11,99 €
Wenn ein kurzer Augenblick alles verändert
Das traditionsreiche Feinkostunternehmen Greiffenberg steht kurz vor dem Ruin. Pauline von Greiffenberg gibt nicht auf und versucht, das Ruder herumzureißen. Doch all ihre Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt, als sie auf einmal auch um ihren Platz in der Firma kämpfen muss. Denn die Gefahr kommt aus der eigenen Familie.
Derweil lässt sich ihr Bruder Ferdinand auf einen gefährlichen Auftrag ein und verletzt sich schwer. In der noblen Rehaklinik MedicalPark am Chiemsee lernt er die Bassistin Christina kennen. Sie hat sich bei einem Autounfall mit Fahrerflucht eine Handverletzung zugezogen, die ihren Traum vom Musikstudium zunichtemacht. Dann stellt sich heraus, wer damals Christinas Unfall verschuldet hat, und plötzlich ist alles anders ...
Majestätische Berge, tiefblaues Wasser und Familienbande, die sich beweisen müssen - der zweite Band der Chiemsee-Saga
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 414
Feinkost Greiffenberg steht kurz vor dem Ruin. Eine fatale Fehleinschätzung sorgt für einen immensen Imageschaden. Doch Pauline gibt nicht auf. Gemeinsam mit Leopold versucht sie, das Ruder herumzureißen.
Derweil lässt sich ihr Bruder Ferdinand, um seine Schulden loszuwerden, auf einen gefährlichen Auftrag ein und verletzt sich bei dem Stunt schwer. In der noblen Rehaklinik MedicalPark am Chiemsee lernt er die Bassistin Christina kennen. Sie hat sich bei einem Autounfall mit Fahrerflucht eine Handverletzung zugezogen, die ihren Traum vom Musikstudium zunichtemacht. Dann stellt sich heraus, wer damals Christinas Unfall verschuldet hat: Es war Ferdinand …
Isabell Schönhoff ist das Pseudonym einer deutschen Drehbuch- und Romanautorin, die sich mit romantischen Komödien einen Namen gemacht hat. Mit ihrer neuen Reihe erfüllt sie sich einen Herzenswunsch: eine bewegte Familiengeschichte an ihrem Lieblingsort, Prien am Chiemsee.
I S A B E L L S C H Ö N H O F F
R O M A N
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven von © iStock/Getty Images Plus: Vladimir Sukhachev | Elena Pantiukhina | marilyna | mtruchon und © AdobeStock: Johannes Wiebel | punchdesign
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-4808-7
luebbe.de
lesejury.de
1922 führten Geschäfte den Handelsreisenden Eduard von Greiffenberg nach Prien am Chiemsee, wo er seine große Liebe Josefine kennenlernte. Die beiden heirateten und eröffneten wenig später einen kleinen Tante-Emma-Laden, der sich schnell großer Beliebtheit erfreute. Vor allem Josefines selbst gekochte Hagebuttenmarmelade, ihre frisch zubereiteten Salate und die handgefertigten Pralinen fanden reißenden Absatz. Das kleine Unternehmen expandierte und spezialisierte sich auf Delikatessen, die Eduard teils aus dem Ausland bezog. Josefines Fleiß und Geschick sowie Eduards Weitblick und sein Händchen für lukrative Immobilien verhalfen den Greiffenbergs im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Vermögen. Noch heute steht der Name Feinkost Greiffenberg für erlesene Köstlichkeiten aus aller Welt. Die Firma ist nach wie vor in Familienbesitz, und der Hauptsitz befindet sich dort, wo alles begann: in Prien am Chiemsee.
»Stopp! Hier müssen wir abbiegen!«, rief Therese und deutete auf den Schotterweg zu ihrer Rechten.
Ferdinand trat voll auf die Bremse und riss ruckartig das Lenkrad herum.
»Jetzt ist mir schlecht«, murmelte sie und sah ihn vorwurfsvoll an.
»Mir auch!«, gab Mike Grindler von hinten zu Protokoll. Ihr Nachbar saß auf der Rückbank und krallte sich mit beiden Händen am Türgriff fest.
Ferdinand gab ungeachtet der Schlaglöcher noch einmal richtig Gas, und erst als der Motor laut zu heulen begann, schaltete er zwei Gänge hoch.
Therese schüttelte stumm den Kopf. Sie wusste, dass es ein Fehler war, ihrem Sohn das Lenkrad zu überlassen, trotzdem hatte sie sich auch diesmal wieder breitschlagen lassen. Sie war heilfroh, als sie wenig später die lang gezogene Allee erreichten, die sie geradewegs an ihr Ziel führte: das kleine, hellgelb getünchte Jagdschloss, das mit seinen vielen Zwiebeltürmchen aussah, als wäre es dort soeben von einer guten Fee hingezaubert worden.
Der Kies knirschte unter dem schweren Gefährt. Ferdinand steuerte den Parkplatz an und brachte ihren Land Rover Defender neben einem anderen, baugleichen Modell zum Stehen. Erleichtert öffnete sie die Beifahrertür und kletterte mit etwas zittrigen Knien hinaus. »Sieht so aus, als wären wir spät dran.« Sie deutete auf einen riesigen Pulk tarnfarbengrün gekleideter Menschen mit Warnwesten, die sich auf dem Rasen vor dem Schlösschen tummelten. Es waren sicher sechzig oder siebzig, schätzte sie. Und mindestens noch einmal genauso viele Jagdhunde, die wild kläffend herumsprangen. Vermutlich ahnten sie, dass sie heute dem ureigensten Zweck ihrer Existenz nachkommen durften: dem Jagen.
Ferdinand und Mike Grindler waren inzwischen auch ausgestiegen und fischten gerade ihre Jagdutensilien aus dem Kofferraum. Sie selbst ging ebenfalls nach hinten, angelte nach ihrem Rucksack und setzte sich den Jägerhut auf, der nur einmal im Jahr zum Einsatz kam, und zwar immer am letzten Samstag im Oktober. Das war traditionell der Tag, an dem der Priener Hotelier Franz Loibinger alles, was im Chiemgau Rang und Namen hatte, zur großen Drückjagd nach Greimharting einlud.
»Na dann: Waidmannsheil!« Ferdinand schlug die Heckklappe zu und blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Und? Bist du bereit?«
Sie nickte stumm, obwohl sie es weiß Gott nicht war. Sie hasste es, diese fürchterlichen grünen Outdoorklamotten zu tragen und damit durch den morastigen Wald zu stapfen, um arme Tiere aufzuscheuchen, damit sie in ihr Verderben rannten. In den letzten Jahren hatte sie es trotzdem einigermaßen erträglich gefunden, denn da war Ludwig noch an ihrer Seite gewesen. Er hatte die Jagd geliebt und es immer geschafft, dass etwas von seiner Begeisterung und guten Laune auf sie übergesprungen war. Dieses Jahr fand Loibis Spektakel erstmalig ohne ihn statt, und er würde fehlen. Nicht nur ihr. Auch den sechzig, siebzig Jägersleuten da drüben auf dem Rasen, von denen ihn die meisten sicher gut gekannt hatten. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Ferdinand und sein Begleiter waren schon vorausgegangen und hatten sich ins Getümmel gestürzt. Sie selbst hatte es nicht besonders eilig damit.
