Das erste und letzte Abenteuer von Kit Sawyer - S.E. Harmon - E-Book + Hörbuch
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Das erste und letzte Abenteuer von Kit Sawyer E-Book und Hörbuch

S.E. Harmon

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Beschreibung

Christopher »Kit« Sawyer, Historiker und Spross einer legendären Archäologenfamilie, bevorzugt das ruhige Leben am Schreibtisch, ohne Peitsche und Fedora. Doch als er ein altes Relikt entschlüsselt, befreit er unbeabsichtigt eine mächtige Kraft, die nur durch eine Wiedervereinigung mit einem aztekischen Gott gebändigt werden kann. Allerdings weiß niemand außer Kit, wo genau in Mexiko sich dessen Tempel befindet. Also bleibt ihm keine Wahl, und er macht sich auf den Weg. Doch er reist nicht allein. Auf Wunsch ihres Großvaters wird er von seinem nervigen Ex-Stiefbruder Ethan Stone begleitet, einem erfahrenen Entdecker und Archäologen, der ihr Überleben im Dschungel sichern soll. Und das ist auch bitter nötig, denn sie sind nicht die Einzigen auf der Suche nach dem geheimnisvollen Tempel …

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Seitenzahl: 510

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Zeit:12 Std. 3 min

Sprecher:Valentin Schütze
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S. E. HARMON

 

 

DAS ERSTE UND LETZTE ABENTEUER VON KIT SAWYER

Aus dem Englischen von Annika Bührmann

Über das Buch

Christopher »Kit« Sawyer, Historiker und Spross einer legendären Archäologenfamilie, bevorzugt das ruhige Leben am Schreibtisch, ohne Peitsche und Fedora. Doch als er ein altes Relikt entschlüsselt, befreit er unbeabsichtigt eine mächtige Kraft, die nur durch eine Wiedervereinigung mit einem aztekischen Gott gebändigt werden kann. Allerdings weiß niemand außer Kit, wo genau in Mexiko sich dessen Tempel befindet. Also bleibt ihm keine Wahl, und er macht sich auf den Weg.

Doch er reist nicht allein. Auf Wunsch ihres Großvaters wird er von seinem nervigen Ex-Stiefbruder Ethan Stone begleitet, einem erfahrenen Entdecker und Archäologen, der ihr Überleben im Dschungel sichern soll. Und das ist auch bitter nötig, denn sie sind nicht die Einzigen auf der Suche nach dem geheimnisvollen Tempel …

Über die Autorin

S. E. Harmons stürmische Liebe zum Schreiben dauert bereits ein Leben lang an. Der Weg zu einem guten Buch ist jedoch steinig, weshalb sie ihre Leidenschaft schon mehrere Male aufgeben wollte. Letztendlich hat die Muse sie jedoch immer wieder an den Schreibtisch zurückgeholt. S. E. Harmon lebt seit ihrer Geburt in Florida, hat einen Bachelor of Arts und einen Master in Fine Arts. Früher hat sie ihre Zeit mit Bewerbungsunterlagen für Bildungszuschüsse verbracht. Inzwischen schreibt und liest sie in jeder freien Minute Liebesromane. Als Betaleser hat sie derzeit ihren neugierigen Vierbeiner auserkoren, der sich bereitwillig ihre Romane vorlesen lässt, vorausgesetzt, die Bezahlung in Form von Hundekeksen stimmt.

Die englische Ausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The First and Last Adventure of Kit Sawyer«.

Deutsche Erstausgabe Dezember 2024

 

© der Originalausgabe 2023: S.E. Harmon

© für die deutschsprachige Ausgabe 2024:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Die Nutzung des Inhalts für Text und Data Mining

im Sinne von § 44b UrhG ist ausdrücklich verboten.

 

Umschlaggestaltung: Ronja Forleo

Lektorat: Judith Zimmer

Schlussredaktion: Daniela Dreuth

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-98906-048-7

ISBN E-Book: 978-3-98906-058-6

 

Auch als Hörbuch erhältlich!

