Das Erbe der Vahnen - Lucas Schulz - E-Book

Das Erbe der Vahnen E-Book

Lucas Schulz

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Beschreibung

Endlich kehrte die lange verreiste Admiralin der Freien Nation zurück, doch im glücklichen Wiedersehen schleicht sich eine geheimnisvolle Krankheit in die Heimat. Schnell sind weite Teile der Bevölkerung des Inselreiches infiziert und es ist an ihrer Tochter, Tiana, zusammen mit der tapferen Mannschaft der Wellenbrecher am Festland ein Heilmittel zu finden, denn die alten Feinde der Nation warten bereits sehnsüchtig darauf die Schwächung Malnesias auszunutzen. Auf ihrer Reise muss Tiana Gefahren trotzen, die den Horizont der meisten Menschen übersteigen. Für die waghalsige Truppe aus Freunden steht mehr als das Bestehen ihres Zuhauses auf dem Spiel, denn Mächte aus vergessenen Zeiten gieren nach der Kraft, die vermeintlich in der Erbin der Vahnen ruht. Worauf warten Sie also noch? Packen Sie ihren Seesack, werfen Sie einen letzten inständigen Blick auf die geliebte Heimat und folgen Sie Tiana über den Landgang an Bord der Wellenbrecher…

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lucas Schulz

Geschichten von der hohen See

Band 1:

Das Erbe der Vahnen

Roman

Impressum

Texte und Umschlaggestaltung:

© Copyright by Lucas Schulz

Postfach 11 02

64347, Griesheim

Lektur:

Kira Alles

Korrektur:

Astrid Brecht

Schiffs- und Galionsfigurenillustrationen:

Tanja Reß

4. Auflage

Herstellung:

epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Köpenicker Straße 154a,

10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Gewidmet Tia, Kira und Eva, denn ohne sie wäre dieses Buch nie entstanden.

„Das Leben mag zu kurz sein, um die Welt zu ändern,“

„doch ist es zu lang, um es nicht zu versuchen.“

- Rés von den Kal’Iri -

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

Ein Birnbaum in seinem Garten stand,

Und kam die goldene Herbsteszeit

Und die Birnen leuchteten weit und breit,

Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,

Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,

Und kam in Pantinen ein Junge daher,

So rief er: »Junge, wiste ‘ne Beer?«

Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,

Kumm man röwer, ick hebb ‘ne Birn.«

So ging es viel Jahre, bis lobesam

Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.

Er fühlte sein Ende. ‘s war Herbsteszeit,

Wieder lachten die Birnen weit und breit;

Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.

Legt mir eine Birne mit ins Grab.«

Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,

Trugen von Ribbeck sie hinaus,

Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht

Sangen »Jesus meine Zuversicht«,

Und die Kinder klagten, das Herze schwer:

»He is dod nu. Wer giwt uns nu ‘ne Beer?«

So klagten die Kinder. Das war nicht Recht

Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;

Der neue freilich, der knausert und spart,

Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.

Aber der Alte, vorahnend schon

Und voll Misstrauen gegen den eigenen Sohn,

Der wußte genau, was damals er tat,

Als um eine Birn’ ins Grab er bat,

Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus

Ein Birnbaumsprössling sprosst heraus.

Und die Jahre gingen wohl auf und ab,

Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,

Und in der goldenen Herbsteszeit

Leuchtet’s wieder weit und breit.

Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,

So flüstert’s im Baume: »Wiste ‘ne Beer?«

Und kommt ein Mädel, so flüstert’s:

»Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick gew’ di ‘ne Birn.«

So spendet Segen noch immer die Hand

Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Theodor Fontane, 1819 - 1898

Tiana betrachtete sehnsüchtig das kleine Fenster ihres Zimmers. Man konnte vom Anwesen, das auf einem Hügel errichtet worden war, auf das schäumende Meer hinabsehen. Manchmal wünschte sich die Tochter der Admiralin, einfach eines der Schiffe ihrer Mutter zu nehmen und in See zu stechen. Es gab zwar nur wenige Regeln, die das Mädchen beachten musste, doch waren diese wenigen besonders grausam. Zumindest empfand Tiana es so.

Mit den Armen stütze sie sich seufzend auf dem Fensterbrett ab. Selbst, wenn das Mädchen das Rauschen der Wellen in diesem Augenblick nicht hören konnte, stellte sie es sich vor. Der Gesang der Wogen war ihr liebstes Geräusch, denn irgendetwas am Klang des Meeres beruhigte sie. Was genau, konnte sie allerdings nicht sagen. Es waren nicht nur die Wellen, die ihr gefielen. Das Meer an sich besaß eine fast schon magische Anziehungskraft. Eines Sonnenaufgangs werde ich mit Sunja und den anderen auf dem Meer segeln, dachte sie bei sich, alle bekannten Länder will ich sehen und neue entdecken. Ja, eine Entdeckerin wollte sie sein.

Bei dieser Überlegung blieben Tianas Gedanken an Sunja hängen. Die erwachsene Frau war ihre beste Freundin unter den Seeleuten, schließlich gab es auf den Inseln ihrer Mutter nur wenige Kinder. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Haut war die Haut der Frau dunkel. Früher als kleines Kind hatte sie das gewundert, doch dann erzählte die Seefahrerin ihr den Grund für ihre andere Hautfarbe.

In der ganz frühen Zeit der Menschheit habe der Gott des Feuers, Ritor, bei der Erschaffung aller Leute seine Erstgeborenen so sehr geliebt, dass er sie stets umarmen musste. Dadurch wurde aber ihre Haut immer dunkler.

Natürlich wusste sie, dass diese Geschichte Unsinn war. Schließlich war sie schon zwölf Winter alt und mit zwölf Wintern weiß man viel über die Welt. Der alte Kalvin erklärte ihr, dass die dunklere Haut der Offizierin vom Schein der Sonne käme. Sie sei ein Schutz gegen die erbarmungslose Hitze auf hoher See. Nur die besonders erfahrenen Seeleute wüssten das und immerhin war sie schon oft mit ihrer Mutter zum Segeln in die Bucht hinausgefahren. Also gehörte sie wohl zu den erfahrenen Seeleuten.

Eigentlich war ihr die Haut der Frau egal. Es machte so oder so keinen Unterschied, denn Sunja war eines der nettesten Mitglieder in der Mannschaft ihrer Mutter. Immer brachte sie ihr etwas Süßes aus den fernen Provinzen mit und dabei war in den schmalen blauen Augen der Frau stets wahre Freude zu sehen. Auch war sich die Seefahrerin nicht zu schade, noch mit ihr zu spielen. Viele der alten Seebären knurrten nur mürrisch, wenn Tiana sie bat, mit ihr zu spielen. Würde sie eine kleine Runde Fangen umbringen? Zwar wusste sie keine Antwort auf die Frage des Fangenspielens, aber Kalvin wusste sicher eine.

Beim erneuten Gedanken an den Koch des Flaggschiffes ihrer Mutter erinnerte sich das Mädchen an den Grund, aus dem sie das Meer durch ihr Fenster beobachtete. Sie hielt Ausschau nach eben diesem Schiff.

Am Morgen hatte sie versucht, mit Marik zu spielen, um sich die Zeit zu vertreiben. Leider Begriff der sechzehn Winter alte Junge das Prinzip des Spielens nur sehr schwer. Immer wieder hatte sie versucht, ihm die Regeln zu erklären. So schwer konnte es doch nicht sein, wenn sogar sie es verstand. Es war scheinbar unmöglich dem Kerl ein Spiel beizubringen.

Den gesamten Mittag hatte sie dagegen damit verbracht, auf die Wellen zu gucken, doch nichts war zu sehen. Alles in allem war dieser Sonnenaufgang wenig interessant gewesen. Ernüchtert ließ sie die Schulter hängen, als weiterhin nichts passierte. Eigentlich sollte die Herrin der Hochsee bereits angekommen sein, aber am blauen Horizont war nichts zu sehen. Dauert es vielleicht noch einen Sonnenaufgang? Sie stieß sich lustlos von der Fensterbank ab und trottete aus dem Zimmer.