Sie fröstelte. Es war noch frisch, doch davon abgesehen zeigte sich der Oktober von seiner besten Seite. Die Sonne schien, und entsprechend gut war die Stimmung unter der Jägerschaft. Als kleine Stärkung vorab wurden Kaffee und Tee aus Thermoskannen ausgeschenkt, und jemand verteilte belegte Brötchen. Sie nahm eines mit Käse und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. Plötzlich stockte ihr der Atem. Am Waldrand, unter einem Baum, stand ein Mann. War das nicht …? Wie von Sinnen drängelte sie sich durch die Menge, doch als sie das nächste Mal einen Blick auf die Stelle erhaschen konnte, war niemand mehr zu sehen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Einen winzigen Augenblick lang hatte sie gedacht, es sei ihr Ludwig gewesen, der da an dem Eichenstamm gelehnt hatte. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab. Sie drehte ja langsam wirklich durch. Mit wenig Appetit biss sie in ihr Brötchen und blickte sich noch einmal um. Weiter hinten entdeckte sie Ludwigs Bruder Wolfgang, und an einem Stehtisch stand ihre Schwiegermutter Elsa und trank Tee. Somit waren die Greiffenbergs erst einmal vollzählig. Ihre Tochter Pauline würde erst später zum Essen dazustoßen, genau wie ihre Jüngste, Antonia.
Sie ging hinüber zu ihrem Sohn, der sich so angeregt mit Mike Grindler unterhielt, dass er sie kaum zu bemerken schien. Der neureiche Unternehmer war kurzfristig eingesprungen, nachdem Ferdinands Freundin Nina gestern Abend abgesagt hatte. Therese hatte mitbekommen, dass sie wieder einmal gestritten hatten, kurz nachdem sie aus München angereist waren. Sie seufzte. Falls das zwischen ihrem Ältesten und dieser Nina überhaupt etwas Festes gewesen war, nahte vermutlich bald das Ende. Dabei schien sie nett zu sein. Aber ihr Sohn nahm ja immer Reißaus, wenn es ernst wurde. Zuweilen fragte sie sich, ob er eigentlich nie erwachsen werden würde.
Sie hatte gerade still ihr Käsebrot vertilgt, als der Gastgeber zu ihnen stieß. Er war ein guter Freund von Ludwig gewesen.
»Grüß dich, Loibi«, sagte sie und reichte ihm die Hand. Über den Sommer war er noch feister geworden und sein Gesicht mindestens noch eine Nuance röter.
»Ah, die Greiffenbergs sind endlich vollzählig!«, rief Franz Loibinger mit dröhnender Stimme, während er fest ihre Hand drückte.
»Ja. Sind sie. Jetzt kann’s losgehen«, mischte Ferdinand sich ein.
Loibi lachte laut. »Komm mal her, mein Junge!« Mit einem Ruck drückte er ihn an sich und schlug ihm mit der flachen Hand ein paar Mal auf den Rücken. »Und? Geht’s gut in München?«
»Schlechten Leuten geht’s immer gut. Weißte doch, Loibi.« Therese staunte nicht zum ersten Mal darüber, wie ihr Sohn es verstand, das Sprücheklopfniveau perfekt an sein jeweiliges Gegenüber anzupassen. Eine Gabe, die, wie er gern betonte, oft unterschätzt wurde.
Der Hotelier grinste. Offenbar war er bestens aufgelegt. Kein Wunder. Die allermeisten waren seiner Einladung zur Jagd gefolgt, und das Wetter hätte auch nicht besser sein können. Er war alleiniger Pächter der Jagd, in der sie heute unterwegs sein würden, um einer Überpopulation an Rotwild und Wildschweinen den Garaus zu machen. Seit Therese denken konnte, war das Tradition und zudem wichtiges gesellschaftliches Ereignis. Wer nicht eingeladen war, gehörte nicht dazu, zur großen Chiemgau-Mischpoke, war nicht drin im existenziell wichtigen Inner-Chiemsee-Circle, kurz ICC, wie die Greiffenbergs das familienintern gern nannten.
Loibi wandte sich nun wieder an sie. »Schön, dass du gekommen bist, Resi.« Seine Miene wurde plötzlich ernst. »Du vermisst ihn, oder?«
Sie schluckte und konnte nicht antworten, aber Loibi verstand sie trotzdem.
»Ich auch«, murmelte er. »Heute ganz besonders.«
»Ja«, presste sie hervor. Dass sie ihren geliebten Ehemann nie wieder sehen würde, war unvorstellbar. Immer noch, nach über einem halben Jahr. Und so versuchte sie, den Gedanken nicht an sich heranzulassen, wie so oft seit diesem furchtbaren Tag im April, der alles verändert hatte. Da war Ludwig mit seinem Segelboot in einen Sturm geraten und nicht nach Hause zurückgekehrt. Seine Leiche war nie gefunden worden. Lange hatte sie insgeheim gehofft, dass er doch eines Tages wieder auftauchte – mit irgendeiner verrückten Erklärung im Gepäck, oder ihretwegen auch ohne. Die Hoffnung starb eben tatsächlich immer zuletzt. Doch inzwischen war auch die so gut wie tot, denn es war nichts dergleichen geschehen. Ludwig war verschwunden geblieben, und so mussten sie davon ausgehen, dass das Oberhaupt der Familie von Greiffenberg, ihre große Liebe und Vater ihrer Kinder, am Grund des Chiemsees sein Grab gefunden hatte. Sie würde nie darüber hinwegkommen. Und auch seine Mutter Elsa nicht, da war sie ganz sicher. Aber das Leben ging trotzdem seinen Gang. Musste es ja, half ja nichts. Also machten sie weiter, alle zusammen, so gut es eben ging.
Ferdinand lag bäuchlings auf dem Boden und starrte wie gebannt auf die Waldlichtung. Dicht neben ihm lag Mike. So dicht, dass sein penetrantes Parfüm ihm förmlich den Atem nahm.
»Hier. Willst du auch?« Mike streckte ihm einen Flachmann entgegen.
»Was ist das?«, flüsterte er.
»Na, was schon?«, gab sein Kumpel leise zurück.
Ferdinand nickte. Wild Dog also. Er nahm einen Schluck aus der silbernen Flasche, aus Höflichkeit hauptsächlich. Zum einen hatte er gerade keinen Durst. Zum anderen mochte er den Energydrink nicht besonders, was er Mike aber wohlweislich nicht auf die Nase band. Der hatte ihn nämlich erfunden und war auf die Art mehrfacher Millionär geworden. Da hatte ihr Nachbar tatsächlich ein glückliches Händchen gehabt, das musste man ihm lassen. Und fraglos hatte auch er selbst davon profitiert. In der Vergangenheit hatte Mike ihm mehrmals finanziell aus der Patsche geholfen und ihm hin und wieder großzügig einen seiner zahlreichen Luxusschlitten geliehen. Doch dann war es passiert: Er hatte Mikes Jaguar zerlegt, nachts auf der Landstraße im, nun ja, ›angeheiterten‹ Zustand, weshalb Polizei und Versicherung rausgehalten werden mussten. Zum Glück war er selbst unversehrt geblieben, doch jetzt schuldete er Mike round about fünfzig Riesen. Die er nicht hatte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Schulden auf andere Art zu begleichen. Da er sein Geld als Stuntman verdiente und Mike sein Wild Dog gerne mittels spektakulärer Werbespots ins Gespräch brachte, lag die Lösung im Grunde auf der Hand. Ferdinand trainierte seit Wochen für die waghalsigen Dreharbeiten, die in weniger als zwei Wochen stattfinden würden.
»Stay wild«, zitierte er den berühmten Wild-Dog-Werbeslogan und gab den Flachmann zurück. Mike nahm auch einen Schluck daraus und ließ ihn dann in seiner Jackentasche verschwinden. »Ich hoffe, der gottverdammte Prachtkerl läuft uns vor die Flinte«, murmelte er und blickte hoffnungsvoll durch sein Fernglas.
»Du meinst den Zwölfender, von dem alle reden?«
»Ja. Angeblich ist er hier in der Ecke schon ein paar Mal gesichtet worden. Sagt jedenfalls dein Onkel Wolfgang. Er wollte sich da drüben postieren.« Mike deutete in nördliche Richtung.