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Epilog

Für Angel

 

Ich möchte nur zwei Dinge auf dieser Welt … Ich will dich und ich will uns.

Anonym

KAPITEL 1

Im Publikum breitete sich Unruhe aus.

Am Anfang der Vorlesung hatten die Studenten noch jedem Wort aufmerksam gelauscht. Nun aber, nachdem ich keines der Themen, die sie faszinierten, angesprochen hatte, war es mit dem Wohlwollen vorbei. Weder meine Vergangenheit als brillanter Geschichtsprofessor noch meine derzeitige Position im Vorstand der SAF, der Sawyer Archaeological Foundation, interessierte sie die Bohne.

Meine Forschungen über die geheimnisvolle Stadt Chipanya und die mögliche Existenz eines altertümlichen Tempels weckten ein laues Interesse, aber damit war es wieder vorbei, als ich begann, über die Geschichte der Entzifferung von Schriftzeichen verlorener Sprachen zu dozieren. Die allgemeine Stimmung ließ sich mit »Lass mich tot umfallen oder zumindest krank genug für eine Fahrt in die Notaufnahme werden« zusammenfassen.

Ich seufzte.

Wenn ich raten müsste, dann hatten sie vermutlich etwas … Aufregenderes erwartet. Dank einiger beeindruckender Erfolge meiner Familie hatte der Name Sawyer Gewicht. Mein Großvater, der unbezwingbare Christopher Sawyer – nach dem verschollenen Remington-Gewehr, das er als junger Mann gefunden hatte, mit dem Spitznamen Remi bedacht –, war ein weltberühmter Archäologe. Mein Vater, ebenfalls Christopher Sawyer, war in seine Fußstapfen getreten.

Auch meine Mutter Gabrielle war eine wohlbekannte Archäologin gewesen. Sie hatte schon in jungen Jahren ihren Flugschein erworben und war so furchtlos, dass sie das Wort »Angst« nicht einmal hätte buchstabieren können, wenn man ihr vier der Buchstaben vorgegeben hätte. Sie war umgekommen, als ihre Cessna wegen eines mechanischen Versagens in den Bergen abgestürzt war. Ich wusste mit jeder Faser meines Seins, dass sie – selbst wenn sie gewusst hätte, dass die Fliegerei letztendlich zu ihrem Tod führen würde – nichts anders gemacht hätte.

Es spielt keine Rolle, wie lang dein Leben dauert, Kit. Wichtig ist, was du draus machst, hatte sie immer gesagt und war mir mit der Hand durch die Locken gefahren.

Ich hatte also zweifellos eine abenteuerlustige Ahnenlinie vorzuweisen.

Außerdem gab es da noch Ethan Stone, Schützling meines Großvaters und ganz allgemeine Nervensäge, ebenfalls ein Star in der Archäologie. Er und Remi hatten eine Rubinhalskette wiedergefunden, die einer königlichen Familie von ähnlicher Bedeutung wie die Medici gehört hatte. Und selbst mein Ex-Freund Paul war vom Fach. Er war bisher nicht so bekannt, aber er verhandelte aktuell mit einem Fernsehsender wegen einer Sendung über archäologische Entdeckungen.

Vor diesem Hintergrund war es nicht wirklich überraschend, dass die Truppe hoffnungsvoller Archäologiestudenten enttäuscht war, weil sie sich mit dem langweiligen Sawyer begnügen musste. So ein Pech für sie. Ich setzte noch einen drauf, wie es jeder gute Dozent tut, dem so was wurscht ist, und klickte auf die nächste Folie meiner sorgfältig vorbereiteten Powerpoint-Präsentation.