Auf dem Weg aus der Residenz ihrer Mutter ließ sie den Kopf enttäuscht hängen. Die Hände in den Taschen ihrer dunklen Hosen vergraben, ging sie durch den Hafen. Hin und wieder grüßte sie einer der Seeleute. Einmal sprach sie sogar ein Händler an, der ihr etwas Süßes schenken wollte, doch Tiana lehnte es freundlich mit den Worten ab: »Nein, danke, meine Mutter sagt, von Fremden soll ich nichts annehmen. Hab einen schönen Sonnenaufgang.«

Im Hafen von Malnesia konnte man zu jeder Zeit die wundersamsten Dinge sehen. Neben bunten Tüchern aus allen Provinzen gab es Leckereien aus den entlegensten Winkeln der Welt. Aus zahlreichen Tavernen torkelten Seeleute, Söldner und Händler mit Krügen in den Händen.

Es roch dort immer etwas seltsam, aber Tiana hatte sich daran gewöhnt. Sie wusste, dass es sich lohnte, die Händlerpiers zu passieren. Man gelangte nur über diesen Weg zu den Kais der Flotte. Dort, das war ihr bewusst, gab es die wahren Schätze zu bestaunen. Wichtig war nur, nicht aufzufallen. Die Besatzungen der Schiffe mochten es ganz und gar nicht, wenn sich Kinder unter ihnen aufhielten, wobei das weniger an den Männern und Frauen im Dienst ihrer Mutter lag, sondern mehr an ihrer Mutter selbst. Kelvin, der alte Koch der Herrin der Hochsee, berichtete hin und wieder vom ungebremsten Temperament ihrer Mutter. Manchmal erlebte sie die Seefahrerin in solcher Wut, dass sie sich selbst vor ihr fürchtete, aber das passierte nur selten. Das Mädchen war in den meisten Fällen der Grund dafür. Es war durchaus schon vorgekommen, dass Tiana etwas ausfraß, was ihre Mutter von einer liebenden Heldin in ein Monster verwandelte, vor dem es zu flüchten galt.

Gedankenverloren ging sie die Hauptstraße entlang, die sie zu den Anlegestellen der Militärschiffe führen würde. An ihrem Ende mündete die Straße, die an den Kais vorbeiführte, in einer schmalen Holzbrücke. Sie spannte sich unter Palmen über eine kleine Bucht. Tiana war sich im Klaren darüber, dass diese zu einem Fluss gehörte, der auf einem Berg inmitten der Insel entsprang. Aus Erzählungen wusste das Mädchen, wie winzig das Rinnsal war, aus dem später ein großer Fluss wurde. In ihrem Gedächtnis kramte Tiana nach dem Namen des Flusses und erinnerte sich, dass man ihn den Traumschlucker nannte. An den Grund dafür konnte sie sich allerdings nicht erinnern.

Die Palmen spendeten auf der Brücke Schutz vor den Strahlen der Sonne. Das Mädchen versuchte so selbstsicher, wie es ihr möglich war, über die Brücke zu stolzieren. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man weniger belästigt wurde, wenn man so tat, als hätte man das Recht, dort zu sein, wo man war. Zu ihrer eigenen Überraschung funktionierte es erstaunlich oft.

Ihr kamen nur wenige Seeleute entgegen. Alle von ihnen schienen so beschäftigt mit sich selbst zu sein, dass sie die Gestalt nicht wahrnahmen, die die Brücke überquerte. Endlich, nach einer Ewigkeit, erreichte Tiana die Kais. Das geschäftige Treiben der Männer und Frauen, die mit den großen Schiffen zur See fuhren, erstreckte sich hier über den gesamten Militärhafen. Obwohl sie dieses Schauspiel schon oft gesehen hatte, war sie sich sicher, dass es niemals seinen Reiz verlieren würde. Eilig huschten die Leute zwischen den Anlegestellen hin und her.

Es wurden Schiffe mit eindrucksvollen Lastkränen entladen, während Männer schwere Kisten von den Stegen zu vereinbarten Lagerstellen brachten. Dabei machten sie, so fand zumindest Tiana, vor Anstrengung die ulkigsten Gesichtsausdrücke. Für diese harten Kerle war es normalerweise eine Sache der Ehre, keine Miene zu verziehen, doch auf der heimischen Insel bot sich ein anderes Bild. Sie wusste, dass die meisten dieser Seeleute bereits unzählige Reisen durch die Welt hinter sich hatten.

Viele der Seefahrer trugen die gleiche dunkle Haut wie Sunja zur Schau. Oft ging dies mit schwarzem oder braunem Haar einher. Ob das Haupthaar nach Art der Bewohner der fernen Provinz Daranien zu einem Pferdeschwanz gebunden, kurzgeschoren oder kahl war, der Kreativität war keine Grenze gesetzt. Am Körper trugen sie mal zerschlissene, mal edle Kleidung. Alles in allem war die Mannschaft ein bunt gemischter Haufen.

Jeder war willkommen, solange er oder sie bereit war, für die Freiheit den Hass aller Provinzen auf sich zu nehmen. Ihre Mutter erklärte es oft genug, so dass es sich mittlerweile in Tianas Gedächtnis eingebrannt hatte. In Gedanken wiederholte sie die Doktrin:

Freiheit ist das höchste Gut, das es zu verteidigen gilt. Sie zu schützen ist unsere höchste Pflicht.

Ihr Hauslehrer, Herr von Masív, behauptete oft, dass dieser Satz Unsinn sei. Er sagte stets: »Freiheit ist keine Pflicht, sie ist Bürde und Schatz zugleich.« Zwar begriff sie selbst nicht ganz, was er damit meinte, aber es war sicherlich etwas Kluges. Konstant war der Mann bemüht, ihr das Wissen beizubringen, welches die Meisten nicht besaßen. Sie konnte schon sehr gut rechnen und lesen, worauf das Mädchen besonders stolz war. Mit dem Schreiben hatte sie noch ein paar Schwierigkeiten, aber das würde sicher noch besser werden. Schon früh begriff sie, welche Macht Geschichten haben konnten.

Plötzlich ging ein Raunen durch die geschäftige Menge. Neugierig schaute Tiana in die Richtung, aus welcher der Tumult kam. Einige der Anwesenden deuteten auf den Horizont, über dem sich in der Ferne die tiefblauen Segel eines Schiffes im Wind blähten. Oberhalb des Krähennestes schlackerte eine rote Flagge. Vor Freude machte ihr Herz einen Sprung. Nur die Herrin der Hochsee, das Schiff ihrer Mutter, besaß eine rote Flagge. Die anderen Schiffe der Flotte zeigten goldene Flaggen. Aufgeregt versuchte sie, sich durch die Menge zum Pier zu schmuggeln. In ihrer Nase lag der salzige Duft des Meeres, während der leichte Wind über ihr lockiges braunes Haar streifte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie den Steg. Das Schiff war noch weit entfernt, doch konnte sie bereits einzelne Mitglieder der Mannschaft erkennen. An der Figur am Bug, eine gigantische Raubkatze, erkannte sie den Schiffsjungen Jonár. Grinsend winkte der Junge den sich an Land versammelnden Seeleuten zu, unter denen sich auch einige Leoranen befanden. Früher hatte sie sich vor dem hochgewachsenen Volk vom Festland oft gefürchtet, denn sie machten auf den ersten Blick einen ziemlich gruseligen Eindruck. Sie besaßen das Aussehen von äußerst starken, aufrecht gehenden Raubkatzen und wurden meistens wesentlich größer als Menschen, aber mittlerweile ängstigten sie die Leoranen nicht mehr. Tiana hatte gelernt, dass sie nicht besser oder schlechter waren als Menschen.

Inzwischen erspähte sie sogar den Ausguck Lem, ein hagerer Kerl, der oft entweder im Krähennest oder auf dem Weg dorthin zu sehen war.

Wellen barsten schäumend unter der Kraft des Schiffsrumpfes. Energisch pflügte die Herrin durch die schimmernde See. Leicht strich der Wind über den Kopf des jungen Mädchens, das nun am Ende des Steges auf das Eintreffen ihrer Mutter wartete. »Segel reffen und den Anker vorbereiten!«, schallte es von Bord der Herrin, als sie sich dem Pier näherte und es dauerte nicht lange, bis die Antwort der Mannschaft erklang: »Aye Aye, Käpt’n!« Jubelrufe und Gejohle wurden hinter der Tochter der Admiralin laut.

