Das Erbe Bereliens - Silke Katharina Weiler - E-Book

Das Erbe Bereliens E-Book

Silke Katharina Weiler

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Beschreibung

Das Erbe Bereliens 2 - Die Pforte (neue, überarbeitete Auflage): Noch immer trachtet Königin Ioarín danach, die drei Fragmente des steinernen Buches zu vereinen, um mit seiner Macht das Unrecht zu vergelten, das ihrer Familie vor Generationen widerfahren ist. Auf ihrem Weg dorthin ist ihr jedes Mittel recht. Doch Fionn, der das letzte Fragment besitzt, stellt sich ihr entgegen. Gemeinsam mit Rune und Ioaríns abtrünnigem Leibwächter Galen sucht er Verbündete im Kampf gegen die Tyrannin. Bald geht es für die Gefährten aber um mehr. Denn Ioarín hat sich mit einer Kreatur eingelassen, die ihre unkontrollierbare Macht entfaltet. Auch dieses Wesen strebt nach dem Buch und seine Absichten sind eine Bedrohung für das ganze Land.

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Das Erbe Bereliens

Das Erbe Bereliens 2Über das Buch und die AutorinWidmungKarte der Geeinten LandeProlog1. Ein verdammter berelischer Prinz2. Ungnädig3. Der Felsenbär4. Dreck für das Dreckstück!5. Nicht immer so6. Briefe von daheim7. Haut auf Haut8. Cepaíphas eisige Boten9. Nächtliche Gedankengänge10. Das Lager11. Herr der Salzlande12. Infernalisch13. Wunden lecken14. Kouevarrod, die Kupferküste15. Annic16. Wo sich Wasser und Sonne vereinen17. Fremdes Blut, so kalt18. Seid auch Ihr dabei?19. Söhne des Windes, Töchter des Sturms20. Eine lebhafte Versammlung21. Im Rausch der Entscheidung22. Nicht mehr verlieren23. Lehrstunden24. Malghraigh25. Was bleibt ist Schmerz26. Am Lagerfeuer27. Ein Tuch aus Worten28. Ein kleiner Willkommensgruß ...29. ... und ein standesgemäßer Empfang30. Sicher unerwartete Hilfe31. Totenfeld32. Brut der Dunkelheit33. Das Notwendige und das Äußerste34. Das dritte Fragment35. Nur noch eine Hülle36. Ziemlich dumm37. Vereinter Stein38. Brüder I39. Das Buch40. Brüder II41. Galen42. Wasche den Leib43. Einfach nur Fionn44. AscheEpilog: AufbruchDanksagungContent NotesImpressum

Das Erbe Bereliens 2

Die Pforte

Silke Katharina Weiler

Über das Buch und die Autorin

Über das Buch:

Noch immer trachtet Königin Ioarín danach, die drei Fragmente des steinernen Buches zu vereinen, um mit seiner Macht das Unrecht zu vergelten, das ihrer Familie vor Generationen widerfahren ist. Auf ihrem Weg dorthin ist ihr jedes Mittel recht.

Doch Fionn, der das letzte Fragment besitzt, stellt sich ihr entgegen. Gemeinsam mit Rune und Ioaríns abtrünnigem Leibwächter Galen sucht er Verbündete im Kampf gegen die Tyrannin.

Bald geht es für die Gefährten aber um mehr. Denn Ioarín hat sich mit einer Kreatur eingelassen, die ihre unkontrollierbare Macht entfaltet. Auch dieses Wesen strebt nach dem Buch und seine Absichten sind eine Bedrohung für das ganze Land.

Über die Autorin:

Silke Katharina Weiler, 1975 in Saarbrücken geboren, war als Kleinkind nur mit einem Bilderbuch unterm Arm anzutreffen. Dem gedruckten Wort verfallen, stürzte sie sich Anfang zwanzig mit Feuereifer in die Realisation ihres ersten Buchprojekts, das zügig in der Versenkung verschwand, um nur knapp zwanzig Jahre später daraus hervorgeholt und fertiggestellt zu werden ‒ Wassermann eben. Weitere Informationen, Leseproben u.v.m.: www.silke-k-weiler.de

Bereits über BoD erschienen:

Das Erbe Bereliens (Band 1) ‒ Die Legende vom steinernen Buch (2018/Neuauflage: 2020) Das Erbe Bereliens (Band 2) ‒ Die Pforte (2019/Neuauflage: 2022) Stadt ohne Nacht (2021)

Widmung

Für Sophia

Karte der Geeinten Lande

Prolog

Sie erlebte einen jener seltenen und kostbaren Augenblicke: Es schlief!

Langsam, wie schmelzendes Eis, lösten sich die Fesseln um ihren Geist. Es bedurfte keiner regelmäßigen Regeneration, manchmal kam es wochenlang ohne Schlaf aus und wenn, dann währte dieser so kurz, dass ihr kaum Zeit zum Durchatmen blieb. Heute allerdings hatte die Umtriebigkeit der vergangenen Tage ihren Tribut von ihm gefordert. Schon am Morgen hatte sie gespürt, wie seine Aufmerksamkeit schwand, sich wie Nebel lichtete, bis ihr Selbst sie von einem Moment auf den anderen mit brutaler Klarheit traf.

Sie fand sich in einem Sessel in ihrem Gemach wieder, eingehüllt in die eigenen ekelerregenden Ausdünstungen. Als Erstes fiel ihr Blick auf ihre Hände. Die einst schlanken Finger glichen bläulichen Wurstpellen, in die man Wurstbrät gestopft hatte, bis sie zu reißen drohten. Ein Wirrwarr aus purpurnen Adern überzog die glänzende Haut. Dort, wo sie dem Druck des Gewebes nicht standgehalten hatten, breiteten sich Blutergüsse wie schwarze Tintenflecke aus.

Der Bund ihres Ärmels schnitt tief in ihr gequältes Fleisch ein. Kurz war sie versucht, ihn nach oben zu streifen, um ihren Arm zu betrachten, dann ließ sie es bleiben. Mit beiden Händen auf die Lehnen gestützt, wuchtete sie sich vom Polster in den Stand. Das Blut sackte ihr in die Beine und ihr wurde schwarz vor Augen, doch sie widerstand der drohenden Ohnmacht.

Der Spiegel an der gegenüberliegenden Wand war mit einem Tuch verhängt; nicht ohne Grund. Heute aber wollte sie es sehen. Sie wollte sehen, was aus ihr geworden war. Es war ihr ein eigenartig drängendes Bedürfnis. Vielleicht würde sie verstehen, Aug in Aug mit ihrem Spiegelbild.

Oder endlich aufwachen, denn in jedem Alptraum gab es den einen Moment, in dem man begriff, dass nichts real war. Gar nichts! Der Moment, in dem die Traumbilder, die einem so große Angst eingejagt hatten, im Licht der aufgehenden Sonne verbrannten, bis noch nicht einmal mehr Asche zurückblieb.

Jeder Schritt kostete Mühe. Unmengen Wasser hatten sich in den Beinen angesammelt, dieser Körper war nicht ausgelegt für zwei und reagierte auf den Eindringling mit gewissem Unmut. Wo sein Leib sich Platz verschaffte, verdrängte es das, was sie brauchte, um als Mensch zu existieren; als bewegliche Hülle mit Herz, Lungen, Nieren.

Manchmal dachte sie an den Tag zurück, an dem sie es gefunden hatte, eine schwarze Stelle im Berg, schwärzer als die Dunkelheit. Schwärzer als die Lücken in ihrem eigenen Innern. Und es hatte sich genauso angefühlt: einsam. Es war die Essenz der Einsamkeit. Das Extrakt der Leere. Als wären all ihre Ängste zu einer schwärenden Seelengalle zusammengeflossen.

Sie hatte sich ihm nahe gefühlt. Ihr Vorfahr hatte es seiner Welt entrissen. Es war heimatlos wie sie selbst. Fast hatte sie es als Pflicht betrachtet, es in sich aufzunehmen. Doch jetzt trug es Ioarín wie einen leichten Umhang, den es abstreifen würde, wenn die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Sie hatte sich narren lassen; wieder einmal. Es schien ihre Bestimmung zu sein, sich narren lassen zu müssen. Tiefe Bitterkeit stieg in ihr auf, als sie dabei an Galen dachte, und sie schluckte den sauren Klumpen herunter, bis er ihr wie ein Stein im Magen lag.

Das Tuch rutschte vom Spiegel und fiel zu Boden ‒ leise und leicht.

Sie starrte das Ding an, das aus dem Spiegel zurückglotzte. Sie würde nicht schreien, sie hatte es sich früh abgewöhnt zu schreien. Doch ein Versprechen, das sie sich in ihrem dreizehnten Lebensjahr gegeben hatte, musste sie nun brechen: ihre Angst zu unterdrücken. Sie zu beherrschen. Angst überwältigte sie, als sie in den Spiegel sah ‒ höllische Angst.

Sie trug eines ihrer durchscheinenden Kleider, lediglich an den Ärmeln, der Brust und am Unterleib mit kostbarer Spitze verstärkt und mit Perlen bestickt. Diese Partien waren blickdicht, der Rest des Körpers jedoch, ihre Schultern, der Rücken, der Bauch, die Beine pressten sich an den dünnen Stoff. Ihre Garderobe passte ihr schon lange nicht mehr. Doch wer sollte ihr neue schneidern? Kaum eine der Bediensteten traute sich in ihre Nähe.

Es versuchte, seinen eigenen Leib günstiger in dem ihren zu positionieren. Verständlich, nachdem es gewachsen war, wurde der Platz in ihr knapp. Die Lageveränderung aber hatte zur Folge, dass es ihren Körper auf groteske Weise ausbeulte und verzog. Sie sah aus, als habe sich ein betrunkener Bildhauer an einer Tonfigur versucht, sei gescheitert und habe das missratene Werk hernach bis zur Unkenntlichkeit mit Fausthieben traktiert.

Allerdings war es nicht nur ein Verziehen, das von seinem Wirken im Innern hervorgerufen wurde ‒ es gedachte sich ebenso nach außen auszubreiten. Auf Höhe ihrer Schulterblätter machte sie auf beiden Seiten je zwei Höcker aus. An diesen Stellen bohrte es sich langsam durch die Haut. Mühsam schob sie den Stoff ein Stück zur Seite und betastete die Schwellungen. Das Fleisch fühlte sich prall und heiß an. In der Mitte spürte sie ein leichtes Pulsieren, dort, wo seine Auswüchse bald durchbrechen würden.

