst ihr, wo wir sind?«, flüsterte das Mädchen. Dem Akzent nach war sie Französin. Der schwarze Junge hielt ihre Hand umklammert, er konnte nicht älter als vier sein. »Ich habe die Frau gefragt, aber sie versteht nicht.« Sie nickte zu der jammernden Gestalt in ihrer Bank hinüber.

Jelena schüttelte den Kopf. »Nein, wir hatten gehofft, hier Antworten zu finden. Ist außer euch niemand hier?«

»Nur sie, aber wie ich schon sagte, sie versteht mich nicht.«

Wieder eine Hoffnung, die enttäuscht wurde. Wie sollte sie je wieder nach Hause kommen, wenn sie in dieser Wüstenstadt niemanden fanden außer immer mehr ratlosen Gestrandeten? In dem nachhallenden Jammern erkannte Anna kein Wort und schon gar keine Sprache. Für sie machte es diesen beängstigenden Ort mit seiner mahnenden Botschaft an der Fassade nur noch schlimmer, doch Nick horchte auf einmal auf.

»Das … das ist Griechisch«, sagte er erstaunt. Im nächsten Moment lief er schon auf die Gestalt zu und tatsächlich schien sie den Kopf zu heben, als er sie ansprach. Die ganze Gruppe folgte Nick zögerlich. Die Alte trug eine Bauernschürze und ein hinter dem Kopf zusammengeknotetes Tuch. Ihr weinender Tonfall änderte sich kaum, als sie Nick etwas entgegnete.

»Ich bin Chloé, das ist Arthur, wir sind beide Franzosen«, erklärte das Mädchen mit der Häkelmütze währenddessen. Es klang wie Arthür, wie sie es sagte, und der Junge versteckte sich beim Klang seines Namens wieder hinter dem Mädchen.

Sie alle stellten sich noch einmal vor und so erfuhr Anna, dass Jelena aus Polen kam. Nick redete noch immer auf die Alte ein, doch er schien damit nichts zu bewirken, denn als er sich wieder den anderen zuwandte, setzte sich ihr Klagen fort.

»Sie ist Griechin, aber sie kommt vom Land und spricht kein Englisch«, berichtete Nick.

Er hatte wohl die leise Hoffnung gehegt, dass er mit seiner ersten Vermutung, in Griechenland zu sein, doch recht behalten hatte. Doch angesichts seiner niedergeschlagenen Miene brauchte Anna nicht nachzufragen. Die Alte war auch nicht von hier und wusste nichts darüber, wo hier war.

»Sie glaubt fest, dass sie gestorben ist«, erklärte Nick. »Ich kann ihr sagen, was ich will.«

»Vielleicht stimmt es ja«, brummte Lev und sah sich mit kritischem Blick um. »Aber der Himmel ist das nicht …«

Jelena stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

»Natürlich sind wir nicht gestorben.« Nachdem auch dieser Weg eine Sackgasse zu sein schien, hatte sie sichtlich Mühe, die Fassung zu bewahren. »Wir müssen uns eben organisieren. Wie es aussieht, sind wir nicht die Einzigen, die es hierher verschlagen hat. Wenn wir uns sammeln und alle Informationen zusammenbringen, dann werden wir schon herausfinden, was passiert ist.«

Anna war sich da nicht mehr so sicher. Bis auf den Aberglauben der Alten hatten sie in der Kirche nichts Neues erfahren.

»Wir brauchen auch was zu trinken«, meldete sich Lev zu Wort, »und zu essen.«

Er dachte wohl an das Schwein, das er zu fangen versucht hatte, doch Anna hätte ein Schluck Wasser vollauf genügt. Ihr ganzer Mund war trocken, und wenn sie ihre Zunge bewegte, klebte sie am Gaumen und am Zahnfleisch fest. Wenn diese Stadt einmal bewohnt gewesen war, musste es doch irgendwo Wasser geben.

Sie wollte ihren Gedanken schon mit den anderen teilen, da drang plötzlich ein Heulen von draußen durch die Mauern, ähnlich dem ersten, das Anna und Nick gehört hatten. Anna gefror das Blut in den Adern, und die klagende Frau verstummte ebenfalls augenblicklich. Auch diesmal brach es irgendwann ab, doch ein weiteres antwortete, dann noch eins. Anna dachte an den Satz draußen an den Wänden: Du sollst nicht töten. Wer – oder was – waren diese Heuler, die sich dort draußen in den Schatten herumtrieben? Nichts konnte so schlimm sein wie die Schrecken ihrer Vorstellung.