Schließlich legte die Herrin mit einem Platschen des massiven Ankers im Hafen an. Der Jubelchor steigerte sich dadurch nur noch. Ein Abstieg wurde herabgelassen, von dem sogleich Seeleute auf den Steg strömten und begannen, grölend ihre Freunde zu begrüßen. Freudestrahlende Männer und Frauen lagen sich in den Armen. Einige küssten lang vermisste Gatten, bis letztlich eine harsche Stimme auf dem Pier erschallte: »Eure Admiralität ist heimgekehrt, ihr Trunkenbolde!« Während sich die Menge nach der Stimme der ersten Offizierin Sunja Wirbelwind umdrehte, schritt Tianas Mutter den Abstieg herab. Unter neuerlichem Jubel trat sie auf den Steg. Grinsend verbeugte sich die Admiralin tief vor ihrem Gefolge, dann rief sie: »Was macht ihr noch hier? Die Tavernen warten darauf, gefüllt zu werden. Lasst uns feiern, Freunde!«

Als die Menge mit weiteren Rufen und Lobgesängen reagierte, schrie Sunja lachend: »Ihr habt die Admiralin gehört, bringt euer Gold zu den Schankmaiden!« Eilig verschwanden die Seeleute in die Stadt.

Erst jetzt bemerkte die hochgewachsene Frau ihre Tochter auf der Anlegestelle. Mit einer hochgezogenen Augenbraue funkelte sie das Kind an. »Was treibst du hier, Tiana?«, wollte sie in ernstem Tonfall wissen.

»Ich weiß nicht, wie oft ich dir schon gesagt habe, dass du nicht zu den Kais kommen sollst. Du hast hier nichts zu suchen.«

Verdrossen betrachtete Tiana ihre Schuhe. Festen Schrittes ging die Mutter auf sie zu. Währenddessen schimpfte sie weiter mit ihr: »Es ist gefährlich an den Kais. Das hier ist kein Ort für Kinder.« Tiana nickte betroffen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte.

»Trotzdem freut es mich, dich zu sehen.«

Die Stimme ihrer Mutter war schlagartig weicher geworden.

»Jetzt gib deiner alten Mutter ‘ne Umarmung.«

Langsam hob das Mädchen den Kopf und sah das lächelnde Gesicht ihrer Mutter. Strahlend vor Freude schlang sie die Arme um die Admiralin, die diese Geste sofort erwiderte. In unermesslicher Freude versunken hob die Admiralin Tiana gerade hoch genug, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, nur um sich mit ihr auf der Stelle zu drehen. Vergraben in den langen braunen Haaren der Frau spürte sie einen Kuss auf ihrem Kopf. Während sich ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete, wurde Tiana bewusst, wie sehr sie ihre Mutter vermisst hatte.

In der darauffolgenden Zeit passierte auf den Inseln recht wenig, denn um genau zu sein passierte nichts und das missfiel Tiana sehr. Sie hatte sich gefreut, die interessanten Geschichten von der Besatzung über die lange Reise zu hören, doch keiner verlor auch nur ein Wort darüber. Selbst ihre Freundin Sunja war erstaunlich schweigsam. Es schien ihr, als haben die Seeleute etwas Schreckliches erlebt, weswegen sie Tiana mieden. Nachdem sich die Tochter der Admiralin das Schauspiel einige Sonnenaufgänge lang angesehen hatte, fragte sie den weisesten Mann, der nicht an Bord der Herrin der Hochsee gewesen war.

„Herr von Masív?“

Der Hauslehrer blickte von einem rot eingebundenen Buch auf, als sie in sein Büro eintrat. Sofort wollte er wissen: „Ja, was kann ich für dich tun?“ Etwas verlegen druckste sie um die Frage herum, bevor der Mann zu verstehen schien. „Sorgst du dich um deine Mutter und die Mannschaft der Herrin?“, fragte er das Mädchen mild lächelnd.

„Sie scheinen ruhiger als sonst zu sein. Nicht wahr?“

Der hagere Mann mit den aschblonden Haaren verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust. Seine himmelblauen, tiefliegenden Augen, die von dunklen Ringen umgeben waren, musterten das Mädchen neugierig, während seine blassen Lippen sich zu einem freundlichen Ausdruck verzogen.

Er trug eine Uniform der Marine ihrer Mutter, auch wenn Tiana nicht verstand, warum ihr Hauslehrer zur Flotte gehören sollte. Über seiner weißen Tunika trug er einen offenen, dunkelblauen Leinenstoffmantel, dessen goldene Knöpfe glänzten. Auf der Brust ruhte ein kleiner Metallanhänger, der einen Anker an einer angerosteten Kette zeigte. Auf seinen Schultern befanden sich Schulterklappen, welche seinen Rang kenntlich machten. Dort war auf jeder Seite ein goldener Stern aufgenäht, was bedeuten musste, dass sein Rang besonders hoch war. Ein einzelner goldener Stern stand nämlich nur den direkten Beratern ihrer Mutter zu, während die Admiralin selbst zwei goldene Sterne auf den Schultern besaß. Für gewöhnlich zog er dazu eine schwarze Stoffhose und ebenso dunkle Lederstiefel an, die sie allerdings hinter dem Schreibtisch nicht sehen konnte.

Entspannt legte er die Feder zur Seite, dann lehnte er sich gegen die Rückenstütze seines Stuhls. Vor ihm stand ein Schreibtisch aus massiver Eiche, in den kunstvolle Muster eingraviert waren. Lange Kratzer zeichnet sich auf der Tischplatte ab, während der ein oder andere getrocknete Tintenfleck im Licht der durch ein Fenster scheinenden Sonne glänzte. Mehrere dicke Bücher lagen neben einem gläsernen Tintenfässchen, das gefüllt war mit blauer Tinte.

„Bitte setz dich. Möchtest du etwas trinken?“

Mit diesen Worten wies er auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Tiana folgte seiner Aufforderung. Das Polster der mit rotem Samt bezogenen Lehne fühlte sich weich an.

„Herr von Masív?“

Nervös wiederholte sie den Namen des Mannes. Er nickte zum Zeichen, dass sie fortfahren solle.

„Warum sind alle so ruhig? Immer wenn Sunja von einer Reise heimkam, hat sie in der Taverne am Hafen - mir fällt der Name nicht ein - Geschichten von der Fahrt erzählt, aber jetzt sitzt sie einfach nur am Hafen und starrt auf das Meer.“

Nachdenklich fuhr er sich durch den dichten gepflegten Bart. Einige Momente lang blickte er in die Leere, bevor er antwortete: „Nun, Tiana, ich kann dir leider keine genaue Antwort darauf geben. Auch ich habe schon versucht, mit Frau Wirbelwind zu reden, doch sie scheint zunehmend weniger interessiert an Gesprächen zu sein. Wir haben früher stets äußerst interessante Unterhaltungen geführt.“ Während der Hauslehrer seine Hände auf dem Papier des Buches faltete, fügte sie an: „Es ist aber nicht nur Sunja, sondern auch meine Mutter und die Mannschaft der Herrin.“ Das Mädchen glaubte, er verstand die Ernsthaftigkeit der Situation nicht.

Wieder vergingen mehrere Augenblicke, ehe Herr von Masív das Wort ergriff: „Weißt du, manchmal sieht man auf See etwas, das man nicht versteht. Sie versuchen so damit umzugehen. Möglicherweise brauchen sie nur etwas Zeit. Wir beide sollten das im Auge behalten, damit ihnen nichts Schlimmeres geschieht, nicht wahr? Doch für den Anfang sollte das genügen.“

Zwinkernd nahm er die Feder erneut zur Hand und notierte sich etwas in dem großen, roten Folianten. Tiana bedankte sich verdrossen, während sie vom Stuhl rutschte.

Noch nicht einmal der Lehrer, der sonst immer eine Antwort hatte, konnte ihr helfen. Es musste schlimm um ihre Familie stehen. Niemand schien die Gefahr so klar zu sehen wie sie selbst. Sich höflich verabschiedend ging das Mädchen aus dem Studierzimmer des Lehrers.