Zu beiden Seiten des Halses verliefen dicht unter der Haut zwei Stränge, dick wie der Leib einer Ringelnatter und von vergleichbarem Aussehen. Sie strich vorsichtig darüber. Der Hals war entlang der Stränge wie taub. Sie spürte die eigene Haut unter ihren Fingerspitzen, den Gegenpart der Berührung jedoch, die Finger, wie sie über ihren Hals glitten, spürte sie nicht. Das eine Ende dieser Tentakel entsprang an irgendeiner Stelle des Wesens in ihr. Das andere mündete in ihrem Hirn. Sie nahm an, dass es über diese beiden Auswüchse seinen Einfluss auf sie nahm; sie steuerte wie ein Boot.

Nein, wie ein Kutschpferd! Das waren seine Zügel.

Ganz unvermittelt stellte sie sich vor, wie es wohl wäre, die beiden Stränge zu kappen. Sie einfach durchzuschneiden.

Die Augen ihres Spiegelbildes weiteten sich. Erregung glomm auf und brach sich wie ein Lichtstrahl.

Es durchschneiden. Ganz einfach durchschneiden.

Scheinbar ohne Ziel wanderte ihr Blick umher, bis er auf einem Dolch zu liegen kam, der neben einigen anderen kostbaren Waffen an der Wand des Königsgemachs dekorative Zwecke erfüllte. Ob die Klinge scharf genug war? Sie starrte auf das matte Metall. Während sie es anblickte, hatte sie das Gefühl, die Wand wich ihr zusehends aus. Und dann vollführte ihr Fuß einen kleinen Schritt. Der Oberkörper drehte sich und ein zweiter Schritt folgte. Sie streckte die rechte Hand aus. Vier Schritte später schmiegte sich das Heft an ihre Handfläche. Plötzlich fühlte sie sich lebendig. Sie fühlte sich so unsagbar lebendig und konnte es kaum erwarten, die Klinge endlich gegen ihr Fleisch zu pressen und zu schneiden, es zu durchtrennen und weiterzuschneiden.

Ioarín!

Ein Donnerschlag in ihrem Kopf. Eine geistige Ohrfeige, die ihr Hirn in eiskaltes Wasser tauchte. Sie riss die Finger regelrecht auseinander. Der Dolch fiel zu Boden.

Ioarín, tu so etwas nie wieder! Sonst kann ich dich nicht mehr allein lassen.

Und während es sie mit ruckartigen Bewegungen zu ihrem Sessel zurückführte und weitere Fesseln um ihren Geist legte, spürte sie warme Tränen über ihre aufgequollenen Wangen rinnen.

1. Ein verdammter berelischer Prinz

Sie waren in einer Frostnacht gekommen. In diesem Jahr hatte die Kälte ungewöhnlich früh eingesetzt, selbst für den Norden. Slyga brannte mit einer Heftigkeit, als wären die Flammen Ausdruck der Wut, die diese berelischen Hunde beim Anblick des verlassenen Dorfes gepackt hatte. Und Fionn sah dabei zu.

Sie überrannten die Palisaden, knickten übermannshohe Holzpfähle, als wären es trockene Halme. Schließlich züngelten viele kleine Feuer, die sich zu einem einzigen vereinten. In der kalten Nachtluft breitete das rot glühende Ungetüm seine Schwingen aus, fraß sich durchs Dorf und vertilgte es restlos. Die letzten Brandherde tauchten die Berge noch tagelang in rötlichen Schein.

Das Schauspiel hatte Fionn seltsam kaltgelassen. Slyga war nie eine Heimat für ihn gewesen, mehr ein Schlupfwinkel, in den Arken Daal ihn gestopft hatte. Nun war das Versteck ausgeräuchert worden. Zuvor hatte Fionn sich in die Berge oberhalb des Eissees zurückgezogen. Bis auf Kjell und Malin, die bei ihm geblieben waren, hatten alle anderen Dorfbewohner fliehen können.

Obwohl es hier nichts mehr zu tun gab, konnte er diesen Ort nicht verlassen. Eine Sache hielt ihn, als hätte ihn jemand mit Pech festgeklebt: die Hoffnung auf Runes Rückkehr, in die er sich mit einer Hartnäckigkeit verbissen hatte, für die seine Freunde immer weniger Verständnis aufbrachten. Aber er konnte nicht anders. Er musste warten, da er sich vorgenommen hatte, ihr zu sagen, dass sie im Recht gewesen war – und er im Unrecht. »Fahrt zur Hölle!« sind keine guten letzten Worte. So gingen Freunde nicht auseinander.

Deswegen harrte er in den Bergen aus.

Doch obwohl er selbst sehr genau spürte, wie diese Hoffnung immer dünner und brüchiger wurde, zeigte er Malin die kalte Schulter, als sie eines Tages zu ihm kam und das Gespräch suchte. Sie setzte sich neben ihn auf den breiten Felsen, von dem Fionn auf das Tal hinabschaute, das einmal Slyga beherbergt hatte. Noch immer qualmten die Ruinen. Malin hatte heißen Tee mitgebracht und reichte ihm den zweiten Becher. Das Getränk roch nach kräftigen Kräutern, einer Spur Honig und hatte gerade die richtige Temperatur.

»Kjell hatte wieder kein Glück«, begann sie. »Das Wild hat sich in die südlichen Täler zurückgezogen. Wenn er weiter mit leeren Händen von der Jagd zurückkehrt, haben wir bald ein Problem.«

Fionn nippte an dem Tee, sagte aber nichts.

»Fionn, warum sind wir noch hier?«

»Das weißt du genau«, murmelte er, ohne sie anzusehen.

»Sie kommt nicht mehr zurück«, sagte Malin sanft.

»Da bin ich anderer Ansicht.«

»Es ist die einzige Erklärung für das Auftauchen der Soldaten. Fionn, wir dürfen die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen, so sehr sie auch schmerzt. Rune ist Ioarín in die Hände gefallen. Nur deswegen sind diese Soldaten hier aufgetaucht.«

»Nein, da irrst du dich.« Er sprach ganz ruhig und vernünftig. »Ioarín hat aus Arken Daals Erinnerungen von Slyga erfahren. Rune wusste, wie nah sie dieser Information bereits war. Deswegen wollte sie auch, dass ich zu euch zurückkehre.«

»Fionn, wie lange warten wir denn jetzt schon? Der Winter bricht an! Du weißt genau, wie es hier in zwei oder drei Wochen aussieht. Wir haben keine Vorräte mehr. Wir werden sterben, wenn wir noch länger bleiben! Wir … wir erfrieren, bevor wir verhungern. Ist es das, was du willst?«

Fionn kniff die Lippen zusammen.

»Jómmassuur! Fionn! Ich mochte das Mädchen doch auch. Kjell und ich, wir beide mochten sie von Herzen, vom ersten Augenblick an. Aber schau, die Entfernung zwischen den Skutarden und Slyga ist so groß und sie ist ganz auf sich allein gestellt. Ohne Hilfe ist das nicht zu schaffen.«

»Für sie schon!«

»Fionn, sie ist ein kleines Mädchen!«

»Sie ist Arken Daals Tochter. Wenn es eine schafft, dann sie.«

Langsam wurde Malin ungeduldig. »Ich weiß, du bist ein Sturkopf, Fionn Higgins, aber ich dachte, für deine Freunde kannst du dich etwas zurücknehmen, vor allem, wenn es um Leben und Tod geht. Und darum geht es. Um Leben und Tod!«

Er wandte den Blick ab.

Malin atmete durch. »Kjell hält große Stücke auf dich«, sagte sie gepresst. »Er würde sich eher den Bart abscheren, als dich im Stich zu lassen, aber wenn du binnen einer Woche nicht zur Besinnung gekommen bist, werde ich ihn dazu bringen, genau dies zu tun. Wir werden gehen. Wir werden dich im Stich lassen, auch wenn mir das Herz dabei bricht. Deine sinnlose Warterei ist Selbstmord!«

Fionn schwenkte den letzten Tee in seinem Becher und trank aus. Dann legte er das leere Gefäß behutsam in Malins rechte Hand. »Danke für den Tee«, sagte er unbeteiligt, als habe er nicht ein Wort von dem begriffen, was sie gesagt hatte. Er starrte weiter auf das verkohlte Tal und die glosenden Trümmer hinab und hörte nur noch, wie Malin aufstand und im Gehen Worte in ihrer Landessprache grummelte, die man auch dann mühelos verstand, war man dieser Sprache nicht mächtig. Zu dritt hatten sie sich in einer geräumigen Höhle verkrochen. Das Lagerfeuer brannte ohne Unterlass und füllte ihren Unterschlupf mit beißendem Qualm, trotzdem tastete sich der Frost Nacht für Nacht ein Stückchen weiter zu ihrem Lager vor. Bis vor zwei Wochen hatte Pelerin ihnen noch die ein oder andere Taube gebracht, mittlerweile zog es auch der Falke vor, seine Zeit in einer Umgebung zu verbringen, in der man nachts nicht erfroren vom Baum zu fallen drohte. Bei gutem Wetter sah Fionn ihn durch die Luft schneiden, ansonsten blieb der Vogel verschwunden. Das Tier kannte weit weniger Skrupel als Malin oder Kjell.

Um wenigstens etwas zu ihrem Unterhalt beizutragen, und in der Hoffnung, Malin damit milde zu stimmen und eine kleine Fristverlängerung zu erwirken, riss Fionn sich vom Anblick des zerstörten Dorfes los. Während Kjell die gotaalesischen Wälder durchstreifte, versuchte Fionn am Eissee sein Glück. Zwar fischte er nicht die Mengen wie im Sommer, dennoch waren einige beachtliche Exemplare dabei. Auf der Rückkehr von einem dieser Ausflüge entdeckte Fionn einen fremden Reiter. Sofort war er auf der Hut und dirigierte Ilian in die Deckung eines Waldrebengeflechts. Der Fremde schien allein. Im Schritttempo führte er sein Pferd seltsam ziellos durch den Wald, so als wäre jeder Weg, den er einschlug, ebenso gut oder schlecht wie der andere. Seine Erscheinung war so ungewöhnlich, dass Fionn dem Mann in einigem Abstand folgte. Je länger er dies tat, desto mehr gewann er den Eindruck, dass der Reiter entweder auf jemanden wartete oder jemanden oder etwas suchte. Eine Kapuze schützte das Gesicht des Mannes vor dem kalten Wind. Nach einer Weile schlug er sie aber zurück. Langes, schwarzes Haar fiel über seinen Rücken. Er reckte und streckte sich im Sattel, vermutlich saß er bereits lange drin, und wirkte dabei größer als ohnehin schon.