»Aha. Na ja. Warten wir’s ab.«
Eine Weile lagen sie reglos da, und langsam wurde es Ferdinand langweilig. Er war nicht der Typ, der stundenlang irgendwo rumliegen oder rumsitzen konnte, ohne etwas Nennenswertes zu tun – oder wenigstens zu sagen. Aber wenn man das Wild nicht vertreiben wollte, musste man nicht nur stillhalten, sondern auch das Reden einstellen. Einmal mehr gelangte er zu der Erkenntnis, dass das Jagen im Allgemeinen nicht so seins war.
»Ich glaub’s nicht«, flüsterte Mike plötzlich, packte ihn am Arm und deutete mit dem Kinn nach rechts.
Ferdinand folgte seinem Blick. »Krass«, murmelte er und spürte, dass sein Herz zu pochen begann. Die Jagd hatte erst vor etwa einer Stunde begonnen, und da stand er schon, halb im schwindenden Morgennebel: der Zwölfender in seiner ganzen Pracht. Neugierig hob das Tier den Kopf und schaute interessiert in ihre Richtung. Sein Geweih sah gewaltig aus. Ferdinand hielt den Atem an und rührte sich nicht.
»Worauf wartest du?«, zischte Mike. »Der bleibt nicht ewig da stehen!«
»Er ist zu weit weg«, erwiderte er leise.
»Das sind keine zehn Meter, Alter.«
Mit vorsichtigen Bewegungen legte Ferdinand sein Gewehr an und nahm den kapitalen Hirsch ins Visier. Seine Hände zitterten leicht.
Mike stieß ihm ungeduldig in die Rippen.
Ferdinand zielte. Wenn er jetzt abdrückte, würde er das Tier vielleicht hinter dem Schulterblatt treffen, was wünschenswert wäre, damit die Vorderkeulen unversehrt blieben. Die Bedingungen waren gut für so einen Blattschuss. Wenn er jetzt langsam mal abdrückte jedenfalls. Er hielt die Luft an. In diesem Moment knackten hinter ihnen Zweige. Der Hirsch wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und ging in Habachtstellung. Kurz wackelte er mit dem Geweih, dann stob er davon.
»Verdammt!«, fluchte Mike.
»Oma«, raunte Ferdinand überrascht, als seine Großmutter plötzlich hinter einem Baum hervortrat.
»Oh, hab ich etwa ein Tier verjagt?«, wisperte sie mit Unschuldsmiene.
Mike stöhnte entnervt und genehmigte sich noch einen großen Schluck Wild Dog.
Ferdinand sprang vom Waldboden auf und klopfte sich ein paar Blätter von der Hose. »Jepp, du hast’s versaut«, sagte er und hatte Mühe, seine Erleichterung zu verbergen. Unauffällig zwinkerte er Oma Elsa zu. Er wusste, dass sie wusste, dass er im Grunde keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Und erst recht keinem stattlichen Hirsch.
»Wie lange brauchen wir noch?« Pauline warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Knapp fünfzehn Minuten, schätze ich.« Leopold schaute konzentriert vor sich auf die Straße. Wobei ›Straße‹ ein großes Wort war für das, worauf sie gerade unterwegs waren. Der Forstweg war schmal, nicht befestigt und voller Löcher und Geröll. Leopolds alter VW-Bulli kämpfte sich schnaufend Meter um Meter bergauf.
»Macht er prima, der gute alte Samba, oder?« Dass das Sondermodell gemeinhin unter diesem Namen bekannt war, hatte sie schon gewusst, bevor sie Leopold näher kennenlernte. Einen Großteil ihrer Kindheit hatte sie nämlich damit zugebracht, mit ihrem Bruder Ferdinand Oldtimer-Quartett zu spielen. Was alte Autos anging, machte ihr so schnell keiner was vor. Sie klopfte mit der Hand auf das rote Metall des Cockpits. »Halt durch, Junge! Gleich hast du’s geschafft.«
»Der hat schon ganz andere Strecken bewältigt in seinem fast siebzigjährigen Leben. Das hier macht der mit links«, behauptete Leopold und zwinkerte ihr zu.
»Hoffen wir das Beste. Apropos, dürfen wir hier überhaupt fahren? Ich meine, das ist doch ein Forstweg und der Bulli streng genommen kein Nutzfahrzeug.«
»Na ja, streng genommen. Aber ich darf das.« Leopold grinste. »Der Förster ist mein Großcousin.« Er runzelte die Stirn. »Oder so was Ähnliches. Jedenfalls sind wir irgendwie verwandt. Und was heißt hier überhaupt ›kein Nutzfahrzeug‹?« Er deutete nach hinten auf die umgeklappten Rückbänke, auf die er einen Stapel Holzlatten gepackt hatte. »Man kann Sachen damit transportieren. Und sogar drin übernachten. Ich meine, wenn das nicht nützlich ist …«
Pauline lachte. »Auch wieder wahr.«
Heute Morgen, nachdem ihr zukünftiger Ex-Mann Sebastian die Zwillinge fürs Wochenende abgeholt hatte, waren sie in Richtung Berge aufgebrochen. Es war Samstag, der letzte im Oktober. Die Sonne lugte durch die rot und gelb gefärbten Blätter der Bäume und schickte ihre Strahlen durch das geöffnete Rolldach des Oldtimers. Es war noch ein wenig frisch um zehn Uhr in der Früh, doch man spürte schon jetzt, dass es für einen Oktobertag ungewöhnlich warm werden würde. Leopold hatte beschlossen, das schöne Wetter zu nutzen, um einige seiner Bergwiesen in der Umgebung abzufahren. Der eine oder andere Zaun musste repariert werden, und an einem Unterstand war bei einem Herbststurm letzte Woche das Dach beschädigt worden. »Komm doch mit«, hatte er ihr gestern Abend vorgeschlagen. »Wir beeilen uns mit den Reparaturen, und dann machen wir uns in den Bergen einen richtig schönen Nachmittag.«
»Ich kann nicht«, hatte sie erwidert und bedauernd mit den Schultern gezuckt. »Loibis Jagd. Da darf ich nicht fehlen. Und übrigens: du eigentlich auch nicht.« Sie seufzte. »Aber du hast natürlich eine gute Ausrede mit deinem Hof, den Zäunen und dem Dachschaden.« Sie hasste das Jagen, doch wenn Franz Loibinger einmal im Jahr zur großen Drückjagd lud, kam sie nicht drumherum. Geschäftsleute, Kommunalpolitiker, Banker – wer im Chiemgau etwas zu melden hatte, stand auf Loibis Gästeliste – so war es schon immer gewesen. Ein Sehen und Gesehenwerden eben, und vor allem eine gute Gelegenheit zum Netzwerken. Als Geschäftsführerin von Feinkost Greiffenberg durfte sie sich ein solches Event natürlich nicht entgehen lassen. Gerade jetzt in der Krise galt es, Präsenz zu zeigen.
»Ich würde gern, Leo, aber …« Sie stockte. Manchmal ging sie sich selbst auf die Nerven mit ihrem übertriebenen Pflichtbewusstsein. Sie überlegte noch einmal. Ihr Bruder Ferdinand würde auf jeden Fall hingehen und sie sicher würdig vertreten. In so was war er ohnehin viel besser als sie, und so gesehen reichte es vielleicht, wenn sie einfach am Abend zum Essen dazustieß. Sie hatte eh keinen Jagdschein und würde allenfalls als Treiberin eingesetzt – was zwar besser war, als selbst zu schießen. Aber die Aussicht auf einen sonnigen Wiesentag mit Leopold erschien ihr trotzdem bedeutend verlockender.