Sie musste mit Sunja sprechen oder es zumindest versuchen. Als sich Tiana auf den Weg zum Hafen machte, formten sich immer neue Sorgen in ihren Gedanken. Was soll ich machen, außer mit den Erwachsenen zu sprechen? Ihr blieb nicht viel anderes übrig. Irgendjemand musste wissen, was mit ihnen los war. Vielleicht stand in den Logbüchern etwas über die Reise. Das Mädchen beschloss, nach einem Besuch bei Sunja die Bücher ihrer Mutter zu stibitzen, um jene nach Antworten zu durchsuchen.

Endlich erreichte sie die Händlerkais des Hafens von Meslan. Auf einem Holzstuhl vor ihrer Stammtaverne saß die erste Offizierin ihrer Mutter umgeben von unzähligen Tischen. An diesen stark abgewetzten Holzplatten saßen sogar noch einige der Besatzungsmitglieder des Flaggschiffes. Zu Tianas Überraschung blickten sie nur starr auf ihre Krüge. Von der für gewöhnlich vorherrschenden guten Laune war hier nichts zu spüren.

Hinter ihnen erhob sich der prunkreiche Bau des Gasthauses. Über einem Fundament aus Bruchstein bildeten Granitblöcke die Wände des Gebäudes. Durch einige Fenster fiel Licht in den Schankraum und schwarzer Schiefer bedeckte das Dach. Ein eisernes Schild über der Eingangstür zeigte den Namen der Taverne. Dort stand in verblasster weißer Farbe: Zu den Drei Goldenen Karpfen. Daneben waren die drei namensgebenden Fische abgebildet.

Sunja wippte lustlos mit ihrem Stuhl vor und zurück. Ihre schwielige rechte Hand hielt einen schäumenden Krug, während ihre linke auf der Armlehne des Stuhls ruhte. Sie trug eine Weste aus blauem Stoff über einem locker sitzenden, weißen Hemd. Ihre Beine steckten in schwarzen, aber wesentlich schmuddeligeren Beinkleidern und an den Füßen hatte sie schwere, schwarze Stiefel. Goldene Armreifen zierten ihre Handgelenke und auf ihrem rechten Oberarm konnte Tiana das Ende einer Tätowierung sehen, die eine Möwe zeigte. Unter dem Küstenvogel stand in verschlungenen Runen: Sie fliegt mit ihren eigenen Flügeln. Der linke Unterarm Sunjas zeigte dagegen die Tätowierung eines Hais

Zwei Ohrringe schimmerten zwischen dem schwarzen Haupthaar hervor, das auf einer Hälfte ihres Kopfes lang und auf der anderen kurzgeschoren war. Lange Narben zogen sich durch das feine Gesicht mit den hohen Wangenknochen der Frau. Ihre blauen von Lachfältchen umgebenen Augen starrten in die Ferne, ohne etwas zu sehen. Die schmalen Lippen fest aufeinandergepresst regte sich kein Muskel in ihrem Körper. Lediglich der linke Fuß ließ den Stuhl wippen.

„Sunja?“

Auf die fragende Stimme des Kindes folgte keine Reaktion, also schüttelte sie an Sunjas Schulter. Langsam drehte sich der Kopf der Frau zu Tiana. Die Worte kamen nur schwerfällig aus ihrem Mund: „Was … kann … ich … für dich … … tun?“ Ihr Blick war glasig geworden.

„Wie geht es dir?“

Lediglich ein Nicken der Frau folgte auf Tianas Frage. Bereits jetzt konnte das Kind erkennen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Ein wenig fester am Arm der Frau rüttelnd versuchte sie wieder, die Offizierin anzusprechen, doch bekam sie auch dieses Mal keine richtige Antwort. Irgendetwas musste gewaltig falsch sein. Normalerweise war Sunja eine lebenslustige Person, die nichts lange an einem Ort halten konnte. Es dauerte noch zwei oder gar drei Versuche bis Tiana aufgab und sich auf den Weg zum Anwesen ihrer Mutter machte. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste etwas unternehmen. Allen schien es Sonnenaufgang um Sonnenaufgang schlechter zu gehen. Sunja wurde immer seltsamer, während die halbe Besatzung des kürzlich zurückgekehrten Flaggschiffes bereits im Hospital der Stadt lag. Laut einiger Gerüchte, von denen jeder glaubte, Tiana würde sie nicht mitbekommen, hatten sie eine schreckliche Krankheit.

Unterwegs betrachtete sie wie immer die geschäftigen Straßen Meslans. Zwischen den unzähligen Seeleuten tummelten sich Händler, Söldner und in Ungnade gefallene Navigatoren. Man erkannte die Angehörigen der jeweiligen Profession an ihrer Kleidung. So trugen die meisten Händler prachtvolle Gewänder in den unterschiedlichsten Farben.

Ein Mann mit rotem Wams, unter dem er eine blaue Hose am Leib hatte, fiel ihr besonders auf. Eine goldene Schärpe zog sich über seine Brust. Mit schwarzem Garn hatte man dort den Namen seines Herren eingestickt. Runen bildeten dort das Wort Dinjena, mit dem sie selbst nicht viel anfangen konnte. Am Gürtel baumelte ein geschwungener Säbel. Sein braunes Haar war mit einem schwarzen Band zusammengebunden. Nur eines seiner Augen blickte finster umher, da das andere unter einer Augenklappe verborgen war. Unterhalb der Augen zeigte sich eine krumme Nase, die von tiefen Narben gesäumt wurde. Spitze Lippen formten einen ungerührten Ausdruck, während er sich unterhielt. Er sprach mit einem untersetzten Mann, den Tiana kannte. Es war Lem, der Ausguck auf der Herrin der Hochsee. Im Vorbeigehen konnte sie Fetzen des Gespräches erhaschen: „Es muss getan werden. Zum Wohle aller und vor allem der Dinjena. Wisset, dass Ihr reich belohnt werdet, wenn Ihr eure Sache gut macht.“ Lem, der sich zu erschrecken schien, winkte dem Mädchen hastig zu.

Es wurde schon langsam Mittag, als Tiana das Anwesen ihrer Mutter erreichte. Das große Gebäude bestand aus mehreren Teilen und stammte aus den Anfängen der Stadt. Ihrer Mutter zufolge war es einer der ersten Bauten, die auf der Insel errichtet worden waren. In der Mitte befand sich auf der ersten Ebene die Eingangshalle, der Speisesaal sowie natürlich der Salon. Schon im zweiten Stock befanden sich die Räumlichkeiten der Besitzerin, denn dort waren die Arbeitszimmer ihrer Mutter und ihre Schlafgemächer. Sie selbst hatte ihre Mutter im letzten Winter um ein Zimmer im Erdgeschoss des rechten Anbaus gebeten. Über einen längeren Zeitraum hatte sie die Frau so lange mit derselben Frage gequält, nämlich wann sie in ihr neues Zimmer ziehen konnte, bis die Admiralin eingeknickt war. So bekam Tiana ihr Zimmer direkt neben der Bibliothek.

Im linken Abschnitt des Gebäudes befanden sich die Gemächer der Bediensteten, die Küche und etwas, das ihre Mutter Observatorium nannte. Zwar wusste sie nicht, was damit gemeint war, aber es interessierte sie auch nicht sonderlich. Angeblich gab es im Keller noch eine geheime Schatzkammer, doch sie hatte nie einen Zugang gefunden.

Die Fassade des aus Granit errichteten Hauses war mit kunstvollen Bildhauereien bedeckt. Sie zeigten seefahrerische Motive wie Schiffe, die von Monstern angegriffen wurden. Durch unzählige gläserne Fenster schien das Licht der Sonne ins Anwesen. An der Front befand sich auf der zweiten Ebene ein prächtiger Balkon. Dort standen einige Stühle und ein kleiner Holztisch. Gedeckt war das Dach des Anwesens mit roten Ziegelschindeln.

Langsam drückte sie die schwere Eicheneingangstür auf. Zum Vorschein kam ein majestätischer Raum, dessen Boden mit einem riesigen roten Teppich bedeckt war. An den Wänden präsentierten lange Seidenbanner das Wappen der Inseln. Auf dem Wappenschild waren zwei gekreuzte Marinesäbel hinter einem Schiff zu sehen. Darunter stand der Name ihrer Heimat: Malnesia.

Den Rand schmückten dagegen in verschnörkelten Runen die Worte Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, was die Devise der Gemeinschaft aus Seeleuten war. Einmal hatte ihre Mutter ihr diese Worte erklärt, daran konnte sich Tiana erinnern:

Freiheit bedeutete, sich dem hinzugeben, was das Herz verlangt, egal wie sehr es am eigenen Komfort kratze.