Fionns Augen wurden schmal. Er konnte sich nicht helfen, dem Mann haftete etwas quälend Vertrautes an. Erinnerungen wanden sich aus den tiefsten Schichten seines Geistes nach oben. Er beobachtete, wie der Reiter an einem Wasserschlauch nestelte. Seine Finger schienen durchgefroren zu sein, denn er musste mit seinem warmen Atem mehrmals auf die Fingerspitzen pusten, bis es ihm gelang, ihn zu lösen.

Während der Mann trank, betrachtete Fionn sein Profil, die gerade, ausgeprägte Nase, die über den dichten Bart hinausragte, dahinter das lange Haar, ein scharf abgegrenzter Umriss, den jemand in die Wirklichkeit des Waldes geschnitten hatte. Die plötzliche Erkenntnis, wen er da vor sich hatte, entrang Fionn ein unterdrücktes Keuchen. Unbewusst riss er an Ilians Zügeln, der ungehalten auf der Stelle tänzelte, aber zum Glück stillblieb.

Galen von Althain! Sofort zerrte er Ilian tiefer in Deckung.

Galen von Althain – dieser Name trieb Blut in seinen Kopf. Er spürte, wie es pulsierte und rote Wut mit sich führte, ein Strom aus köstlich verdorbenem Wasser, das durch seine Adern rauschte und ihm die Sinne vergiftete.

Galen von Althain – Ioaríns schwärzester Schatten, ihr Bluthund. Ihn hatte sie nun auf Fionns Fährte gesetzt, nachdem ihr Fußvolk erfolglos nach Berelien zurückgekehrt war. Anders konnte er sich das Auftauchen des Mannes hier nicht erklären.

Die Wut hatte ihren Scheitel noch lange nicht erreicht. Er fletschte die Zähne und ließ sich von ihrer Flut emportragen.

Fionn war es so leid, sich immer verkriechen zu müssen. Seit frühester Kindheit tat er nichts anderes. Vor seinem eigenen Bruder, vor Ioarín … Auf Ban Berel hatte er sich noch an Arken Daal halten können, auch wenn der Reitmeister König Briand lange Zeit unerschütterlich Treue gehalten hatte, doch was hatte Runes Vater ihn nach der gemeinsamen Flucht zu tun angewiesen: sich zu verkriechen. Er war doch kein Wurm!

Galen verstaute den Wasserschlauch. Fionn spuckte aus, ohne den anderen aus den Augen zu lassen, und zog das Schwert, das Runes Vater ihm durch seine Tochter hatte überbringen lassen. Schon seit einer geraumen Weile pflegte er es an seiner Seite zu tragen.

Schade, dass Kjell nicht bei ihm war. Also musste es ohne seinen Freund gehen, auch wenn es an Wahnsinn grenzte, Galen von Althain anzugreifen, falls stimmte, was man sich über ihn erzählte. Aber Fionn war im Vorteil, er kannte die Gegend um Slyga besser als sich selbst. Und er wusste sehr genau, wo er zuschlagen würde.

Behutsam führte er Ilian in weitem Bogen durch das Unterholz. Er würde dem Henker der Königin den Weg abschneiden. Die Richtung, die Galen eingeschlagen hatte, bot ihm nur ein Durchkommen. Da gab es eine Engstelle, einen Hohlweg, nicht weit von hier, zwischen Felsen und umgestürzten Bäumen. Dort würde er auf Galen warten. Er band seinen Apfelschimmel an einem Baum fest und legte den Rest zu Fuß zurück. Ob er Ioarín ein Paket mit Galens besten Stücken zukommen lassen sollte? Mit Grüßen von ihrem Schwager? Er unterdrückte ein nervöses Kichern.

Am Ziel angekommen kletterte Fionn auf eine halb entwurzelte Eiche, die über den Hohlweg ragte und von einem Felsen auf der anderen Seite in einem Zustand zwischen Wachsen und Vergehen gehalten wurde. In der dick gewebten braunen Gugel, dem dunklen Wams und der derben Lederhose würde er zwischen den Zweigen kaum auffallen. Die Stelle war gut. Fionn musste auch nicht lange warten. Bald vernahm er gleichmäßigen Hufschlag und gleich darauf tauchte die schlanke braune Stute mit ihrem Reiter im Unterholz auf.

Komm, noch ein kleines Stück. Nur noch ein kleines Stück. Sehr gut. Jetzt!

Er sprang. Fionns Füße trafen Galen mitten in den Brustkorb. Die Wucht riss ihn aus dem Sattel und beide stürzten zu Boden. Galen schlug hart auf. Der Waldboden war von Steinen durchsetzt, man plumpste hier nicht weich ins Laub, wie es vielleicht in Althain der Fall war.

Obwohl er beim Sturz sein Schwert verloren hatte, hielt Fionn sich nicht lange auf. Er brauchte kein poliertes, graviertes Metall. Er rappelte sich hoch und schlug Galen ins Gesicht. Galen ächzte und Fionn begriff dies als Aufforderung, dem ersten gleich einen zweiten Schlag folgen zu lassen. Dem kam er gern nach. Und am besten noch ein dritter. Nachdem er wie von Sinnen auf Galen eingeprügelt hatte, hielt er inne. Seine Faust war blutverschmiert, Schmerz pulsierte in seinen Fingergelenken. Warum wehrte der Hund sich nicht?

Das schien sich Galen auch zu fragen. Plötzlich kam Bewegung in ihn. Mit einem tiefen Knurren schleuderte er Fionn zur Seite und zog sein Schwert. Bevor er jedoch einigermaßen auf den Füßen stand, hatte Fionn einen Ast gepackt. Er zerbrach, als er auf Galens Rücken traf. Fionn griff sich gleich den nächsten. Mit Schwung rammte er ein Ende in Galens Bauch. Der Mann keuchte und krümmte sich. Das Schwert fiel ihm aus der Hand. Benommen wankte er auf der Stelle und sackte in die Knie. »Fionn …«, flüsterte er.

»Ja, der bin ich!«, schrie Fionn und holte aus. Mit Schwung traf der Ast auf Galens Kinn und schleuderte ihn in hohem Bogen rücklings ins faule Laub. Er sah verdammt übel aus. Sein Gesicht bestand nur noch aus Blut und Bart, also trat Fionn ihm einmal kräftig in die Seite, sodass sich Galen wie eine Made bog. Denn das war er doch, oder? Eine Made! Ioaríns Leichenfresser!

»Hier bin ich, Galen«, rief er heiser. »Jetzt habt Ihr mich gefunden, und nun? Was macht Ihr jetzt? Sagt schon!« Er trat noch einmal zu. Da fiel sein Blick auf Galens Schwert und er hob es rasch auf. Keinen Wimpernschlag später drückte er Galen die Schwertspitze in den Nacken.

Fionn wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. »Was macht Ihr jetzt, Galen, so im Dreck zu meinen Füßen? Wie geht es weiter?« Er übte mehr Druck auf die Waffe aus. »Ich wolltet mich einfangen, nicht wahr? Zu meiner reizenden Schwägerin wolltet Ihr mich bringen, oder?« Diesmal unterdrückte er das Kichern nicht. »Ihr scheint mir in die Jahre gekommen zu sein, denn so wie ich das sehe, ist Eure Mission mehr als nur am Scheitern begriffen.« Jetzt hatte die Wut ihren Scheitel erreicht. Und er genoss jede einzelne ihrer erregend glühenden Wogen. »Wie ich Euch eben so in diesem Wald lustwandeln sah, kam mir eine Idee. Ich richte Ioarín ein Päckchen mit ausgesuchten Teilen von Euch. Als Andenken! Wie klingt das? Ob sie sich darüber freut?«

Er hatte nicht einmal bemerkt, dass jemand hinter ihn getreten war. Erst als sich eine Klinge in seine Seite drückte, wurde ihm klar, dass Galen und er nicht mehr allein waren.

»Ich verrate Euch, was ich gleich mit Euch anstelle, wenn Ihr nicht sofort Euer Schwert von ihm nehmt«, knurrte der Neuankömmling. »Ich dünge die Bäume mit Euch. Und wie klingt das nun?«

Der Klang der Stimme ließ Fionn erstarren.

Noch jemand gesellte sich zu ihnen. Jemand, der mit seinen Schritten das Unterholz zertrampelte wie ein großer Bär. Der panisch »Fionn!« brüllte, abrupt stehen blieb und ungläubig »Rune?« flüsterte.

Der Druck der Klinge an Fionns Seite ließ nach. Er drehte sich langsam um. In einiger Entfernung stand Kjell mit wirrem Bart und starrte fassungslos die Person an, die unmittelbar hinter Fionn ihr Schwert senkte; eine Person kleiner als Fionn, mit braunen Locken und grauen Augen, aus denen der letzte Rest Mordlust wich.

»Rune?« Wie sehnlich hatte Fionn gehofft, diesen Namen noch einmal über seine Zunge huschen zu spüren, doch im gleichen Moment stieß ihn seine Trägerin zur Seite, bevor sie sich über Galen warf, der reglos am Boden lag.

»Ihr habt ihn fast umgebracht«, zischte sie. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie wischte Galen das blutverklebte Haar aus dem zertrümmerten Gesicht.

»Das war meine Absicht«, entgegnete Fionn wie in Trance.

Was passierte hier gerade?

Kjell trat hinzu und ging neben Galen in die Hocke. Sein besorgter Blick auf den Verletzten verleitete Fionn zu der Vermutung, an einem bizarren Albtraum teilzuhaben, aus dem er sicher gleich erwachte.

»Fionn, was ist bloß in dich gefahren? So hab ich dich noch nie erlebt. Du bist doch kein Mörder!«

Fionn gurgelte zwei, drei unartikulierte Laute, bevor er hilflos ausrief: »Aber der hier! Galen ist ein Mörder. Was ist los mit euch? Er ist Ioaríns Schatten. Sie hat ihn geschickt, um mich zu holen.«

»Nein, ist er nicht!«, widersprach Rune heftig und sprang auf. »Er ist mit mir gekommen. Ioarín hat damit nichts zu tun. Wir haben nach Euch gesucht.«

»Und gefunden«, ergänzte Kjell trocken.

