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Am Ufer des malerischen Chiemsees ist der exklusive Flagship-Store des Feinkostunternehmens Greiffenberg eine Attraktion. Patriarch Ludwig leitet in dritter Generation die Geschicke mit harter Hand ... und nach seinem Gutdünken. Die drei Kinder interessieren sich nicht fürs Geschäft, seine Frau Therese, ein ehemaliges Münchner Modell, pflegt ihr Image als Society-Lady, und Großmutter Elsa ist trotz ihrer 80 Jahre eine passionierte Bergwanderin. Dann kehrt Ludwig eines Tages nicht von einem Segeltörn zurück. Widerstrebend nimmt die älteste Tochter Pauline die Zügel in die Hand, ohne zu wissen, dass sie damit ein Intrigenkarussell in Gang setzt, das zur Zerreißprobe für die ganze Familie wird.
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Seitenzahl: 455
Am Ufer des malerischen Chiemsees ist der exklusive Flagship-Store des Feinkostunternehmens Greiffenberg eine Attraktion. Patriarch Ludwig leitet in dritter Generation die Geschicke mit harter Hand … und nach seinem Gutdünken. Die drei Kinder interessieren sich nicht fürs Geschäft, seine Frau Therese, ein ehemaliges Münchner Modell, pflegt ihr Image als Society-Lady, und Großmutter Elsa ist trotz ihrer 80 Jahre eine passionierte Bergwanderin. Dann kehrt Ludwig eines Tages nicht von einem Segeltörn zurück. Widerstrebend nimmt die älteste Tochter Pauline die Zügel in die Hand, ohne zu wissen, dass sie damit ein Intrigenkarussell in Gang setzt, das zur Zerreißprobe für die ganze Familie wird.
Isabell Schönhoff ist das Pseudonym einer deutschen Drehbuch- und Romanautorin, die sich mit romantischen Komödien einen Namen gemacht hat. Mit ihrer neuen Reihe erfüllt sie sich einen Herzenswunsch: eine bewegte Familiengeschichte an ihrem Lieblingsort, Prien am Chiemsee.
LÜBBE
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Claudia Schlottman, Berlin
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, Münchenunter Verwendung von Illustrationen von © stock.adobe.com: Klaus M. | juat | spuno und shutterstock.com: Vladimir Sukhachev | Jones M
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-4238-2
luebbe.de
lesejury.de
Für meine Mutter
1922 führten Geschäfte den Handelsreisenden Eduard von Greiffenberg nach Prien am Chiemsee, wo er seine große Liebe Josefine kennenlernte. Die beiden heirateten und eröffneten wenig später einen kleinen Tante-Emma-Laden, der sich schnell großer Beliebtheit erfreute. Vor allem Josefines selbstgekochte Hagebuttenmarmelade, ihre frisch zubereiteten Salate und die handgefertigten Pralinen fanden reißenden Absatz. Das kleine Unternehmen expandierte und spezialisierte sich auf Delikatessen, die Eduard teils aus dem Ausland bezog. Josefines Fleiß und Geschick sowie Eduards Weitblick und sein Händchen für lukrative Immobilien verhalfen den Greiffenbergs im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Vermögen. Noch heute steht der Name Feinkost Greiffenberg für erlesene Köstlichkeiten aus aller Welt. Die Firma ist nach wie vor in Familienbesitz, und der Hauptsitz befindet sich dort, wo alles begann: in Prien am Chiemsee.
Elsa nahm sich einen Teller und ließ den Blick über das Kuchenbüffet schweifen.
»Na, wie fühlt man sich mit achtzig?«, fragte Sebastian, der plötzlich neben ihr stand, beiläufig.
Sie tat sich schweigend ein Stück Erdbeertorte auf und dachte nicht im Traum daran, die Frage zu beantworten.
»Sieht man dir jedenfalls nicht an, dein Alter.« Ungeniert musterte er sie von oben bis unten. »Hast dich echt gut gehalten, das muss man dir lassen.« Er nickte anerkennend, als wäre sie ein scheckheftgepflegter Gebrauchtwagen. »Hast du einen Tipp für mich?«
»Wofür?«, schnaubte sie.
»Wie schafft man es, nicht alt zu werden?«
»Zyankali wäre eine Möglichkeit.«
Er lachte laut auf. »Ach, Elsa. Du und dein schwarzer Humor …«
Du und dein schwarzer Humor, äffte sie ihn im Geiste nach und beschloss, noch etwas Sahne zu nehmen. Sie fühlte sich plötzlich unterzuckert – und furchtbar alt. Mit einer abrupten Bewegung pfefferte sie einen riesigen Klecks Obers auf ihren Teller und wandte sich ab. Sie liebte ihre Enkelin Pauline über alles, aber wie sie diesen Deppen hatte heiraten können, würde ihr ein ewiges Rätsel bleiben.
Schnellen Schrittes nahm sie Kurs auf die lange, weiß gedeckte Tafel. Sie war gemäß ihren Anweisungen unter der prachtvollen alten Tulpenmagnolie platziert worden, die seit zwei Tagen in voller Blüte stand. Elsa setzte sich an das obere Kopfende, atmete tief durch und entspannte sich. Die Luft war herrlich. Welch ein Glück sie mit dem Wetter hatten. Ob die Feierlichkeiten im Freien würden stattfinden können, war bis zuletzt ungewiss gewesen, aber schließlich hatte die Sonne sich an diesem Sonntag Mitte April doch entschieden, zu scheinen. Und dabei war es schon so warm, dass man sogar ›mit ohne‹ Strumpfhose gehen konnte, wie ihre kleine Urenkelin Ada heute Morgen hocherfreut festgestellt hatte.
Elsa breitete eine frisch gestärkte Damastserviette auf ihrem Schoß aus, trank einen Schluck Kaffee und stach mit der Gabel ein Stück Erdbeertorte ab. Die meisten der beinahe siebzig Geladenen hatten ihren Kuchen bereits vertilgt und tummelten sich auf dem Rasen des parkähnlichen Gartengrundstücks der Greiffenberg-Villa.
Ihr Sohn Ludwig hatte vor etwa einer halben Stunde den legeren Teil des Nachmittags eingeläutet, indem er seine Krawatte gelockert und das Jackett ausgezogen hatte. Die anderen Herren hatten ob der Wärme erleichtert aufgeatmet und es ihm gleichgetan.
Elsa ließ ihren Blick über die Gästeschar schweifen, während sie sich genüsslich die Torte zu Gemüte führte. Freunde, Familie, Nachbarn, Weggefährten – alle waren sie gekommen, in Cabriolets, SUVs und neuer Frühjahrsgarderobe, um Elsa von Greiffenberg zum achtzigsten Geburtstag die Ehre zu erweisen. Sie standen in Grüppchen, lachten und smalltalkten oder verfolgten wie Pauline ihre Kinder auf Schritt und Tritt, um zu verhindern, dass Tischdecken heruntergerissen wurden oder eines der hauchdünnen Kristallgläser zu Bruch ging. Elsa war froh, einen Augenblick für sich zu haben – jetzt, wo sie die obligatorische Begrüßungsansprache absolviert und Festreden und Lobhudeleien über sich hatte ergehen lassen. Ihr Blick fiel auf ihr jüngstes Enkelkind Antonia. Die Achtzehnjährige saß mit ihrer alten analogen Kamera auf dem Sockel des steinernen Engels am Rande des Gartengrundstücks und nestelte gedankenverloren an ihren Ohrpiercings herum. Dabei hatte sie fest versprochen, den ganzen Nachmittag über Fotos für das Familienalbum zu schießen. Nun ja. Im besten Fall waren alle Filme schon voll. Im schlechtesten … ach, geschenkt. Wer schaute sich später noch Familienfotos von Omas Achtzigstem an?