Brüderlichkeit hingegen sollte heißen, zu den Brüdern und Schwestern zu stehen. Egal ob diese vom eigenen Blut waren oder nicht.

Schließlich meinte Gleichheit, dass ein jeder unabhängig von seiner Abstammung den gleichen Wert besaß.

Der Admiralin war diese Erklärung immer sehr wichtig gewesen, denn ihre Tochter sollte die Grundsätze der Gesellschaft, in der sie lebte, kennen. Zwar kannte sie diese Werte, aber verstanden hatte sie sie noch immer nicht. Natürlich weiß ich, was sie bedeuteten, doch was meinte Mutter damit? Denkt sie wirklich, sie müsste mir erklären, welchen Wert meine Familie hat? Schließlich wusste sie das schon lange. Die Familie war wichtig und dabei blieb es. Auch wenn sie ihren Vater nie kennenlernt hat, wusste Tiana, dass er irgendwo über sie wachte. Schulterzuckend vertrieb das Mädchen den Gedanken.

Mehrere Türen führten aus dem Raum hinaus. Eine große Wendeltreppe brachte Tiana in die oberen Stockwerke. Feine Muster zierten das dunkle Mahagoni der Stufen. Ein Geländer besaß die Treppe allerdings nicht. Langsam stapfte Tiana ins obere Geschoss, wodurch sie schnell den überdachten Balkon erreichte. Durch eine große Schwingtür schritt sie ins Vorzimmer ihrer Mutter. Rechts gelangte man ins Schlafgemach, während man links ins Arbeitszimmer der Mutter und ein Studierzimmer kam.

Auch dieser Vorraum war kunstvoll ausstaffiert. Der Boden war von einem roten Fransenteppich bedeckt, der sich weich anfühlte, wenn man ohne Schuhe darüber lief. Gemälde von alten Männern in feiner Kleidung hingen an den Wänden. Sie betrachtete das Bildnis eines schmächtigen Mannes rechts von der Tür zum Arbeitszimmer. Tiana hatte diese Bild schon sehr oft gesehen, doch betrachtete sie es nun zum ersten Mal intensiver:

Das Porträt zeigte einen Mann, der in feinste Stoffe gekleidet war und sich einer hochmütigen Pose hingab. Seine rechte Hand auf den Knauf des Schwertes am Gürtel gelegt blickte er ins Zimmer. Über seinem Kettenhemd lag ein blauer Wappenrock mit weißen Säumen. Auf der Brust wurde das Kleidungsstück von einem Tiana unbekannten Wappen geziert. Es setzte sich aus einem gebrochenen Pfeil, einem zersplitterten Schwert und einem abgeknickten Wanderstab zusammen. Seine Beine waren in braune Hosen gehüllt. Die Füße steckten in schweren braunen Lederstiefeln. Ein Schlapphut mit breiter Krempe und einer prächtigen schwarze Schwalbenfeder bedeckte die blonden Haare. Alles in allem machte er einen eleganten Eindruck.

Das quadratische Gesicht wurde von einem breiten Kinn abgeschlossen. Dazwischen strahlten Tiana blaue tiefliegenden Augen an. In ihnen lag etwas Verwegenes, ja vielleicht etwas Abenteuerliches, und seine Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen.

Unter dem Bild stand der Name des Mannes auf einem golden glänzenden Schild eingraviert. Laut dem Schild war er Farik Harkin, der Kapitän der Eiligen Schwalbe. Bei diesem Namen regte sich etwas in Tianas Kopf, aber sie konnte ihn nicht genau zuordnen. Es war, als hätte sie ihn schon einmal irgendwo gehört.

Möglicherweise könnte sie etwas über ihn in der Bibliothek des Anwesens finden, wenn ihr später danach war, doch jetzt musste sie sich um wichtigere Angelegenheiten kümmern.

Vorsichtig klopfte das Mädchen an die Tür des Arbeitszimmers. Bald schon erklang die schwache Stimme einer Frau mittleren Alters: „Herein…“ Eilig drückte sie die Türklinke herunter und schob die Tür auf. Links vom Eingang saß ihre Mutter auf einem Sessel vor dem geräumigen Eckschreibtisch. Wie sie es gewohnt war, herrschte auf dem Schreibtisch das pure Chaos. Berge an Blättern stapelten sich zwischen Tintenfässchen, einer leeren Flasche Wein, mehreren Gläsern und einigen metallenen Schreibfedern.

Rechts neben der Tür hing an einem Kleiderhaken ein dunkelblauer Leinenstoffmantel mit goldenen Knöpfen, die wirkten, als wären sie frisch poliert worden, während zwei Marinesäbel am unteren Ende des Kleidungsstückes an der Wand lehnten. Auf den Schulterklappen des Mantels sah sie, wie nicht anders zu erwarten, auf jeder Seite zwei goldene Sterne. Diese wiesen ihre Mutter als die Admiralin der Freien Nation Malnesia aus. An einem Haken über dem Mantel hing ein Dreispitz aus blauem Filz.

Die kränklich wirkende Admiralin lehnte sich auf ihrem Sessel zurück. Ihr herzförmiges Gesicht war so blass, als sei sie gestorben. Die Wangen der Frau waren eingefallen und ließen ihre feinen Züge hart wirken. Ihr spitzes Kinn, welches sich unterhalb der Stupsnase und den schmalen Lippen befand, tat sein Übriges dazu. Nur langsam drehte sich der Kopf der Admiralin zu Tiana.

In den smaragdgrünen Augen stand Müdigkeit geschrieben, als sie fragte: „Tiana? Was möchtest du? Mutter ist beschäftigt.“ Sie hatte ihre langen braunen Haare mittels eines blauen Stoffbandes zu einem Zopf geflochten, der nun schlaff an ihrem Hinterkopf klebte. Ihr Mund stand leicht offen. Die von einer weißen Bluse bedeckten Schultern hingen kraftlos herab. Die Ärmel ihrer Bluse waren hochgekrempelt, wobei das gar nicht die Art ihrer Mutter war. Für gewöhnlich gab sich die Admiralin größte Mühe, so herrschaftlich wie nur möglich auszusehen. So fiel dem Mädchen allerdings die Tätowierung auf dem rechten Handrücken ihrer Mutter wesentlich deutlicher auf. Es handelte sich dabei um eine Windrose, die ihr zeigte ob sie den rechten Kurs hielt. Über ihrer Brust ruhte eine angelaufene Eisenkette, an der ein kleiner Ankeranhänger befestigt war. So hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen.

„Tiana?“

Die erneute Erwähnung ihres Namens ließ sie bemerken, dass sie nicht mehr wusste, was sie hier gewollt hatte. Kurz überlegt sie, dann schritt Tiana auf ihre Mutter zu. Es schien ihr am einfachsten zu sein, alles offenzulegen.

„Ich wollte mit dir über Sunja sprechen.“

Eine Augenbraue ihrer Mutter hob sich argwöhnisch.

„Sie ist komisch. Ich glaube, sie ist krank.“

Im Gesicht der Frau wich das Misstrauen einem sanften Lächeln, dann sagte sie: „Unsere Reise war lang und erschöpfend, Tiana. Es ist vollkommen normal, sich nach einer langen Fahrt müde zu fühlen. Ich selbst bin nicht auf der Höhe.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen betrachtete Tiana die Admiralin. „Darf ich noch was fragen?“, wollte das Mädchen wissen, worauf ihre Mutter zur Antwort leicht nickte.

„Warum bist du nicht bei einem Heiler, wenn es dir schlecht geht?“

Schmunzelnd rollte die Admiralin mit den Augen.

„Weil es nichts Schlimmes ist und es viel gibt, das erledigt werden muss. Ich bin einfach nur erschöpft von der Reise. Mach dir keine Sorgen, Schatz.“

Dieses Mal war es an Tiana, mit den Augen zu rollen. Eigentlich wollte sie sich mit der Antwort nicht zufriedengeben, doch glaubte sie auch, aus ihrer Mutter keine weiteren Informationen herauszubekommen, also verließ sie genervt das Arbeitszimmer ihrer Mutter und begab sich in die Bibliothek des Anwesens.