Fionns Gesicht wurde taub. Es begann am Haaransatz, setzte sich nach unten fort und er nahm an, dass mit dem Gefühl auch das Blut aus seinem Antlitz schwand.

»Ihr habt ihn hierhergeführt? Ihr?« Seine Stimme wurde laut und schnappte fast über. »Während ich auf Euch warte, jeden einzelnen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hoffe, dass Ihr irgendwann zurückkommt, jede Nacht bange, dass Euch etwas zugestoßen ist, während wir uns Euretwegen den Arsch abfrieren, statt uns in Sicherheit zu bringen, habt Ihr nichts Besseres zu tun, als Galen von Althain zu mir zu führen? Habt Ihr den Verstand endgültig verloren?«

Rune schüttelte den Kopf, ihre Wut schien leiser Verzweiflung gewichen. »Nein, Fionn, Galen hat mit Ioarín gebrochen. Es ist so viel passiert, seit wir uns in den Skutarden getrennt haben. Galen ist auf unserer Seite.«

»Er ist … was?« Fionn raufte sich die Haare.

»Wir müssen ihn in die Höhle bringen. Ich brauche Medizin.« Kjell warf Fionn einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du hast ihn ganz schön zugerichtet. Bei Jómmassuur, das hätte ich dir nie zugetraut!«

Wie vom Donner gerührt starrte Fionn die beiden an. »Ich bin der Gute«, sagte er langsam. »Ihr dürft nicht mich so anschauen. Das«, wies er mit ausgestrecktem Finger auf Galen, »das ist der Böse! Ihn müsst ihr so anschauen. Ihn! Nicht mich!«

»Fionn, würdet Ihr mich erklären lassen, könntet Ihr begreifen, dass-«

»Rune, es liegt in der Natur des Irrsinns, dass man ihn einem normalen Menschen nicht begreiflich machen kann«, unterbrach Fionn sie. »Ich sage, wir töten Ioaríns Häscher und damit ist die Sache erledigt. Und zwar jetzt auf der Stelle, bevor die anderen Soldaten auftauchen, die er aus Berelien mitgebracht hat.«

»Hier ist niemand mehr. Galen und ich sind allein gekommen. Und er ist nicht mehr Ioaríns Häscher. Wie oft muss ich das noch sagen?«

Kjell stand auf. »Jemand muss mir helfen, ihn auf ein Pferd zu packen.« Er sah Fionn erwartungsvoll an.

Fionn keuchte auf. »Nein! Ich helfe dir nicht! Und er kommt mir nicht in meine Höhle.«

Kjell zuckte die Achseln. »Dann probier ich’s eben allein.«

»Ich helfe dir, Kjell.«

»Danke, Rune. Übrigens, schön dich wiederzusehen.«

»Seid ihr jetzt alle übergeschnappt?«, schrie Fionn, doch niemand achtete mehr auf ihn. Völlig schockiert musste er beobachten, wie Rune Galens Pferd einfing und Kjell den leblosen Körper auf den Pferderücken hievte. Das hier konnte nur ein Albtraum sein. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Leider schien er kein Ende nehmen zu wollen. Kjell führte Rune und die braune Stute, über der Galens Körper wie ein riesiger Sack hing, tatsächlich weiter ins Gebirge, hinauf zu der Höhle, die ihnen in den letzten Wochen Schutz geboten hatte. Malin kam ihnen schon von Weitem entgegen. Die Berge warfen ihre lauten »Rune«-Schreie als Echos zurück. Wenigstens sie bewies einen klaren Verstand und forderte ihren Mann auf, dem noch immer bewusstlosen Galen Fesseln anzulegen. Eine Forderung, die Runes lautstarken Protest erregte, was Malin erstaunt von ihr abrücken ließ.

»Wenn wir die Situation geklärt haben, sehen wir weiter, mein Kind«, sagte sie und warf Rune einen langen Blick zu. »Lass uns erst einmal hineingehen. Du siehst ja völlig durchgefroren aus. Komm, wärm dich auf.«

Kjell führte das Pferd in die Höhle hinein, so dicht wie möglich ans Feuer, bevor er Galen vom Rücken des Tieres zerrte. Sein schlaffer Körper fiel schwer auf den Höhlenboden. Sofort machte Kjell sich an Galen zu schaffen, während Malin Tee aufbrühte.

»Du hättest Fionn mal sehen sollen, wie er den Kerl da zusammengetreten hat«, raunte er ihr zu.

Malin blickte von einem zum andern. »Kann mich bitte jemand aufklären, was da draußen passiert ist?«

Fionn ließ sich beim Feuer nieder. Sein Blick brannte sich in Runes Gesicht. »Frag sie!«, fauchte er. »Sie hat den Althainer angeschleppt. Es ist Galen von Althain, den Kjell da bemuttert.«

Malin sog erschrocken Luft ein. »Bei Jómmassuur, ist das wahr?«

»Ja, es ist wahr. Das ist Galen von Althain«, erwiderte Rune. An Fionn gerichtet fügte sie hinzu: »Aber er will sich meine Erklärungen ja nicht anhören.«

Fionn öffnete den Mund, doch Malin warf ihm einen scharfen Blick zu. »Du lässt das Mädchen reden! Seit Wochen warten wir mit dir auf ihre Rückkehr. Jetzt will ich wissen, was ihr widerfahren ist und warum sie in Begleitung dieses Mannes ist.« Und so reichte Malin Rune einen Becher Tee, den diese dankbar umklammerte.

Rune hatte sich verändert. Die Rundung ihres Gesichts, der letzte Rest kindlichen Specks, der ihre Wangen bei ihrer Ankunft in Slyga noch so reizend unterfüttert hatte, war verschwunden. Ihre Züge waren hager und scharf geschnitten und erzählten von den Strapazen einer langen Reise. Durch die dunklen Schatten wirkten ihre Augen noch größer, der Blick noch intensiver. Das Haar war ein Stück nachgewachsen und ringelte sich um ihren Kopf.

Sie war von einer strengen Schönheit, zugleich lag etwas subtil Weibliches und Weiches in ihren Zügen, ein sanftes Leuchten, das Fionn fuchsteufelswild machte, ohne dass er wusste, warum. Wann immer sie während ihres nun folgenden Berichts in seine Richtung blickte, wandte er sich ab, um sie nicht ansehen zu müssen. Rune erzählte davon, wie sie das Höhlenkloster erreicht und was sie von Primus Andraeardus erfahren hatte. Sie berichtete über Malghraighs Angriff auf das Kloster, wie sie versucht hatte, mit dem zweiten Fragment zu fliehen, nur um letztlich Malghraigh in die Hände zu fallen. Er hatte versucht, sie zu töten, war aber von Galen überwältigt worden, der die verletzte Rune gerettet hatte, indem er mit ihr in den Ferkarral gesprungen war.

»Danach hat er mich wochenlang gesundgepflegt. Wir haben uns durch die Skutarden bis Althain durchgeschlagen und schließlich den Entschluss gefasst, Fionn zu suchen, um ihm zu helfen, sich gegen Ioarín zu behaupten. Denn jetzt braucht sie nur noch ein Fragment. Und sie wird alles daran setzen, in seinen Besitz zu gelangen.«

Alle miteinander verstummten. Rune starrte in ihren Tee; ihr Gesicht verschwand hinter dem Dampf, der aus dem Becher stieg.

»Das habt Ihr richtig gut gemacht«, knurrte Fionn. Sein spöttischer Beifall durchbrach die Stille und prallte hart von den Höhlenwänden ab. »Das zweite Fragment an Malghraigh verloren, dafür den Althainer für unsere Sache gewonnen. Ich frage mich, wie dämlich man sein muss, den Plan dahinter nicht zu durchschauen.«

»Sei still!«, wies Malin ihn zurecht. »Bei allem, was das Kind hat durchmachen müssen, solltest du einfach mal den Mund halten.«

Kjell war endlich fertig damit, diesen verdammten Galen zu versorgen, und verpackte seine Tiegel und Kräuter.

Malins Blick glitt über den bewusstlosen Mann. »Ich muss Fionn aber recht geben«, fuhr sie an Rune gewandt fort. »Deine Geschichte klingt mehr als mysteriös. Wieso hat Galen dich gerettet? Was brachte ihn dazu? Das verstehe ich nicht. Er gilt als Ioaríns zuverlässigster Handlanger.«

Zögernd sah Rune von ihrem Tee auf. »Das ist schwierig zu erklären.« Fionn merkte wohl, dass ihre Augen dabei voller Sorge zu Galen huschten. »Er hat mit Ioarín gebrochen, weil die Jahre an ihrer Seite einen Menschen aus ihm gemacht haben, den er nicht mehr wiedererkennt. Er ist sich selbst ein Graus. Ich glaube, das hat ihn mürbe gemacht.«

Fionn schnaubte. »Lachhaft …«, murmelte er.

Malin hingegen musterte Rune aufmerksam. »Kind, das kann nur ein Trick sein. Eine andere Erklärung will mir nicht einfallen.«

»Es ist kein Trick. Ich weiß es. Galen ist auf unserer Seite«, beharrte Rune und senkte erneut den Blick. »Er hat kein Interesse an dem dritten Fragment. Er will nur dafür sorgen, dass Ioarín es nicht in die Finger bekommt.«

»Ach ja? Und was macht Euch da so sicher?«, fragte Fionn spitz.

»Bitte, Ihr müsst mir einfach vertrauen«, antwortete Rune erschöpft. »Mit Slyga hatte ich doch auch recht.«

»Ich frage mich nur, warum Ihr Euch weigert, uns Rede und Antwort zu stehen, Rune. Immerhin habt Ihr einen Mann in unsere Mitte geschleppt, der allgemein dafür bekannt ist, auf Geheiß seiner Königin das Schwert in so ziemlich alles zu rammen, was sich bewegt, egal ob Kind, Frau oder Mann.«

»Ja, das … das war er mal. Aber er hat sich geändert. Er ist nicht mehr der Galen, über den alle reden. Vielleicht war er das nie.«

»So jemand ändert sich nicht, Rune!«

»Das ist Unsinn! Galens Loyalität Ioarín gegenüber ist schon seit geraumer Zeit am Bröckeln. Er hat mir schon einmal das Leben gerettet, damals auf-« Sie biss sich plötzlich auf die Lippe.