»Ludwig, die Austern heute Mittag waren ein absoluter Hochgenuss«, hörte Elsa ihren Schwiegerenkel Sebastian in diesem Moment schwärmen. Sie wandte den Kopf nach links und sah, dass er, einen Teller mit Aprikosenkuchen balancierend, um ihren Sohn herumscharwenzelte. Mit seiner freien Hand schlug er ihm fest auf die Schulter. Sie musste heute ganz schön was aushalten, Ludwigs Schulter, aber sie war es ja gewohnt, unablässig geklopft zu werden. Mit achtundfünfzig Jahren war ihr Jüngster ein gestandener Mann und als Geschäftsführer und Hauptanteilseigner der familieneigenen Firma Feinkost Greiffenberg hoch angesehen. Nicht nur hier in Prien am Chiemsee, sondern auch in München – und überhaupt in ganz Bayern. Es erfüllte Elsa mit Stolz, wenn sie daran dachte. Es war ja auch ihr Verdienst. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hatte sie die Firma weitergeführt und später peu à peu in Ludwigs Hände übergeben, was sich schnell als Geniestreich erwiesen hatte. Eigentlich hätte ihr älterer Sohn Wolfgang den Thron besteigen sollen. Die Familienstatuten hatten es so vorgesehen. Doch Elsa hatte das zu verhindern gewusst, was ihr zunächst einigen Ärger und viel Unverständnis eingebracht hatte. Aber sie hatte sich nicht beirren lassen, denn in Ludwig hatte sie früh das erkannt, was Wolfgang bis zum heutigen Tag fehlte: Ehrgeiz, ökonomischen Sachverstand und vor allem Instinkt. All das vereinigte ihr Jüngster in sich wie kein anderer, und so waren Firma und Familienvermögen unter seiner Leitung immer weitergewachsen und die Greiffenbergschen Produkte inzwischen in aller Munde – zumindest in denen derer, die sie sich leisten konnten. Wolfgang hatte sich derweil mit nur einem Drittel der Firmenanteile und der Leitung der Marketingabteilung begnügen müssen, was er ihr bis heute nachtrug. Aber die Feinkostbranche war ein Haifischbecken, und das erforderte zuweilen unpopuläre Entscheidungen. Am Ende hatte Ludwigs Erfolg ihr Recht gegeben.
»Die Austern? Ja, das sollten sie auch«, dröhnte er jetzt. Er hatte eine tiefe, durchdringende Stimme, die allem, was er von sich gab, Gewicht verlieh. »Wir haben sie aus der Bretagne einfliegen lassen.« Er legte einen Arm um die schlanke Taille seiner Frau Therese, die, ganz in Isabel Marant gekleidet, an seiner Seite stand und gerade eine der Kellnerinnen heranwinkte. Sie sah umwerfend aus. Noch immer. In den achtziger und neunziger Jahren war sie ein gefragtes Model gewesen – in München und eine Zeit lang sogar in Paris. Irgendwann hatte sie Ludwig kennengelernt, auf der Wiesn, wo auch sonst. Und obwohl er fünf Zentimeter kleiner war als sie und damals wie heute nicht gerade ein Adonis, war es, so erzählten sie es oft und gern, Liebe auf den ersten Blick gewesen. Kaum zu glauben, dass ihre Hochzeit nun schon über dreißig Jahre zurücklag. Ihre drei Kinder waren längst erwachsen, und die Mittlere, Pauline, hatte sie früh zu Großeltern gemacht. Ihr ältester Sohn Ferdinand hingegen war, obwohl mit einunddreißig im besten heiratsfähigen Alter, weit davon entfernt, sich zu binden, geschweige denn, eine Familie zu gründen. Er stand neben Sebastian, plauderte, scherzte und versprühte jede Menge Charme.
»Komm mal rüber, Geburtstagskind!«, rief er Elsa zu, als er ihren Blick bemerkte.
Sie winkte ab. Die Torte war noch nicht aufgegessen, und sie saß gerade so schön. Doch Ferdinand ließ nicht locker.
»Komm schon, Oma, trink ein Gläschen mit uns.«
Sie lächelte. Widerstand zwecklos. Ferdinand konnte man einfach nichts abschlagen. Seufzend erhob sie sich und ging zu ihm und den anderen hinüber.
»Oma, hab ich dir schon gesagt, dass du toll aussiehst?« Ferdinand legte seinen gebräunten Arm um ihre Schultern.
»Antonia!«, rief Therese in Richtung Steinengel. »Mach mal ein Foto von uns!«
»Gleich«, erwiderte Antonia, ohne von ihrem Smartphone aufzublicken.
Ferdinand gab Paulines Freundin Hanne ein Zeichen. Sie arbeitete schon lange im Greiffenbergschen Feinkostladen und hatte angeboten, heute hier zu kellnern. »Ein Gläschen für das Geburtstagskind«, rief er ihr zu.
Elsa hob protestierend die Hände.
»Komm schon, Oma, man wird nur einmal achtzig.«
»Na ja. Auch wieder wahr.« Sie nahm ein Glas von dem silbernen Tablett, das Hanne ihr entgegenhielt. »Danke«, sagte sie und prostete in die Runde.
»Auf dich, Mutter«, sagte Ludwig.
»Auf die nächsten achtzig«, witzelte Sebastian.
Ferdinand beugte sich zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann stießen sie an und tranken.
»Mamaaaaaa!«, schallte es in dem Moment von irgendwoher.
Ferdinand stieß Sebastian freundschaftlich in die Rippen. »Klingt nach deiner Tochter.«
»Wie gut, dass sie eine Mutter hat.« Sebastian nahm einen weiteren Schluck aus seinem Champagnerglas und deutete mit dem Kinn auf Pauline, die im Laufschritt Richtung Geschrei lief und wenig später die heulende Ada aus einem Rosenbeet zog. »Zeter und Mordio, immer dasselbe«, stöhnte er und rollte mit den Augen. »Ist das normal für eine Sechsjährige?«
Elsa sah, wie Pauline sich vor Ada ins Gras kniete, deren zerkratzte Schienbeine untersuchte und gleichzeitig versuchte, die Kleine zu beruhigen. Im nächsten Moment geriet Adas Zwillingsbruder Max in ihr Blickfeld. Offenbar hatte er sich über den Schokoladenkuchen hergemacht. Jedenfalls ließ sein braun verschmiertes Gesicht keinen anderen Schluss zu.
»Mama, was hat Ada?«, hörte sie ihn fragen. Mit besorgter Miene sah er sich die blutenden Schienbeine seiner fünf Minuten älteren Schwester an und legte dabei seine schokoverschmierten Händchen auf die Ärmel des schneeweißen Kleides seiner Mutter.
»Oh, Max!« Pauline drehte den Kopf, um sich ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe auf ihrem Kleid zu machen.
Sebastian schüttelte lachend den Kopf. »Leicht überfordert, die Gute. Tja, da hilft ihr das Eins-Nuller-Abi auch nicht weiter, was?«
»Es sind auch deine Kinder, oder?«, sagte Elsa kühl.
»Wir haben eine klare Arbeitsteilung«, erwiderte er grinsend und trank.
Sie drückte Ferdinand ihr Champagnerglas in die Hand, eilte zu ihrer Enkeltochter und den Kindern und nahm sich des kleinen Max’ an.
»Wir zwei gehen jetzt ins Badezimmer«, sagte sie bestimmt.
Ihr Urenkel streckte seine Hände aus und betrachtete sie schuldbewusst. »Schokokuchen«, meinte er dann mit wichtiger Miene. »Is immer ne Sauerei.«
»Das kannst du laut sagen.« Sie deutete auf Paulines Kleid.
»Ui …« Max biss sich auf die Lippe.
Sie wuschelte ihm durch seine blonden Locken. »Ab ins Bad mit uns. Und dich nehme ich auch gleich mit, Adalein. Du brauchst ein Pflaster, wenn ich das richtig sehe. Ich glaube, ich habe sogar noch eins mit Piraten.«
Pauline fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und atmete auf. »Danke, Oma.«
Elsa nahm die beiden Kinder an die Hand und marschierte mit ihnen ins Haus.
»Arme Mami«, sagte Ada vorwurfsvoll zu ihrem Bruder. »Du hast ihr schönstes Kleid versaut.«
»Und das ist bei Weitem nicht ihr größtes Problem«, murmelte Elsa. Sie hätte Sebastian verhindern müssen. Damals, als es noch möglich gewesen wäre. Seit einiger Zeit machte sie sich Sorgen um ihre Enkelin. Pauline hatte sich verändert. Sie war immer eine Frohnatur gewesen. Klug, quirlig und voller Energie. Doch in den letzten Jahren war sie still geworden. Fast schon in sich gekehrt. Vielleicht, weil die Zwillinge ihr jeden Tag alles abverlangten. Doch so recht mochte Elsa nicht glauben, dass es nur das war. Es steckte mehr dahinter, und im Grunde musste man keine Hellseherin sein, um zu ahnen, was. Sie würde ein kleines Vermögen darauf wetten, dass es irgendetwas mit dem Deppen zu tun hatte, den sie sich da vor gut sieben Jahren angelacht hatte.
