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Bei Feinkost Greiffenberg werden die Karten neu gemischt. Pauline, die das Familienunternehmen erfolgreich durch stürmische Gewässer gesteuert hat, steht vor einer schweren Entscheidung: gehen oder bleiben? Soll sie das, wofür sie so hart gekämpft hat, aufgeben? Währenddessen eröffnet sich ihrem Bruder Ferdinand eine Chance, auf die er schon lange gewartet hat. Doch wenn er sie ergreift, bringt er sein Glück mit Christina in Gefahr. Als Antonia, die jüngste Schwester, einen geheimnisvollen Fremden kennenlernt, der im Bootshaus der Greiffenbergs wohnt, ist die Familie alarmiert. Denn es wird schnell klar, dass er etwas verbirgt ... Aber was? Und warum?
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Seitenzahl: 419
Bei Feinkost Greiffenberg werden die Karten neu gemischt. Pauline, die das Familienunternehmen erfolgreich durch stürmische Gewässer gesteuert hat, steht vor einer schweren Entscheidung: gehen oder bleiben? Soll sie das, wofür sie so hart gekämpft hat, aufgeben? Währenddessen eröffnet sich ihrem Bruder Ferdinand eine Chance, auf die er schon lange gewartet hat. Doch wenn er sie ergreift, bringt er sein Glück mit Christina in Gefahr. Als Antonia, die jüngste Schwester, einen geheimnisvollen Fremden kennenlernt, der im Bootshaus der Greiffenbergs wohnt, ist die Familie alarmiert. Denn es wird schnell klar, dass er etwas verbirgt … Aber was? Und warum?
Isabell Schönhoff ist das Pseudonym einer deutschen Drehbuch- und Romanautorin, die sich mit romantischen Komödien einen Namen gemacht hat. Mit ihrer neuen Reihe erfüllt sie sich eine Herzenswunsch: eine bewegte Familiengeschichte an ihrem Lieblingsort, Prien am Chiemsee.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
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Textredaktion: Anna Hahn, Trier
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eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5980-9
luebbe.de
lesejury.de
1922 führten Geschäfte den Handelsreisenden Eduard von Greiffenberg nach Prien am Chiemsee, wo er seine große Liebe Josefine kennenlernte. Die beiden heirateten und eröffneten wenig später einen kleinen Tante-Emma-Laden, der sich schnell großer Beliebtheit erfreute. Vor allem Josefines selbst gekochte Hagebuttenmarmelade, ihre frisch zubereiteten Salate und die handgefertigten Pralinen fanden reißenden Absatz. Das kleine Unternehmen expandierte und spezialisierte sich auf Delikatessen, die Eduard teils aus dem Ausland bezog. Josefines Fleiß und Geschick sowie Eduards Weitblick und sein Händchen für lukrative Immobilien verhalfen den Greiffenbergs im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Vermögen. Noch heute steht der Name Feinkost Greiffenberg für erlesene Köstlichkeiten aus aller Welt. Die Firma ist nach wie vor in Familienbesitz, und der Hauptsitz befindet sich dort, wo alles begann: in Prien am Chiemsee.
Antonia beugte sich weit über die steinerne Balustrade, sah durch den Sucher ihrer alten Canon und drückte den Auslöser – genau in dem Moment, als der weiße Sternenregen in den Chiemsee zu fallen schien. Um kurz vor Mitternacht waren sie hinausgegangen, auf die Terrasse der alten Greiffenberg-Villa, denn von hier aus hatte man einen perfekten Blick auf das große Silvesterfeuerwerk. Ihre gesamte Familie hatte sich hier draußen versammelt, um dem bunten Spektakel beizuwohnen und vor dieser Kulisse gemeinsam ins neue Jahr zu rutschen. Vor wenigen Sekunden hatte es begonnen, das neue Jahr. Noch ein paarmal spannte Antonia den Film und drückte auf den Auslöser. Die richtige Belichtungszeit zu finden war nicht einfach bei der Dunkelheit. Trotzdem hoffte sie, dass einige gelungene Schüsse dabei sein würden, wenn sie morgen früh im Entwicklungsbad Gestalt angenommen hatten. Sie brauchte dringend Material für ihre Bewerbungsmappe. Im Sommer hatte sie ihr Abitur gemacht und sich danach lange nicht entscheiden können, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Ihr Freund Hendrik war für ein Jahr nach Costa Rica entschwunden, und ihre beste Freundin Cara hatte ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Kindertagesstätte in Regensburg begonnen. Sie selbst hatte sich erst einmal finden müssen. Die Geschehnisse der letzten beiden Jahre hatten ihr förmlich den Boden unter den Füßen weggerissen. Doch langsam ging es ihr besser, und mit zunehmender Erholung hatte sich auch herauskristallisiert, wohin die Reise gehen sollte. Also, beruflich gesehen. Ein Kunststudium beginnen, an der Akademie der Bildenden Künste in München. Dort angenommen zu werden wäre ein Traum, und wenn sie sich etwas für das neue Jahr wünschte, dann, dass es keiner bliebe.
»He, Toni! Frohes Neues!«, hörte sie ihren Bruder Ferdinand sagen. Im nächsten Moment spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. Sie nahm die Kamera herunter, drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Wünsch ich dir auch, Bruderherz.«
»Komm mal her, Kleine!«, sagte er, obwohl er wusste, dass sie es hasste, so genannt zu werden. Er legte seine Arme um sie und drückte sie so fest an sich, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Sie ließ es über sich ergehen. Weil es Ferdinand war. Und Silvester.
»Hoffen wir mal das Beste, was?«, sagte er launig und ließ sie endlich wieder los.
»Schlimmer als letztes Jahr kann es jedenfalls nicht werden«, meinte sie.
»Nein. Sicher nicht!« Plötzlich sah er ungewohnt ernst aus. Noch einmal hob sie ihre Canon hoch, nahm das Gesicht ihres Bruders ins Visier und sagte: »Lach mal, Ferdi!«
Er lächelte, aber nur ein wenig, und sie drückte genau im richtigen Moment ab. Das ist gut geworden, dachte sie.
Immer mehr Feuerwerksraketen flogen gen Himmel und entfalteten dort oben ein buntes Lichtermeer. Ganze Salven wurden abgefeuert, von der Herreninsel aus, und der Wind trug das Knallen und Zischen zu ihnen herüber.
Antonia schaute zu dem Rest der Familie hin. Ihre Mutter Therese und Oma Elsa lagen sich gerade in den Armen und schienen sich gar nicht mehr loslassen zu wollen. Sie hatten einiges gemeinsam durchgemacht im vergangenen Jahr, und wenn die Ereignisse irgendetwas Gutes gehabt hatten, dann, dass die beiden dadurch eng zusammengewachsen waren.
Antonia wandte den Blick nach rechts und entdeckte ihren Vater Ludwig. Er stand mit dem Rücken an die steinerne Brüstung gelehnt, ganz allein und mit vor der Brust verschränkten Armen. Gedankenverloren sah er zu seiner Familie hin. Wie sie alle miteinander anstießen, sich in die Arme fielen und sich gegenseitig Glück wünschten. Antonia fragte sich, was er in diesem Moment dachte. Ob er lieber woanders wäre. Oder sich wünschte, alles rückgängig machen zu können. Welchen Vorsatz er wohl für das neue Jahr hatte? Hatte er überhaupt einen? Er kam ihr so selbstbewusst vor, als wäre er vollkommen im Reinen mit sich. Wusste er eigentlich, was er angerichtet hatte? Mit einem Ruck löste er sich von der Balustrade, schritt zu ihrer Mutter hinüber und legte seinen Arm um ihre Taille, als würde sie ihm gehören.