In den dicken Geschichtsbüchern suchte sie nach dem legendären Kapitän, dessen Bild vor dem Arbeitszimmer ihrer Mutter hing. Nachdem sie das halbe Regal mit Büchern über die Geschichte der Schifffahrt durchgearbeitet hatte, fand sie tatsächlich einen Eintrag über diesen Mann. Sie fand eine Zeichnung des Kapitäns in einem alten Buch mit dem Namen Segel und Bug, die Geschichte der Schifffahrt in Dúl, von Galen Vorik. Unter dem Kapitel Beginn der Schifffahrt des Volkes der Menschen stand etwas über ihn geschrieben.

Aus anderen Büchern wusste sie schon lange, dass die Menschen keineswegs als Erste die See bereist hatten. Es war an den Leoranen, die Meere zu erkunden, denn sie herrschten damals über die gesamte Welt. Ihr Imperium erstreckte sich über alle Kontinente. Zwar sahen die Landkarten damals gewaltig anders aus, doch machte das ihre Macht nicht kleiner. Ihre Flotten aus majestätischen Linienschiffen, Fregatten und Zerstörern mussten unglaublich gewesen sein.

Irgendwann, das hatte ihr Herr von Masív erklärt, war etwas Schreckliches passiert, auf das er genauer eingehen wollte, wenn sie älter sei. Natürlich hatte sie sich damit nicht zufriedengegeben und auf eigene Faust die Bibliothek durchsucht. In alten Büchern fand sie damals heraus, wie die Götter verrückt geworden waren. Es gelang damals nur den vereinten Kräften aus Menschen und Leoranen, die Welt zu retten. Dabei verloren die Leoranen allerdings ihr Imperium, weswegen noch heute die Menschen über die Welt herrschten. Viel mehr konnte sie aber nicht herausfinden, denn bei diesem Krieg war viel Wissen verloren gegangen.

Nun las sie im neu entdeckten Buch über die Geschichte der Seefahrt von Kapitän Harkin. Er war, so stand es schwarz auf gelblich verblichenem Papier geschrieben, der erste menschliche Kapitän eines Schiffes gewesen. Sein Schiff war die Eilige Schwalbe, die unter der Flagge des Frostigen Todes gefahren war. Da fiel es Tiana wie Schuppen von den Augen. Das Wappen auf dem Gemälde war das Wappen des Bündnisses aus Menschen und Leoranen, welches sich Frostiger Tod genannt hatte. Weiter stand dort über ihn, dass seine Mannschaft ihn äußert geschätzt hatte. Der Kapitän galt als besonders weiser Anführer, dem es nicht an Mut mangelte. Er sorgte unter den Verteidigern der Welt für Hoffnung auf einen neuen Morgen. Gegen was sie die Welt verteidigt hatten, stand nicht in diesem Buch, aber Tiana wusste, dass sie auch einmal so werden wollte.

Die erneute Erwähnung ihres Namens ließ sie bemerken, dass sie nicht mehr wusste, was sie hier gewollt hatte. Kurz überlegt sie, dann schritt Tiana auf ihre Mutter zu. Es schien ihr am einfachsten zu sein, alles offenzulegen.

„Ich wollte mit dir über Sunja sprechen.“

Eine Augenbraue ihrer Mutter hob sich argwöhnisch.

„Sie ist komisch. Ich glaube, sie ist krank.“

Im Gesicht der Frau wich das Misstrauen einem sanften Lächeln, dann sagte sie: „Unsere Reise war lang und erschöpfend, Tiana. Es ist vollkommen normal, sich nach einer langen Fahrt müde zu fühlen. Ich selbst bin nicht auf der Höhe.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen betrachtete Tiana die Admiralin.

„Darf ich noch was fragen?“, wollte das Mädchen wissen, worauf ihre Mutter zur Antwort leicht nickte.

„Warum bist du nicht bei einem Heiler, wenn es dir schlecht geht?“

Schmunzelnd rollte die Admiralin mit den Augen.

„Weil es nichts Schlimmes ist und es viel gibt, das erledigt werden muss. Ich bin einfach nur erschöpft von der Reise. Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.“

Dieses Mal war es an Tiana, mit den Augen zu rollen. Eigentlich wollte sie sich mit der Antwort nicht zufriedengeben, doch glaubte sie auch, aus ihrer Mutter keine weiteren Informationen herauszubekommen, also verließ sie genervt das Arbeitszimmer ihrer Mutter und begab sich in die Bibliothek des Anwesens.

In den dicken Geschichtsbüchern suchte sie nach dem legendären Kapitän, dessen Bild vor dem Arbeitszimmer ihrer Mutter hing. Nachdem sie das halbe Regal mit Büchern über die Geschichte der Schifffahrt durchgearbeitet hatte, fand sie tatsächlich einen Eintrag über diesen Mann. Sie fand eine Zeichnung des Kapitäns in einem alten Buch mit dem Namen Segel und Bug, die Geschichte der Schifffahrt in Dúl, von Galen Vorik. Unter dem Kapitel Beginn der Schifffahrt des Volkes der Menschen stand etwas über ihn geschrieben.

Aus anderen Büchern wusste sie schon lange, dass die Menschen keineswegs als Erste die See bereist hatten. Es war an den Leoranen, die Meere zu erkunden, denn sie herrschten damals über die gesamte Welt. Ihr Imperium erstreckte sich über alle Kontinente. Zwar sahen die Landkarten damals gewaltig anders aus, doch machte das ihre Macht nicht kleiner. Ihre Flotten aus majestätischen Linienschiffen, Fregatten und Zerstörern mussten unglaublich gewesen sein.

Irgendwann, das hatte ihr Herr Masív erklärt, war etwas Schreckliches passiert, auf das er genauer eingehen wollte, wenn sie älter sei. Natürlich hatte sie sich damit nicht zufrieden gegeben und auf eigene Faust die Bibliothek durchsucht. In alten Büchern fand sie damals heraus, wie die Götter verrückt geworden waren. Es gelang damals nur den vereinten Kräften aus Menschen und Leoranen, die Welt zu retten. Dabei verloren die Leoranen allerdings ihr Imperium, weswegen noch heute die Menschen über die Welt herrschten. Viel mehr konnte sie aber nicht herausfinden, denn bei diesem Krieg war viel Wissen verloren gegangen.

Nun las sie im neu entdeckten Buch über die Geschichte der Seefahrt von Kapitän Harkin. Er war, so stand es schwarz auf gelblich verblichenem Papier geschrieben, der erste menschliche Kapitän eines Schiffes gewesen. Sein Schiff war die Eilige Schwalbe, die unter der Flagge des Frostigen Todes gefahren war. Da fiel es Tiana wie Schuppen von den Augen. Das Wappen auf dem Gemälde war das Wappen des Bündnisses aus Menschen und Leoranen, welches sich Frostiger Tod genannt hatte. Weiter stand dort über ihn, dass seine Mannschaft ihn äußert geschätzt hatte. Der Kapitän galt als besonders weiser Anführer, dem es nicht an Mut mangelte. Er sorgte unter den Verteidigern der Welt für Hoffnung auf einen neuen Morgen. Gegen was sie die Welt verteidigt hatten, stand nicht in diesem Buch, aber Tiana wusste, dass sie auch einmal so werden wollte.

Am nächsten Morgen nahm Tiana zum ersten Mal seit der Heimkehr ihrer Mutter eine Mahlzeit allein im großen Salon zu sich. Die Diener erklärten lediglich, dass ihre Mutter sich nicht wohl fühlte und deshalb im Bett bleiben würde.

Zunächst hielt Tiana das für einen schlechten Scherz. Für gewöhnlich frühstückten sie immer zusammen, egal wie es ihrer Mutter ging. Es war unglaublich lange her, seit das zum letzten Mal passierte war. Irgendetwas stimmte nicht, da war sie sich sicher. Also schlang sie das Essen hastig runter und eilte dann zum Schlafgemach der Admiralin, doch sie kam nicht sonderlich weit, denn der persönliche Kammerdiener ihrer Mutter versperrte Tiana den Weg.