»Die Azteken in Zentralmexiko haben faszinierende Ruinen hinterlassen. Das moderne Mexiko-Stadt befindet sich am selben Ort, an dem sich früher Tenochtitlán, die Hauptstadt des aztekischen Reichs, befand«, sagte ich und schob die Fernbedienung wieder in meine Tasche. »Mein Großvater hat mir oft Geschichten über die vergessene Stadt Chipanya erzählt, eine von Jaguar-Menschen regierte Stadt der Azteken.«

Schon die beiläufige Erwähnung von Remington Sawyer veranlasste ein paar der Anwesenden sich aufzusetzen, als würden sie denken: Na endlich. Ein Student nahm doch tatsächlich einen Stift aus seiner Büchertasche und machte sich schreibbereit.

Ich biss die Zähne zusammen.

Das war alles Liams Schuld. Den meisten war er als Geschichtsprofessor an der Edgewood University, einer renommierten Privatuni in Maine, bekannt. Ich kannte ihn als meinen besten Freund und unübertrefflichen Nervtöter, der nie zögerte, mir Schuldgefühle einzureden, damit ich ihm jeden Gefallen tat. Und so stand ich nun in Vertretung eines Gastdozenten vor einer Klasse naiver Nachwuchsarchäologen, die auf »Remington Sawyer, die Fortsetzung« gehofft hatten.

War ich nicht.

Die Anziehungskraft konnte ich nachvollziehen. Mein ganzes Leben lang hatte ich zu meinem Großvater aufgesehen und ihn als überlebensgroße Persönlichkeit verehrt. Von seinen Abenteuern kehrte er mit Mitbringseln und wilden Geschichten von wundersamen Dingen zurück, und sein attraktives Gesicht strahlte vor Freude.

Doch ich sah sogar langweiliger aus als Remi. Sein welliges Haar ging ihm bis auf die Schultern, da er sich normalerweise nicht damit aufhielt, es schneiden zu lassen. Ehemals rabenschwarz so wie meines, war es nun ganz silbern, und gewöhnlich hatte er einen Hut darübergestülpt. Bei seiner Kleidung legte er selten Wert auf Förmlichkeit, sondern zog für den Alltag seine robusten Khakihosen, Leinenhemden und Stiefel vor, als wäre er gerade von einer Grabung zurück. Was mich betraf, nun ja, ich kleidete mich grundsätzlich etwas adretter. Heute zum Beispiel trug ich taupefarbene Hosen mit einem weißen Oxfordhemd und einer Weste im Hahnentrittmuster.

Na gut, ja, ich war halt gerne wie aus dem Ei gepellt. Und das ist völlig in Ordnung. Das müssen Sie mir auch nicht aufs Wort glauben, fragen Sie einfach ein Ei.

Ein Mädchen in einer der vorderen Reihen hob die Hand und fragte auf mein Nicken hin: »Was ist denn Chipanya zugestoßen? In einem wissenschaftlichen Artikel zu aztekischen Überlieferungen stand, dass ihr Exil etwas mit ihren Opferriten zu tun hatte.«

»Nun ja, Opferriten waren ein wichtiger Teil der aztekischen Kultur, Miss …«

»Taylor.«

»Miss Taylor.« Ich schob meine rahmenlose Brille energisch wieder hoch. »Huitzilopochtli, der wichtigste aztekische Gott, verlangte angemessene venama, das heißt Opfer. Je bedeutender das venama, umso größer die Gunst der Götter. Krieger haben sich tatsächlich um der Ehre willen freiwillig dafür gemeldet.«

»Die Ehre, ermordet zu werden?« Taylor runzelte die Stirn und warf ihren üppigen Schopf goldbrauner Haare über die schmalen Schultern zurück. »Das wäre nichts für mich, aber jeder, wie er mag, schätze ich.«

Ich unterdrückte ein Auflachen. In einer der hinteren Reihen schoss eine Hand in die Luft, und ich sah über meine Brille. »Ja?«