Ferdinand folgte Antonias Blick. »Totgesagte leben länger!«, sagte er leise, und dann beobachteten sie, wie ihre Mutter ihr neues Lächeln anknipste. Ein Lächeln, das sie irgendwie traurig aussehen ließ. Beinahe noch trauriger als damals, im April vor fast zwei Jahren, als Ludwig von einem Segeltörn auf dem Chiemsee nicht mehr nach Hause gekommen war und die Hoffnung, er könnte noch am Leben sein, stündlich schwand. Bei einem Sturm war er mit seiner Plätte in Seenot geraten. Eineinhalb Jahre lang hatte es kein einziges Lebenszeichen von ihm gegeben. Und dann, eines Sonntagmittags, hatte er plötzlich vor der Haustür gestanden. Einfach so, als wäre nichts gewesen, hatte er den Klingelknopf gedrückt und war hereinmarschiert in die gute Stube. Er hatte unter einer schweren Depression gelitten und war deshalb ein anderer Mensch gewesen. Das war der Grund, weshalb er nicht heimgekommen war, nachdem er über Bord gegangen war und wie durch ein Wunder überlebt hatte. Es musste ihm wirklich verdammt schlecht gegangen sein. Dass er sich die ganze Zeit nicht gemeldet hatte, obwohl er sich ja hätte denken können, dass sie alle krank vor Sorge gewesen waren, das war für sie noch immer schwer zu begreifen. Zunächst hatte er zurückgezogen in einer Berghütte im Zillertal gelebt. Einer einfachen Behausung, die einer gewissen Senta Hübner gehörte. Dass die dort in der Zeit auch gewohnt hatte und schon länger seine Geliebte gewesen war, damit war Ludwig erst auf hartnäckiges Nachfragen hin herausgerückt. Antonia fragte sich, ob ihre Mutter ihm diesen Betrug je verzeihen würde. Und auch, ob sie selbst es könnte.
Früher war Ludwig nicht nur ihr Vater gewesen, sondern auch fast so etwas wie ihr bester Freund. Sie hatte etwas verbunden – ein ganz besonderes Band. Nachdem er verschwunden war, wäre sie beinahe daran zerbrochen. Doch seit er zurück war, sprachen sie nur noch wenig miteinander. Das, was sie einmal gehabt hatten, gab es nicht mehr, weil … er seit seiner Rückkehr ein anderer war. Vielleicht nur in ihrem Kopf. Oder sie selbst war es, die eine andere geworden war. Am Ende war es auch egal, denn es änderte ja nichts daran, dass es nicht mehr so wie vorher war und dass es vermutlich auch nie wieder so werden würde.
Das Feuerwerk hatte inzwischen seinen Höhepunkt erreicht. Immer schneller hintereinander wurden die Raketen abgefeuert, und mehrmals war es sekundenlang taghell. Und dann war es auch schon vorbei. Ganz still war es auf einmal. Nur aus dem Inneren der Greiffenberg-Villa ertönte leise ein Wiener Walzer. Der war bereits eben gelaufen, als sie alle hinausgegangen waren. Ferdinand hatte ihn anscheinend auf Dauerschleife bei Spotify. Er hatte sein Handy mit der nagelneuen Bluetooth-Bose-Box im Wohnzimmer verbunden. Ludwig hatte sie von Therese zu Weihnachten bekommen. Ein gutes Geschenk, wenn man die Lage der beiden bedachte. Nicht zu persönlich, aber auch nicht so, als hätte man sich absichtlich gar keine Gedanken gemacht. Ludwig hingegen hatte tief in die Tasche gegriffen und ihrer Mutter einen Diamantring von Cartier geschenkt. Gold. Null Komma zwei Karat. Sie hatte ihn noch kein einziges Mal getragen.
»He, Toni! Frohes Neues!« Pauline prostete ihr zu.
»Dir auch!«, rief sie und mimte ein Anstoßen mit einem nicht vorhandenen Glas. Sie war vor lauter Fotografieren noch gar nicht dazu gekommen, sich eines vom Tablett zu nehmen. Pauline tat das nun für sie. Dann nahm sie die Hand ihres Freundes Leopold und zog ihn mit sich, zu ihr hinüber.
»Viel Glück!« Sie drückte ihr das Glas in die Hand und stieß mit ihr und Ferdinand an.
»Ja, auch von mir!« Leopold nickte ihnen lächelnd zu und tat es ihr gleich. »Wird sicher ein spannendes Jahr für dich!«, prophezeite er und trank.
»Wieso?«, fragte sie.
»Weil du jung bist und die Welt dir zu Füßen liegt.«
»Euch doch auch!«
Leopold und Pauline blickten sich an. »Na ja«, sagte ihre Schwester. »Für dich ist es noch mal etwas anderes.«
»Weil …?«
»Weil bei dir noch alles offen ist. Noch nichts eingeloggt. Beruflich. Privat. Und überhaupt.«
»Ja, das muss ein super Gefühl sein«, mischte sich nun Ferdinand ein. »Nichts ist unmöglich! Alles ist drin. In jeder Beziehung.« Er betrachtete sie einen Augenblick. »Hm, oder sagen wir mal, fast alles. Herzchirurgin wirst du wohl nicht. Dafür fehlt es dir dann doch an der nötigen Menge … Gehirn.«
»Sagt ja genau der Richtige!« Sie rollte mit den Augen.
»Aber jetzt mal im Ernst! Ist das nicht megageil? Ich beneide dich.« Ihr Bruder boxte ihr sanft auf den Solarplexus.
»Ja. Schon irgendwie«, erwiderte sie nachdenklich. »Aber irgendwie auch nicht.«
»Wieso?«, wollte Pauline wissen.
»Irgendwie ist es auch beängstigend. Eben weil alles möglich ist.«
»Fast alles«, erinnerte sie Ferdinand.
»Ich hab Angst, mich falsch zu entscheiden.«
Pauline nickte. »Verstehe ich. Ging mir damals auch so. Aber nichts ist in Stein gemeißelt. Man kann sich ja auch wieder umentscheiden. Vor allem, wenn man so jung ist wie du. Und … Schau mich an. Ich hab’s auch getan.« Sie deutete auf Leopold und grinste ein wenig. »Mich umentschieden. Ich hab einen Umweg genommen.«
Sie spielte auf ihre Trennung von Sebastian an, dem Vater ihrer Zwillinge, der ihr das Leben jahrelang zur Hölle gemacht hatte. »Aber am Ende ist alles so gekommen, wie es sein soll!« Sie ging einen Schritt auf Leopold zu und küsste ihn auf den Mund.
»Ich hasse euch!«, stöhnte Antonia.
»Du vermisst Hendrik, stimmt’s?« Pauline blickte sie mitleidig an.
»Was denkst du denn?«, gab sie zurück. Natürlich vermisste sie ihren Freund. Er war jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit in Costa Rica und hatte sich überdies seit drei Tagen nicht gemeldet. Am späten Nachmittag hatte sie noch einmal versucht, ihn per FaceTime zu erreichen. Und kurz vor Mitternacht noch einmal. Beide Male war er nicht rangegangen. Sie versuchte sich einzureden, dass er kein Netz hatte, dort oben auf dem Berg, auf dem er mit anderen Volunteers in einer Art Hütte wohnte und einheimischen Kindern bei den Hausaufgaben half. Die WLAN-Box, die er sich angeschafft hatte, war vielleicht leer. Kein Datenvolumen, oder der Akku am Ende. Er war ja mitten im Nirgendwo, und mitten im Nirgendwo, da war man eben schwer erreichbar. Er dachte sicher an sie, jetzt, wo es hier Mitternacht war und das neue Jahr hereingebrochen. Sie würde sich morgen früh einen Wecker stellen, für sieben Uhr, wenn es in Costa Rica auch so weit war. Hoffentlich klappte es dann, denn ohne eine Liebeserklärung von Hendrik in das neue Jahr zu starten, das wäre sicher kein gutes Omen.