Diesen älteren, hageren Mann mit dem schütteren grauen Haar, dessen Name Jovis war, konnte man nicht als den freundlichsten Zeitgenossen bezeichnen. Er tat zwar stets loyal seine Pflicht, doch mochte Tiana ihn nicht sonderlich. Nicht genug, dass es eine unglaubliche Schwierigkeit bedeutete, Jovis ein Lächeln abzuverlangen, auch kommandierte er sie oft herum. Tiana konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum ihre Mutter diesen Kerl noch nicht davongejagt hatte. Nun aber stand er zwischen ihr und ihrer Mutter.

Ihre Hände in die Hüften gestemmt forderte Tiana mit aller Bestimmtheit, die sie aufbringen konnte, an den Mann gewandt: „Ich will zu Mutter, lass mich durch, Jovis.“ Ohne die Miene zu verziehen schüttelte dieser den Kopf, wobei er in seiner typisch krächzenden Stimme erwiderte: „Ihre Majestät, hat sich sehr deutlich ausgedrückt, niemanden sehen zu wollen.“ Er kniff die Augen zusammen, während er die Arme vor der Brust verschränkte. Dabei sagte er mit unmissverständlichem Ärger über ihre reine Anwesenheit: „Das gilt auch für ihre Tochter. Am besten gehst du jetzt und spielst mit irgendjemandem oder muss ich die Wachen rufen?“

Zornig blickte das Mädchen ihn an, doch war sich Tiana sicher, in dieser Hinsicht die schlechteren Karten zu besitzen. Schließlich entschloss sie sich, keinen Streit mit ihm zu beginnen, den sie ohnehin nicht gewinnen konnte. Spätestens wenn der Alte die Wachen rief, war es vorbei. Gereizt zog sie Luft durch ihre Nase ein und ließ sie in einem lautstarken Seufzer wieder frei. Daraufhin trat ein zufriedenes Grinsen auf Jovis Gesicht und er scheuchte sie weg. Bevor sie ging warf sie dem Kammerdiener einen letzten zornigen Blick zu, dann schritt sie in Richtung der Treppe.

Ohne Hilfe würde sie nichts ausrichten können, allerdings war ihre beste Freundin vermutlich immer noch nicht bei besserer Gesundheit. Vielleicht sollte ich nach Sunja sehen? Möglicherweise ging es ihr schon besser. Mit diesem Gedanken beschloss Tiana, zu den Kais zu gehen und nach ihrer Freundin zu schauen, die sich eigentlich fast immer bei den Drei Goldenen Karpfen rumtrieb.

So war es dann auch, denn Sunja saß wie am Sonnenaufgang zuvor vor der Taverne in einem Stuhl. Sie schien nicht einmal ihre Kleidung gewechselt zu haben, obwohl ihre Augen ein wenig mehr ihrer blauen Farbe zurückbekommen hatten. Dieses Mal hielt sich Tiana nicht mit einer Frage auf, sondern rüttelte sofort an der Frau, nachdem sie auf ihre Begrüßung nicht reagierte. „Was … ist denn los?“, murrte die Seefahrerin argwöhnisch, woraufhin Tiana noch immer gereizt von Jovis antwortete: „Es geht dir schlecht und du sitzt vor der Taverne, anstatt ins Hospital zu gehen, also gehen wir jetzt zusammen hin.“ Sie schrie keineswegs, doch mangelte es ihrer Stimme nicht an Bestimmtheit.

Mit diesen Worten begann sie, am rechten Arm der Frau zu ziehen, um sie zum Aufstehen zu bewegen. „Is ja schon…gut“, sagte daraufhin Sunja und befreite ihren Arm aus Tianas Umklammerung, wobei ihre goldenen Armreife klimperten. Schnell ergriff Tiana wieder eine Hand der Offizierin, nachdem diese sich erhoben hatte, und zusammen gingen sie in Richtung des Hospitals im Osten der Stadt.

Sie brauchten eine gute Weile, bis sie das schmucklose Gebäude erreichten, was zum Teil auch daran lag, dass Sunja oft für einige Augenblicke einfach stehen blieb. Dann dauerte es ein paar Momente, bis sie wieder zu sich kam. Schließlich aber standen sie vor dem weiß gekalkten Gebäude, dessen Fassade an vielen Stellen langsam abbröckelte. Hinter den zahlreichen Fenstern huschten ständig Personen in weiß durch das Sichtfeld. Vor Tiana und Sunja erhob sich die breite Eingangspforte des Hospitals.

Zusammen traten sie in den Eingangsbereich. Es handelte sich um einen halbrunden Raum, aus dem vier Türen seitlich herausführten. In seiner Mitte befand sich ein momentan unbesetzter Schreibtisch. Für gewöhnlich wurde man hier an einen der zahlreichen Heiler verwiesen, das wusste Tiana von früheren Besuchen.

In diesem Moment öffnete sich eine der Türen und gab den Blick auf eine junge Frau preis. Beinahe wäre die Frau, ohne sie zu bemerken, durch den Raum gestürmt, hätte Tiana nicht mehrmals nach ihr gerufen. Abrupt blieb die Frau stehen und sah sich einen Augenblick irritiert um, ehe sie die beiden Personen im Eingang entdeckte. Von ihnen wanderte ihr Blick zu jenem unbesetzten Tisch, wo er allerdings nicht lange verharrte. Als sich die Frau wieder ihnen zuwandte, schien ihr Blick durchaus geklärter.

„Hallo, was kann ich für euch…“

Sie musterte Sunja eindringlich, was sie dazu verleitete sich selbst zu unterbrechen.

„… oh, ich verstehe. Einen Moment, ich hole einen Heiler.“

Tiana, die nicht verstand, was genau vor sich ging, blieb nichts anderes übrig, als zu verharren, während die Frau durch eine der Türen verschwand.

Lange mussten sie jedoch nicht warten, denn kaum war die Frau verschwunden, kam sie auch schon wieder, gefolgt von einem hochgewachsenen Mann, dessen breite Schultern von einer weißen Tunika bedeckt wurden. Darüber trug er eine Schürze, auf der rote Flecken zu sehen waren. Sein kantiges Gesicht wurde zum Teil von einem an seinem Hinterkopf zusammengebundenen Tuch verdeckt.

Mit deutlichem Missmut zog er sich das Tuch vom Mund und begrüßte die beiden. Da Sunja keine Regung zeigte, übernahm Tiana das Sprechen. „Hallo, sie war auch auf der…“, begann sie zu sprechen, doch schon unterbrach sie der Mann, welcher sich als Holm Jergan vorgestellt hatte: „Ich weiß, ich weiß. Sie war auch auf der Herrin der Hochsee und verhält sich nun komisch. Wir haben schon fast die ganze Besatzung in Behandlung. Fehlen nicht viele. Wer bist du eigentlich, Kleine? Ihre Tochter?“

„Mein Name ist Tiana“, erwiderte sie etwas irritiert über die Frage und fügte eilig an: „Ich bin nur eine Freundin.“ Schulterzuckend winkte er ab und konstatierte: „Ist auch nicht wichtig. Zu eurem Glück haben wir was gefunden, das es kurzfristig verbessert. Auf lange Sicht wird es ihr jedoch wie den anderen gehen. Sie wird vor Müdigkeit kaum aufstehen können.“ Erschrocken über die Kälte, mit der dieser Heiler ihr all das erzählte, wich sie ein paar Schritte zurück. Dabei hauchte sie: „Wie kann man ihr helfen?“

Offensichtlich schien er sie nicht gehört zu haben, denn der Heiler wandte sich zum Gehen und sprach mit fester Stimme: „Folgt mir, wir haben nicht ewig Zeit.“ Anschließend befiel er der Frau: „Lina, bereite Rotkelchsud vor und bring ihn dann in Zimmer Zehn. Ach, und bevor ich es vergesse, schick Senna in Zimmer Vier zum Reinigen, dort gab es…“ Sein Blick wanderte kurz zu Tiana, ehe er etwas gestelzt anfügte: „… einen Unfall.“

Ganz offensichtlich war Lina eine der Krankenhelferinnen des Hospitals. Ehrbare Frauen, die sich mit grenzenloser Geduld um die Kranken und Verletzten kümmerten. Auf dem Gesicht der Helferin hob sich eine Augenbraue, während sich ihr Gesichtsausdruck zu einer erbosten Grimasse verzog. Trotzdem nickte sie, obgleich sie im Gehen leise etwas vor sich hin murmelte, was für Tiana nach Flüchen klang.