Da verstand Fionn endlich. Lauernd lehnte er sich vor.

»Auf Ban Berel«, vollendete er ihren Satz. Er stand auf und funkelte sie über die Flammen hinweg an. »Ihr habt mich angelogen! Ihr seid einander bereits auf Ban Berel begegnet. Galen hat Euch von dem Kloster erzählt. Das bedeutet, Ihr habt mich auf den Wink dieses Mörders hin in die Skutarden geschleppt. Ist Euch klar, dass das eine Falle war? Wie blind seid Ihr eigentlich?«

»Zum letzten Mal: Galen ist kein Mörder! Er ist auf unserer Seite. Warum hätte er mir sonst helfen sollen? Genau genommen hat er mir sogar dreimal das Leben gerettet, wenn man Windsquell-«

Fionn lachte auf. »Hört Euch doch nur einmal selbst zu!«, forderte er sie auf. Mit schriller Stimme rief er: »Er hat mir einmal das Leben gerettet, nein, zweimal, nein, dreimal gar! Hat er Euch verhext, oder was? Hat Ioarín nachgeholfen oder warum plappert Ihr die immer gleichen leeren Sätze, die gar nichts beweisen, außer dass Ihr so dämlich wart, in die Falle zu tappen, die er Euch bereitet hat?«

»Wäre es Euch denn lieber, ich sei tot?«, fragte Rune erbost.

»Wollt Ihr eine ehrliche Antwort?«, gab Fionn zurück.

Rune setzte ein angewidertes Gesicht auf. »Ich sehe schon, Ihr habt Euch nicht geändert. Wann begreift Ihr endlich, dass mein Vater Euch keine Braut geschickt hat?«

»Er hat mir aber auch keine Hure geschickt, die auf den erstbesten Mörder hereinfällt, der sie um den Finger wickelt!«

»Fionn!«, fuhr Malin entsetzt auf.

Runes Finger krallten sich um den Becher. Die Knöchel traten weiß hervor, ihre Augen sprühten Funken. In diesem Moment regte sich Galen. Stöhnend drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen. Sofort war Rune auf den Beinen und ließ den Becher fallen, der auf dem Felsenboden in zwei Hälften zerbrach.

»Galen!« Sie stürzte zu ihm hin. Ganz vorsichtig berührte sie sein Gesicht. Hätte ein Bulle seine Hörner in Fionns Magen gerammt, es hätte nicht schmerzhafter sein können. In dieser Geste lag so viel Zärtlichkeit, dass Eifersucht seine Gedärme durchpflügte. »Galen?«, flüsterte Rune erneut. Kaum hörbar antwortete er. Ein erleichtertes Lächeln erstrahlte auf Runes Gesicht. Die Blicke, die sie Galen schenkte, waren das genaue Gegenteil derer, die sie bisher für Fionn übrig gehabt hatte.

Langsam und mühevoll richtete Galen sich auf, soweit seine Fesseln es zuließen. Sein Gesicht war kaum noch als solches erkennbar, Fionn hatte ganze Arbeit geleistet. Trotzdem verzog er die geschwollenen Lippen zu einem unverschämten Grinsen.

»Schätze, wir haben ihn gefunden«, nuschelte er.

Fionn blickte kalt auf Galen herab. »Schätze, Euer Plan ist katastrophal fehlgeschlagen. Schätze, im Moment seid Ihr mein Gefangener.«

Galens Grinsen verharrte kurz auf seinem Platz, dann sank sein Oberkörper zurück. Kjell stand auf und ging neben Galen in die Knie.

»Ich habe versucht, das, was Fionn übrig gelassen hat, ein wenig zusammenzukehren.«

»Danke«, murmelte Galen.

»Musst du Rune danken. Wäre sie nicht dazwischen, wäre ich Fionn vielleicht doch noch zu Hilfe geeilt.« Er hob Galens Augenlider an und betrachtete angestrengt seine Pupillen. »Was macht dein Kopf?«

»Mein Kopf?«, antwortete Galen. »Wusste gar nicht, dass ich noch einen habe.«

»Kannst du den Schmerz beschreiben?«

»Welchen meinst du? Den bohrenden? Den stechenden? Den-?«

Fionn sprang unvermittelt bei, packte Kjell an der Schulter und riss ihn zurück. »Schluss jetzt!«, brüllte er. »Das ist Galen von Althain! Begreifst du das? Begreift das irgendeiner von euch? Er ist Ioaríns rechte Hand. Es ist so, als würde Ioarín selbst hier liegen und du würdest sie salben.«

»Für mich ist es erst einmal einer, der Hilfe braucht, weil ein anderer ihn zusammengetreten hat.«

Kjell schüttelte Fionns Hand ab und starrte ihn finster an.

»Bitte!« Fionn schlug die Hände zusammen. »Er hat sich so gut wie gar nicht gewehrt. Das hat er mit Absicht gemacht. Er wollte, dass wir ihn in unser Versteck bringen, damit er später seine Männer zu mir führen kann. Er ist Ioaríns Schatten. Jeder weiß, warum man ihn so nennt.«

Bevor Kjell oder Rune etwas erwidern konnten, hustete Galen und flüsterte heiser: »Wenn ich auch kurz etwas dazu sagen dürfte.« Alle sahen ihn an. »Ich begrüße es, Fionn«, jedes einzelne Wort schien ihm große Mühe zu bereiten, »dass Ihr so großen Wert darauf legt, Euren Freunden eindringlich bewusst zu machen, mit wem sie es zu tun haben. Es stimmt, ich bin Galen von Althain. Mein Name ist zwar oft genug gefallen, aber auf dieses eine Mal kommt es nicht mehr an. Auch spricht es für Euch, dass Ihr Schaden von Euren Freunden abwenden wollt. Ich bedauere aber zu hören, dass dies nur durch meinen Tod bewerkstelligt werden kann, wenn ich Euch richtig verstehe, und das tue ich doch, oder? Ich verstehe Eure Beweggründe durchaus und es stimmt, einst war ich Ioaríns Schatten, aber ich bin es nicht mehr. Ich habe Berelien den Rücken gekehrt. Ich habe dem Übel auf Ban Berel den Rücken gekehrt. Und mehr als alles wünsche ich mir, einen Beitrag dazu zu leisten, dass Ioarín niemals in den Besitz des dritten Fragments gelangt. Das ist alles. Mehr steckt nicht dahinter. Es gibt kein Heer, keine Söldner, die irgendwo lauern und auf ein Zeichen von mir warten. Rune kam mit mir allein. Niemand ist uns gefolgt. Niemand weiß, dass wir hier sind.«

Mit ausdruckslosem Gesicht hatte sich Fionn Galens kleine Rede angehört. Nun beugte er sich über ihn. »Haltet Ihr mich tatsächlich für einen Idioten? Ihr beleidigt mich, wenn Ihr glaubt, ich würde die Lüge fressen, die Ihr mir gerade aufgetischt habt. Ebenso beleidigt Ihr meine Freunde, wenn Ihr glaubt, sie würden auf Euer Gerede reinfallen. Ich weiß nicht, was Ihr mit Rune gemacht habt.« Er schleuderte einen verächtlichen Blick in ihre Richtung. »Vielleicht hat Ioarín sie gebrochen. Aber Ihr seid derselbe! Ihr seid Galen von Althain, niemand sonst, Ioaríns Hund, Schatten und was sonst noch. Und ich schwöre Euch, ich werde Ioarín genau diesen Schatten vom verfaulten Leib reißen und die Fetzen in alle Winde verstreuen.«

Galen lächelte. Er hob den Kopf ein wenig an, blickte zu Fionn auf und flüsterte vernehmlich: »Da gibt es noch etwas, das ich begrüße. Dass Ihr ein leidenschaftlicherer und vielleicht auch tatkräftigerer Mann zu sein scheint als Euer Bruder. Oder waren das soeben die gleichen leeren Worte, wie sie Briand stets aus dem Maul gekrochen kamen?«

Allgemeine Stille brach über sie herein. Selbst die Flammen verstummten. Zumindest Fionn hörte ihr stetes Prasseln nicht mehr. Sogar seine Wut und seine Angst wurden von dieser Stille verschlungen.

Langsam drehte Kjell ihm sein Gesicht zu. Die Lippen bewegten sich. Da Fionn nicht reagierte, bewegten sich Kjells Lippen erneut. Diesmal stellte er seine Frage etwas lauter: »Was meint er damit? Dein Bruder Briand ‒ was meint er damit?«

Fionn sank in die Knie. Er musste sich setzen.

Da er noch immer nicht reagierte, sprang Galen für ihn ein. »Hat er es euch etwa nicht erzählt? Ich dachte, Fionn legt so großen Wert darauf, dass jeder über sein Gegenüber genauestens im Bilde ist. Er hat sich den Namen Fionn Higgins auf der Flucht zugelegt. Tatsächlich ist er ein Prinz; Prinz Eamond, Briands Bruder.«

»Stimmt das?«, fragte Malin.

»Du bist ein verdammter berelischer Prinz?«, kam es von Kjell. »Wieso weiß ich davon nichts?«

Alle Blicke waren auf ihn gerichtet wie Bündel aus reinem Licht.

Eamond. Viel Zeit war vergangen, seit ihn jemand zuletzt Eamond genannt hatte. Er hasste diesen Namen. Er hasste, wofür er stand. Er wollte diesen Namen nicht. »Ich bin Fionn«, murmelte er mit tauben Lippen. »So kennt ihr mich doch. Ich bin Fionn.«

Rune senkte betreten den Blick. »Der Primus des Klosters erinnerte sich an meinen Vater und an Euch. Allerdings lautete Euer Name damals nicht Fionn. Den genauen Namen konnte er mir nicht nennen, er meinte aber, er habe so ähnlich wie Edmonn oder Edoann geklungen.«

»Ich bin Fionn«, flüsterte er erneut.