»Kinder, da seid ihr ja«, dröhnte Ludwig in diesem Moment. Er war zu ihnen herübergekommen und stand nun ein wenig unschlüssig vor ihnen. »Frohes neues Jahr, Rasselbande!« Er lachte etwas verlegen und blickte von einem zum anderen.
»Frohes Neues«, murmelten sie, ohne dass einer von ihnen Anstalten machte, den Vater zu umarmen. Fast hatte Antonia Mitleid mit ihm, und sie war kurz davor, es zu tun. Ihm um den Hals zu fallen wie früher und »Happy new year, Lieblingsdaddy!« zu sagen. Doch dann konnte sie sich nicht dazu durchringen und starrte stattdessen Richtung Terrazzoboden, als gäbe es dort etwas Spannendes zu entdecken.
»Hast du schöne Fotos gemacht, mein Engel?«, fragte er, und sie dachte, den Engel, den konnte er sich sparen.
»Wird sich zeigen«, sagte sie und schenkte ihm dann wenigstens ein kleines Lächeln.
Pauline und Ferdinand lächelten nicht. Seit Ludwig in der Firma wieder das Zepter übernommen hatte, war die Stimmung zwischen ihnen nicht besser geworden. Ferdinand, der seit seinem schlimmen Skiunfall im vergangenen Jahr seinen Beruf als Stuntman nicht mehr ausüben konnte, arbeitete nun auch fest im Familienunternehmen. Er hatte im letzten Jahr einen neuen Geschäftszweig aufgetan. Bei großen, presseträchtigen Veranstaltungen sorgte er dafür, dass das Catering von Feinkost Greiffenberg kam und dass es stets von bester Qualität und in aller Munde war. Pauline, bis dato Geschäftsführerin des Familienunternehmens, war von ihrem Vater ihres Postens wieder entbunden worden. Obwohl sie und Ferdinand nach seinem Verschwinden alles dafür getan hatten, dass die Firma wieder schwarze Zahlen schrieb, hatte Ludwig, kaum war er zurückgekehrt, beschlossen, das Ruder wieder selbst zu übernehmen. Freilich mit seinen beiden ältesten Kindern an seiner Seite, wie er stets betonte. Mitspracherecht in allen wichtigen Punkten hatte er ihnen versprochen und einen Posten im Unternehmen, der ihnen gerecht wurde. Oma Elsa hatte im Vorfeld darauf bestanden. Und so zeichnete Pauline nun für Nachhaltigkeit und Umweltschutz im Unternehmen verantwortlich. Eine Stelle, die eigens für sie geschaffen worden und ihr auf den Leib geschneidert war. Sand war trotzdem im Getriebe. Es war nicht zu übersehen, dass die Rückkehr ihres Vaters nicht nur Sprengstoff innerhalb der Familie, sondern auch im Unternehmen bot. Die Zündschnur war kurz, bei allen Beteiligten, und wenn sie nicht alles täuschte und das hier richtig deutete, hatte sie bereits zu brennen begonnen.
Apropos Sprengstoff: Weiter hinten entdeckte Antonia ihren Onkel Wolfgang. Er leitete die Marketingabteilung bei Feinkost Greiffenberg. Schon seit sie denken konnte. Zwar war er der ältere der beiden Brüder, dennoch hatte er nach Oma Elsas Ausstieg nicht, wie in den Familienstatuten vorgesehen, die Leitung des Unternehmens übertragen bekommen. Ihre Großmutter hatte das damals zu verhindern gewusst und dafür gesorgt, dass der jüngere Ludwig den Posten bekam. Onkel Wolfgang hatte das bis heute nicht verwunden, was Antonia nicht weiter interessiert hatte – bis zu dem Sonntag vor einigen Wochen, als der Familienrat beschlossen hatte, dass sie, wenn sie schon sonst nichts machte, ein Praktikum in der Firma absolvieren sollte. Bei Onkel Wolfgang in der Marketingabteilung. Da war ja zuweilen auch Kreativität gefordert, und Kreativität, das sei ja ihre Kernkompetenz, mit ihren ganzen Fotos und der künstlerischen Ader und so, hatte ihr Vater gemeint.
»Vergesst es, Leute«, hatte sie entgegnet. »Am besten ganz schnell!« Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ihre wertvolle Zeit bei ihrem spießigen Onkel im Büro zu vergeuden, das war wirklich das Letzte, was sie sich vorstellen konnte.
»Nur bis auf Weiteres, versteht sich«, hatte ihr Vater eingelenkt. »Nur so lange, bis du weißt, was du mit deinem Leben anfangen möchtest. Bis du einen Studienplatz hast. Dann hast du die Wartezeit sinnvoll genutzt. Ein Marketing-Praktikum, das macht sich gut im Lebenslauf, und man kann nicht früh genug damit anfangen, den aufzuhübschen, wenn man später mal Karriere machen möchte.«
»Nur über meine Leiche«, hatte sie geknurrt. »Und wer sagt überhaupt, dass ich Karriere machen möchte?« Mit diesen Worten war sie wütend aus der Bibliothek gerannt, doch am Ende hatte es nichts genützt. Ihr Vater saß am längeren Hebel. Er schraubte den Geldhahn auf und zu, wie es ihm gerade in den Kram passte, und so war das Unglaubliche tatsächlich eingetreten: An fünf Tagen in der Woche saß sie in Onkel Wolfgangs hässlichem Büro, an einem abgerockten Schreibtisch aus den Achtzigern, direkt ihm gegenüber. Um ihm zuzuarbeiten, wie er es nannte. Dabei gab es gar nicht viel zuzuarbeiten, weil er selbst kaum etwas machte. Also langweilte sie sich den Großteil des Tages zu Tode und hangelte sich von Frühstücks- zu Mittags-, zu Nachmittagspause. Es war zum Kotzen! Umso wichtiger war es, dass ihre Mappe gut wurde. Sie wollte hier weg. As soon as possible, das hatte sie ihrer Freundin Cara erst gestern versichert. Die Akademie der Künste, sie musste es einfach schaffen, sonst würde sie noch durchdrehen. Während sie Onkel Wolfgang mit griesgrämiger Laune beobachtete, wie er herumonkelte, abgehalfterte Sprüche und greiffenbergsche Schultern klopfte und dabei minütlich betrunkener wurde, spürte sie, wie das Handy in ihrer Hosentasche vibrierte. Sie zog es heraus und sah auf das Display. Es war das Beste, das sie heute zu Gesicht bekam. Hendrik! Ohne dass sie es steuern konnte, verzog sich ihr Mund zu einem frohen Lächeln. Er rief per FaceTime an. Sie ging sofort ran. Wie schön es war, sein hübsches Gesicht auf dem Bildschirm zu sehen. Wie schön, seine tiefe Stimme zu hören.
»Hey, wie geht’s meiner Prinzessin?« Ferdinand war zu Christina hinübergegangen. Sie lehnte an der Hauswand, hielt ein Glas Champagner in der Hand und sah dem bunten Treiben der Greiffenbergs zu. Er nahm ihr das Glas aus der Hand, stellte es auf einen Mauervorsprung und umarmte sie fest.
»Bestens«, murmelte sie in Richtung seiner Schulter.
»Klingt gut.« Er strich ihr eine ihrer verirrten lockigen Haarsträhnen hinter das Ohr und gab ihr einen Kuss. »Sag mal … wollen wir uns verdünnisieren?«
Sie blickte ihn überrascht an. »Jetzt schon? Wäre das nicht ziemlich … unhöflich?«
»Joa. Schon. Aber interessiert uns das? Lass mich kurz nachdenken. Ähm. Nein. Ich hab genug von der ganzen Mischpoke hier. Weihnachten war schon schlimm genug. Wir könnten uns ein Taxi rufen und zu dir fahren.«
Sie machte ein Gesicht, als wägte sie ab.