Fast geschafft, dachte Elsa, als sie die breiten Steinstufen hinabschritt, die von der herrschaftlichen Terrasse in den Garten führten. Auf halber Höhe hielt sie inne und blickte auf die von Buchsbäumen gesäumte Rasenfläche. Ihre Haushälterin Margit und Hanne hatten noch immer alle Hände voll zu tun. Mit geübten Griffen räumten sie die benutzten Teller in Plastikkisten. Pauline sammelte Gläser von den Tischen, und Therese kümmerte sich um die Vasen mit den kleinen Frühlingssträußen. Gerade hatten sich endlich auch die ungeliebten Nachbarn verabschiedet. Mike und Britta Grindler fanden nie ein Ende, auch heute hatte sie sie förmlich hinauskomplimentieren müssen.
»Schön, dass Sie uns beehrt haben«, hatte Elsa zu Britta gesagt. »Hatten Sie Jacken dabei?«
Sie waren ohne gekommen, aber den Wink mit dem Zaunpfahl hatten sie zum Glück trotzdem verstanden und sich endlich verabschiedet. Weit hatten sie es nicht. Vor etwa zwei Jahren hatten sie das Ufergrundstück neben dem der Greiffenbergs erworben und einen modernen, unsäglich geschmacklosen Klotz samt Pool und Jacuzzi daraufgesetzt. Er diente den Grindlers als Zweitwohnsitz, und nun kamen sie beinahe jedes Wochenende aus München hierher, angeblich um Natur und Ruhe zu genießen. Dabei schienen ihnen weder Natur noch Ruhe besonders am Herzen zu liegen. Wie sonst war es zu erklären, dass sie nach und nach alles anschafften, was einen Höllenlärm verursachte und die Bergluft verpestete? Einen Kärcher, einen Land Rover Defender, mehrere Laubbläser, zwei Quads und Bose-Boxen, groß wie Schulkinder, und das war noch längst nicht alles. Anstrengende Leute. Aber eben die nächsten Nachbarn. Da kam man nicht umhin, sie dann und wann einzuladen.
Alles in allem war es ein schönes Fest gewesen. Elsa nahm gemächlich die letzten Stufen und blickte Richtung Westen. Die Sonne hatte den ganzen Nachmittag geschienen und machte sich nun langsam bereit, als roter Feuerball im Chiemsee zu versinken. Es war fast halb acht. Hanne und Margit begannen, die schweren Kisten mit dem Geschirr ins Haus zu schleppen.
»Margit, achten Sie darauf, dass nichts zu Bruch geht«, hörte Elsa Therese sagen. »Und dass nichts von dem Silber in die Spülmaschine gerät.«
»Natürlich, Frau von Greiffenberg«, erwiderte Margit höflich und verdrehte hinter dem Rücken ihrer Chefin die Augen.
Elsa schmunzelte. Kurz überlegte sie, Pauline mit den Gläsern zu helfen, verwarf die Idee jedoch wieder. Sie war das Geburtstagskind und weiß Gott nicht mehr die Jüngste. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Achtzig Jahre. Jetzt war sie also offiziell eine Greisin. Da konnte Pauline noch so oft sagen, dass achtzig nur eine Zahl sei und sie mindestens zwanzig Jahre jünger wirke. Ihr wurde etwas wehmütig zumute. Wer wusste schon, wie viele Geburtstagsfeste ihr noch vergönnt waren. Ja, sie war fit und gesund, doch sie hatte auch erlebt, wie schnell sich das ändern konnte. Ihre Freundin Katharina hatte sich bester Gesundheit erfreut, als sie buchstäblich der Schlag getroffen hatte. Der Schlaganfall hatte alles verändert, von jetzt auf gleich. An einem Tag war sie noch den Rauschberg hinaufgewandert, am nächsten war sie halbseitig gelähmt, bettlägerig und nicht mehr in der Lage, sich zu artikulieren. Nun werd mal nicht sentimental auf deine alten Tage, schalt Elsa sich selbst. Die Vögel zwitscherten, die Kinder spielten, die Frauen räumten auf. Ludwig, Ferdinand und Sebastian tranken noch ein letztes Helles auf das gelungene Fest, und sie selbst ließ den Tag in Gedanken Revue passieren. Alles war in bester Ordnung, die Familie Greiffenberg ein eingespieltes Team. Wenn sie jetzt gehen müsste, könnte sie es mit einem guten Gefühl tun, und das war mehr, als man erwarten durfte. Sie beschloss, dankbar zu sein für ein erfülltes, langes Leben. Für ihre Familie. Für die Firma. Es hätte alles schlimmer kommen können. Weiß Gott.
Sie betrat den perfekt geschnittenen Rasen und sah, dass Ferdinand den letzten Schluck aus seinem Bierglas trank. Mit einer zackigen Bewegung stellte er es auf einem der weiß behussten Stehtische ab. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und klatschte laut in die Hände.
»Alles fertig machen zum AN-SCHWIM-MEN!«, brüllte er quer durch den Garten und marschierte mit federndem Gang zum Haus.
Elsa nickte Pauline aufmunternd zu. »Auf geht’s. Schwimmen!«
Therese überließ das Personal sich selbst und joggte die Steintreppe zum Haus hoch. »Los, los, Kinder. Umziehen!«, rief sie Ada und Max zu.
Die beiden hatten es sich auf zwei Kinderliegestühlen bequem gemacht, von denen sie nun aufsprangen. Aufgeregt rannten sie zu ihrer Mutter. »Dürfen wir diesmal auch rein? Biiitte, Mama!« Max zupfte an Paulines schokoladenverschmiertem Kleid.
Pauline strich den Zwillingen über die lockigen Köpfe. »Nur mit den Füßen. Hatten wir doch schon besprochen.«
Zwei lange Gesichter blickten zu ihr auf.
»Och, manno!«, maulte Max.
»Das ist voll gemein!«, meckerte Ada.
»Vielleicht nächstes Jahr. Wenn ihr richtig gut schwimmen könnt.«
»Wir sind die Ersten«, stellte Pauline fest, legte die Handtuchponchos der Zwillinge auf einen der Deckchairs am Ufer und half den Kindern, die Schwimmflügel überzustreifen. Es war seit jeher Familientradition, dass an Oma Elsas Geburtstag angeschwommen wurde. Egal, ob es regnete, stürmte oder schneite: Am fünfzehnten April, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, schlüpften alle in ihre Badesachen und trafen sich am hauseigenen Privatstrand. Die Golden Hour machte ihrem Namen heute alle Ehre. Die untergehende Sonne hatte die Wasseroberfläche gelb-orange eingefärbt. Pauline fragte sich, wo ihre kleine Schwester blieb. Antonia mochte das Licht kurz vor und nach Sonnenuntergang, denn da ließen sich die schönsten Fotos schießen. Sie blickte zu den fünf Bangkirai-Stufen, die vom Garten aus zum Seeufer hinunterführten. Ah, da kam sie ja, bekleidet mit einem schwarzen Morgenmantel aus Seide. Darunter trug sie vermutlich einen ihrer knappen Bikinis, die sie in allen möglichen Farben und Ausführungen besaß. Tatsächlich hatte sie ihre Kamera dabei. Als sie die Zwillinge sah, ging sie in die Hocke, nahm sie ins Visier und drückte, ohne dass sie etwas davon mitbekamen, einige Male auf den Auslöser.
Wenig später tauchte Ferdinand auf und winkte ihnen lachend zu, während er über das Gras zum Wasser joggte. Er war groß, sportlich und mit einer beneidenswert üppigen blonden Lockenmähne ausgestattet, die er meist zu einem Zopf trug, was ihn wie einen Profisurfer aussehen ließ. Und tatsächlich war er ein guter Surfer, auch wenn seine Leidenschaft dem Skifahren galt. Er hatte es vor einigen Jahren sogar bis in die deutsche Skinationalmannschaft geschafft und die eine oder andere Trophäe eingeheimst. Vor zwei Jahren hatte er den Leistungssport an den Nagel gehängt und war Stuntman geworden. Jetzt doubelte er von Berufs wegen Schauspieler beim Skifahren, Klettern und manchmal auch beim Surfen, und was man so hörte, machte er das ziemlich gut. Heute trug er rote Badeshorts und hatte sich ein winziges weißes Handtuch über die Schulter geworfen. Kurz wähnte sich Pauline in einer Baywatch-Folge. »Wo hast du Pamela Anderson gelassen?«, rief sie ihrem Bruder zu und fragte sich, wieso zum Teufel sein durchtrainierter Oberkörper um diese Jahreszeit schon brauner war als der von David Hasselhoff zu seinen besten Zeiten. »Warst du heimlich auf den Bahamas?«, fragte sie.
»Bräunungsdusche«, erwiderte Ferdinand. »Für Dreharbeiten«, fügte er schnell hinzu, als er die ungläubigen Gesichter seiner Schwestern sah.