»Wie wurde der Opferritus denn vollzogen?«

»Das hing von der jeweiligen spezifischen Kultur ab, aber das ist eine sehr gute Frage, Mr …«

»Henry. Henry Marks.«

»Mr Marks.« Ich lächelte ihn an, und er errötete ein wenig. Offenbar hielten mich doch nicht alle Anwesenden für ein langweiliges Fossil. »Die Eloxochitl haben im Allgemeinen das noch schlagende Herz aus der Brust des Geopferten entfernt und es in den Mund einer Statue von Huitzilopochtli, dem Gott des Krieges, geworfen.«

Nun hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. »Die Chipanya betrachteten sich als ein friedliebendes Volk und ehrten ihre Götter lieber mit einem Blutopfer auf einem Altar statt mit Menschenopfern.«

»Konnte man sich weigern?«

Ich war nicht sicher, wer gefragt hatte, schüttelte aber den Kopf. Ich würde mich ganz bestimmt nicht pingelig zeigen, was ordentliche Wortmeldungen und ähnlichen Unsinn anging. Sie lernten etwas, und nichts ging zu Bruch. Das wertete ich als Erfolg.

»Ein Opfer zu verweigern wäre als unehrenhafter Akt betrachtet worden. Die als venama Auserwählten galten als von den Göttern selbst ausgesucht. So eine Ehre abzulehnen, würde den Zorn der Götter herausfordern und eine Bedrohung für das ganze Dorf darstellen. Anscheinend haben die Chipanya irgendwann einmal tatsächlich ein Opfer abgelehnt.«

Jetzt war der Raum von interessiertem Gemurmel gefüllt, und ich verkniff mir ein Grinsen. Merke: Nächstes Mal mit dem Teil über Tod und Zerstörung starten. »Die Eloxochitl kamen zu dem Schluss, dass die Götter beleidigt waren und sie ihre Gunst nur durch die Vertreibung der Chipanya zurückgewinnen konnten.«

Ab dem Punkt wurde es ein wenig undurchsichtig. Mit Ausnahme der Erwähnungen in den Aufzeichnungen aus Eloxochitl war über die vergessene Stadt Chipanya nicht viel bekannt. Selbstverständlich waren diese Aufzeichnungen nicht gerade objektiv, besonders da es weiterhin zu Missernten gekommen war. Ob sie einen Sündenbock für ihre Schwierigkeiten gesucht oder die verstoßenen Chipanya wirklich für die Ursache all ihrer Probleme gehalten hatten, ließ sich nicht bestimmen.

Eine weitere Hand schoss hinten im Raum in die Luft, und ich nickte. »Wie ist es den Chipanya also ergangen?«

»Ihnen erging es wunderbar. Das Gebiet, in dem sie sich niedergelassen hatten, war von den Eloxochitl verschmäht worden, weil es für den Landbau nicht eben und fruchtbar genug war. Wie sich herausstellte, lag das an der Mine direkt darunter.«

Aztekengold. Jetzt fraßen sie mir aus der Hand. Ich hatte das Wort nicht einmal aussprechen müssen. Wenn ich gemein wäre, würde ich nun mit meinen Folien über die Entschlüsselung der aztekischen Sprache in Form eines Bilderrätsels weitermachen. Dann könnte ich ihnen dabei zusehen, wie sie wie ein vergessener Blumenstrauß vor sich hinwelkten. Aber das brachte ich nicht übers Herz. Also machte ich munter weiter.

»Nach und nach verbreiteten sich Gerüchte über den unglaublichen Reichtum und das Glück der Chipanya. Und so wurden sie recht schnell zum Ziel des Zorns der Eloxochitl. Die Chipanya beteten zu Tlaloc, dem Gott des Regens und Donners, um Hilfe.«

»Wie Thor?«, fragte ein Typ in der ersten Reihe vorsichtig.