»Bitteeee!« Er legte seine Handflächen aufeinander und versuchte das, was sie seinen Hundeblick nannte. »Ich halt’s hier nicht mehr aus. Echt jetzt!«
Sie lachte. »Okay. Du hast gewonnen. Ich find’s ja auch langweilig. Let’s go! Polnisch oder mit Verabschieden?«
»Polnisch, sonst kommen wir hier nie weg!«, erwiderte er und zog sie hinter sich her.
»Hallo Greiffenbergs!«, dröhnte da eine wohlbekannte Stimme an sein Ohr. »Frohes Neues, Leute! War das nicht ein tolles Feuerwerk?«
Er wandte sich um. Mike und Britta Grindler kamen soeben die Terrassentreppe heraufgestapft. Irgendwie mussten sie in den Garten gelangt sein. Vermutlich vom Strand aus. Sie bewohnten nebenan eine, wie Oma Elsa es nannte, Scheußlichkeit, die den Namen Haus nicht verdiente, und hatten, genau wie sie, einen direkten Zugang zum Ufer des Chiemsees. Ferdinand warf einen Blick zu seiner Großmutter hinüber. Er wusste, dass sie die Grindlers so sehr hasste, dass sie ihre Abneigung nur sehr schlecht verbergen konnte. Auch jetzt ließ ihre Miene keinen Zweifel daran, was sie davon hielt, dass Mike und Britta sich vor ihr aufbauten und eine mitgebrachte Magnumflasche Champagner vor ihrer Nase herumschwenkten. »Die stand noch im Kühlschrank«, erklärte Mike und begann unverzüglich damit, den Korken zu lösen. Wenig später war ihm das gelungen. Mit einem großen Knall flog er in die Luft und landete schließlich irgendwo im verschneiten Garten. Wie eine Fontäne schoss der Champagner aus der Flasche, und wenige Spritzer landeten auf Oma Elsas neuer, blau schimmernder Monclair-Daunenjacke. Sichtlich verärgert trat sie drei Schritte zurück und betrachtete das Malheur. »Du meine Güte. Ich komme mir vor, als wäre ich bei einem dieser fürchterlichen Formal-1-Rennen! Können Sie nicht aufpassen, Herr Grindler?«
»Tut mir leid, Frau von Greiffenberg.« Mike grinste. »Ist wohl beim Transport ein wenig durchgeschüttelt worden, der edle Tropfen. Kann man die waschen?« Er deutete auf die Jacke. »Ansonsten übernehme ich natürlich die Reinigungskosten.«
Oma Elsa winkte kopfschüttelnd ab.
»So, her mit den Gläsern«, rief Mike. »Ist ja zum Glück noch ein bisschen was drin in dem Fläschchen. Lasst uns anstoßen. Auf ein erfolgreiches neues Jahr. Glück, Gesundheit, et cetera, et cetera.« Er lachte laut in Oma Elsas Richtung. »Und auf weiterhin gute Nachbarschaft. Und sorry noch mal wegen der Jacke.«
Oma Elsa bedachte ihn mit ihrem abfälligsten Blick und ging, ohne ein weiteres Wort, durch die geöffnete Terrassentür zurück ins Wohnzimmer, während Ludwig dem Nachbarn bereitwillig sein leeres Glas entgegenhielt. »Was ist es denn für ein feiner Tropfen, den Sie uns da kredenzen, Herr Grindler?«
Mike drehte die riesige Flasche so, dass man das Etikett sehen konnte. »Moët, selbstredend.«
»Ah. Na, da bin ich beruhigt«, erklärte Ludwig, lachte dröhnend und ließ sich von Mike das Glas auffüllen.
Ferdinand blickte Christina an und seufzte. »Ich fürchte, wir kommen nicht drum herum«, flüsterte er ihr zu.
»Na, dann los!«, sagte sie, nahm seine Hand und zog ihn mit sich, hinüber zu den Nachbarn. Mike war ein Kumpel von ihm, sehr zum Missfallen von Oma Elsa. Aber er hatte ihm schon einige Male aus der Patsche geholfen, vor allem finanziell, daher wollte er es sich nicht mit ihm verscherzen.
»Ferdi, da bist du ja. Hast du dich versteckt?«
»Gewissermaßen.« Er nahm sein leeres Glas vom Tisch, legte einen Arm um Christinas Schultern und drückte sie an sich.
Mike schenkte nun auch ihnen beiden ein, stieß sein Glas gegen ihre und trank es dann in einem Zug aus. »Auf das neue Jahr«, sagte er noch einmal. »Hast du es schon gehört?«, fragte er dann und neigte ihm den Kopf verschwörerisch zu. Seine Stimme hatte etwas Raunendes angenommen.
Ferdinand blickte ihn fragend an. »Was meinst du?«
»Das mit Pierre.«
»Pierre?« Er stand auf der Leitung.
»Pierre Leroc.«
Pierre Leroc war ein berühmter Stuntman aus Paris. Ferdinand kannte ihn. Ein paarmal hatte er schon die große Ehre gehabt, mit ihm zusammenzuarbeiten. Damals, vor seinem Unfall, als er selbst noch ein Stuntman gewesen war und auf dem besten Wege, den Pierre Lerocs dieser Welt den Rang abzulaufen. Doch dann hatte es ihn zerrissen, ausgerechnet, als er für Mikes Energydrink Wild Dog einen Werbespot gedreht hatte. Seine Beine waren danach lange nicht mehr zu gebrauchen gewesen. Es war ein schlimmes Jahr für ihn gewesen. Immerhin konnte er jetzt wieder laufen, fast ohne zu humpeln sogar, aber seine Karriere als Stuntman hatte er an den Nagel hängen müssen. Sein Lebenstraum war somit geplatzt, und damit musste man erst mal klarkommen. Die ganze Sache hatte dennoch etwas Gutes gehabt: In der Rehaklinik hatte er Christina kennengelernt, dieses verrückte, süße, ständig plappernde, kluge, fast immer gut gelaunte Huhn neben ihm. Sie war das Beste, was ihm je passiert war.
»Was ist mit Pierre?«, fragte er jetzt alarmiert.
»Er ist verunglückt. Heute Morgen, bei einem Stunt mit einem Motorrad.«
»Um Gottes willen!«, stieß Christina hervor.
»Ist ihm etwas passiert?«, fragte Ferdinand erschrocken.
Mike nickte. »Ja. Er hatte leider nicht so viel Glück wie du.«
»Das klingt nicht gut!«
»Nein. Ganz und gar nicht. Er ist noch am Unfallort seinen Verletzungen erlegen.«
»Verdammt!«, murmelte Ferdinand und schloss kurz die Augen. Diese Nachricht musste er erst einmal verdauen. »Das ist ja … schrecklich.«
»Furchtbar«, sagte Christina leise.
Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz. Sie kannte Pierre Leroc nur von seinen Erzählungen, und es rührte ihn, dass sein Tod sie trotzdem so betroffen machte.
»Weiß man, was genau passiert ist?«, wollte er wissen.
»Es muss beim Training für eine Show gewesen sein, die für heute Abend geplant war. Ein Looping mit einer Geländemaschine. Mehr weiß ich nicht. Nur, dass das Event auf dem Platz am Eiffelturm stattfinden sollte. Die Champs de Mars. Tja. Irgendwas ist schiefgegangen.«
»Das … tut mir so leid«, sagte er zutiefst berührt. Er konnte es noch gar nicht richtig fassen.
»Mir auch«, erklärte Christina.