Der Heiler führte sie durch einen engen Gang zu einer Tür auf der rechten Seite. Licht spendeten Hängeleuchter an der Decke. Sie folgten ihm in den als Zimmer Zehn beschrifteten Raum. Besonders einladend war dieser keineswegs. Neben einem einfachen Bett fanden sich dort nur ein Stuhl und ein kleiner Abstelltisch neben dem Bett, auf dem einige Kerzen brannten.

Nachdem Tiana ihre Freundin zu einem Bett geführt hatte, begann heiler Jergan seine Untersuchung. Mehr zu sich selbst raunte er: „Ihr Rachen sieht gut aus, kein offensichtlicher Ausschlag und keine Schmerzen?“ Bei diesen Worten blickte er mit einem fragenden Ausdruck in Tianas Richtung. Eilig schüttelte sie den Kopf, was ihn nur zu einem missmutigen Nicken veranlasste.

„Wie bei den anderen“, schloss er seinen Befund. Sofort wollte das Mädchen von ihm wissen, ob ihre Freundin wieder gesund werden würde. Entnervt verschränkte er die Arme vor der Brust, bevor er antwortete: „Ich weiß es nicht, aber wir können ihr vorerst helfen, dann wird es ihr für einige Sonnenaufgänge besser gehen. Ich würde sie ja hierbehalten, allerdings haben wir selbst nur begrenzt Platz. Wenn das so weitergeht, wird sich noch die ganze Insel anstecken. Nun ja, es wird gleich jemand kommen, der sich um euch kümmert. Gute Besserung.“ Der Heiler kam weiteren Fragen zuvor, indem er den Raum verließ.

Kurz darauf klopfte es an der Tür, woraufhin die Helferin, Lina, mit einer dampfenden Schüssel in den Händen hereinkam. Freundlich grüßte sie Tiana zum wiederholten Mal, ehe sie sich vorsichtig an ihr vorbeidrückte. Sie stellte den dampfenden Sud neben die Kerzen. Eilig huschte sie erneut an Tiana vorbei, wobei sie sagte: „Einen Augenblick, ich bin sofort wieder da, muss nur noch was holen.“ Schon war sie durch die Tür in den Gang verschwunden.

Tiana setzte sich vor ihre Freundin auf den Stuhl, welcher sich als nicht sonderlich bequem erwies. Ihren Kopf auf die Hände gestützt betrachtete sie Sunja. Die Frau starrte regungslos auf ihre Stiefel. Hätte sich nicht ihre Brust in einem regelmäßigen Takt gehoben und gesenkt, dann wäre sie sich nicht sicher gewesen, ob Sunja noch lebte. Irgendwie musste Tiana ihr doch helfen können. Schließlich war sie in einem Hospital. Wenn man hier die Kranken nicht heilen konnte, wo dann? Nur ihre Mutter machte Tiana noch mehr Sorgen. Es war für die Admiralin nicht üblich, sich so abzuschotten. Für gewöhnlich arbeitete sie bis zur größten Erschöpfung am Tagesgeschehen der Inseln. Es musste schlimm um sie stehen.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Lina mit zwei Metallbechern den Raum abermals betrat. Sanft lächelnd meinte die Helferin: „So jetzt haben wir es.“

„Wird ihr das helfen?“, fragte das Mädchen, während sie mit einem Finger auf die Schüssel zeigte. Daraufhin erwiderte die Helferin: „Ich denke schon. Zumindest hat es den anderen geholfen und das ist doch schon einmal ein Grund zum Hoffen.“

„Meinst du, es könnte meiner Mutter helfen?“

Plötzlich lag ein tief trauriger Ausdruck auf Tianas Gesicht. Als Antwort auf den fragenden Blick der Helferin, fügte sie an: „Sie ist Käpt‘n der Herrin der Hochsee.“ Bei diesen Worten wurden die Züge der Helferin wesentlich verständnisvoller.

„Ach, deine Mutter ist die Admiralin, verstehe.“

Ihre Stimme wurde mit einem Mal etwas zittriger, als sie weitersprach: „Admiralin von Meslani hat die Behandlung verweigert. Der oberste Heiler Jergan, der euch hierhergeführt hat, war gestern bei ihr.“

Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: „Aber um deine Frage zu beantworten: ich denke, es würde der Frau Admiralin schon helfen. Soll ich dir gleich etwas abfüllen? Nur für den Fall, dass sie es sich anders überlegt. Es hilft nur nicht, wenn sie schon nicht mehr ansprechbar ist.“ Eifrig nickte das Mädchen zur Antwort, was die Helferin dazu veranlasste, wieder das Wort zu ergreifen: „Gut, dann machen wir das so, aber zuerst kümmern wir uns um euch, in Ordnung?“

Auf das erneute Nicken Tianas hin schenkte die Frau in beide Becher etwas von dem Sud ein. Einen gab sie dem Mädchen mit den Worten: „Trink das, damit du nicht auch krank wirst. Wir mögen nicht genug für die ganze Insel haben, aber für dich reicht es allemal.“ Den Inhalt des anderen Bechers flößte sie vorsichtig Sunja ein, die sich nicht dagegen wehrte.

Währenddessen roch Tiana zunächst selbst erstmal an der dunklen, roten Flüssigkeit. Der Duft, welcher vom Sud aufstieg, erinnerte Tiana an Rosen. Es war nicht exakt der gleiche Geruch, aber ähnlich. Vorsichtig nahm sie einen Schluck des Gebräus. Ein besonders bitterer Geschmack machte sich sofort in ihrem Mund breit. Am liebsten hätte sie ihn umgehend wieder ausgespuckt, doch schluckte sie es herunter, während sich ihr Gesicht zu einer angewiderten Grimasse verzog. Offensichtlich war der Helferin aufgefallen, welche Miene sie aufsetzte, denn sie warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. „Ich weiß, es schmeckt widerlich, aber leider muss es sein“, sagte die Frau, dann verschwand der letzte Schluck in Sunjas Mund.

Zufrieden wartete sie darauf, dass Tiana den Inhalt ihres Bechers herabstürzte, danach nahm sie dem Mädchen den Becher ab.

„Ich hole eine Flasche für deine Mutter.“

Mit diesen Worten ging sie aus dem Raum. Es dauerte einige Momente, doch nach und nach richtete sich Sunja zu ihrer vollen Größe auf. Mit einem Seufzen rieb sie sich die Augen. Zwar waren ihre Pupillen noch immer etwas glasig, allerdings besaßen sie schon wieder mehr Farbe. Mit einem fragenden Ausdruck im feinen Gesicht blickte sie zu Tiana, die sofort breit grinsend über die Frau herfiel. Die heftige Umarmung seitens Tiana erwiderte Sunja nur leicht.

Allerdings fragte die Seefahrerin sofort, was passiert war. Schließlich konnte sie sich nur verschwommen daran erinnern, was seit dem Sonnenaufgang, nachdem sie mit der Herrin geankert haben, geschehen war. Während sich die Seefahrerin im Raum umsah, blinzelte sie mehrmals. Schließlich, nachdem ihr Blick sich festigte, erklärte Tiana ihr die Umstände. Sie berichtete von der Ankunft des Flaggschiffes, von ihrer Vermutung über das Erkranken der Mannschaft, von dem Gespräch mit ihrer Mutter und endete letztlich mit den Ereignissen des heutigen Morgens.

„Bist du dir sicher, Tiana?“, wollte sie von dem Mädchen wissen, welches mit einem Kopfnicken antwortete. Nun betrat die Krankenhelferin wieder den Raum. In der rechten Hand trug sie eine gläserne Flasche und in ihrer linken einen passenden Korken. Lächelnd betrachtete sie Sunja, ehe sie an Tiana vorbei zu der Schüssel ging, in der sich der noch immer dampfende Sud befand. Sie füllte etwas des Suds in die Flasche und verschloss diese mit dem mitgebrachten Korken. Derweil kommentierte sie Sunjas-Zustand: „Ah, ich sehe, es geht dir besser. Schön, das freut mich.“ „Ja, die Muskeln fühlen sich noch immer etwas schlaff an, aber das wird sich schon wieder geben“, erwiderte die Seefahrerin mit einem müden Lächeln auf den Lippen. Eigentlich wollte die Helferin gerade den Raum verlassen, da rief Sunja sie zurück. Entschuldigend fragte die erste Offizierin der Herrin der Hochsee