Nach ein paar Sekunden kehrte wieder Ruhe ein, bis auf das leise Brummen draußen aus der Wüste, das den Boden vibrieren ließ und das Anna schon fast ausgeblendet hatte.

»Habt ihr das gehört?«, hörte Anna sich zaghaft fragen. »Wisst ihr, was …?«

Jelena schüttelte nur leicht den Kopf. Auf einmal schienen Hunger und Durst nicht mehr so wichtig.

Die alte Frau stimmte erneut ihre Gebete an, als wollte sie höchstpersönlich den Teufel von diesem Ort vertreiben.

»Sie soll aufhören!«, beklagte sich Lev bei Nick. »Mach, dass sie aufhört, sie macht mich wahnsinnig!«

Nick versuchte es, und zumindest wurde sie etwas leiser, als er erneut auf sie einredete.

»Es ist schon fast dunkel«, stellte Jelena mit besorgter Miene fest. »Ich schlage vor, wir versperren den Eingang und ruhen uns ein paar Stunden aus. Morgen können wir sicher mehr in Erfahrung bringen.«

Sie wechselten kein weiteres Wort über die Heuler, aber das mussten sie auch nicht. Niemand sprach sich dafür aus, den Schutz der Mauern im Dunkeln noch einmal zu verlassen. Den Eingang zu versperren war allerdings leichter gesagt als getan. Sie stellten schnell fest, dass die Bänke allesamt aus gemauertem Stein bestanden, es gab nicht ein Holzbrett im gesamten Kirchenschiff. Der Altar war ebenfalls aus Steinen gebaut und sie fanden drei Schnitzarbeiten darauf: ein Kreuz, den jüdischen, siebenarmigen Kerzenleuchter und ein verschnörkeltes Schriftzeichen, das arabisch wirkte … wieder die drei Weltreligionen. Als Lev ein Feuerzeug zückte, um die Kerzen des Leuchters anzuzünden, zeigte sich, dass diese ebenfalls geschnitzt und nicht aus Wachs waren. Es war bleiches Material, zu hell für Holz, eher Elfenbein oder Knochen.

Ansonsten fanden sie ein paar große, unbeholfen getöpferte Tongefäße und einige Scherben, nichts zum Verbarrikadieren einer Toröffnung. Jelena teilte stattdessen Wachen ein.

»Ich übernehme die erste«, bestimmte sie, »dann Lev und dann …« Ihr suchender Blick in die Runde verriet, dass sie wohl erst jetzt bemerkte, dass sie die einzigen Erwachsenen waren.

»Anna, Nick, wollt ihr zusammen Wache halten?«

Die beiden nickten. Anna war dankbar, dass Jelena sie nicht allein einteilte. Sie hätte wahrscheinlich nicht widersprochen, aber die Vorstellung, alleine am Eingang Wache zu halten, während alle schliefen und sich die Heuler draußen herumtrieben, verschaffte ihr erneut eine Gänsehaut.

»Ich kümmere mich um Arthur«, sagte Chloé, offensichtlich, um nicht ebenfalls eingeteilt zu werden. Der kleine Junge war während der ganzen Erkundung der Kirche an ihrer Hand geblieben.

»Ihr weckt mich dann einfach wieder«, wandte sich Jelena an Anna. »Irgendwie werden wir die Nacht schon überstehen …«

Sie zogen sich zurück in eine Ecke hinter dem Altar, während Jelena sich am Eingang niederließ. Chloé und Arthur kuschelten sich im Liegen aneinander, und obwohl es nicht kalt war, beneidete Anna die beiden.

Sie konnte noch immer nichts von dem begreifen, was an diesem Tag geschehen war. Gefühlt war sie gerade erst aufgestanden und hatte sich mit ihrer Mutter gestritten, weil sie Jeans für die Trauerfeier angezogen hatte. Mit den Fingern tastete sie ihre spröden und rissigen Lippen ab und hätte viel gegeben für einen Schluck kühles Wasser.

»Was sagt sie?«, fragte Lev Nick. Anna konnte die Konturen des Russen in der Dunkelheit erkennen. Er lehnte im Sitzen an der Wand und meinte mit seiner Frage wohl das Gejammer der alten Frau. In der Kirche verschwamm es zu einer Geräuschwolke, die auch von einer ganzen Gemeinde hätte stammen können.