»Pierre war immer jemand, der kein Risiko gescheut hat. Irgendwann musste es so kommen. Er war ja nicht mehr der Jüngste«, erklärte Mike und schenkte sich Champagner nach.
»Wie alt war er denn?«, wollte Christina wissen.
»Mitte fünfzig, glaube ich«, erwiderte Ferdinand. »Soviel ich weiß, wollte er seine aktive Zeit im neuen Jahr beenden und sich ganz seiner Stuntschule widmen.«
»Er hatte eine Stuntschule?« Christina nahm nun endlich auch einen Schluck Champagner aus ihrem Glas.
»Ja, eine sehr renommierte sogar«, gab Mike zurück. »Pierre hat nur die Besten genommen und einige große Talente hervorgebracht. Das größte ist wohl Henri, sein eigener Sohn. Der wird groß rauskommen, wenn er so weitermacht.«
Ferdinand biss sich auf die Lippen und nickte. Er kannte Henri ebenfalls, und Mike hatte recht. Er war wahnsinnig talentiert. So wie er selbst es bis vor einem Jahr auch gewesen war. Er hätte auch groß rauskommen können. Er spürte, dass Christina seine Hand drückte. Sie konnte Gedanken lesen. Zumindest seine, und das war nur eine von vielen Eigenschaften, die er so sehr an ihr liebte.
Antonia sprang die Stufen in den Garten hinab und ging Richtung See. Das Handy trug sie mit beiden Händen vor sich her wie den Heiligen Gral.
»Hey, frohes Neues!«, sagte Hendrik und klang dabei irgendwie nicht so wie sonst.
»Danke!« Sie war ein wenig außer Atem. »Warte mal kurz!« Schnell schritt sie über den Rasen und lief dann die fünf Bankiraistufen hinunter zum Strand. Mit einer Hand zog sie den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis obenhin zu. Hier unten am Wasser war es noch kälter als auf der Terrasse. Der Chiemsee war zugefroren, und wenn die Vorhersage auf ihrer Wetter-App recht behielt, dann würde es weiterhin frostig bleiben. Vielleicht wäre es in den kommenden Tagen sogar möglich, das Eis zu betreten, mit Schlittschuhen oder einfach so. Rüberwandern nach Herrenchiemsee. Das hatte Antonia zuletzt als Kind erlebt. Die Klimaerwärmung hatte natürlich auch vor dem Chiemgau nicht haltgemacht, aber dieses Jahr schlug das Wetter Kapriolen und hatte wohl beschlossen, noch einmal richtig den Winter raushängen zu lassen. Bei Hendrik hingegen war Hochsommer. Er trug ein T-Shirt, das konnte sie sehen. Und braun gebrannt war er auch. »Wie geht es dir, Babe?«, fragte sie und setzte sich auf eine der Liegen, die wetterfest waren und daher auch im Winter hier standen.
Er seufzte. »Gut«, sagte er dann. »Aber …«
»Aber was?«
»Ich muss dir etwas sagen.« Er klang ernst. Viel zu ernst, dafür, dass heute Silvester war.
»Was ist los, Hendrik?« Ihr Herz begann zu pochen, so laut, dass sie es selbst hören konnte. Etwas zwischen ihnen stimmte nicht, das spürte sie auch quer über alle Ozeane und Meere hinweg, die sie voneinander trennten.
Er schwieg.
»WASMUSSTDUMIRSAGEN?«, rief sie, weil sie kurz dachte, vielleicht ist ja nur die Verbindung schlecht.
»Ich möchte …«, erklärte er und stockte.
»WASISTDENN?« Ihre Hände zitterten auf einmal, und ihr Magen fühlte sich an, als hätte soeben jemand seine Faust mit voller Wucht hineingerammt.
»Ich hab jemanden kennengelernt«, stieß er hervor. »Ich weiß, Silvester. Denkbar schlechter Zeitpunkt und so. Aber ich will reinen Tisch machen und nicht mit … na ja … eben nicht unaufrichtig in das neue Jahr starten.«
»Moment!« Antonia zitterte jetzt am ganzen Körper, aber nicht vor Kälte, sondern weil dieser eine kleine Satz ihr den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Gut, dass sie saß. Sonst würde sie jetzt wahrscheinlich taumeln und fallen, so ohne Boden, das war ja klar. »Wie meinst du das, jemanden kennengelernt?« Bestimmt hatte sie sich verhört. Oder er meinte, einen neuen Freund. Bekannten. Interessanten Menschen. Keine Ahnung.
»Eine Frau. Sie heißt Guadalupe!«
Wieder ein Boxschlag mitten in die Magengrube. »Wie heißt sie?«, schrie sie hysterisch in den Hörer und wusste selbst nicht warum, denn im Grunde konnte es ihr egal sein, wie sie hieß, die verdammte neue Frau, die ihr ihren Hendrik streitig machte.
»Guadalupe. Sie kommt von hier. Aus Costa Rica, und … Toni, ich … ich hab mich in sie verliebt. Und sie sich in mich. Es … es tut mir total leid!«
Sie starrte auf den Bildschirm. Fassungslos. In ihrem Kopf drehte sich alles. In ihrem Bauch auch. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und Hendrik offenbar auch nicht mehr, denn es war nun vollkommen still. Nur das leise Rauschen des Windes war zu hören und die gedämpften Stimmen, die von der greiffenbergschen Terrasse herüberdrangen. Dann brach sie das Schweigen. »Du hast mir versprochen, dass du mir treu bleibst«, sagte sie. »Damals, in der Nacht vor deiner Abreise.«
»Ich weiß, Toni«, erwiderte er. Sein Gesicht auf dem Handydisplay verschwamm plötzlich, und sie wusste nicht, ob es am schlechten Netz lag oder an den Tränen, die gerade in ihre Augen traten.
»Ich weiß, dass ich das versprochen habe. Aber … es ist … einfach passiert.«
»Habt ihr schon miteinander …?« Sie brach ab, und er sagte nichts darauf, und das war auch eine Antwort. Sie schluckte. »Weißt du was, Hendrik?« Sie versuchte, ihre Stimme möglichst fest klingen zu lassen.
»Was?«, kam es von der anderen Seite der Erde.
»Fick dich!« Mit diesen Worten schleuderte sie ihr Handy in den Schnee, legte sich bäuchlings auf die Liege und verbarg ihr Gesicht im Ärmel ihrer Daunenjacke. Sie begann zu weinen. Lautlos zunächst, doch irgendwann konnte sie das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. »Toni?«, hörte sie Hendrik vom Schnee aus dumpf aus dem Telefon rufen. Sie hatte vergessen, die Verbindung zu unterbrechen. Ruckartig hob sie den Kopf und rief: »Lass mich in Ruhe, du Arsch!«, und weinte weiter hemmungslos in ihren Ärmel hinein. Es war ihr egal, dass Hendrik es hören konnte.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon dort gelegen hatte, als sie eine Stimme hörte. Eine echte Stimme, keine aus dem Hörer. Hendrik hatte sicher längst aufgelegt und machte mit seiner Guada-sonst-was rum. Was war das überhaupt für ein beschissener Name? Sie hasste sie. Und ihn sowieso. Und noch mehr hasste sie die Tatsache, dass sie anscheinend hier unten am See nicht mehr allein war.
»Alles klar bei dir?«
Sie richtete sich langsam auf, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zog die Nase hoch. Dann hob sie ihren Kopf. Vor ihr stand ein Typ in viel zu dünner Adidas-Sportjacke. Groß. Irre dürr, wie es schien, und dunkle Haare. Sein langer Pony verdeckte sein halbes Gesicht. Trotzdem war sie sich sicher, dass sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er hielt ihr ihr Handy entgegen und sagte: »Ist das deins?«
Sie griff danach und kramte mit der anderen Hand in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch.