Kjells Brauen zogen sich zusammen, wie sie es sonst nur taten, wenn der Met zur Neige ging. »Und warum, bei Jómmassuur, hast du uns nicht eingeweiht?« Er legte einen Arm um seine Frau. »Warum nicht wenigstens Malin und mich?«

»Du weißt alles über uns«, fügte Malin stockend hinzu. »Woher wir kommen, was uns widerfahren ist, dass unser Sohn tot ist. Warum hast du deine Geschichte nicht mit uns geteilt?«

Da war diese Mauer aus Blicken, die Fionn schier erdrückte. Galen sagte etwas. Wie im Schlaf richtete Fionn seine Augen auf ihn.

»Eamond von Berelien gilt seit zwanzig Jahren als tot. Ich war sogar auf Eurer Beerdigung. Wie habt Ihr das angestellt?«

Fionn befeuchtete die Lippen. »Ich war im Totenhaus, zusammen mit Runes Vater. Wir haben die Leiche eines Jungen genommen, der mir glich. Jeder wusste, wie gern ich auf dem Berel geklettert bin. Wir haben die Leiche in die ›Scharfe Klamm‹ geworfen. Die Felsen dort sind besonders schroff. Es hat Tage gedauert, bis sie den Jungen geborgen hatten. In der Zwischenzeit habe ich mich beim Fluss versteckt, bis auch Arken Daal fliehen konnte. Wir haben Berelien gemeinsam verlassen.«

Wieder breitete sich Stille aus. Fionn stand langsam auf.

»Es tut mir leid.« Seine Worte waren an Kjell und Malin gerichtet. »Ich wollte euch nie täuschen, das müsst ihr mir glauben. Ich verschwieg es zu meinem Schutz, zu eurem Schutz und irgendwann«, er stieß ein hilfloses Lachen aus, »irgendwann war ich Fionn Higgins. Irgendwann war Eamond tatsächlich tot.«

Er drehte sich um, zögerte kurz, doch es fiel ihm nichts mehr ein, was er dazu noch hätte sagen können. Als er die Höhle verließ, schluchzte Malin auf. Sie entwand sich Kjells Umarmung, rief laut Fionns Namen und folgte ihm hastig.

2. Ungnädig

»Galen?« Ganz sanft berührten Finger die einzige Stelle in seinem Gesicht, die nicht schmerzte. »Galen, hörst du mich?«

Vorsichtig öffnete er die Augen. Runes Gesicht tauchte vor ihm auf, umrahmt von den Schwellungen, die sich in sein Blickfeld schoben. Er sah sie lächeln, doch keinen Moment später wurde ihr Blick ärgerlich.

»Was hast du dir dabei nur gedacht?«

»Wobei?« Seine Lippen waren inzwischen so geschwollen, das Wort klang mehr wie »wowei«.

»Das hast du absichtlich gemacht. Fionn hätte dich niemals so zurichten können, ohne selbst etwas abzubekommen.«

Er blinzelte unschuldig.

»Und er hat es auch noch gemerkt. Hast du es nicht gehört? Du warst noch nicht einmal unauffällig genug.«

Galen versuchte sich an einem schalkhaften Lächeln. Es tat höllisch weh. Rune verdrehte die Augen. »Wusst ich’s doch! Er hätte dich fast umgebracht!«

»Ich hätte mich schon gemeldet, wenn es zu arg geworden wäre.«

»Zu arg, du bist gut! Und das hier sind nur ein paar Kratzer, stimmt’s?«

Er lächelte wieder und meinte: »Ein Kuss würde meine Genesung enorm beschleunigen.«

»Wohin soll ich dich denn küssen, es ist ja nirgends Platz dafür.« Trotzdem beugte sie sich über ihn und küsste ganz zart seine Lippen. Es tat gut, sie so nah bei sich zu haben. Viel zu schnell löste sie sich von ihm und öffnete einen Tiegel. Galen ruckelte an seinen Fesseln.

»Was meinst du, wann ich die Dinger wieder los bin?«

Bevor Rune antworten konnte, tauchte Malin neben ihnen auf. »Die Fesseln bleiben. Fionn will es so. Und wie ich gerade mit eigenen Ohren hören durfte, ist Euch tatsächlich nicht zu trauen.«

Galen musste den Nacken überstrecken, um zu ihr aufzusehen. »Soll mir recht sein«, brummte er. »Seid Fionn und Ihr mir dann bei meiner Notdurft behilflich?«

Angewidert warf Malin Rune ein Säckchen Kräuter in den Schoß. »Von Kjell«, bellte sie. »Für Umschläge.« Dann rauschte sie davon.

Rune blickte ihr nach. »Reiz sie nicht!«, warnte sie und legte das Kräutersäckchen beiseite. »Du wirst bei ihr immer den Kürzeren ziehen. Und jetzt verrate mir endlich, warum du dich von Fionn so hast zurichten lassen.« Unsanft pappte sie Salbe in sein Gesicht.

»Was hätte ich machen sollen? Er hat mir aufgelauert.«

»Ja und?«

»Was glaubst du, wie die Sache ausgegangen wäre, hätte ich mich gewehrt?«, flüsterte er. »Dann würden wir nicht so traut hier sitzen.«

Rune sah ihm forschend ins Gesicht. »So traut hier sitzen? Was für ein Unfug. Du bist in letzter Zeit ganz schön übermütig, Galen. Das ist der Situation alles andere als angemessen.«

Er hätte fast gelacht, erinnerte sich aber rechtzeitig daran, welche Schmerzen ihm das bereitete. »Ich finde, ich habe das Beste aus der Situation rausgeholt«, beharrte er. »Und Fionns Getätschel überstehe ich allemal. Trotzdem danke, dass du zur Stelle warst«, fügte er hastig hinzu, als Rune eine Braue hob.

Doch noch immer wirkte sie unzufrieden. Ein weiterer Klecks Salbe folgte. »Und warum musstest du sofort enthüllen, dass er Prinz Eamond ist?«

»Das war Notwehr.«

»Notwehr?« Ihre Zungenspitze schob sich über die Unterlippe, während sie die Salbe sorgsam verteilte.

»Es sollte Fionn von mir ablenken. Hat ja auch gewirkt.«

»Kann mal wohl sagen. Es war ein Schock für ihn, mit seinem alten Namen konfrontiert zu werden. Ich hatte den Eindruck, er hätte ihn am liebsten für immer vergessen.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob das gut war, mit der Tür ins Haus zu fallen. Wir hätten Fionn auf andere Art davon überzeugen sollen, dass es nicht notwendig ist, dich umzubringen.« Sie zwinkerte.

Galen schmunzelte. »Wir werden sehen«, murmelte er. Ein scharfer Schmerz durchzog seinen Brustkorb und er versuchte, möglichst flach zu atmen. »Wir werden sehen.«

Dreimal am Tag löste Malin seine Fesseln, damit er sich unter Kjells Aufsicht die Beine vertreten und Dinge erledigen konnte, die ein Mensch gelegentlich erledigen musste. Ihren finsteren Blicken begegnete er mit freundlichem Lächeln.

Kjell benahm sich in seiner Gegenwart wesentlich entspannter. »Weißt du« – wie alle Bewohner der Eisbann pflegte er jeden mit »du« anzusprechen – »wenn Rune der Meinung ist, du seist in Ordnung, genügt mir das. Die Kleine hat zwar einen siebten Sinn für Schwierigkeiten, aber sie sieht auch in dich hinein.« Er tippte Galen kurz auf die Brust, dann fügte er mit einem schnellen Blick auf den Höhleneingang hinzu: »Und aus Malin darfst du dir nichts machen. Mit mir geht sie manchmal viel schlimmer um.«

Der Mann wiederum, wegen dem sie den ganzen Weg auf sich genommen hatten, machte sich die meiste Zeit über rar. Am dritten Tag nach ihrem ersten Zusammentreffen betrat Fionn die Höhle jedoch verdächtig entschlossenen Schrittes und mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß. »Ich habe gesehen, Ihr könnt schon wieder stehen«, wandte er sich ohne Umschweife an Galen.

»Ja, es geht besser. Danke der Nachfrage, mein Prinz.«

»Gut. Dann verschwindet! Heute noch!«

»Fionn«, begehrte Rune auf, »das könnt Ihr nicht machen. Er ist noch lange nicht so weit.«

»Das ist mir egal«, antwortete Fionn. »Wenn es Euch nicht passt, begleitet ihn.«

»Die Nächte draußen werden immer kälter, wo sollen die beiden denn unterkommen?«, wandte Kjell ein.

»Auch das ist mir egal.«

»Bitte!« Rune trat vor ihn. »Wir sind hier, um Euch zu helfen. Aus keinem anderen Grund.«

Sie erntete einen kurzen, kalten Blick. »Das ist löblich. Dann verschwindet. Das hilft mir am meisten.«

»Es stimmt aber, Galen braucht noch etwas Ruhe«, meinte Kjell. »Gib ihm noch zwei oder drei Tage.«

»Ich gebe ihm noch nicht einmal mehr einen Atemzug hier«, fuhr Fionn ihn an. »Ich will, dass er verschwindet! Oder ich verschwinde.« Mit einer vagen Bewegung in Runes Richtung sagte er: »Sie kann von mir aus bleiben, aber er muss gehen.«

»Wenn überhaupt, dann gehe ich mit ihm«, fauchte Rune.

»Dann verschwindet doch endlich, worauf wartet Ihr noch?«

Kjell schob seinen massigen Leib zwischen die beiden. »Fionn, pass mal auf, du hast den Mann so zugerichtet. Du bist kaum bereit, die beiden anzuhören, wenn sie versuchen, sich zu erklären. Sie jetzt hinaus in die Kälte zu schicken, ist Mord.«

»Ich wollte den Kerl gleich umbringen, dann ist es halt so.«

Kjell überging diesen Satz. »Ich sage, Galen bleibt noch zwei, drei Tage, und wenn er wieder auf den Beinen ist, überlegen wir weiter.«

»Gut«, sagte Fionn langsam, »gut, dann gehe ich eben.«

Kjell seufzte tief. »Jetzt mach keinen Quatsch. Lass uns darüber reden.« Doch Fionn wandte sich abrupt um und stapfte aus der Höhle.

»Berelischer Sturkopf«, knurrte Kjell. Mit einem Blick auf Rune meinte er im Brustton der Überzeugung: »Der kommt zurück.«

Es war Malin, die in die Höhle zurückkehrte, schwer bepackt mit einem Reisigbündel, das sie mit erleichtertem Seufzen zu Boden gleiten ließ. Sie bemerkte sofort, dass etwas vorgefallen war.