»Sie betet um ihre Seele«, murmelte Nick. Anna hörte ihm seine Beklommenheit an. »Sie glaubt, wir würden bald gerichtet, und bittet um Vergebung.«

»Vergebung wofür?«, schnaubte Lev.

»Für ihre Sünden. Für all unsere Sünden.«

Darauf schnaubte Lev, erwiderte aber nichts mehr. Anna hätte die Worte der Alten gern als bloßen Aberglauben abgetan, aber das Heulen klang ihr noch in den Ohren. Nach einiger Zeit fiel Levs Kopf auf seine Brust und man hörte ihn schwerer atmen. Auch Chloé und Arthur schienen zu schlafen. Nur Nick bewegte sich immer wieder unruhig in eine andere Position.

»Bist du noch wach?«, flüsterte Anna irgendwann, als sie das Schlafen längst aufgegeben hatte. Das Gedankenkarussell in ihrem Kopf ließ sie nicht los. Die Stadt, das unheimliche Heulen, die unheilvollen Worte an der Kirche und das unbeholfen an die Wand gemalte Bem, das sie verfolgte, seitdem sie es entdeckt hatte.

»Ja«, flüsterte Nick und wandte sich ihr dankbar zu.

Sie lenkten sich gegenseitig ab, indem sie sich von zu Hause erzählten. Nick war fasziniert davon, dass sie allein mit ihren Eltern lebte (Anna behielt ihren Bruder für sich), denn Nick selbst hatte fünf Geschwister und meinte, es hätte wahrscheinlich noch nicht einmal jemand gemerkt, dass er weg war.

»Mein Vater geht früh schlafen. Er muss schon um drei Uhr in die Backstube und meine Mutter verkauft ab sechs den ganzen Tag.«

»Ihr habt eine Bäckerei?«

»Ja, griechische Bäckereien sind die besten. Sie haben alle mindestens zwanzig Sorten Kekse und Papa backt die leckersten. Aber es ist Fluch und Segen, meine Familie wiegt zusammen ungefähr eine Tonne. Ich bin der einzig normale.«

Er sagte es, ohne eine Miene zu verziehen, und Anna stellte sich Nick zwischen zwei kugelrunden Eltern (der Vater mit Bäckerschürze) und fünf speckigen Geschwistern vor, alle mit Nicks Locken. Sie konnte nicht anders, als leise zu lachen, und dachte schon, er würde es ihr übel nehmen, doch er sah sie mit seinem klaren Blick an und lächelte stattdessen. Das alberne Gespräch zerstreute ihre Ängste für eine Weile, bis die Dunkelheit sie irgendwann zurück in ihr Bewusstsein brachte.

»Ich höre immer dieses Geräusch«, flüsterte Anna bedrückt. »Ich krieg es nicht aus dem Kopf.«

»Das Heulen?«, fragte Nick zögerlich, als wollte er am liebsten gar nicht daran denken.

»Genau … Was machen wir, wenn sie kommen?«

Am Morgen tat Anna alles weh und der Durst war unerträglich geworden. Sie wartete noch eine ganze Weile, bevor sie die Augen öffnete. So konnte sie die Hoffnung aufrechterhalten, sie würde zu Hause in ihrem Zimmer aufwachen, und der harte Boden wäre nur das Parkett vor ihrem Bett. Doch sie wurde enttäuscht: Mit dem Himmel hellte sich auch das Kirchenschiff langsam auf und hatte nichts von seiner Realität eingebüßt. Lev hatte sie und Nick in der Nacht geweckt, und ihre Wache war ereignislos verstrichen. Sie hatten sich die ganze Zeit über unterhalten und Anna war erneut dankbar gewesen, dass sie nicht allein in der Dunkelheit ausharren musste. Nach ihrer Ablösung durch Jelena hatte sie endlich ein wenig Schlaf gefunden.

Nick erhob sich neben ihr und dabei wurde ihm augenscheinlich schwindlig, denn er wankte für einen Moment und stöhnte auf.

»Wir brauchen was zu trinken«, sagte er.

Annas trockene Kehle gab ihm recht. Sie fuhr sich durch die Haarsträhnen und wünschte sich eine Bürste. Zwischen den Fingern spürte sie bereits die ersten Knötchen. Anna stocherte suchend in ihrer Hosentasche herum und hatte Glück. Sie zog einen Haargummi heraus und band sich einen Pferdeschwanz. Als sie ebenfalls aufstand, tönte auf einmal Levs aufgeregte Stimme vom Eingang.