»Hier!«, sagte der Typ und reichte ihr eins.
»Äh … danke!« Sie nahm es und schnäuzte sich.
Er blieb unschlüssig vor ihrer Liege stehen und vergrub seine Hände in den Taschen seiner Baggypants. »Alles okay?«, fragte er.
Antonia zuckte mit den Schultern. »Klar!«, murmelte sie mit nasaler Stimme und schniefte noch einmal leise.
»Scheiße ins neue Jahr gestartet?«, fragte er.
»Jepp. Kann man so sagen.«
»Shit!«
»Sag mal …«
»Ja?«
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Was für einen?«
»Mich einfach in Ruhe lassen.«
Er hob beide Hände in die Luft. »Ooookay …«
Jetzt tat es ihr leid, dass sie so schroff gewesen war. »Sorry«, sagte sie schnell. »Ich … ich hab nur gerade einen … Scheißmoment und echt keinen Bock auf Quatschen. Ich würde einfach gern allein sein.«
»Natürlich. Das … das verstehe ich. Ich bin schon weg. Aber … du bist sicher, dass du klarkommst, ja?«
Sie rollte mit den Augen. »Jaaa!«
Er nickte und wandte sich zum Gehen. Doch dann drehte er sich doch noch einmal um. »Ich bin übrigens Sky!«
»Sky?« Der nächste bescheuerte Name an diesem Abend.
»Ja, ich weiß. Keine Ahnung, was meine Eltern sich dabei gedacht haben. Und du? Wer bist du?«
»Antonia. Toni.«
Er lächelte. »Toni gefällt mir. Frohes Neues, Toni! Trotz … was auch immer«, sagte er, ehe er in der Dunkelheit verschwand.
»Wann hatten wir das zuletzt?« Ferdinand nahm Anlauf, ging in die Knie und schlitterte mit ausgestreckten Armen über das spiegelglatte Eis. Das neue Jahr war gerade mal eine Woche alt und der Chiemsee zugefroren. So zugefroren, dass man ihn tatsächlich betreten konnte und einfach so, ganz ohne Boot oder Fähre, zu den Inseln gelangte. Christina und er waren in ihre dicken Daunenjacken geschlüpft und hatten sich Handschuhe, Mütze und Schal angezogen. Es war Sonntagnachmittag und eiskalt, obwohl die Sonne heute schon den ganzen Tag unermüdlich vom stahlblauen Himmel herabstrahlte.
»Wollen wir einen Spaziergang auf dem Eis machen?«, hatte Christina ihn nach dem Mittagessen gefragt. Sie hatten es heute mit der gesamten Familie in der Greiffenberg-Villa eingenommen.
»Auf jeden Fall!«, hatte er erwidert. Das Wetter schreit ja geradezu danach.« Sie hatten beschlossen, zu Fuß zur Herreninsel hinüberzugehen. Dorthin, wo im Herbst der große Ball stattgefunden hatte, den er zum Abschluss der Hollywood-Dreharbeiten gemeinsam mit Pauline aus der Taufe gehoben hatte. Es war ein rauschendes Fest gewesen. Alles war wie am Schnürchen gelaufen, bis … ja, bis Christina erfahren hatte, wer die Schuld an ihrem Autounfall trug. Wer ihren Traum vom Musikstudium zerstört hatte. Sie hatte sich damals eine Handverletzung zugezogen, die es ihr unmöglich machte, jemals wieder auf professioneller Ebene Bass zu spielen. Der Ball im Schloss war ihr erster offizieller gemeinsamer Auftritt als Paar gewesen. Es hatte gedauert, bis sie zusammengefunden hatten, aber dann war es irgendwann doch passiert. Sie hatten sich ineinander verliebt. Dass er ihr das mit dem Unfall nicht gleich gesagt hatte, war ein schwerer Fehler gewesen. Irgendwie hatte er immer den richtigen Zeitpunkt verpasst. Wobei es für so ein Geständnis genau genommen überhaupt keinen richtigen Zeitpunkt gab. Jedenfalls hatte sie es schließlich per Zufall erfahren, was alles noch schlimmer gemacht hatte. Mike hatte mal wieder seine Klappe nicht halten können, und so war es herausgekommen, kurz nachdem sie sich im Irrgarten geküsst hatten. Dass er damals der Unfallverursacher gewesen war und dann auch noch Fahrerflucht begangen hatte. Dass er gar nicht bemerkt hatte, dass sie ebenfalls in den Unfall verwickelt war, hatte die Sache kaum besser gemacht. Christina war total enttäuscht gewesen. Insbesondere darüber, dass er es ihr so lange verschwiegen hatte. Wer wollte es ihr verdenken? Er war selbst nicht gerade stolz darauf. Nach seinem Stuntunglück war das der zweite große Tiefpunkt des Jahres gewesen. Dass sie ihm dann doch noch verzeihen würde, damit hatte er wirklich nicht rechnen können. Aber sie hatte es am Ende getan, und er war so unglaublich froh darüber.
Christina schlitterte nun auch über das Eis, direkt in seine Arme. Er nahm ihre behandschuhte Hand in seine und blickte sich um. Sie waren bei Weitem nicht die Einzigen, die auf die Idee gekommen waren, einen Spaziergang auf dem Chiemsee zu unternehmen. Was hier heute Nachmittag stattfand, kam beinahe einer Völkerwanderung gleich. Überall flanierten Menschen, jung und alt. Viele hatten ihre Schlittschuhe aus dem Keller geholt. Einige probierten Pirouetten, andere stoben in beeindruckender Geschwindigkeit über das Eis. Weiter hinten entdeckte Ferdinand eine Gruppe älterer Herrschaften, die sich im Eisstockschießen versuchten, und rechter Hand johlte eine Horde Jugendlicher beim Eishockeyspielen. Es war ein buntes Treiben, und der riesige Chiemsee bot Platz für alle.
Christina deutete auf ein paar Bäume am Ufer. »Wie im Märchen mit dem Raureif, findest du nicht?«
Ferdinand sah in die Richtung, die sie meinte, und nickte. »Ja. Irgendwie … verzaubert.«
Ein paar Kinder rauschten an ihnen vorbei und jagten einem Puck hinterher. »Das hab ich früher auch gemacht. Als kleiner Junge. Ich hab’s geliebt, wenn der See zugefroren war.«
»Oh ja, ich auch. Und gefühlt war das auch ziemlich oft der Fall, oder?«
»Ja, in meiner Erinnerung jeden Winter. Aber vermutlich stimmt es nicht«, sagte Ferdinand. »Und? Kannst du Pirouetten drehen?«
»Klar!«
»Na, dann mach mal!«
»Ohne Schlittschuhe?«
»Ja. Trau dich!«
»Na gut!« Christina nahm Anlauf, schlitterte ein Stück und versuchte dann, sich um ihre eigene Achse zu drehen. Sie schaffte eine Umdrehung, ehe sie das Gleichgewicht verlor und rücklings auf das Eis fiel.
»Was war das denn?«, rief Ferdinand lachend zu ihr hinüber.
»Ein doppelter Rittberger«, gab sie zurück. »Leider missglückt. Und wer hilft mir jetzt auf?«
Ferdinand rückte seine verspiegelte Sonnenbrille zurecht und ging zu ihr hinüber. »Hand!«, sagte er, streckte seine aus und zog sie hoch. »Sah trotzdem spektakulär aus, fand ich!«
»Ja, toll. Und jetzt ist mein Hinterteil gebrochen.« Sie bückte sich, um ihre rosafarbene Pudelmütze aufzuheben, die ihr beim Sturz vom Kopf gefallen war. Er nahm sie und setzte sie ihr auf ihren Lockenkopf. »Das tut mir leid.« Er gab ihr einen Kuss auf die rote Nase. »Sonst alles okay, Rudolph?«
Sie nickte. »Ja. Alles okay. Ich werde mich jetzt an dir festhalten. Damit ich nicht noch mal falle.«
»Das ist gut. Und ich mich an dir!«, sagte er und zog sie näher zu sich heran.