»Na klar«, murmelte Antonia und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
In diesem Moment kamen auch ihre Eltern an den Strand. Hand in Hand schritten sie die Stufen hinab und ließen weniger an Baywatch als an Wellnessurlaub denken. Beide waren in dicke, weiße Frottee-Bademäntel gehüllt, wie man sie in den Spa-Bereichen der Luxushotels dieser Welt trug. Gemeinsam schlenderten sie zum Wasser hinunter, und ihr Vater hielt testweise seinen großen Zeh hinein. Schnell zog er ihn wieder zurück. »Saukoid!«, rief er.
Alle nickten. Niemand hatte etwas anderes erwartet. Anschwimmen war immer saukalt.
Ada und Max waren nun endlich mit ihren sperrigen Schwimmflügeln ausgestattet, was sie nicht davon abhielt, juchzend Richtung See zu stürmen.
»Nur mit den Füßen!«, rief sie ihnen hinterher und begab sich in Habachtstellung – wie immer, wenn die Kinder am Wasser waren. Es wurde höchste Zeit, dass sie endlich vernünftig schwimmen lernten.
Dann kam Sebastian. Er trug seine dunkelblaue Armani-Badehose unter einem lilafarbenen Frotteehandtuch, das er sich lässig um die Hüften geschlungen hatte. Sie wusste es, weil sie sie ihm heute Morgen eingepackt hatte. Sein Oberkörper war nicht mit einer Bräunungsdusche in Kontakt gekommen, konnte aber ansonsten mit dem von Ferdinand durchaus mithalten. Ihr Mann legte viel Wert auf sein Äußeres, trainierte regelmäßig und stellte sein Sixpack, wann immer sich eine Gelegenheit bot, zur Schau. Mit einem schnellen Griff löste er das Handtuch, rief »Hepp« und warf es ihr zu. Sie fing es mit links, faltete es und legte es fein säuberlich zu den Ponchos der Kinder. Ferdinand wirbelte sein weißes Tuch nun ausgelassen in der Luft herum wie ein Saunaboy nach einem Aufguss. Dann warf er es ebenfalls in ihre Richtung. »Danke, Schwesterherz«, rief er grinsend, als sie es aus der Luft fischte.
»Ihr seid schlimmer als meine Kinder«, stöhnte sie entnervt.
Sebastian blickte sich um. »Sind jetzt alle da?« Wie immer konnte er es wohl kaum erwarten, sich in die eiskalten Fluten zu stürzen.
»Nein. Die Hauptperson fehlt noch«, stellte ihr Vater fest.
»Natürlich. Sie braucht ja ihren großen Auftritt«, erwiderte Sebastian. »Wann sagt ihr mal einer, dass sie nicht die Queen ist?« Er lachte. Zum Schein. Pauline wusste, dass er es nicht witzig meinte.
Und dann tauchte sie auf, die Queen. In bunt geblümtem Badeanzug und passendem Pareo schwebte Oma Elsa die Bangkirai-Stufen hinab, ohne sie alle auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen sah sie zum Horizont, wo in diesem Moment die Sonne als großer, roter Feuerball das Wasser zu berühren schien. Sie warf ihren Pareo auf die Liege, sagte: »Na, los! Worauf warten wir?«, und marschierte hocherhobenen Hauptes und ohne mit der Wimper zu zucken in den See.
»Recht hat sie. Worauf warten wir?«, rief Ferdinand und rannte auf den kleinen Holzsteg. Er nahm Anlauf und sprang mit lautem »Yippie-ya-yeah« und elegantem Kopfsprung in den Chiemsee.
Nun war kein Halten mehr. Alle anderen hüpften johlend vom Steg oder rannten laut kreischend vom Strand aus ins Wasser. Alle, außer ihr. Sie blieb am Ufer stehen, die Füße im Gras vergraben, und schaute den anderen beim Schwimmen zu.
»Komm, Schwesterherz, gib dir einen Ruck«, rief Ferdinand ihr vom Wasser aus zu.
Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Längst vorbei waren die Zeiten, als sie sich mit Oma Elsa als Erste ausgelassen ins kühle Nass gestürzt hatte. Als man sie hatte bremsen müssen, weil sie so übermütig war. »Ich schaue nach den Kindern«, rief sie.
»Das kannst du auch von hier aus.«
Sie winkte ab. »Ich hab lieber festen Boden unter den Füßen.«
»Deshalb hat sie mich geheiratet«, brüllte Sebastian, lachte und tauchte ab. Er blieb lange unter Wasser. Dann, kurz bevor sie anfing, sich Sorgen zu machen, schoss er plötzlich hoch wie ein Geysir, direkt vor Oma Elsas Nase. Er prustete, spritzte und strich sich mit beiden Händen das nassglänzende schwarze Haar zurück.
»Du meine Güte«, rief ihre Großmutter spitz und wich zurück. »Was für ein Getöse!«
»Sorry, Elsa.« Er lachte zu laut. »Ich hätte dich fast übersehen.«
Pauline seufzte. Warum nur war Sebastian immer zur falschen Zeit am falschen Ort und sagte genau das Falsche?
Pauline saß auf dem Beifahrersitz des nagelneuen BMW X7 und drehte sich zu den Kindern um. Ada war bereits eingeschlafen. Sie hielt ihren Kuschelhasen Rübe im Arm und schnarchte leise vor sich hin. Wenn sie gleich zu Hause wären, würde sie Sebastian bitten, die Kleine vorsichtig in ihr Bett zu tragen, damit sie sie nicht wecken mussten. Wohlweislich hatte Pauline dafür gesorgt, dass die Zwillinge sich schon vor der Abfahrt aus Prien die Zähne geputzt hatten.
»Wann sind wir endlich da, Mama?« Max gähnte laut und genüsslich.
Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr im Display des Wagens. »In zehn Minuten ungefähr«, beantwortete sie seine Frage und blickte dann ein wenig besorgt auf den Tacho, der, obwohl sie sich innerorts befanden, beinahe achtzig Stundenkilometer anzeigte. »Na ja, bei dem Tempo vielleicht auch in sieben.«
»Willst du fahren?«, raunzte Sebastian und trat noch fester aufs Gaspedal.
»Ja. Aber du lässt mich ja nicht …«
»Richtig. Weil ich irgendwann auch mal zu Hause ankommen will.«
»Fahr langsamer. Du hast was getrunken, und wenn wir angehalten werden …«
»Du meine Güte, entspann dich mal! Die paar Gläschen über den Tag verteilt«, entgegnete er genervt.
»Wir haben wertvolle Fracht an Bord«, beharrte sie und deutete nach hinten. Sie verstand seine Unvernunft nicht. Sie hatten es nicht eilig, und es war völlig überflüssig, ein Risiko einzugehen.
»Keine Sorge. Ich hab’s im Griff.«
»Na, dann …«
Sie schwiegen eine Weile. Sebastian gab noch mehr Gas. Hätte sie doch nur nichts gesagt. Krampfhaft hielt sie sich am Sitz fest, als er rasant eine Kurve nahm. »Wir haben keinen Zeitdruck, Sebastian.«
»Ich schon.«
»Wenn sie uns anhalten, dann …«
»Dann ist das scheißegal. Ich bin der Bürgermeister! Schon vergessen?«
»Nein«, sagte sie leise. Wie sollte sie? Sebastian erinnerte sie regelmäßig daran, dass er der jüngste Bürgermeister war, den Chieming je gehabt hatte, und dass er darüber hinaus schon seit seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr die Geschicke der familieneigenen Papierfabrik Dandlhofer Papier GmbH im nahen Rosenheim leitete.
»Erst recht ein Grund, vernünftig zu fahren«, murmelte Pauline, obwohl sie wusste, dass es besser gewesen wäre, den Mund zu halten. In dieser halb angetrunkenen Stimmung war Sebastian oft noch unberechenbarer als sonst und meistens auf Streit aus.
»Wie bitte?« Er warf ihr einen verärgerten Seitenblick zu.
»Ach, nichts«, sagte sie schnell.
»Du bist genauso verspannt wie deine Mutter«, schimpfte er.
Oh, nein. Bitte nicht, dachte Pauline. Nicht wieder eine seiner endlosen Schimpftiraden über ihre Familie. Wenn sie etwas nicht leiden konnte, dann das.
»Wie sie wieder die ganze Zeit das Personal herumkommandiert hat und sich ach so wichtig fühlte. Du meine Güte. Kommt sich vor wie Claudia Schiffer. Einer sollte ihr mal sagen, dass sie es nicht ist. Und im Übrigen nie war.«
»Hör auf, Sebastian«, bat sie schwach.
»Wer ist Claudia Schiffer?«, fragte Max von hinten.