Ich lachte leise. »Nicht wirklich. Er wurde als Herrscher über Leben und Nahrung verehrt, aber auch wegen seiner Macht über die Elemente gefürchtet.«

Ich klickte auf die Fernbedienung und rief eine Folie mit einem Bild von Tlaloc auf. Er war groß, breitschultrig und hatte einen extrem muskulösen Oberkörper. Sein Gesicht ähnelte dem eines Jaguars, fast als wäre er mitten in einer Verwandlung dargestellt worden, mit menschlichen Augen, aber gefletschten Zähnen, die scharfen, langen Eckzähne sichtbar. Es war zwar nur eine Darstellung, doch er wirkte darauf wild genug, um selbst einen Aztekenkrieger in Angst und Schrecken zu versetzen.

»Tlaloc versprach ihnen Schutz, und zum Dank bauten sie ihm einen Tempel, den sie ›Die Halle von Yolia‹ nannten. Oder auch ›Die Halle der Seelen‹. Darin wachte er mithilfe seiner geschätzten Wächter über ihr Gold. Und das funktionierte. Jedenfalls eine Zeit lang.«

Ich trank einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie den Weg des Wassers durch meinen Hals verfolgten. Ein steppender Elefant hätte neben mir auftauchen können, und die einzige Reaktion wäre wahrscheinlich ein Anpfiff gewesen, weil er den Blick auf den Bildschirm blockierte. Ich klickte auf die nächste Folie, ein Gemälde eines überfluteten Dorfs.

»Tlalocs halbmenschlicher Sohn starb an einer Krankheit, woraufhin er in tiefste Depressionen und Trauer verfiel. Er gab den Dorfbewohnern die Schuld, da sie seinen Sohn nicht rechtzeitig behandelt hätten, und weigerte sich, ihre Felder mit Regen zu versorgen. Es kam zu einer Dürre, und ihre Feldfrüchte vertrockneten. Die Dorfbewohner flehten die anderen Götter um Hilfe an, und letztendlich drängten diese Tlaloc dazu, seine Versprechen an die Menschen zu erfüllen. Das tat er, indem er das Land überflutete und das ganze Dorf vernichtete.« Im Publikum wurde nach Luft geschnappt. »Erzürnt nahmen ihm die anderen Götter seine Kräfte, und er sollte sie nur wiederbekommen, wenn er bewiesen hatte, dass er ihrer würdig war.«

»Und die Chipanya?« Taylor, das Mädchen, das diese Fragen überhaupt aufgeworfen hatte, wirkte fassungslos. »Ohne ihn waren sie doch schutzlos, und die Eloxochitl konnten sie angreifen.«

»Genau das taten sie.« Ich zeigte eine weitere Folie, eine dramatische Darstellung von kampfbereiten Aztekenkriegern mit Speeren, Pfeilen und Bögen. »In dem Versuch, sein Versprechen zu erfüllen, verwendete Tlaloc den letzten Rest seiner Kräfte dafür, die Stadt zu verschütten und den Tempel zu verschließen, um das Gold zu beschützen. Die Seelen seiner geliebten Wachen wurden zu Jaguarkriegern und erhielten den Auftrag, seinen Tempel zu schützen. Und seitdem hat niemand mehr die Stadt Chipanya gesehen.«

»Götter und Flüche und Menschen, die sich in Jaguare verwandeln, mögen ja eine tolle Geschichte sein.« Ein rothaariges Mädchen mit zwei Glitzerstiften in ihrem unordentlichen Dutt sah mich skeptisch an. »Aber wie sicher sind Sie, dass diese Stadt tatsächlich existiert hat?«

Miss Skepsis hatte eine Menge Gleichgesinnte. Viele Archäologen hielten Chipanya und den goldgefüllten Tempel des Tlaloc für erfundenen Unsinn. Zum Wirken des Universums und der Religion konnte ich nichts sagen, doch ich wusste, dass Menschen im Namen der Religion zu so einigem fähig waren. Während der Wissenschaftler in mir also keine Ahnung hatte, was er von einem uralten, das Gold der Azteken beschützenden Jaguargott halten sollte, war ich nicht bereit, die Existenz der mythischen Stadt Chipanya einfach so abzutun. Und womöglich sogar die der Halle von Yolia.