»Oh, schau mal, Ferdi, wer da ist!«, rief sie plötzlich und zeigte mit ausgestrecktem Arm rechts an das Ufer.
Er blickte suchend in die Richtung, erkannte aber niemanden. »Wer denn?«
»Hilde und Hans!«
Jetzt sah er sie auch. Zwei Schwäne. Sie schwammen in der Nähe des Ufers auf dem Wasser. Jemand hatte das Eis dort weggeschlagen, wahrscheinlich eigens für sie, sodass sie eine winzige Fläche hatten, auf der sie schwimmen konnten. »Du meine Güte. Tatsächlich. Und du bist … äh … sicher, dass sie es sind? Ich meine, Schwäne sehen ja irgendwie alle gleich aus, die beiden könnten auch jemand anderes sein. Bernd und Beate. Julia und Jens. Kevin und Claudia. Was weiß ich?«
»Nie im Leben sind das Bernd und Beate«, rief Christina empört. »Das sieht doch jeder!«
»Okay. Wenn du es sagst …«
Sie hatten letztes Jahr im Park der Rehaklinik mehrere Begegnungen mit einem Schwanenpaar gehabt. Christina hatte die beiden Hans und Hilde getauft und zu berichten gewusst, dass Schwäne für immer zusammenbleiben, wenn sie sich einmal gefunden haben. Er hatte das damals ziemlich faszinierend gefunden, doch jetzt, wo er sie an seiner Seite hatte, kam es ihm gar nicht mehr so abwegig vor.
»Komm, lass uns mal guten Tag sagen!« Christina nahm ihn bei der Hand und steuerte das Ufer an.
»Glaubst du, sie erkennen uns wieder?«, fragte er zweifelnd.
»Auf jeden Fall! Wir waren ja zuletzt quasi ihre besten Freunde.«
»Ähm … ja. Quasi.«
»Hilde, Hans!«, rief sie wenige Minuten später, streckte die Arme aus und ging freudestrahlend auf die beiden Vögel zu.
»Verrücktes Huhn!«, murmelte er.
Der größere der zwei Schwäne reckte ihr seinen Hals entgegen und fauchte sie böse an.
Christina drehte sich lachend zu ihm um. »Siehst du? Hans erkennt uns wieder!«
»Ja, aber offenbar hat er keine sehr gute Erinnerung an uns!«
»Ach, Quatsch! Das ist nur seine Art, Freude auszudrücken. Er faucht vor Freude. Sagt man doch so, oder?«
Er lachte auch und schlang von hinten die Arme um sie. »Ich fauche auch gleich vor Freude. Weißt du, was ich glaube? Hans ist schlecht gelaunt, weil er so wenig Platz hat in dem winzigen Eisloch. Den ganzen Tag auf so engem Raum mit Hilde – stell ich mir ganz schön anstrengend vor.«
»Wieso denn?«, meinte Christina. »Ist doch kuschelig.«
»Hm. Aber auf Dauer …«
Sie wandte den Kopf zu ihm um und blickte ihn misstrauisch an. »Wie, auf Dauer?«
»Na ja, ich denke, dass der arme Hans vielleicht auch mal ein wenig Freiraum braucht. Natürlich nur wegen dem kleinen Eisloch. Ich meine, die beiden kennen sich jetzt schon eine ganze Weile und …«
»Willst du damit sagen, Hilde geht ihm langsam auf den Keks?«
»Nein. Ich denke bloß …« Er zeigte noch einmal auf das Eisloch. »Es ist wirklich verdammt klein.«
»Er könnte jederzeit da raus. Und sogar wegfliegen, wenn er wollte. Aber er tut es nicht.«
»Klar. Weil er keinen Ärger will. Aber manchmal träumt er davon, einfach die Flügel auszubreiten und davonzuschweben.«
»Soll er doch machen! Er würde eh nach ein paar Tagen wieder reumütig zurückkehren, da er gemerkt hat, dass ein Leben ohne Hilde keinen Sinn hat. Dass er verdammt allein ist ohne sie. Allein und auch richtig einsam. Und dann stellt er fest, dass ihm die ganze verdammte Freiheit gar nichts bringt, weil er nämlich niemanden hat, der ihm nahe ist.« Sie trat näher an das Eisloch heran und beugte sich vor. »Stimmt’s Hilde? Ist doch so!«
Hilde blickte sie argwöhnisch an. »Ja, ist so, Hilde! Brauchste gar nicht so gucken!«
»Geh lieber nicht so nah ran«, warnte Ferdinand sie. »Dort am Rand ist das Eis ziemlich dünn.«
Sie ging ein paarmal in die Knie. »Keine Sorge. Es hält bombenfest.«
»Na gut.« Er trat zu ihr hin und umarmte sie wieder. »Du hast natürlich vollkommen recht. Ohne Hilde wäre Hans verloren!«
»Aber so was von!«
»Komm! Lass uns mal weitergehen.« Er ließ sie los und nickte den Schwänen zu. »Ich sach mal: ›Tschüss, ihr beiden! Und Hans: Mach keinen Scheiß, ja?!‹«
Er ging zwei Schritte zurück, hob die Hand zum Abschied und hörte im nächsten Moment ein lautes Knacken.
»Zurück!«, rief er Christina zu, doch da war es schon zu spät. Sie schrie auf und brach ein wie ein nasser Sack. Das Eis hatte unter ihren Füßen nachgegeben.
»Fuck!«, entfuhr es Ferdinand. Von einer Sekunde auf die nächste war Christina bis zu den Schultern im Eisloch versunken. Nur der Kopf mit der Mütze darauf war noch über Wasser. Gott sei Dank. Sie sagte nichts. Kein Schrei, kein Hilferuf. Stumm und bewegungslos blickte sie zu ihm hin, während er dabei zusehen konnte, wie ihre Lippen blau anliefen.
»Bleib ganz ruhig!«, sagte er und meinte auch sich selbst damit. »Kein Grund zur Panik, Prinzessin.« Kurz atmete er tief ein und aus und beschwor sich selbst noch einmal, Ruhe zu bewahren. Er war Stuntman und darin geschult, in brenzligen Situationen besonnen zu bleiben. Trotzdem fiel ihm genau das jetzt schwer. Das hier war etwas anderes. Es war seine geliebte Christina, die dort im eiskalten Wasser stand und sich, so viel war sicher, ohne fremde Hilfe nicht würde daraus befreien können. Nicht mehr lange, dann würden ihre Glieder steif sein, was die Sache nicht einfacher machte. Er kannte sich aus. Fünfzehn Minuten hatten sie im besten Fall. Danach würde sie vermutlich das Bewusstsein verlieren. Während ihm diese Gedanken wie wilde Blitze durch den Kopf schossen, zog er sein Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf. Eine Dame von der Leitstelle war sofort dran. In knappen Sätzen schilderte er, was geschehen war – und wo. Feuerwehr und Rettungswagen würden so schnell es ging vor Ort sein, versprach man ihm, doch die Frage war, ob es schnell genug sein würde. Ferdinand wollte es nicht darauf ankommen lassen. »Ruhig, Liebes«, rief er Christina zu. »Hilfe ist unterwegs.«
Er sah zu Hans und Hilde hin, die ein wenig aufgebracht im Kreis herumschwammen. Immerhin griffen sie sie nicht an. Sie fauchten nicht einmal mehr. Vielleicht spürten sie den Ernst der Lage. Wer wusste schon, wozu Schwäne fähig waren.