»Aber?«
»Weißt du was?«, sagte sie spontan. »Ich mach das.« Sie gab ihrem Freund einen Kuss auf den Mund. »Ich komm einfach mit.«
Er grinste. »Einfach so? Du Wahnsinnige!« Er drückte sie fest an sich. »Es wird dir guttun, meine Süße.«
Und da hatte er recht. Sie hatte eine kleine Auszeit bitter nötig. Die letzten Wochen hatten ihr alles abverlangt. Die Sorgen um die Firma brachten sie beinahe um den Verstand, und es ließ sie nicht los, dass sie mit der Aronia-Limonade um ein Haar das gesamte Familienunternehmen mit Anlauf vor die Wand gefahren hätte. Die Beeren waren vor der Ernte mit belastetem Kompost gedüngt worden, sodass krebserregende Stoffe in die Greiffenbergsche Aronade geraten waren. Ein gefundenes Fressen für die Presse – und ein nie dagewesenes Desaster für Feinkost Greiffenberg. Am Ende hatte sich herausgestellt, dass ihr unsäglicher Noch-Ehemann Sebastian die Ernte absichtlich sabotiert hatte, um ihr und ihrer Familie zu schaden, doch das machte die Sache nicht besser. Sie warf sich selbst vor, dass sie ihn unterschätzt hatte. Dass sie überhaupt einen Psychopathen wie ihn geheiratet hatte. Und dass sie ihm durch eine unbedachte Geldtransaktion in die Karten gespielt und so beinahe auch noch das Sorgerecht für ihre Zwillinge Ada und Max verloren hätte. Sie konnte von Glück sagen, dass Sebastian die Rechnung ohne Elsa und den Rest der Familie gemacht hatte. Und ohne ihre Priener Freunde. So waren seine kriminellen Machenschaften schließlich doch ans Licht gekommen. Ada und Max konnten bei ihr bleiben, und Sebastian hatte der Firma Feinkost Greiffenberg eine saftige Entschädigung zahlen müssen. Wenigstens das. Der Imageschaden war trotzdem immens. Vergiftete Limonade. Gesundheitsschädlich. Sogar krebserregend. Das blieb hängen in den Köpfen der Kundschaft. Doch sie wollte nicht aufgeben, und Leopold tat alles in seiner Macht Stehende, um sie zu unterstützen. Wenn die Sache mit der Aronade irgendetwas Gutes gehabt hatte, dann, dass sie und er dadurch zusammengekommen waren.
»Sag mal, hast du das auch gehört?« Pauline steckte den Kopf durch die kleine Fensteröffnung der Beifahrertür. »Da hat irgendwas gerumpelt. Und warum ist der Motor plötzlich so laut?«
Sie hatten bereits zwei der drei Bergwiesen angefahren und gemeinsam geflickt, was es zu flicken gab. Das Dach des Unterstandes wieder instand zu setzen, hatte etwas länger gedauert als erwartet. Inzwischen war es beinahe zwei Uhr, aber in wenigen Minuten würden sie die dritte und letzte Station erreichen, wo voraussichtlich nicht allzu viel zu tun sein würde. Gerade hatten sie ein Waldstück verlassen, und der gewundene Schotterweg führte sie zwischen hügeligen Weideflächen hindurch. Das Gras, das noch immer saftig grün war und voller gelber Butterblumen, stand hier knöchelhoch.
Leopold trat auf die Bremse, lenkte den Bulli geschickt nach links auf die Wiese und kam zum Stehen. Schnell schaltete er den dröhnenden Motor ab und sprang aus dem Wagen. Auch Pauline stieg aus. Sie kannte sich mit Automotoren nicht aus, aber das brauchte sie auch nicht, um zu wissen, dass das eben alles andere als gut geklungen hatte.
»Ich fürchte, es hat was mit dem Auspuff zu tun.« Leopold marschierte nach hinten und ging in die Hocke. »Jepp, der Auspuff!«
»Was ist damit?« Pauline kniete sich neben ihn.
»Er ist … ähm … tja, nicht mehr da. Muss abgefallen sein. Ich schätze, das war das komische Geräusch.«
»Verdammt. Und … braucht man den zwingend? Also, den Auspuff?«
»Ich fürchte, ja. Ohne das Ding zu fahren ist superlaut, du hast es ja gehört. Und es kann dem Motor schaden. Das möchte ich lieber nicht riskieren. Außerdem ist es auch noch verboten.«
»Verstehe. Und … was machen wir jetzt?«
»Schere, Stein, Papier. Wer verliert, sucht den Auspuff. Vielleicht kriege ich ihn ja wieder angebracht.« Leopold legte sich auf den Rücken, robbte mit dem Kopf voran unter den Wagen und schaltete die Taschenlampe seines Handys ein. »Hmmmm …«, brummte er.
»Was ist denn?«, fragte sie. Es war ein besorgt klingendes ›Hmmmm‹ gewesen, fand sie.
»Da ist was abgebrochen. Kann sein, dass ich das auf die Schnelle nicht wieder hinkriege.« Leopold kam unter dem Wagen hervor und setzte sich im Schneidersitz vor sie. »Na ja, schauen wir mal. Bereit?«
Sie nickte mit ernster Miene. »Bereit!«
Synchron streckten sie ihre rechten Arme aus und machten eine Faust.
»Schnick, Schnack, Schnuck«, murmelten sie wie aus einem Munde.
Pauline hatte sich für Papier entschieden. Leopold leider für Schere.
»Tja, schade für dich.« Er grinste, sprang auf und zauberte ein altes Handtuch aus den Untiefen des Bullis hervor. »Hier. Der Auspuff ist vermutlich schmutzig. Und er könnte noch heiß sein. Sei vorsichtig, wenn du ihn anfasst!«
Seufzend nahm sie den Lappen und marschierte los. Weit musste sie zum Glück nicht gehen. Sie sah das Teil schon von Weitem. Es lag mitten auf dem Schotterweg. Vorsichtig hüllte sie den öligen, rostigen Auspuff in das schmuddelige Handtuch und trug ihn wie ein Baby zurück zu Leopold.
»Hier ist das gute Stück!«, rief sie und legte es vorsichtig neben den Bulli ins Gras, als wäre es aus Glas. Dann registrierte sie, dass Leopold bereits ein rot-weiß kariertes Tischtuch auf der Wiese ausgebreitet hatte und nun den Picknickkorb, den sie am Morgen gemeinsam gepackt hatten, darauf abstellte. Er nahm Teller und Gläser heraus, und dann eine Flasche Rosé samt Kühlmanschette, die er noch schnell hineingeschmuggelt haben musste.
»Ich dachte, ich decke schon mal den Tisch«, erklärte er und holte vorsichtig den selbst gebackenen Apfelkuchen und ein wenig Obst aus dem Korb. Nachdem er alles auf dem Tischtuch ausgebreitet hatte, schnappte er sich den eingewickelten Auspuff und schob sich damit unters Auto. Wenig später kam er wieder hervor und schüttelte den Kopf. »Nix zu machen ohne Schweißgerät.«
»Oh, okay. Und was jetzt?« Ratlos sah sie ihn an.
Er scrollte auf seinem Handydisplay herum. »Ich rufe meinen Schwager an. Vielleicht kann er herkommen.«
»Ja, gute Idee. Mit Schweißgerät.«
»Oder mit Abschleppseil. Das tut’s vielleicht auch fürs Erste.«
»Hoffentlich erreichst du ihn. Bis er hier ist …« Sie blickte nervös auf ihre Armbanduhr. »Ich muss doch zum Jagdessen.«
Er nickte und ließ es klingeln. »Geht keiner ran. Weißt du was? Wir picknicken jetzt erst mal.«
»Mhmmm …«, machte Pauline und überlegte, wer noch infrage käme, um sie hier oben, mitten im Nirgendwo, abzuholen. Ferdinand war bei der Jagd, ebenso wie fast alle ihre Nachbarn. Antonia hatte noch keinen Führerschein, und nach Hause laufen ging auch nicht. Sie waren sicher dreißig, vierzig Kilometer von Prien entfernt.