»Alles ist möglich«, erwiderte ich beiläufig.

Sie starrten mich weiterhin an und warteten ganz klar auf Belege. Ich hatte etwas – vielleicht jedenfalls –, aber ich war noch nicht bereit, darüber zu sprechen, und es befand sich unter Schloss und Riegel in meinem temporären Büro. Es gab zwar Gerüchte über das Relikt, ich hatte allerdings nicht vor, sie zu bestätigen.

»Eine Gruppe von Forschungsreisenden hat im Jahr 1968 behauptet, die Halle der Seelen gefunden zu haben«, meldete sich eine piepsige Stimme von hinten im Raum zu Wort. Wenn ich hätte raten müssen, hätte ich auf den dünnen, kleinen Typen in der letzten Reihe getippt, der anscheinend jedes meiner Worte mitkritzelte, einschließlich »Guten Morgen, mein Name ist Dr. Christopher Sawyer«. »Glauben Sie denen?«

»Das tue ich nicht«, antwortete ich unmissverständlich. Forschungsergebnisse von Kollegen machte ich nur ungern schlecht, aber die Expedition von Shonni und Sparks war von Anfang an fehlerbehaftet gewesen. »Ich glaube, dass sie einen Tempel des Tlaloc gefunden haben. Nicht seinen Tempel.«

Ich beendete die Präsentation und räusperte mich. »Gibt es Fragen?«

Fast jede Hand schoss in die Luft.

Ich blinzelte. Für Studenten, deren Augen so glasig gewesen waren, dass man sie beinahe als Fensterscheiben hätte verwenden können, war das aber eine ganze Menge an Beteiligung. Diese stürmische Reaktion hatte ich offenbar der verlorenen Stadt aus Gold zu verdanken. »Sie in der ersten Reihe?«

»Waren Sie dabei, als Ihr Großvater und Ethan Stone das Rubinkreuz der Ludovisi-Familie gefunden haben?«

»War ich nicht«, sagte ich kurzangebunden. »Gibt es noch Fragen über andere Themen als Remington Sawyer?«

Ziemlich viele Hände senkten sich, aber Henrys blieb oben, ganz Inbegriff der Entschlossenheit. »Glauben Sie, dass Sie selbst irgendwann die Gelegenheit haben, sich auf die Suche nach der Stadt zu machen?«

Entdecker und Schatzsucher forschten seit Jahrhunderten nach der mythischen Halle von Yolia. Das aztekische Gold im Tempel wäre locker dreihundert bis vierhundert Millionen wert. Große Leute hatten es vor mir versucht und waren gescheitert, und das schloss meine Eltern mit ein.

»Die kurze Antwort? Nein. Mein Beitrag zu diesem Thema besteht darin, die wissenschaftlichen Antworten zu finden, die den auf die Feldforschung spezialisierten Kollegen helfen werden. Noch jemand?«

Henry dachte anscheinend, sein Name sei Noch Jemand. »Betreiben Sie selbst gar keine Feldforschung? Und falls nicht, liegt es an den Krampfanfällen?«

»Ich mache keine Feldstudien, nein.« Ich lächelte freundlich, obwohl sich Wut in meinem Bauch breitmachte. Feldforschung war nicht alles. Und ich hatte nicht die geringste Absicht, auf den medizinischen Teil der Frage einzugehen. Das war aufdringlich und unangebracht.

»Also die echte Arbeit den anderen überlassen, richtig?«

Wieder Henry. Ihm war klar, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, das konnte ich an seinem kleinen Grinsen ablesen. Das hätte mich wahrscheinlich nicht allzu sehr überraschen sollen, schließlich studierte er Archäologie, und mein Name war mit Sicherheit schon verunglimpft worden.