»Wo steckt Fionn?«, fragte sie aus einer Weitsicht heraus, die Galen geradezu unheimlich vorkam.

»Fionn ist fort«, antwortete Kjell lapidar.

»Er ist was?« Wie Speere richteten sich Malins Augen auf ihren Mann. »Was heißt, er ist fort?«

»Er wollte, dass Galen verschwindet. Als ich ihm klarmachte, dass der noch nicht so weit ist, hat er sich aus dem Staub gemacht.«

Falls Kjell erwartet hatte, von seiner Frau Lob dafür zu ernten, sich so uneigennützig für Galen eingesetzt zu haben, täuschte er sich. Malin machte einen Schritt auf ihren Mann zu. Zorn schien sie um mehrere Zoll wachsen zu lassen. »Bist du noch bei Trost?« Sie sprach jedes einzelne Wort sehr deutlich aus. »Wie konntest du ihn gehen lassen?«

»Der kommt schon wieder.«

»Und alles nur wegen dem da?« Sie schleuderte Galen einen hasserfüllten Blick zu, bevor sich ihre Wut wieder auf Kjell richtete. »Seit Jahren ist Fionn unser Freund. Wie kannst du ihn jetzt im Stich lassen?«

»Ich lass ihn doch nicht im Stich!«, erhob Kjell die Stimme. »Galen ist noch nicht wieder auf den Beinen. Das ist alles.«

Malin trat dicht an Kjell heran. »Deine Gutgläubigkeit wird unser aller Verderben sein«, zischte sie. »Wie damals. Da hast du ihren Späher auch gesund gepflegt. Und wie hat er es dir gedankt? Unser Sohn könnte noch leben.«

Alle Farbe wich aus Kjells Gesicht. Rune, die sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht geregt hatte, war bei Malins letztem Satz zusammengezuckt. Sie wollte etwas sagen, doch Malin fuhr ihr über den Mund.

»Halt du dich da raus! Du hast uns das alles erst eingebrockt! Von euch beiden«, sie wies erst auf Rune, dann auf Kjell, »ist einer so dumm und naiv wie der andere.« Damit verließ auch sie die Höhle und keifte im Gehen: »Wenn Fionn etwas passiert, ist es allein eure Schuld.«

Als sie weg war, stand Kjell noch lange wie erstarrt an seinem Platz. Dann sanken seine Schultern langsam herab. Er drehte sich um und schlurfte mit schweren Schritten, ohne ein weiteres Wort, hinaus.

Kjell hatte sich geirrt, Fionn kam nicht zurück. Die ganze Nacht über strich Malin unruhig im Dunkeln umher und erfüllte den Raum mit ihrer stummen Anklage, sodass keiner ein Auge zutat.

Der kommende Tag brachte keinen Fionn und der darauffolgende auch nicht. Dafür brachte er Wind. Ein Unwetter braute sich zusammen, Schneeregen setzte ein und gegen Mittag umtoste ein Sturm den Berg, dessen Brüllen von den Höhlenwänden widerhallte. Malins Blicke wurden so giftig, dass Kjell irgendwann murmelte: »Ich geh ihn suchen.« Es waren die ersten Worte, die seinen Mund verließen, seit Malin ihren toten Sohn erwähnt hatte.

»Nimm ihn mit!« Malins Stimme klang hart wie Granit. Ihre Augen funkelten wie Kristalle. Mit einer harschen Kopfbewegung wies sie auf Galen und wiederholte: »Nimm ihn mit. Fionn ist seinetwegen verschwunden, also soll er dir suchen helfen.«

Rune sog Luft ein, um zu protestieren, aber Galen warf ihr einen raschen Blick zu. »Ist dieser Vorschlag nicht ein wenig verwegen? Schließlich bin ich in Euren Augen ein grausamer Mörder. Ich könnte Kjell mit bloßen Händen erwürgen und die Gelegenheit zur Flucht nutzen. Wollt Ihr dieses Risiko wirklich eingehen?«

Malin stellte sich neben sein Krankenlager und beugte sich zu ihm herab. »Ihr seid nicht mehr in Berelien, Galen von Althain. Ihr befindet Euch am Fuß der Himmelswogen. Versucht nur zu fliehen, in Eurem Zustand. Ich werdet rasch sehen, was Ihr davon habt. Dieses Land ist ungnädig.«

»So wie Ihr?« Galen grinste schief.

Malin blinzelte nicht einmal. »Ihr wisst gar nicht, wie ungnädig ich sein kann.« Sie schnitt die Fesseln an seinen Fußgelenken durch und packte ihn an einem Arm. »Und jetzt hoch mit Euch.«

Galen stemmte sich hoch und unterdrückte ein Stöhnen. Bislang hatte er das wahre Ausmaß seiner Schmerzen verbergen können. Was auch immer Fionns Fußtritte angerichtet hatten, es raubte ihm unvermindert den Atem. Er musste einfach die Zähne zusammenbeißen. Kjell durfte sich nicht veranlasst fühlen, ihn genauer zu untersuchen, niemand durfte die Narbe zu Gesicht bekommen.

»Bekomme ich mein Schwert?«

»Nein.«

»Dann meinen Dolch?«

»Nein.«

»Ich nehme an, die Handfesseln werdet Ihr ebenfalls nicht lösen?«

Malin zückte ein weiteres Stück Seil. »Ich freue mich, dass Ihr so schnell begreift. Und damit Ihr auch wirklich nicht in die Verlegenheit kommt, meinem Mann etwas antun oder fliehen zu wollen, verstärke ich sie ein wenig.«

»Verstehe. Aber wie soll ich so in dem Gelände da draußen vorankommen?«, fragte er, während er Malin den Rücken kehrte und spürte, wie sie an seinen Handgelenken hantierte.

»Not macht erfinderisch, Galen von Althain. Lasst Euch etwas einfallen.«

»Malin«, begehrte Rune auf, »das kannst du nicht machen. Nicht nur, dass Kjell sich in Gefahr begibt, wie soll Galen auf den Felsen Halt finden?«

Malins Kopf fuhr herum. »Es ist mir gleich, wie er Halt findet. Seinetwegen ist Fionn da draußen verschwunden, nur das ist wichtig. Also soll er sich gefälligst an der Suche beteiligen.«

»Malin, das ist doch völliger Unsinn«, warf Kjell ein. »Komm zur Besinnung, Galen ist verletzt. Wenn er schon mit muss, dann ohne Fesseln, sonst fällt er mir nur zur Last.«

»Die Fesseln bleiben!«, fauchte sie. »Und wage es ja nicht, sie ihm abzunehmen!« Mit fahrigen Handbewegungen begann sie für ihren Mann ein derbes Bündel zu schnüren.

Kjells Blick wurde immer finsterer. Erneut setzte er zu einer Entgegnung an, doch Galen kam ihm zuvor. Die Situation war angespannt genug, einen weiteren Streit konnte er nicht gebrauchen.

»Lass gut sein, Rune weiß, dass ich schon mit ganz anderem fertig geworden bin. Nicht wahr, Rune?«

Sie antwortete nicht, sondern wandte suchend den Kopf, bis sie ihren Umhang entdeckt hatte, nach dem sie sich hastig bückte.

»Rune?« Galen folgte ihr und raunte: »Du bleibst selbstverständlich hier.«

Verbissen schüttelte sie den Kopf.

»Rune!« Er drehte sich und berührte sie leicht mit seinem Arm, für mehr war er zu verschnürt. »Ich weiß genau, was du vorhast, aber das hier muss ich allein bewältigen.«

»Galen«, flüsterte sie, »dort draußen verschlingt der Himmel die Berge. Sie kann dich doch nicht gefesselt in dieses Unwetter zwingen.«

»Rune«, wisperte er eindringlich, »vertrau mir. Bleib hier, unternimm nichts. Lass mich das allein machen. Ich komme zurück, ganz sicher, das verspreche ich.«

»Galen …« Für einen Moment schloss sie die Augen.

»Ich komme zurück«, wiederholte er sanft und hauchte ihr einen Kuss aufs Haar. »Versprochen!« Einen Atemzug später richtete er sich auf. »Wenn es Euch nicht allzu viel ausmacht«, er hob die gefesselten Hände an und winkte in Malins Richtung, »meinen Umhang, bitte. Wie Ihr seht, bin ich im Moment etwas eingeschränkt.«

Unsanft schlang Malin ihm den Umhang um die Schultern. Ihre ‒ teilweise auch der geringeren Körpergröße geschuldete ‒ Grobheit ließ eine Woge aus Schmerz über seinen Körper schwappen. Er musste sich bücken, damit sie die Fibel schließen konnte. Diese einfache Bewegung entfachte lauter kleine Feuer in seinen Flanken. Auf wackeligen Beinen stakste er an Kjells Seite, der am Höhlenausgang wartete. Bevor sie ihren Unterschlupf verließen, bedachte er Rune mit einem letzten warnenden Blick, ihm unter keinen Umständen zu folgen. Ihre Kaumuskeln verkrampften sich als Antwort und ließen ihr Gesicht ausgesprochen kantig wirken. Sie ähnelte ihrem Vater mehr denn je.

Draußen empfing sie der Sturm mit seiner ganzen Wucht, riss an Galens Haar und Umhang und klatschte ihm kalten Regen ins Gesicht. Das Tal war vollends hinter Regenschleiern verschwunden, fast so, als hätte es nie existiert. Die alles verschlingende Wut der Elemente löschte die Welt, wie er sie einmal gekannt hatte, aus. Sie waren direkt in die Wolken getreten, eine andere Erklärung gab es für die grauen Wälle nicht, die sich um sie herum aufwarfen und an den Felsen rieben. Er verdrehte den Kopf und versuchte, sein Gesicht an seiner Schulter zu trocknen. Vergebens.

Kjell bemerkte seine Verrenkungen. Aus dem Augenwinkel sah er ihm einen Moment dabei zu, dann gab er ein gewaltiges Schnaufen von sich. Vorsichtig zog er Galen die Kapuze über den Kopf. »Komm mit!«, grummelte er, packte ihn am Arm und führte ihn ein ganzes Stück vom Höhleneingang weg.