»Eine schöne Frau«, erwiderte Sebastian.
»So schön wie Mami?«
Er lachte kurz auf und bedachte sie mit einem abfälligen Seitenblick. »Na ja, ob deine Mutter da mithalten kann …«
Sie schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben, obwohl sie sich gerade von ihm so gedemütigt fühlte wie lange nicht mehr.
»Ich finde, Mami ist die Schönste«, beharrte Max.
Sie drehte sich um und warf ihm ein dankbares Lächeln zu.
»Magst du Mami nicht mehr, Papa?«
»Pfff …«
»Papa macht nur einen Witz.«
»Genau das war diese Veranstaltung heute. Ein Witz. Die von Greiffenbergs feiern sich selbst. Gott, eure Familie ist einfach nur peinlich. Allen voran dein Bruder. Der hat heute wieder alles gegeben.«
»Was war mit ihm?«
»Was war mit ihm?«, äffte er sie nach. »Na, was schon. Hat wieder alle mit irgendwelchen Storys vom Film gelangweilt. Und mit seinen Frauengeschichten. Hat der eigentlich noch irgendwas anderes im Kopf als Partys und vögeln?«
»Sebastian, bitte … die Kinder!« Sie sah ihn flehentlich an, doch er hatte sich bereits in Rage geredet. Sie konnte nur hoffen, dass Max das Gespräch vor lauter Müdigkeit bis morgen wieder vergessen hätte.
»Und dann deine Oma, diese Schnepfe!«
Sie atmete tief ein und aus. »Sie ist keine Schnepfe«, presste sie hervor.
Sebastian lachte laut auf. »Doch, ist sie. Wie sie rumstolziert ist in ihrem rosa Chanel-Kostümchen und sich vorkam wie die Queen höchstpersönlich. Fehlte nur noch der Hut.«
»Hör auf, Sebastian.«
»Immer von oben herab. Elsa, das Maß aller Dinge. Wie mich das ankotzt. Wie mich deine ganze eingebildete Familie ankotzt. ›Hallo! Hallo-ho! Alle mal herhören. Wir sind’s, die von Greiffenbergs. Der Hochadel von Prien.‹ Ätzend ist das. Einfach nur ätzend.«
Jetzt hielt sie es nicht länger aus. »Aber das Essen und der Champagner haben dir geschmeckt, ja?«
»Was soll das heißen?«
»Was denkst du denn?«
»Willst du damit etwa sagen, dass ich ein Schmarotzer bin?«
»Nicht streiten«, piepste Ada von hinten. Pauline seufzte. Jetzt war die Kleine doch wachgeworden. Im Rückspiegel sah sie, wie Max nach der Hand seiner Schwester fasste.
»Natürlich nicht«, entgegnete Pauline leise.
»Denkst du wirklich, dass ich das nötig habe? Euren Scheißchampagner zu trinken? Dass ich nicht lache. Ich kann ihn mir selbst leisten. Weiß Gott.«
Mit quietschenden Reifen bog er ab, fuhr in die Einfahrt ihres luxuriösen Einfamilienhauses in Chieming und trat unmittelbar vor der Garage voll auf die Bremse.
Sie atmete auf. Sie waren zu Hause. Endlich konnte sie raus aus diesem nach neuem Leder riechenden Gefährt, das zum Bersten gefüllt war mit explosiver Stimmung. Sie würde jetzt in aller Ruhe die Kinder zu Bett bringen und hoffen, dass Sebastian schon schlief, wenn sie damit fertig war. Ansonsten galt es, Schlimmeres zu verhindern. Deeskalation war das Gebot der Stunde. Sie kannte ihn lange genug. Er hatte sich nicht im Griff. Wie so oft, wenn Alkohol im Spiel war.
Pauline stellte vier Teller vor Max auf den Tisch und reichte Ada eine Handvoll Besteck. »Gibt gleich Essen«, sagte sie. »Hier, helft mal schnell den Tisch decken.«
»Immer wir«, maulte Max.
»Ihr seid wirklich arme Kinder«, sagte sie lachend und registrierte, dass das Mobilteil des Festnetztelefons auf der Arbeitsplatte lag. Sie warf einen prüfenden Blick darauf. Der Akku war leer, vermutlich schon seit Tagen. Sie stellte es in die Station im Regal und nahm vier Wassergläser aus dem Schrank.
»Essen schon fertig?« Sebastian kam auf Socken in die Küche geschlendert und schaute in den dampfenden Kochtopf. Er hatte heute früher Feierabend gemacht – anlässlich ihres Hochzeitstags, den sie gedachten, ein wenig zu feiern. Nachher, wenn die Kinder im Bett waren, mit einer schönen Flasche Rotwein auf der Terrasse.
»Hmmmm, Risotto.« Sebastian nahm ihr die Gläser aus der Hand und verteilte sie auf dem Tisch. Dann umarmte er sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Mein Lieblingsessen. Womit habe ich das denn verdient?« Er zwickte sie in die Seite.
»He, lass das!« Pauline machte sich lachend von ihm los.
Ada und Max blickten sie an. »Ihr seid verliebt«, stellte Ada grinsend fest.
»Klar sind wir verliebt. Wie am ersten Tag. Oder, Schatz?«
»Klar«, sagte Pauline.
»Heute sind eure Mutter und ich genau sechs Jahre verheiratet. Könnt ihr euch das vorstellen, Kinder?«
»Mhmmm …« Max und Ada beeindruckte die Zahl offenbar nicht sonderlich.
Pauline selbst dafür umso mehr. Sechs Jahre Ehe mit Sebastian. Das war eine lange Zeit. Und wahrlich keine leichte. Nun lag also das verflixte siebte Jahr vor ihnen. Heute würde es beginnen, und irgendwie mussten sie es überstehen.
»Ich liebe dich, Pauline von Greiffenberg«, sagte er in diesem Moment überschwänglich und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund. Er konnte hinreißend sein, wenn er wollte. Sie küsste ihn zurück, und er raunte leise: »Heute Nacht mehr.« Dann ließ er sie los und half den Kindern beim Tischdecken.
Elsas achtzigster Geburtstag lag zwei Wochen zurück, und inzwischen hatten sie sich wieder versöhnt. Doch an dem Abend war es wie so oft gewesen. Sebastian hatte sich, nachdem die Kinder eingeschlafen waren, weiter in Rage geredet. War immer wütender geworden, auf sie und die ganze Welt. Wie ein Berserker war er im Wohnzimmer auf und ab getigert, während Pauline alles getan hatte, um ihn zu beschwichtigen. Irgendwann hatte sie aufgegeben und war einfach ins Bett gegangen. Wenig später war Sebastian ihr gefolgt und hatte mit ihr geschlafen. Sie hatte es einfach geschehen lassen. Danach war seine Wut verraucht und der Streit vergessen. Vorerst jedenfalls.
Sie aßen das Risotto, das ihr wirklich gut gelungen war. Dann brachten sie gemeinsam die Kinder ins Bett.
Sebastian ging in den Keller und kam mit einer Flasche Brunello di Montalcino zurück.
Sie wischte noch schnell über die Arbeitsplatte und den Herd. Dann öffnete sie ihr Haar, das sie zu einem Zopf gebunden hatte, und ging hinaus auf die Terrasse, wo Sebastian gerade den Wein dekantierte. Schnell nahm sie den Besen, der an der Wand lehnte, und fegte einige Blätter und Zweige zusammen. Heute Nachmittag hatte es heftig gewittert und gestürmt, doch jetzt ließ sich die untergehende Sonne wieder blicken.
»Komm, lass gut sein«, sagte Sebastian.
Sie nickte, schob den Kehricht in eine Ecke und nahm sich vor, ihn morgen in der Biotonne zu entsorgen. Sie registrierte, dass Sebastian ein kleines Geschenk vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Es sah teuer aus. Nach Juwelier, dachte sie und war froh, dass sie auch daran gedacht hatte, etwas zu besorgen. Schnell spurtete sie die Treppe hinauf, ging ins Schlafzimmer und öffnete die Schublade ihres Nachtschränkchens. Sie nahm das hübsch eingewickelte Päckchen heraus und legte es auf das ordentlich gemachte Bett. Es enthielt eine Seidensticker-Krawatte. Sebastian trug sie für sein Leben gern.