»Feuer!«, rief er. »Da ist Rauch, Feuer!«

Mit pochenden Kopfschmerzen lief Anna gemeinsam mit Nick zum Eingang hinüber, während sich auch Chloé und Arthur aufrappelten. Jelena spähte bereits mit Lev zum Himmel hinaus. Wegen der nahen Häuserfassaden war es schwierig, die Herkunft des Rauchs zu bestimmen, aber es hingen eindeutig schwarze Schwaden in der Luft.

»Vielleicht ist es ein Signal«, sprach Jelena auch Annas Hoffnung aus. »Los, wir brechen auf, bevor es wieder ausgeht.«

Nick lief sofort zu der alten Frau, die sich als Einzige noch nicht gerührt hatte, während Chloé und Arthur durch das Kirchenschiff zu ihnen kamen. Anna fielen die dunklen Augenringe der Französin auf. Sie kamen von ihrer Schminke, die sie wohl wegzuwischen versucht hatte, doch ohne Wasser war das ein aussichtsloser Kampf.

Nick sprach die Alte an, die zur Seite gesunken auf ihrer Bank lag. Anna konnte aus der Entfernung keine Regung an ihr erkennen, auch nicht, als er sie an der Schulter berührte. Schlagartig machte sich ein beklommenes Gefühl in ihr breit.

»Sie … sie reagiert nicht!« Nick war ganz blass geworden und sah sich Hilfe suchend nach ihnen um. Während sie kamen, versuchte er weiter vergeblich, die Frau wach zu rütteln. Ihr Gesicht war eine wächserne Maske. Ihre Augen waren geschlossen und die Haut aschfahl.

»Dehydriert«, murmelte Jelena, nachdem sie sich über sie gebeugt hatte, »aber sie lebt.«

Anna war sich für einen schrecklichen Moment sicher gewesen, dass die Frau mitten unter ihnen gestorben war. In der Nacht waren sie wohl alle erleichtert gewesen, als die Klagen irgendwann endlich verstummt waren, und niemand hatte nachgesehen, wie es der Alten ging. Sie hätten besser aufeinander achtgeben müssen.

»Ich hoffe, wir bekommen sie auf die Beine«, runzelte Jelena die Stirn, »und zwar, bevor das Feuer ausgeht.«

»Dehydriert?«, wiederholte Lev bemüht das sperrige Fremdwort. »Bist du Krankenschwester?«

»Ärztin«, entgegnete Jelena trocken.

»Eine Ärztin«, freute sich Lev ungeachtet der ohnmächtigen Frau auf der Bank. »Das erste Mal, dass wir Glück haben!«

Jelena achtete nicht auf Lev. Mit den Fingerknöcheln der rechten Hand rieb sie der zusammengesunkenen Frau unter dem Halsansatz heftig über das Brustbein. »Tut mir leid, aber wir haben keine Zeit«, murmelte sie dabei.

Die Alte krampfte sich zusammen und stöhnte. Anna und Nick halfen sofort und griffen ihr unter die Schultern.

»Ich weiß, das tut weh«, murmelte Jelena noch mal entschuldigend. »Los jetzt!«

Lev und Jelena übernahmen das Gewicht der Frau und stützten sie auf dem Weg nach draußen. Kraftlos jammerte sie dabei fortwährend, schien sich aber auch nicht dagegen wehren zu können. Am Himmel hingen noch immer schwarze Rauchschwaden. Zumindest eine grobe Richtung, aus der sie kamen, ließ sich erkennen und die schlugen sie ein. Schon nach einem kurzen Stück sank der Kopf der Frau wieder auf die Brust.

»Ich bekomme sie nicht wach, solang wir kein Wasser haben«, stellte die erschöpfte Ärztin fest. »Wir müssen sie abwechselnd tragen.«

Nick löste Jelena ab und nach einer Weile sah er Anna fragend an. Lev schien trotz seiner unsportlichen Statur genug Kraft zum Weitermachen zu haben und Nick hätte sich wohl auch nur mit Jelena abgewechselt. Aber das wollte Anna nicht: Sie waren alle gleichermaßen geschwächt und sie würde ihren Teil beitragen.

Ende der Leseprobe