Inzwischen hatten sich einige Passanten um ihn herum versammelt, die allesamt entsetzt zu Christina hinüberstarrten. Er nahm ein jüngeres Paar ins Visier. Beide mussten in seinem Alter sein. Sie wirkten nett, sehr besorgt und vor allem körperlich fit. »Ich brauche eure Hilfe«, sagte er ohne Umschweife. »Wie heißt ihr?«
»Marco«, sagte der Typ.
»Ilka!«, erwiderte die Frau. »Was können wir tun?«
Ferdinand deutete auf den roten Wollschal, den die Frau um den Hals trug. Er schien lang zu sein und einigermaßen stabil. »Kann ich den haben?«
»Klar!« Ohne zu zögern, wickelte sie ihn ab und reichte ihn ihm.
Ferdinand sah besorgt zu Christina hin. Ihr Gesicht war inzwischen blau angelaufen, und die Zähne schlugen vor Kälte aufeinander. Die Zeit drängte. Nicht mehr lange, und sie würde bewegungsunfähig sein. »Ich komme, mein Schatz«, sagte er und versuchte seiner Stimme einen optimistischen Klang zu verleihen. »Halt durch. Gleich hast du wieder festen Boden unter den Füßen.« Dann legte er sich bäuchlings auf das Eis. »Leg dich hinter mich und halt meinen Fuß«, sagte er zu Ilka. »Und du …« Er deutete auf ihren Freund. »Du ziehst gleich an ihrem Bein, wenn meine Freundin den Schal gegriffen hat. So können wir sie vielleicht herausziehen.«
Ilka und Marco verstanden schnell und taten, wie ihnen geheißen. Ferdinand robbte, den Schal in einer Hand, langsam in Richtung Christina vor. »Ich bin gleich da, Süße«, sagte er so ruhig er konnte. »Gleich werfe ich dir den Schal zu. Den hältst du ganz fest, und dann ziehen wir dich damit raus, okay?«
Christina antwortete nicht, aber er glaubte ein Nicken gesehen zu haben. Am liebsten wäre er ganz zu ihr hingekrabbelt, um sie einfach zu packen und herauszuziehen, doch die Gefahr, dabei selbst einzubrechen, war viel zu groß. Als er etwa einen Meter von Christina entfernt war, holte er mit dem rechten Arm aus und warf das vordere Ende des Schals zu Christina hin. »Halt dich daran fest!«, sagte er und hoffte inständig, dass sie dazu noch in der Lage war.
Es schien so. Stumm griff sie nach dem gestrickten Kleidungsstück, wickelte ihn sich dreimal um den rechten Arm und hielt sich dann mit beiden Händen daran fest.
Ferdinand blickte sich um. »Es kann losgehen«, rief er seinen Helfern zu. Sofort spürte er einen Ruck an seinem Fuß. Er sah, dass hinten noch andere Leute mithalfen, zu ziehen. »Halt dich gut fest!«, rief er Christina zu. »Du hast es gleich geschafft!« Hoffentlich, fügte er in Gedanken hinzu, während er das andere Ende des Schals umklammert hielt. Er wurde länger und länger, und er fürchtete schon, dass er reißen würde, bevor er Christina aus dem Wasser geholfen hatte. Doch dann tat sich endlich etwas. Christinas Oberkörper lag nun halb auf dem Eis. Vorsichtig versuchte sie, mit den Ellbogen ein wenig nachzuhelfen. »Pass auf!«, warnte er. »Das Eis ist dünn an der Stelle.«
Sie nickte bibbernd.
»Zieht fester«, rief er nach hinten, obwohl er schon jetzt das Gefühl hatte, gleich auseinandergerissen zu werden.
Plötzlich spürte er einen kleinen Ruck, und dann, endlich, lag Christinas Körper auf dem Eis. Sie hatten es tatsächlich geschafft! Die Helfer zogen sie noch ein Stück weiter, Richtung Mitte des Sees. Dann war sie in Sicherheit. Wie durch Watte nahm Ferdinand wahr, dass um sie herum applaudiert wurde, dass die Schwäne fauchten und das Geräusch von Martinshörnern näher kam. Der Notarzt war also im Anmarsch, dachte er erleichtert. So schnell wie möglich robbte er zu Christina hinüber. Sie lag noch immer bäuchlings auf dem Eis. Den Kopf hatte sie auf ihren Armen abgelegt. Sie keuchte. Er setzte sich auf, zog sie zu sich herüber und schlang die Arme um sie. »Hey, geht’s dir gut?«, fragte er und drückte ihren triefnassen Oberkörper an seinen.
Statt einer Antwort zitterte sie nur. Sie war völlig unterkühlt und stand vermutlich unter Schock.
Wenig später kamen zwei Sanitäter mit einer Trage zu ihnen. »Wir nehmen sie jetzt mit«, sagte der eine.
»Ja, sie friert«, erwiderte Ferdinand wie in Trance. »Macht sie schnell wieder warm.«
Christina wurde in eine Rettungsdecke gehüllt und in den Krankenwagen geschoben. Dann transportierte man sie nach Rosenheim ins Krankenhaus. Ferdinand bestand darauf, sie zu begleiten. Auf der Fahrt saß er neben ihr und hielt die ganze Zeit ihre eiskalte Hand. Sie lag mit geschlossenen Augen da und sagte die ganze Zeit kein einziges Wort. »Warum spricht sie nicht?«, fragte Ferdinand den Sanitäter mit besorgter Miene.
»Sie hat einen Schock«, erklärte der. »Das ist ganz normal bei so einem Unfall.«
Christina blieb über Nacht im Krankenhaus – zur Beobachtung. Zum Glück war sie am nächsten Tag wieder so stabil, dass sie entlassen werden konnte, auch wenn ein Halskratzen das ankündigte, was zu erwarten war: eine fette Erkältung. Mindestens.
»Mach so was nie wieder«, sagte Ferdinand, nachdem er sie zu Hause ins Bett gepackt hatte. Er setzte sich auf die Bettkante und reichte ihr eine Tasse heißen Tee.
»Was?«
»Fast ertrinken!«
Sie griff nach seiner Hand. »Du hast mir das Leben gerettet, Ferdinand von Greiffenberg. Wie kann ich das je wiedergutmachen?«
»Das musst du nicht«, erwiderte er. »Du hattest noch ein Leben gut bei mir.«
Der Wecker klingelte laut und gefühlt viel zu früh. Pauline tastete mit geschlossenen Augen nach der Snooze-Taste. Noch einmal umdrehen, dachte sie. Nur für einen Moment.
Normalerweise fiel ihr das Aufstehen nicht besonders schwer, aber heute war es anders. Vielleicht weil Montag war und der lange Weihnachtsurlaub endgültig zu Ende. Sie sah müde zum Fenster hin. Draußen war es noch stockdunkel, und wenn die Wettervorhersage recht behielt, würde es an diesem Tag auch gar nicht erst richtig hell werden. Trübe Aussichten hatte es geheißen, und das, fand sie, galt nicht nur für das Wetter. Nach dem dritten Weckerklingeln quälte sie sich trotzdem aus dem Bett. Es half ja nichts. Die Zwillinge mussten in die Schule und sie ins Büro, wo sicher viel Arbeit auf sie wartete nach der beinahe zweiwöchigen Auszeit, die sie sich gegönnt hatte. Sie weckte Max und Ada, schlüpfte in Jogginghose und Sweatshirt und lief die Treppe hinunter. Erst mal Kaffee, dachte sie und steuerte zielstrebig die Küche an. Am besten gleich zwei oder drei.
»Morgen, Margit!« Sie unterdrückte ein Gähnen.
Die Haushälterin war gerade dabei, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. »Morgen, Pauline. Möchtest du Kaffee?«