Leopold sah sie nachdenklich an. »Sag mal …«
»Ja?!«
»Was hältst du davon, wenn wir einfach hierbleiben heute Nacht?«
»Wie meinst du das, hierbleiben?«
Er deutete auf den Bulli. »Na ja. Wie gesagt. Nutzfahrzeug. Man kann drin übernachten. Und diese schöne Blumenwiese hier – das ist doch der perfekte Ort zum Campen.« Er deutete nach rechts. »Da drüben in dem Wäldchen gibt es sogar einen kleinen Badesee. Eiskalt, aber wunderschön. Ich räume einfach die restlichen Bretter aus dem Wagen. Und … ich habe sogar eine Decke dabei.«
»Sieht die so aus wie das Handtuch von eben?«
»Nein!«, rief er empört.
»Hat da schon mal ein Hund drauf gelegen? Oder ein … Schaf?«
Er stieß ihr sanft in die Rippen. »Nein. Sie ist sauber, kuschlig, und sie riecht gut. Glaube ich jedenfalls.«
»Wonach?«
»Na ja, nach … mir.«
Sie grinste. »Okay, das ist gut. Aber … ich kann trotzdem nicht, Leopold.«
»Warum nicht?«
»Ich habe Oma Elsa versprochen, dass ich auf jeden Fall noch komme. Sie wird bestimmt sauer, wenn ich einfach wegbleibe.«
»Schick ihr eine WhatsApp-Nachricht. Hey! Wir haben eine Autopanne! Mitten in den Bergen. Ich meine, das ist noch besser als Dachschaden.«
»Meinst du?«
»Auf jeden Fall!«
Sie dachte nach. Das mit dem See klang wunderschön.
»Lassen wir das Dach auf?« Pauline breitete die Decke über sie beide.
»Na klar. Wenn wir schon campen, dann unter freiem Sternenhimmel.«
Sie hatten es sich auf den umgeklappten Rücksitzen bequem gemacht, ganz dicht nebeneinander, und blickten nach oben.
»Frierst du noch?«
Sie schüttelte den Kopf. Vorhin, nach dem Picknick in der Sonne, waren sie tatsächlich zu dem kleinen See im Wald gestapft. Umringt von hohen Tannen hatte er dagelegen, ganz ruhig und grün. Sie hatten sich auf den Holzsteg gesetzt und einen Haubentaucher beobachtet, der in ihrer Nähe herumgeschwommen war.
»Er hat fast die gleiche Frisur wie du«, hatte sie schmunzelnd gesagt und auf den schwarzen, struppigen Kopf gedeutet, dem der Vogel vermutlich seinen Namen zu verdanken hatte.
»Na warte!« Leopold kniff ihr in die Seite. Dann sprang er auf. »Was ist? Gehen wir rein?«
Pauline streckte einen Fuß aus und hielt ihn ins Wasser. »Zu kalt«, erklärte sie und zog ihn schnell wieder raus.
»Feigling«, sagte er lachend.
»Na gut, du hast es so gewollt.« Schnell entledigte sie sich ihrer Jeans und der Bluse, nahm Anlauf und hüpfte kopfüber in den See. Es war so unfassbar kalt, dass sie fast in eine Schockstarre verfiel. Prustend tauchte sie wieder auf. »He, du stehst ja immer noch da!«, rief sie.
»Ist es sehr kalt?«
»Nein, gar nicht«, log sie.
»Sicher?«
»Absolut sicher.« Hinter ihrem Rücken überkreuzte sie schnell Zeige- und Mittelfinger.
Da zog auch Leopold Hose und T-Shirt aus und sprang mit einem Satz ins Wasser. »Uaaaahhhh!«, brüllte er, kraulte mit wenigen Zügen zu ihr und umarmte sie. »Lügnerin«, sagte er und küsste sie.
Lange hielten sie es nicht aus im Wasser. Sie schwammen an Land und legten sich nebeneinander auf die Wiese, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Leopold versuchte doch noch ein paar Mal, jemanden zu erreichen, der ihnen helfen könnte, jedoch ohne Erfolg. Irgendwann aßen sie die Reste aus dem Picknickkorb, und als es dunkel zu werden begann, bereiteten sie gemeinsam ihre Schlafstatt in seinem sogenannten Nutzfahrzeug vor.
»Ich gebe zu, es war eine gute Idee, Leo«, erklärte sie jetzt.
»Was? Das Dach offen zu lassen?«
»Das auch. Und hier zu übernachten. Es ist supergemütlich.«
»Sag ich doch. Die Decke auch, oder?«
»Die Decke. Und du. Du bist auch supergemütlich.«
Er lachte.
Eine Weile sahen sie schweigend durch die Dachöffnung in den Himmel.
»Schau mal, eine Sternschnuppe!«, rief sie plötzlich und schloss schnell die Augen.
»Und? Was wünschst du dir?«, fragte er.
Kurz überlegte sie. »Dass ich den Aronade-GAU rückgängig machen kann«, murmelte sie.
»Rückgängig machen funktioniert nicht bei Sternschnuppen.«
»Ach, das wusste ich gar nicht.«
»Ist aber so.«
»Okay, dann … dann wünsche ich mir, dass ich es schaffe, das alles irgendwie wiedergutzumachen.«
»Es war nicht dein Fehler, Pauline.«
»Hmmm …«
»Du schaffst das.«
Sie drehte sich zu ihm und umarmte ihn fest. »Ja, ich schaffe das«, sagte sie leise. »Mit dir schaffe ich das!«
Pauline stieg aus ihrem Mini Cooper, stemmte die Hände in den Rücken und streckte sich. Die Nacht in Leopolds VW-Bus war nicht sonderlich bequem gewesen, aber trotzdem wunderschön. Gestern Morgen hatte sie Ferdinand erreicht, der sich schließlich ziemlich verkatert samt Abschleppseil auf den Weg gemacht hatte, um sie, Leopold und den Bulli zurück nach Prien zu befördern. Der Oldtimer stand nun wieder in der Scheune und wartete auf einen neuen Auspuff. Leopold würde sich am nächsten Wochenende darum kümmern.
Pauline drückte auf den Zündschlüssel, um das Auto zu verriegeln. Dann überquerte sie den Marktplatz und betrat den hübschen Priener Flagship-Store von Feinkost Greiffenberg. Wie immer roch es dort nach frisch gemahlenem Kaffee und Pralinen.
»Servus, Pauline!« Hanne stand hinter der kleinen Frischetheke und lächelte ihr entgegen. »Hier, probier mal«, forderte sie sie auf und deutete auf einen silbernen Teller mit Käsewürfeln. Sie hatte jeden einzeln mit einem hölzernen Zahnstocher aufgespießt.
Pauline ließ einen Würfel in ihren Mund wandern und kaute genüsslich.