»Was hat Malin sich nur dabei gedacht?«, stöhnte er. »Du brichst dir den Hals, wenn ich dir die Fesseln nicht abnehme.«

»Das dürfte ihr Plan gewesen sein.«

Kjell verzog das Gesicht und räusperte sich. »Meine Frau ist ein guter Mensch. Wirklich! Und ich liebe sie über alles. Aber manchmal … wenn sie jemanden nicht sofort in ihr Herz schließt, dann … Ich behaupte mal, ich werde mit dir fertig, solltest du irgendwelche Dummheiten versuchen, ist das klar?«

Galens Blick wanderte zu Kjells Pranken. »Mir ist heute überhaupt nicht nach Dummheiten«, meinte er nur.

Das schien Kjell zu reichen. »Was ich jetzt tue, bleibt unter uns«, sagte er nachdrücklich. »Dreh dich um.« Galen gehorchte. Kjell hob seinen Umhang an und machte sich an den Fesseln zu schaffen. »Aber ich darf nicht vergessen, sie dir wieder anzulegen, sobald wir zurück sind«, murmelte er wie zu sich selbst.

Endlich waren seine Hände frei. Unbeholfen streckte und beugte Galen die Finger, bis die Taubheit wich und mit unerträglichem Kribbeln Leben zurückkehrte. Er hauchte die eisigen Fingerspitzen an und nach einer Weile breitete sich pulsierende Hitze aus.

»Besser?«, fragte Kjell mit einem halben Lächeln.

Galen nickte. »Viel besser. Wohin jetzt?«

Kjell sah sich einen Moment um. Sein Bart war längst klatschnass und klebte ihm als haarige Masse auf dem Mantel. Er warf einen langen Blick in die Richtung, in der einmal das Tal gelegen hatte. Dann schaute er an den Bergen entlang nach oben, dorthin, wo über den Wolken vielleicht noch ein letzter Rest Himmel zu finden war. »Rauf, schätze ich.«

Gemeinsam kämpften sie sich einen schmalen, treppenartigen Pfad hinauf, immer auf der Hut vor den Böen, die sich noch nicht so recht entscheiden konnten, ob sie die beiden Männer gegen die Felsen schmettern oder in die Leere des Abgrunds fegen wollten. Warum hatte Kjell sich ausgerechnet für diesen Weg entschieden? Galen hatte keine andere Wahl, als sich darauf zu verlassen, dass Kjell wusste, was er tat, immerhin kannte er Fionn lange und gut. Dennoch war der Aufstieg nicht nur mühselig, sondern lebensgefährlich. Sogar Kjell, der mit der Gegend vertraut war, rutschte einmal ab und schlitterte dabei gut zwei Körperlängen hangabwärts. Völliger Irrsinn, die Suche nach Fionn ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Sturms zu beginnen.

Bei jedem einzelnen Schritt musste Galen um sein Gleichgewicht kämpfen. Er wusste, Malin hatte ihn aus reiner Schikane in das Unwetter gesandt. Selbst mit freien Händen war er Kjell keine große Hilfe. Ob sie insgeheim hoffte, ihm würde etwas zustoßen? Wäre nicht unwahrscheinlich in Anbetracht dessen, was man sich über ihn erzählte. Dennoch würde er sie enttäuschen müssen. Er gedachte, zurückzukehren. Wenn nur diese Schmerzen nicht wären!

Um sich ein wenig abzulenken, biss er sich auf die Innenseiten seiner Wangen. Schmerz gegen Schmerz. Der Geschmack von Blut tränkte seine Zunge. Gut so. Seine Hände waren durch die Kälte wieder vollkommen gefühllos. Eisiger Regen brannte auf seinem Gesicht. Manchmal, wenn Kjell etwas Abstand zu ihm gewonnen hatte und Fionns Namen rief, gönnte er sich ein lautes Stöhnen. Ihm war schleierhaft, wie er diesen Ausflug durchhalten sollte. Als er endgültig umzukippen drohte, dachte er an Rune, erinnerte sich an ihre letzte gemeinsame Nacht vor dem Aufbruch nach Slyga. Die Flammenschatten eines Kaminfeuers hatten auf ihrer nackten Haut getanzt. Mit seinen Lippen war er den flüchtigen Mustern gefolgt, beginnend bei ihrem Hals, über Nacken und Schultern, den Rücken entlang … Die kleine Blume aus wohltuender Wärme, die in seiner Brust erblühte, trug ihn ein ganzes Stück weiter. Bis er strauchelte. Bevor er sich abfangen konnte, krachte er zu Boden, prallte mit der Schläfe gegen einen Felsen und blieb benommen liegen.

Das Gefühl war gar nicht übel, das Unwetter, die Schmerzen, all das plötzlich unwichtig. Sterne flimmerten vor seinen Augen, deren Licht von einer Welle aus Dunkelheit ausgelöscht wurde. Dann aber brüllte jemand seinen Namen und holte ihn aus diesem Zustand zurück. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich Übelkeit zu den Schmerzen gesellt.

Kjell schaute auf ihn herab. Sein Gesichtsausdruck erheiterte Galen fast ein wenig, weil es schien, als könnte er sich nicht zwischen Sorge und Ärger entscheiden. »Kannst du nicht besser aufpassen?« Der Hüne wollte wohl streng klingen, die Erleichterung war ihm allerdings deutlich anzuhören. Mit spitzen Fingern begutachtete er Galens Kopf. »Das gibt eine Beule.«

»Ich wette, da kommen noch einige hinzu.«

Kjell rieb sich übers Gesicht. »Was für eine Schnapsidee! Komm, ich bringe dich zurück. Du musst dich hinlegen, ich suche allein weiter.«

Galen schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ich pack das schon.«

Der Sturz war Galens Verfassung nicht gerade zuträglich gewesen. Sein Brustkorb schmerzte seit dem Aufprall mehr denn je. Er versuchte mit Kjell Schritt zu halten, doch das Gelände wurde immer unwegsamer und er fiel deutlich zurück. Gerade hielt er inne, um etwas Luft zu schöpfen, da hörte er einen Schrei. Oberhalb von ihm, in seinem Blickfeld etwas nach links versetzt, ruderten zwei kräftige Arme durch die Luft. Kurz darauf polterte ein Schatten an ihm vorbei, den man im ersten Moment für einen großen Felsen hätte halten können. Tatsächlich war es Kjell, der seiner Sicht entschwand, bevor Galen begriff, dass er seinem Begleiter soeben dabei zusah, wie er abstürzte.

»Verflucht!«, entfuhr es ihm. »Kjell? Kjell!« Der Wind verschluckte seine Rufe und spie sie ganz woanders wieder aus. Galen hatte keine Wahl, er musste zurück und schauen, ob er seinen Begleiter in dem ganzen Weltenchaos fand. Stück für Stück kraxelte er den Abschnitt, den er eben so umständlich erklommen hatte, wieder hinab. Keine Spur von Kjell, nur nasse Felsen, zwischen denen kleine Sturzbäche in die Tiefe rauschten. Vergebens schrie er sich heiser, Antwort gab ihm stets nur der Sturm. Die ganze Welt schien lediglich von seinem Brüllen zusammengehalten zu werden.

Panik sammelte sich in seiner Magengrube wie Quecksilber in einer Schale. Er hatte sich auf diese Suche eingelassen, um seine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen. Wenn Kjell nun etwas zugestoßen war, bedeutete dies einen so herben Rückschlag, am besten warf er sich gleich hinterher. Galen war sich bewusst gewesen, dass es schwierig werden würde, Fionns Vertrauen zu gewinnen. Nun mutmaßlich für den Tod seines besten Freundes verantwortlich zu sein, bedeutete das Ende unmittelbar nach einem holprigen Anfang. Ganz abgesehen von Malin. Sollte sie annehmen, Galen habe ihren Mann auf dem Gewissen, würde sie versuchen, ihn umzubringen, selbst wenn die kleine Frau ihn sogar auf Zehenspitzen kaum am Bart zupfen konnte. Schlimmstenfalls hatte Fionn seinen Trotz auch nicht überlebt. Wenigstens dieses Szenario barg einen Vorteil: Das Wissen um das dritte Fragment war damit unwiederbringlich verloren. Wäre es nicht das Beste, die Suche nach ihm einzustellen? Wer wie ein schmollendes Kind davonlief, hatte es nicht anders verdient. Mit aller Macht riss Galen sich von diesen Gedanken los. Das war nicht die Lösung, derentwegen er sich nach Slyga aufgemacht hatte.

Der Himmel hatte eine anthrazitfarbene Tönung angenommen. Der Abend nahte und das Unwetter schien seinen Auftrag, worin dieser auch bestand und woher er auch kam, noch lange nicht erfüllt zu haben. Vielleicht hatte Ioarín das dritte Fragment längst gefunden und er wurde nun Zeuge, wie sich die Welt unter dem Einfluss des Buches in ihre einzelnen Bestandteile auflöste. Schon das Heulen des Windes klang immer absonderlicher, als würde er wie ein Gemarterter stöhnen und wimmern. Er meinte gar, seinen eigenen Namen zu vernehmen, ein schwaches Winseln aus den Tiefen des Gesteins: »Galen …«

Sein Kopf fuhr so heftig herum, dass sich sein Brustkorb vor Schmerz verkrampfte. Das war Kjells Stimme!

Galen rutschte ein Stück den Hang hinab. Neben ihm musste es in der Vergangenheit einen gewaltigen Felsabbruch gegeben haben. Eine große Menge Gestein war in die Tiefe gerauscht und hatte eine scharfe Kante zurückgelassen, über die er nun spähte. Und da hing Kjell, die Hände um eine kleine Felsnase gekrampft, das weiße, verzweifelte Gesicht nach oben gerichtet. Er war am Leben!

Kjell hatte gewaltiges Glück gehabt. Er hatte so ziemlich den einzigen Vorsprung zu packen bekommen, der ihn davor bewahren konnte, mindestens dreißig Fuß tief auf das Geröll zu stürzen, zu dem das Gestein beim Aufprall zerschellt war. Zugleich hatte er auch Pech gehabt, denn dieser Vorsprung befand sich gerade so tief unter der Abbruchkante, dass Kjell diese niemals aus eigener Kraft erreichen würde. Soweit Galen die Lage beurteilte, gab es nichts, woran Kjell sich hätte hochziehen können, und um ihm die Hand zu reichen, war er zu weit entfernt.

»Galen, ich kann nicht mehr … Hilf mir!«

Dieser Bitte nachzukommen, war leichter gesagt als getan.