Beim Blick in den Spiegel beschloss sie spontan, das dunkelblaue T-Shirt gegen die neue, bestickte Carmenbluse einzutauschen, und wo sie schon dabei war, zog sie gleich noch die Unterwäsche an, die Sebastian ihr kürzlich geschenkt hatte. Der Abend kann kommen, dachte sie zufrieden, als sie, fertig umgezogen, einen erneuten Blick in den Spiegel warf und noch schnell einen Hauch Parfüm aufsprühte. In diesem Moment klingelte unten das Telefon. Festnetz. Sie runzelte die Stirn. Wer rief heutzutage noch auf dem Festnetz an? Eigentlich nur Umfrageinstitute und die Nachbarin von gegenüber. Kurz erwog sie, einfach nicht dranzugehen, doch dann fiel ihr ein, dass Max ihr Handy heute Nachmittag in einem Wasserglas versenkt hatte und sie seitdem mobil nicht erreichbar war. Sie hatte das iPhone in eine Schüssel mit Reis gelegt, in der Hoffnung, dass es schnell trocknete. Sie lief die Treppe hinunter und hob ab.
»Oma!«, sagte sie. »Alles okay bei dir?« Elsas Stimme hatte belegt geklungen, als sie sich gemeldet hatte.
»Kommst du, Schatz?«, hörte sie Sebastian von draußen rufen.
»Eine Minute!«, rief sie zurück. Dann wandte sie sich wieder dem Telefonhörer zu. »Du, Omi, gibt’s was Wichtiges? Ich muss mich ein bisschen beeilen. Wir haben heute Hochzeitstag, Sebastian und ich, und wir wollten gerade …«
»Ja, Pauline. Es ist wichtig«, unterbrach Elsa sie mit ernster Stimme.
»Oh, okay. Was … gibt’s denn?«, fragte sie alarmiert.
»Dein Vater …«
Sie schluckte. »Was … was ist mit Papa?«
»Kind, er … ist verschwunden.«
»Ver … äh … WAS? Wie meinst du das, verschwunden? Wo … wo ist er denn hin?«
»Er ist heute Mittag aufgebrochen, mit der Plätte, zum Segeln. Er wollte rüber zur Fraueninsel, hat er gesagt. Und dann noch weiter.«
»Bei dem Sturm?«
»Er hat versprochen, vor dem Gewitter zurück zu sein, aber es ging früher los als angekündigt. Vermutlich ist er mitten hineingeraten.«
»Mein Gott!« Sie zog einen der Küchenstühle zu sich heran und setzte sich. Ihre Knie waren plötzlich weich wie Pudding. »Bist … du sicher? Bestimmt ist er woanders an Land gegangen. Oder auf der Fraueninsel geblieben, bevor es losging. Habt ihr es auf seinem Handy versucht?«
»Natürlich. Mehrfach.«
»Und?«
»Mailbox.«
»Aber … aber das muss nichts heißen, Oma«, entgegnete Pauline. »Vielleicht hat er kein Netz. Weil der Blitz irgendwo eingeschlagen hat oder … Ach, es kann doch tausend Gründe geben. Bestimmt ist alles in Ordnung, und er taucht gleich wieder auf.«
Elsa schwieg am anderen Ende der Leitung.
»Oma?«
»Es ist so …«, sagte ihre Großmutter mit rauer Stimme. »Es ist so, dass Segler die Therese gefunden haben.«
»Die The…«
»Sein Boot. Nicht deine Mutter.«
»Schon klar.«
»Es schaukelt irgendwo mitten auf dem See herum. Unbemannt.«
»Mein Gott …« Sie schluckte. »Ist es denn sicher? Also, dass es die Therese ist?«
»Nun ja, es steht Therese drauf. Also … ja.«
Sie schwieg. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was das bedeutete. »Ist die Wasserwacht informiert? Ich meine … suchen sie ihn?«
»Ja. Natürlich. Und nicht nur die. Halb Prien ist auf den Beinen, um ihn zu finden. An Land. Auf dem Wasser. Ein Hubschrauber kreist über dem See. Und ein Taucherteam ist auch im Einsatz.«
»Mein Gott, Oma. Das … das ist ja … schrecklich. Warum habt ihr mich nicht eher angerufen?«
»Haben wir doch, aber du bist nicht ans Telefon gegangen.«
»Pauline! Wo bleibst du denn?«, hörte sie Sebastian ungeduldig rufen.
»Du musst sofort herkommen«, sagte Oma Elsa jetzt. »Deine Mutter ist ein einziges Nervenbündel. Und Antonia … sie ist völlig von der Rolle.«
»Gott! Und Ferdinand?«
»Weiß auch schon Bescheid. Er ist auf dem Weg.«
»Oma … ich …« Sie schluckte. Plötzlich packte sie schreckliche Angst. Ihr war eiskalt. »Meinst du, ihm ist etwas zugestoßen?«, fragte sie leise.
Pauline hörte ein Schniefen am anderen Ende der Leitung. »Der Sturm war heftig, und …« Oma Elsa stockte. »Ich hoffe nicht, mein Kind.«
Sie legte auf und lehnte sich an die Wand. Benommen schloss sie die Augen. Sie konnte nicht glauben, dass das wirklich passiert war. Dass ihrem geliebten Vater etwas zugestoßen sein könnte. Er war doch ein geübter Segler. Klar, das schlechte Wetter. Aber er hatte schon viele Stürme gemeistert. Wie konnte er einfach von seinem Boot verschwinden?
Mit zittriger Hand stellte sie das Telefon zurück in die Station, zog eine Küchenschublade auf und nahm ein Papiertaschentuch heraus. Umständlich schnäuzte sie sich und trocknete die Tränen, die sie bisher zurückgehalten hatte und die sich nun ihren Weg bahnten.
»Pauline!«, rief Sebastian von draußen.
Sie ging auf die Terrasse.
»Na, endlich.« Er klang ungehalten.
»Das war meine Oma«, presste sie hervor.
»Ach, hätte ich mir denken können. Bei mir hat sie es auch schon hundert Mal versucht. Aber ich hatte echt keinen Nerv, ranzugehen. Wenn …«
»Sebastian, es ist was passiert«, unterbrach Pauline ihn, setzte sich neben ihn an den Tisch und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Sebastian seufzte. »Was ist denn jetzt wieder?«
Sie blickte auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Er schenkte sich mit ungerührter Miene ein Glas Rotwein ein. Es war nicht das Erste. Die Karaffe war schon halb leer. »Mein Vater. Er ist … verschwunden.«
Nun goss er auch ihr ein. »Wie, verschwunden? Hier, trink erstmal.« Er reichte ihr das Glas.
Sie nippte kurz daran. »Er ist heute …« Ihre Stimme brach. »Er ist heute Mittag zum Segeln aufgebrochen … und einfach … einfach nicht mehr wiedergekommen.«
»Okay …« Sebastian nahm ihr das Glas aus der Hand, stellte es zurück auf den Tisch und strich nachdenklich über ihre Hand.
»Er ist wohl in den Sturm geraten, weil der früher losgegangen ist als erwartet, und dann …«
»Es muss nicht gleich das Schlimmste passiert sein. Vielleicht hat er sich nur verfahren. Oder er hat irgendwo an Land einen Kumpel getroffen und sich festgesoffen.« Er lachte. »Das wäre typisch für deinen Vater.«
»Nein«, sagte sie leise. »Sein Boot. Es wurde gefunden. Irgendwo mitten auf dem See. Und er war nicht mehr drauf!«
»Ups. Ernsthaft?«
»Ja. Er ist weg. Einfach so.« Pauline begann zu schluchzen und hielt sich das benutzte Taschentuch vor Mund und Nase. Es war schon klitschnass. »Sie suchen ihn, mit Tauchern und Hubschraubern und …«
»Jetzt beruhige dich erstmal. Es gibt sicher eine Erklärung dafür.«
»Meinst du?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
»Ganz bestimmt.«
»Hoffentlich.« Sie erhob sich. »Ich muss los, Sebastian. Kannst du dich morgen um die Kinder kümmern? Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde. In Prien sind natürlich alle völlig außer sich. Ist ja klar. Ferdinand ist auch schon auf dem Weg.«
Sebastian blickte sie an. Sein Gesicht hatte einen finsteren Zug angenommen. »Wie bitte? Du lässt mich jetzt hier sitzen?«
»Sebastian, ich kann doch in so einem Moment nicht …«
»Nicht dein Ernst, oder?«
»Natürlich ist es mein Ernst.« Ihr Blick fiel auf sein Geschenk. »Tut mir echt leid.«
»Du kannst da jetzt doch sowieso nichts ausrichten.«
»Ich will einfach bei ihnen sein, Sebastian. Es ist meine Familie.«
»Deine Familie also, ja? Und was bin ich dann für dich?«
»Sebastian, mein Vater ist verschwunden. Vielleicht ist ihm sogar …« Sie stockte. »… etwas zugestoßen.«
»Weißt du, Pauline, ich hab mich sehr gefreut auf diesen Abend heute und extra früher Schluss gemacht in der Firma. Und dir sogar …« Er nahm das Päckchen vom Tisch. »… ein Scheißgeschenk gekauft.« Er wurde immer lauter. »Es ist ziemlich undankbar, dass du jetzt einfach abhauen willst, findest du nicht?«
Sie sog die Luft ein. Hatte er das wirklich gesagt? »Sebastian, mein Vater ist vielleicht tot. Kapierst du das nicht?« Sie schrie jetzt fast, und ihre Stimme überschlug sich dabei.