»Bergkäse von Gerti«, erklärte Hanne und kam hinter der Theke hervor. Sie kannte sie seit Schultagen, schon damals waren sie Freundinnen gewesen. Hanne arbeitete seit Jahren im Greiffenbergschen Laden und war inzwischen mit der Filialleitung betraut. Mit einer geübten Handbewegung strich sie sich die blütenweiße, gestärkte Schürze glatt. »Frisch angeliefert. Ich dachte, ich lass die Kunden mal probieren. Er schmeckt zum Niederknien, findest du nicht?«
»Hmmm. Köstlich«, stimmte Pauline zu und nahm sich noch ein Stück. »Und, wie läuft’s sonst so?« Sie blickte sich um. Hinter der Fleischtheke entdeckte sie einige Stücke frischen Wilds. »Von der Jagd am Wochenende?«
Hanne nickte. »Ist heute Morgen reingekommen. Ich hoffe, es verkauft sich.«
»Meinst du nicht?«
»Na ja, du siehst es ja selbst. Kein Mensch da. Flaute. Wieder mal.«
Pauline schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz vor zwölf. Es hatte Zeiten gegeben, da hatten die Kunden um diese Uhrzeit Schlange gestanden. Sie seufzte.
Hanne ging an die alte Registrierkasse, öffnete sie und zog einen Zettel daraus hervor. »Hier«, sagte sie. »Die Umsätze der letzten beiden Tage.«
Pauline nahm das Blatt und starrte auf die Zahlen. »Puh!«, stöhnte sie. Das ging jetzt schon seit Wochen so. Es war wie verhext, in den Laden kamen kaum noch Kunden. Seit dem Drama mit der vergifteten Aronade kauften sie offenbar woanders ein. Es war das eingetreten, was sie alle befürchtet hatten: Der Skandal hatte auf alle Produkte ihrer Firma abgefärbt. Das ganze Unternehmen war in Misskredit geraten, und das war eine Katastrophe. Eine, von der Pauline nicht wusste, wie sie ihr beikommen sollte. Wenn Feinkost Greiffenberg Konkurs anmelden musste, dann wäre allein sie dafür verantwortlich. Sie würde sich nie verzeihen, dass sie sich den Aronade-Coup von Sebastian hatte vermasseln lassen. Zu allem Überfluss hätte sie beinahe auch noch Leopold wieder verloren, weil er derjenige gewesen war, der damals den günstigen Dünger aufgetan hatte. Sie hatte ihm das zum Vorwurf gemacht, dabei hatte er nun wirklich nicht ahnen können, dass das Zeug verunreinigt war. Nicht einmal sie selbst hatte sich vorstellen können, zu welch perfiden Mitteln Sebastian greifen würde, um sie und ihre Familie zu vernichten.
»Wenn das so weitergeht, dann …« Sie stockte. Besser, sie sagte Hanne nicht, was dann unweigerlich passieren würde.
In diesem Moment erklang die Ladenglocke, und eine Kundin trat ein. Endlich, dachte sie beinahe erleichtert. Es war Frau Huber. Sie betrieb um die Ecke eine kleine Änderungsschneiderei. Pauline kannte sie, seit sie denken konnte.
»Servus, die Damen«, grüßte Frau Huber freundlich. Ihr Blick blieb an ihr hängen. »Oh, die Chefin persönlich. Schaust du nach dem Rechten, Pauline?«
»Ja, genau. Ich …«
»Wie geht’s der Oma?«
»Bestens. Fit wie eh und je.«
»Das freut mich.«
»Was kann ich denn für Sie tun, Frau Huber?«, fragte Hanne nun geschäftig.
»Ich brauche Käse zum Wein. Wir bekommen heute Abend Besuch. Die Angermaiers. Da soll es natürlich etwas Gutes geben.«
»Da habe ich etwas für Sie. Probieren Sie den mal«, forderte Hanne sie lächelnd auf und deutete auf den Silberteller mit den frisch geschnittenen Würfeln. »Bergkäse aus Heumilch. Bio. Der ist einfach nur super.«
Pauline reichte der Kundin die Platte und nahm sich selbst gleich auch noch ein Stück.
Frau Huber probierte. »Hmmm, ja. Der ist wirklich gut. Schönes Aroma.« Sie nahm noch einen zweiten Würfel. »Was soll der kosten?«
»Fünfunddreißig Euro das Kilo.«
»Fünfund… Herrschaftszeiten!«
»Na ja, es ist Bioware. Über ein Jahr gereift und …« Hanne warf Pauline einen hilfesuchenden Blick zu.
»… aus der besten Milch gewonnen«, sprang sie ihrer Freundin zur Seite.
»Klar, und dreimal links gewendet, rechts gedreht und doppelt gewickelt. Und am Ende ist’s doch wieder ungesund. Ich unterstütz euch Greiffenbergs gern in diesen schwierigen Zeiten. Als Nachbarin und als alte Stammkundin, aber ganz ehrlich. Da werd ich ja arm. Ich muss auch schauen, wo ich bleib.«
»Wir haben auch günstigeren Käse, wenn Sie …« Hannes Stimme klang auf einmal fast verzweifelt.
Frau Huber winkte ab. »Schon gut. Ich überleg’s mir noch mal. Servus zusammen!« Sie hob die Hand zum Gruß, öffnete die Ladentür und verschwand.
Hanne seufzte. »Die Leute haben das Geld sowieso nicht mehr so locker sitzen. Und seit das mit der Aronade passiert ist …«
»Ich weiß. Die Preise sind ja auch wirklich gesalzen. Aber die Zulieferer müssen halt dran verdienen, genau wie wir. Und seit die Energiepreise so enorm gestiegen sind, ist es nicht besser geworden.« Resigniert zuckte sie mit den Schultern. Es war ein Drama. Der Auftritt von Frau Huber und die desaströsen Umsatzzahlen sprachen eine klare Sprache. Gerade war ihr noch einmal deutlich vor Augen geführt worden, in welchem Zustand sich das Familienunternehmen befand. Es musste etwas passieren, und zwar schnell. Dank Sebastians Schadensersatzzahlung war noch ein wenig Geld in der Kasse, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis es aufgebraucht wäre. Sie machte sich nichts vor. Es war fünf vor zwölf.
Ferdinand verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Ausnahmsweise war er mal pünktlich zur außerordentlichen Gesellschafterversammlung erschienen, zu der seine Schwester ihn einbestellt hatte. Nur Onkel Wolfgang war leider noch nicht da.
»Wo bleibt er?« Ferdinand deutete mit dem Kinn auf den angestammten Platz seines Onkels ihm gegenüber.
Pauline zuckte mit den Schultern. »Frag mich nicht.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und sein Onkel trat endlich ein. »Mahlzeit!«
»Mahlzeit«, murmelte Ferdinand und sah auf seine Armbanduhr. Er hatte nicht ewig Zeit und vor allem keine Lust, den ganzen Nachmittag in diesem tristen Konferenzraum zu verbringen. Draußen schien die Sonne. Es war das perfekte Wetter für eine ausgiebige Joggingrunde am See oder einen Ausflug in die Berge. Wo er schon mal hier war.
»Tut mir leid, Kinder.« Onkel Wolfgang zuckte mit den Schultern. »Ich hatte noch einen wichtigen … Termin.«
Seine Schwester warf ihm einen vielsagenden Blick zu, und er wusste, was der bedeuten sollte. Onkel Wolfgangs wichtige Termine kannten sie. Sie fanden meist auf dem Golfplatz statt. Oder im Wirtshaus. Heute, so vermutete Ferdinand, war Letzteres der Fall gewesen. Das zumindest ließ sich aus dem Geruch nach Bier und Rauch schließen, der soeben zusammen mit seinem Onkel in den Raum geweht war.
»Schön. Dann können wir ja starten«, erklärte Pauline kühl und warf einen Blick auf den Bildschirm ihres Laptops.
»Was gibt’s denn so Wichtiges?«, erkundigte sich Onkel Wolfgang. »Du hast es ja ziemlich dringend gemacht in deiner Mail.«
»Ja. Weil es dringend ist«, erklärte Pauline. »Hast du die Umsatzzahlen der letzten Woche gesehen? Es wird immer schlimmer!«
»Na ja, das wundert mich nicht.«
Seine Schwester seufzte. Onkel Wolfgang ließ noch immer bei jeder Gelegenheit durchblicken, dass sie den Aronade-GAU und die dadurch verschärfte Schieflage des Unternehmens zu verantworten hatte.
»Ich kann nicht rückgängig machen, was geschehen ist«, erklärte sie nun mit frostigem Gesichtsausdruck. »Deshalb müssen wir handeln. Wir brauchen Ideen. Eine Strategie, wie wir die Firma wieder auf Kurs bringen und unseren guten Namen wieder herstellen. Ich hab nachgedacht und mir ein paar Dinge überlegt.« Sie schaltete den kleinen Beamer ein, der neben ihr auf dem Konferenztisch stand.
Onkel Wolfgang lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Jetzt bin ich gespannt.«
Ferdinand gähnte. PowerPoint-Präsentationen machten ihn müde. Immer. Es war wie ein Pawlowscher Reflex. Sobald die erste Folie an der Wand erschien, überkam ihn eine bleierne Schwere, und seine Gedanken schweiften ab. Er hätte seine Schwester gerne mehr unterstützt, aber gerade sah er sich dazu absolut nicht in der Lage. Ihm ging alles Mögliche durch den Kopf, doch nichts davon hatte etwas mit der Rettung von Feinkost Greiffenberg zu tun.
»Ich habe mir ein Maßnahmenpaket überlegt …«, hörte er seine Schwester noch sagen, dann glitten seine Gedanken zu Nina. Er seufzte leise. Gestern hatte sie sich beim Abendessen von ihm getrennt, mehr oder weniger aus dem Nichts. Sie hatte Spaghetti Arrabiata zubereitet und er einen großen Vogerlsalat mit Walnüssen und Pinienkernen. Gerade als er sich den Teller vollgepackt hatte und die erste Gabel zum Mund führen wollte, hatte sie ihm eine Frage gestellt: »Sag mal, Ferdinand, was ist das eigentlich mit uns?«
»Was meinst du?«, hatte er leichthin erwidert und sich genüsslich die Pasta in den Mund geschoben. Die war ihr gestern ganz besonders gut gelungen, das musste man ihr lassen.
»Ich meine …«, hatte sie zögernd erwidert. »Wie stehst du zu mir? Ist das etwas … Festes mit uns?«
Er redete nicht gern über Beziehungskram. Warum wollten Frauen ständig alles analysieren und zerreden? Und immer die Frage nach dem Status. Musste man denn alles kategorisieren? Was Festes. Was Lockeres. Irgendwas dazwischen. Im Grunde war es doch egal, wie man es nannte, wenn man Spaß zusammen hatte und jeder den anderen so ließ, wie er war. Nina aber schien es ernst gemeint zu haben, sie erwartete eine Antwort. »Na ja, klar. Beziehungsweise, es … kommt drauf an«, hatte er ausweichend geantwortet.
»Worauf?«
»Darauf, was du jetzt genau mit ›fest‹ meinst.«
»Ah. Okay.«
»Was heißt das, ›ah, okay‹?«
»Dass das ja im Grunde schon die Antwort auf meine Frage ist«, hatte sie erwidert.
In diesem Moment hatte er schon geahnt, worauf es hinauslaufen würde.
»Ich mag dich, Maus«, hatte sie gesagt. Ja, sie hatte wirklich ›Maus‹ gesagt. Wieder einmal, obwohl sie wusste, dass er so nicht genannt werden wollte. ›Maus‹ war einfach so verdammt … uncool.
»Wir sind jetzt schon einige Zeit ein Paar«, hatte sie fortgefahren. »Und ich finde, es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen.«
»Der da wäre?«
»Na ja, zum Beispiel … zusammenziehen. Ich bin doch eh so oft hier, und es wäre viel praktischer. Und auch kostengünstiger, bei den Mietpreisen.«
»Praktischer«, hatte er gemurmelt und dabei offenbar ziemlich konsterniert ausgesehen.
»Ferdinand?«
»Mhmmmm?«
»Du sagst ja gar nichts.«
Nein. Er hatte nichts gesagt in dem Moment. Weil er nämlich nicht gewusst hatte, wie er ihr erklären sollte, dass der nächste Schritt für ihn im Moment keine Option war. Sie führten eine lockere Beziehung, wenn man es denn unbedingt einordnen wollte. Und das war in seinen Augen perfekt. Tja, aber sie hatte wohl irgendwann begonnen, das anders zu sehen. Ein klares ›Commitment‹ hatte sie gewollt. »Ich möchte einfach wissen, woran ich bin.«
Nina war toll. Keine Frage. Sie verstanden sich gut, lagen bei vielen Dingen auf einer Wellenlänge. Und dann war sie auch noch schön. Aber irgendetwas in ihm hatte sich trotzdem dagegen gewehrt, ihr dieses klare Commitment zu geben. Ein Gefühl, ziemlich vage, aber nicht vage genug, um einfach ja sagen zu können, aus Sorge, sie sonst zu verletzen. Er war Anfang dreißig. Im besten Alter also für das, was ihr vorschwebte: zusammenziehen. Heiraten. Haus kaufen. Kinder kriegen. Am besten möglichst instagramtauglich. Er hatte das mehrfach bei Freunden beobachten können. Einer nach dem anderen war vom Markt verschwunden – und von den Dancefloors der Münchener Nachtclubs. Doch er tickte anders. Er wollte das alles nicht. Nicht so. Vielleicht war er ja beziehungsunfähig. Oder Nina war einfach nicht die Richtige. Jedenfalls war sie ihm nicht über die Lippen gekommen, diese von ihr eingeforderte Festlegung. Stattdessen hatte er sich schweigend Pasta und Salat zu Gemüte geführt, so als wäre es sein letztes Mahl für sehr lange Zeit.
»Alles klar«, hatte Nina gesagt und war vom Tisch aufgesprungen. »So ist das also.«
Er hatte etwas hilflos mit den Schultern gezuckt und »Was tust du?« gefragt.
»Meine Konsequenzen ziehen«, hatte ihre Antwort gelautet.
Sie sei fast dreißig und wolle Kinder. Möglichst mehrere, hatte sie erklärt. Da könne sie ihre Zeit nicht mit so einem wie ihm verschwenden, der nicht wisse, was er wolle, und sich immer alles offenhalte.
»Na ja, was heißt offenhalten«, hatte er ein wenig kleinlaut erwidert, obwohl er ja wusste, dass sie recht hatte.
Wenig später hatte sie seine Wohnung verlassen, weinend und wütend, und er hatte sie zum Abschied noch einmal umarmt, weil er wusste, dass das ihr letzter gemeinsamer Abend gewesen war. Dann waren auch ihm die Tränen gekommen. Er vermisste sie, aber vermutlich war es besser so. Er war einfach nicht gut darin, ein Mann fürs Leben zu sein. Und Nina hatte einen Mann fürs Leben verdient.
Tja, nun war es also wieder so weit. Beziehungsstatus: Single. Frei wie ein Vogel. Was vielleicht irgendwie auch nicht die schlechtesten Aussichten waren, wenn man es genau betrachtete. Apropos Vogel. Und apropos Aussicht. Seine Gedanken wanderten zu dem großen Stunt, den er nächste Woche vor laufenden Kameras absolvieren würde. Sein Herz schlug vor Aufregung plötzlich ein wenig höher. Das Ding würde spektakulär werden und vielleicht sogar sein internationaler Durchbruch. Wenn alles gut ging jedenfalls. Aber was sollte schon groß schiefgehen? Er hatte es drauf, den Sprung, die Fahrt, den ganzen Ablauf. Das letzte Training war eine Art Generalprobe gewesen, und es hatte alles geklappt wie am Schnürchen. Trotzdem wurde ihm jedes Mal etwas mulmig zumute, wenn er daran dachte. Er hatte Lampenfieber. Mehr als sonst. Aber hey! Wenn man bei den Großen mitspielen wollte, musste man eben aus seiner Komfortzone raus und gewisse Risiken eingehen. Das war Teil seiner Stellenbeschreibung. No risk, no fun.