»Du bist hysterisch. Wie immer, Pauline. Und du übertreibst. Komm mal wieder runter. Er ist einfach nur noch nicht nach Hause gekommen. Das heißt noch lange nicht, dass er tot ist. Und selbst wenn – dann kannst du daran jetzt auch nichts mehr ändern.«
Sie starrte ihn fassungslos an und schüttelte den Kopf. »Du hast wirklich komplett den Verstand verloren, Sebastian«, sagte sie leise und ging hinein. Sie lief hoch ins Schlafzimmer, nahm ihren kleinen, schwarzen Trolley aus dem Schrank und legte Unterwäsche und einen Stapel T-Shirts hinein. Sie wusste ja nicht, wie lange sie bleiben würde. Auch wenn sie inständig hoffte, dass ihr Vater noch heute Abend wieder auftauchte, quicklebendig, bei bester Gesundheit und mit einer Erklärung im Gepäck, die im Nachhinein völlig plausibel erschien.
»Pack das wieder aus!«, hörte sie Sebastian auf einmal sagen. Erschrocken wirbelte sie herum. Sie hatte ihn nicht hereinkommen hören.
»Ähm … was?«
»Hörst du schlecht? Ich sagte: PACKDASWIEDERAUS!«
»Nein, ich …«
»Oh, doch! Du packst das alles sofort wieder in den Schrank, denn du bleibst HIER!«
Sie schluckte. Es fiel ihr schwer, ruhig zu atmen, doch sie zwang sich dazu. »Schatz, es tut mir leid. Ich muss nach Prien. Wenn es wegen der Kinder ist, kein Problem. Dann nehme ich sie einfach mit.«
»Pauline, du verstehst mich nicht. Du fährst nirgendwo hin! Und die Kinder auch nicht!«
Entgeistert blickte sie ihn an. Seine Augen waren die eines Irren. Sie kannte diesen Ausdruck in seinem Gesicht. Plötzlich kroch kalte Angst in ihr hoch.
»Sebastian, bitte, ich …«
Er griff in den Trolley, bekam ein paar T-Shirts zu fassen und schleuderte sie mit voller Wucht gegen den Schrank. »Hast du das verstanden?«, brüllte er.
»Sebastian, ich …«
»Du kommst jetzt mit mir runter, und wir feiern unseren Scheißhochzeitstag!«
Sie nickte panisch. Ihr Mund war plötzlich staubtrocken. Am liebsten wäre sie hinausgerannt, einfach weg, so schnell wie möglich, doch Sebastian stand in der Tür und versperrte ihr den Weg. Verzweifelt hielt sie ihre Hände vors Gesicht, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
»Nimm die Finger da weg«, sagte er drohend. »Guck mich an, wenn ich mit dir rede.«
Sie gehorchte. Ihr ganzer Körper zitterte.
»Ich hab dich was gefragt.« Seine Stimme klang jetzt ruhig, doch sein Blick war noch irrer geworden.
»Was?«, schluchzte sie.
»Hör auf zu flennen!«, brüllte er auf einmal wieder, packte den geöffneten Trolley mit beiden Händen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Schranktür. Er hinterließ eine kleine Delle im weißen Lack. Ihre Unterwäsche lag verstreut auf dem Eichenparkett. Kurz überlegte sie, sie wieder einzusammeln, doch sie war wie gelähmt und konnte sich kaum rühren vor Angst. Sebastian fasste sie am Oberarm und drückte zu. Immer fester.
»Ich fragte, ob du das verstanden hast?«
Sie nickte. »Ja«, sagte sie leise. »Ich … ich habe es verstanden. Ich bleibe hier und feiere mit dir unseren Hochzeitstag.«
»Sehr gut.« Sein Gesicht kam ihrem ganz nah. Er roch nach Rotwein und Gauloise. Er drückte noch fester zu. Dann wirbelte er sie plötzlich am Arm herum und warf sie rücklings aufs Bett. Pauline entfuhr ein leiser Schrei.
Sie starrte in die Dunkelheit. Sie wusste nicht, wie viele Stunden schon. Das Telefon war stumm geblieben. Nichts Neues also aus Prien. Neben ihr lag Sebastian. Er atmete leise ein und aus. Ab und zu vernahm sie einen kurzen Schnarcher. Seinem regelmäßigen Atem nach zu urteilen, war er längst in die Tiefschlafphase hinübergeglitten, einfach so, als wäre nichts geschehen. Pauline weinte nicht mehr. Sie war wie betäubt. Lose Gedanken schossen wild durch ihren Kopf. Kein einziger blieb hängen. Stattdessen drehte sich alles. Heute war er endgültig zu weit gegangen. Es ließ sich nicht mehr schönreden. Sie hatte zwei Männer geheiratet. Doktor Jekyll. Attraktiv, charmant, liebenswürdig, umwerfend. Mister Hyde. Egoistisch, toxisch, aggressiv. Gewalttätig.
Sie war schockverliebt gewesen, als er damals, in ihrem ersten Studiensemester, vor der Tür ihrer Studentenwohnung gestanden hatte, um das Portemonnaie zurückzubringen, das ihr einige Stunden zuvor im Hörsaal aus der Tasche gefallen war. Sie hatte ihn hereingebeten, ein wenig mit ihm über dieses und jenes geplaudert. Und dann hatten sie, weil sie sich so sympathisch waren, spontan die Flasche Bordeaux, die sie noch dahatte, zusammen geleert. Beim Abschied hatte er ihre Wange geküsst, und sie hatte vorm Schlafengehen den lieben Gott angefleht, Sebastian möge sie am nächsten Tag wie versprochen anrufen. Gott hatte ihre Gebete erhört, und der Rest war Geschichte. Der attraktivste Student der Fakultät und sie wurden ein Paar. Sebastian trug sie auf Händen, machte ihr die schönsten Komplimente und lud sie ein, die Wochenenden mit ihm zu verbringen, in Bologna, Paris oder in seiner Wohnung im Glockenbachviertel. Wo immer sie waren, hing der Himmel voller Geigen. Sie hatten das Glück gepachtet. Es hätte immer so weitergehen können, doch so war das Leben leider nicht. Sie wurde schwanger, und der Pachtvertrag über das Glück lief aus.
Langsam begann ihr Verstand wieder zu arbeiten. Sie versuchte, in sich hineinzuhören. Zu erspüren, was sie gerade empfand. Trauer und Angst, dachte sie. Die schlimmste Mischung. Sie wandte ihren Kopf nach links und sah im blassen Licht des Mondes ihrem Ehemann eine Weile beim Schlafen zu. Das tat sie immer, wenn sie selbst nicht schlafen konnte. Meistens rührte sie sein Anblick. Trotz allem. Wie er dalag, mit seinen verstrubbelten Haaren, eingerollt wie ein Embryo, und einem Gesicht, das aussah, als könnte er kein Wässerchen trüben. Heute Nacht spürte sie nichts dergleichen. Sie fand ihn unerträglich. Abstoßend. Abscheulich.
Ihre Gedanken glitten wieder zu ihrem Vater. Wo war er? Leise setzte sie sich auf und warf einen Blick auf die Leuchtziffern des Radioweckers. Es war fünf nach zwei. Sie musste nach Prien. Jetzt. Vorsichtig schlug sie die Bettdecke zurück, stand auf und drehte den Trolley um, der noch immer wie ein Mahnmal verkehrt herum auf dem Boden lag. So geräuschlos wie möglich und ohne Licht zu machen, packte sie alles ein, was nötig war, und kleidete sich an. Dann warf sie noch einen letzten Blick auf den schlafenden Irren, den sie geheiratet hatte, und schlich samt Koffer aus dem Zimmer. Ihr Herz pochte. Hoffentlich wachte er nicht auf. Auf Zehenspitzen huschte sie ins Kinderzimmer und packte auch für die Zwillinge das Nötigste zusammen. Dann verfrachtete sie alles in ihren Mini Cooper. Sie nahm ihr Handy aus der Schale mit Reis und stellte fest, dass es sich wieder einschalten ließ. Zuletzt holte sie die Kinder. Nacheinander trug sie sie ins Auto und schnallte sie an. Ada wurde gar nicht richtig wach. Max hingegen öffnete die Augen, als sie ihn in den Wagen setzte. Halb ängstlich, halb fasziniert starrte er sie an. »Wo fahren wir hin?«, fragte er und klammerte sich an seinen Plüschhasen Möhre.