»So sehe ich das auch«, hörte er Pauline sagen. »Wir müssen es riskieren. Oder, Ferdinand?«
»Äh, was?«, fragte er verwirrt. Er hatte keine Ahnung, wovon seine Schwester sprach. »Ähm, sorry, kannst du das noch mal kurz wiederholen?«
Pauline seufzte und deutete auf die PowerPoint-Folie an der Wand. »Hast du jetzt gar nicht zugehört, oder was?«
»Doch, natürlich.« Erneut unterdrückte er ein Gähnen und zwang sich, die Stichpunkte zu lesen und zu verstehen. Die Firma CO₂-neutral machen, stand da. Soziales Engagement. Bessere Bedingungen für die Arbeitnehmer schaffen.
»Ja, super«, beeilte er sich zu sagen. »Finde ich toll.«
»Das ist alles andere als toll«, warf Onkel Wolfgang ein. »Weil das alles nämlich Geld kostet. Viel Geld. Das wir, ich erinnere euch nur ungern, leider nicht haben.«
»Was schlägst du denn vor?«, konterte Pauline.
»Stellenabbau. Einsparungen. Günstiger einkaufen.« Er warf Ferdinand einen verschwörerischen Blick zu. »Siehst du auch so, oder?«
Seine Schwester seufzte. Ferdinand hasste diese Gesellschafterversammlungen. Es war immer das Gleiche. Pauline und ihr Onkel waren so gut wie nie einer Meinung, und er selbst saß zwischen den Stühlen.
»Wir brauchen jetzt einfach mal ein paar gute Nachrichten«, beschwor Pauline ihren Onkel. »Und es ist deine Aufgabe, die Presse mit diesen guten Nachrichten zu beliefern.«
»Welche guten Nachrichten denn? Dass Feinkost Greiffenberg viel Geld ausgibt für CO₂-Neutralität und so geradewegs auf den Abgrund zusteuert? Das ist das Gegenteil von einer guten Nachricht, und dazu ist es noch langweilig. Vergiss es, Mädel. Für so einen Quatsch verfasse ich keine Pressemitteilungen.«
»Es ist aber dein Job, Onkel Wolfgang. Du bist für die Pressearbeit verantwortlich.«
»Eben! Und deshalb lanciere ich so einen unausgereiften Quatsch nicht.«
»Dann … bist du vielleicht nicht der Richtige für die Position!«
Wow, dachte Ferdinand und riss unwillkürlich die Augen auf. Hatte seine Schwester das wirklich gerade gesagt? Die hatte ja Eier. Nur … wenn es mal kein Fehler war.
Onkel Wolfgang lachte laut auf, und in diesem Moment wusste er: Es WAR ein Fehler.
»Die Frage ist wohl eher, ob DU die Richtige für deinen Job bist, Mädel. Kurze Erinnerung: Wir sitzen hier, weil einer von uns dreien einen kapitalen unternehmerischen Fehler begangen hat, und dieser eine bin, mit Verlaub, nicht ich. An deiner Stelle würde ich lieber ganz kleine Brötchen backen. Um es mal nett auszudrücken.«
Ferdinand sah, dass seine Schwester rot angelaufen war. Aus Scham. Aus Wut. Warum auch immer. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem. Er überlegte, ob und wie er die Wogen glätten könnte. Irgendwas sagen vielleicht. ›Lässt sich nicht ändern.‹ ›Lass uns nach vorne blicken.‹ So was in der Art. Aber sein Gehirn war heute irgendwie träge. Während er noch überlegte, klappte seine Schwester wütend ihren Laptop zu. »Ich bin müde«, sagte sie. »Müde, mit euch zusammenzuarbeiten. Wir leiten ein mittelständisches, seriöses Unternehmen. Das hier ist doch kein Kindergarten!«, schimpfte sie aufgebracht. »Die Sitzung ist beendet.« Mit diesen Worten sprang sie auf, riss ihren Laptop vom Tisch und rannte hinaus.
»Musste das sein?«, fragte Ferdinand, als er sie außer Hörweite wähnte.
Onkel Wolfgang zuckte mit den Schultern. »Auch das muss sie lernen, wenn sie hier ganz oben stehen möchte: Kritik einstecken. Kann sie offenbar nicht. Rennt raus wie eine beleidigte Leberwurst. DAS ist Kindergarten.«
»Na ja, aber was du gesagt hast, war ja jetzt auch nicht gerade fair. Musst du ihr das immer wieder unter die Nase reiben?«
»Als Geschäftsführer brauchst du ein dickes Fell. Ist einfach so. Musst du mitbringen für so einen Posten. Tut sie aber nicht. Wie so vieles andere leider auch nicht. Vielleicht muss man sich langsam wirklich mal fragen …« Er zögerte.
»Was?«, fragte Ferdinand misstrauisch.
»Ob sie als Geschäftsführerin nicht eine Fehlbesetzung ist. Aber die Familie hält ja an ihr fest, als hätte man sie mit Pattex auf den Chefsessel geklebt. Ich meine, Herrschaftszeiten! Was muss denn bitte noch alles passieren, bis mal jemand merkt, dass sie es nicht kann?«
Ferdinand hatte fast vergessen, was das immer für ein riesiges Getöse war, wenn ein Helikopter landete. Der Lärm war beinahe ohrenbetäubend, und die laufenden Rotorblätter wirbelten den Pulverschnee auf.
»Toi, toi, toi«, rief der Pilot. Ferdinand formte Zeige- und Mittelfinger zum Victoryzeichen, rückte seine verspiegelte Sonnenbrille zurecht und sprang mit einem eleganten Schwung aus der Kabine in den Tiefschnee. Mike folgte ihm auf dem Fuße. In gebückter Haltung entfernten sie sich vom Helikopter, während der bereits langsam wieder abhob. Der Himmel war heute stahlblau, es sah beinahe so aus, als hätte jemand den Filter ›strahlend kalt‹ darübergelegt.
Ferdinand stapfte durch den Schnee und hob dabei einen Arm über den Kopf, um sich vor dem Luftwirbel zu schützen, den der Helikopter verursachte. Was für ein großartiger Moment. Der Hubschrauber. Der Lärm. Der aufgewirbelte Schnee. Es war wie in einem gottverdammten James-Bond-Film, und zwar einem, in dem er den Agenten 007 spielte. Oder ihn zumindest doubelte. Er drehte sich zu Mike um und reckte einen Daumen in die Luft. »Geil, oder?«
Mike nickte und hob ebenfalls einen Daumen.
Sie mussten noch etwa fünfzig Meter bergab zurücklegen, doch die hatten es in sich. Stellenweise versanken sie bis zur Hüfte im Tiefschnee. Für Ferdinand war das kein Problem. Mike hingegen hatte seine liebe Mühe, vorwärtszukommen. »Halleluja!«, rief er aus, als sie das Filmset endlich erreichten. Die Crew war bereits in den Morgenstunden hierher geflogen worden, samt Equipment und Verpflegung. Auf diesen über dreitausend Meter hohen Gletscher kam normalerweise niemand, abgesehen vielleicht von ein paar Schneehasen oder Murmeltieren. Und die würden sich ziemlich wundern, dass hier heute so viele Menschen geschäftig herumwuselten. Selbst Ferdinand war überrascht, wie viele Leute und wie viel Material es brauchte, um den Wild-Dog