»Nach Prien«, sagte sie leise.
»Warum?«
»Erklär ich dir später. Schlaf schön weiter.«
»Kommt Papa nicht mit?«
»Nein. Heute nicht.«
Damit gab sich Max erst einmal zufrieden. Er kuschelte sich in seinen Sitz, hielt sich Möhre an die Wange und schloss die Augen. Sie würde ihren Kindern später erklären, was passiert war. Jetzt wollte sie erstmal weg. Raus aus diesem Haus. Aus diesem Chieming. Weg von diesem Mann, den zu heiraten der Fehler ihres Lebens gewesen war.
Sie raste auf der Landstraße Richtung Prien. Dieses Mal war sie es, die viel zu schnell fuhr. Sie hatte schreckliche Angst, dass Sebastian sie noch aufhalten könnte. Dass er wach geworden war und bereits die Verfolgung aufgenommen hatte. Spätestens in ein paar Stunden, um sechs, wenn der Wecker klingelte, würde er feststellen, dass sie mit den Kindern verschwunden war. Seine Reaktion mochte sie sich nicht ausmalen. Allein beim Gedanken daran trat sie noch fester aufs Gaspedal.
»Pauline!« Überrascht blickte Ferdinand erst seine Schwester an, dann die verpennten Zwillinge in ihren Schlafanzügen. Als es geklingelt hatte, hatten alle erschrocken die Luft angehalten, stumme Blicke gewechselt und wohl auch das Gleiche gehofft: dass es Ludwig war, der da zu nachtschlafender Zeit vor der Tür stand, mit irgendeiner plausiblen Erklärung im Gepäck, warum er erst jetzt nach Hause kam und sein Boot mutterseelenallein auf dem Chiemsee dümpelte. Stattdessen war es Pauline mit ihren Kindern. Er machte eine einladende Handbewegung und ließ sie eintreten. Kurz musterte er seine Schwester. Sie sah furchtbar aus. Verheult, zerzaust, fahrig. Was natürlich kein Wunder war, wenn einen eine solche Nachricht ereilte. Sie ließ den schwarzen Trolley auf den Boden plumpsen und fiel ihm stumm um den Hals. Er drückte sie an sich. Sie zitterte und schien noch schmaler geworden zu sein in letzter Zeit. Sie wirkte schwach, und trotzdem gab es ihm Kraft, dass sie endlich hier war.
»Wie sieht’s aus?«, fragte sie leise. »Schlafen die anderen?«
Ferdinand schüttelte den Kopf. »Nein, sie sitzen in der Bibliothek. Keiner kriegt ein Auge zu.«
Sie nickte. »Sind alle da?«
»Alle, außer Onkel Wolfgang. Wir haben ihn noch nicht erreicht.«
»Was ist denn passiert, Onkel Ferdinand?«, wollte Max wissen und gähnte.
Er blickte fragend zu seiner Schwester. Die schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Die Kinder wussten es also noch nicht. Wahrscheinlich hatten sie schon geschlafen, als Oma Elsa Pauline endlich erreicht hatte. Sicher würde sie den Zwillingen morgen in Ruhe erzählen, was passiert war. Oder irgendwann anders. Er kannte sich mit kindlichen Gemütern nicht aus, auch wenn seine Schwester stets behauptete, er hätte selbst noch eines. Dass man ihnen eine solche Nachricht schonend beibringen musste, konnte er sich trotzdem denken. Geistesabwesend strich er Max über den blonden Schopf und sagte: »Nichts. Geh erstmal schlafen, Kumpel.«
»Ja, lauft schon mal hoch.« Pauline gab den beiden einen Gutenachtkuss. »Ins Gästezimmer. Ich komme gleich nach.«
Max und Ada nickten müde und stapften langsam die Treppe hinauf. Als sie außer Hörweite waren, wandte er sich wieder an Pauline. »Wieso kommst du eigentlich jetzt erst?«
»Ich … hab Sebastian nicht erreicht und hatte niemanden wegen der Kinder.«
»Aha. Und er ist immer noch nicht zurück? Ich meine …« Er deutete mit dem Kinn nach oben.
»Ja. Nein. Genau. Er … ist immer noch nicht zurück. Irgendwas Geschäftliches«, murmelte sie.
»Okay?!«
»Gibt’s denn was Neues?«, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Leider nein. Sie suchen ihn. Die Wasserwacht. Die Leute vom Segelverein. Die Polizei. Die Dunkelheit macht die Sache nicht einfacher. Und … je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie ihn …« Er brach ab.
»Gott!« Pauline schloss kurz die Augen. Dann umarmte sie ihn noch einmal.
»Bring erstmal die Kinder ins Bett«, sagte er. »Und dann komm zu uns runter.«
Er nickte Pauline stumm zu, als sie etwa zehn Minuten später die Bibliothek betrat. Offenbar waren Max und Ada sofort eingeschlafen.
»Hallo«, sagte sie leise und ging zu Oma Elsa, um sie wortlos in die Arme zu schließen.
»Da bist du ja endlich, Kind.« Ihre Mutter erhob sich vom Sofa, als Pauline sich von ihrer Großmutter gelöst hatte und zu ihr kam. Sie wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus dem Gesicht und drückte Pauline fest an sich. Lange verharrten sie so, und zweimal öffnete seine Schwester den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. Sicher hatte sie etwas Tröstliches sagen wollen, dann aber die passenden Worte nicht gefunden. Wie auch? Ludwig war verschollen. Das Familienoberhaupt. Ihr Vater, Ehemann, Sohn. Die Ungewissheit war das Schlimmste. Nicht zu wissen, was passiert war. Die schrecklichen Befürchtungen. Dass mit jeder Minute, die verging, ein Stück Hoffnung schwand. Dennoch. Ferdinand wollte sie noch nicht aufgeben, die Hoffnung. Und doch ertappte er sich dabei, wie er darüber nachdachte, was die letzten Worte gewesen waren, die er mit seinem Vater gewechselt hatte. Zuletzt hatte er ihn bei Oma Elsas Geburtstag gesehen. Er war in einen orangefarbenen Porsche 911 gestiegen, um nach München zurückzukehren. Ein Oldtimer, den er sich von einem Freund geborgt hatte und den zu fahren einiges an Mut und Erfahrung erforderte. Sein eigenes Auto hatte er vor einigen Wochen zerlegt, als er für einen Stunt trainiert hatte. Totalschaden. Und dann war da auch noch die dumme Sache mit dem Wagen von Mike passiert. In puncto Autos hatte er gerade einen Lauf, das konnte man nicht anders sagen. Bisher hatte er noch niemandem aus der Familie davon erzählt. Eigentlich hatte er es seinem Vater an dem Tag beichten wollen, verbunden mit der Bitte um eine Finanzspritze für ein neues Auto, damit er nicht ständig mit geliehenen herumfahren musste. Es hatte sich nur keine gute Gelegenheit ergeben. Und nun war es vielleicht zu spät. Er wollte lieber gar nicht daran denken. Stattdessen grübelte er weiter über die letzten Worte seines Vaters nach, doch so sehr er sich anstrengte, sie wollten ihm partout nicht einfallen. Vermutlich hatte er so etwas wie »Fahr vorsichtig, Junge« gebrummelt. »Mach ich, Papa«, hatte er wahrscheinlich geantwortet. Nun ja. Es gab schlimmere letzte Worte. Wenigstens hatten sie überhaupt miteinander gesprochen.
Lebt denn der alte Holzmichl noch?, plärrten die Randfichten plötzlich aus seinem Handy und zerschnitten die angstvolle Stille im Raum. Er sollte mal seinen Klingelton ändern. Unpassender hätte er nicht sein können, aber wer konnte das schon ahnen. Er nahm sein Telefon von der Armlehne der Chaiselongue, auf der er saß, und starrte gebannt aufs Display.
»Wer ist es?«, presste seine Mutter atemlos hervor.
»Das ist, glaube ich … die Wasserwacht.« Er sprang auf, und auch die anderen hielt es nicht mehr auf ihren Sitzen.
»Mach auf laut«, forderte seine Mutter ihn auf.
Er drückte auf den Knopf mit dem Lautsprecher. »Von Greiffenberg?« Er war überrascht, wie fest seine Stimme klang.