Wir hatten ein weiteres kurzes Blickduell, während dessen ich jede scharfe Antwort verwarf, die mir in den Sinn kam – ganz oben auf der Liste stand du Arschloch – und mir heldenhaft auf die Zunge biss. Ich wollte ihm einen Schlag in sein kleines grinsendes Gesicht verpassen, aber er musste noch ein bisschen an Weisheit und Erfahrung gewinnen, um mir wirklich unter die Haut zu gehen. Selbst wenn die Ader in meiner Schläfe so sehr pochte, als würde sie Pompeji spielen wollen.

»Ich glaube, dass jeder junge Mensch, der sich für diesen Beruf entscheidet, von der nächsten großen Entdeckung träumt. Sie sind der Typ, der noch die verlorene Stadt Atlantis entdecken möchte oder den Hope-Diamanten finden. Momentan sind Sie noch ein wenig grün hinter den Ohren.« Ich neigte den Kopf und musterte Henry von Kopf bis Fuß. »Sogar sehr grün. Wie alt sind Sie? Neunzehn? Zwanzig?«

»Vierundzwanzig«, fauchte er.

Mit meinen zweiunddreißig Jahren war ich nicht so viel älter als er, riss aber trotzdem meine Augen übertrieben auf. »Das hätte ich nie vermutet. Wie auch immer, die nächste große Entdeckung ist nicht der Grund für das, was wir tun. Ja, wir wollen verlorene Wunder der Vergangenheit aufspüren, bevor sie wieder von der Erde verschluckt werden. Allerdings nicht, um Schätze zu finden. Falls das Ihr Ziel ist, sollten Sie sich lieber als Lara Croft verkleiden und sich einen Pistolengürtel um die Hüften schlingen.«

Sein Gesicht wurde feuerrot, als die Gruppe kicherte und lachte. »Wir suchen nach diesen verlorenen Artefakten, um von ihnen zu lernen. Um den Schritten unserer Ahnen zu folgen und um das zu berühren, was sie berührt haben«, sagte ich. »Unser Fortschritt gründet auf ihren Errungenschaften, so sind ihr Leben und unseres auf unbegreifliche Weise miteinander verwoben. Es wäre falsch, sie zu vergessen.«

Ich sah auf und fing Liams Blick auf, der mich mit weichem Gesichtsausdruck betrachtete. Ich errötete leicht. Möglicherweise trug ich ein wenig dick auf, doch es war mir ein Anliegen, dass die zukünftige Generation von Entdeckern nicht nur verstand, was wir taten. Sie mussten verstehen, warum wir es taten.

Ich räusperte mich. »Noch jemand?«

»Wie ist es mit ihrem Vater?« Ein Mädchen in einer der vorderen Reihen beäugte mich kritisch. »Er ist vor fünf Jahren bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen, bei dem Versuch, Schätze von den Schiffen der im Jahr 1775 verschollenen spanischen Flotte zu bergen.«

Völlig überrumpelt starrte ich die Studentin an, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Ich bin mir der Umstände des Todes meines Vaters bewusst«, sagte ich schließlich. »Was genau ist Ihre Frage?«

»Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, seine Arbeit zu vollenden? Sie war immerhin so wichtig, dass er dafür gestorben ist.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wollen Sie nicht irgendwann ein Team zusammenstellen, um zu beenden, was er begonnen hat?«

»Nein, will ich nicht«, erwiderte ich knapp.

»Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

Davon abgesehen, dass ich meinem Vater die Forschungsreisen, die ihn mir schon lange vor seinem Tod geraubt hatten, übel nahm? Ja. Ich hatte eine ganze Ladung Gründe. Fahren Sie einfach mit dem Kipplaster vor und sagen mir, wo Sie den dampfenden Haufen Mist haben wollen. Doch ich würde meine Wunden sicher nicht vor einem Raum voller Fremder bloßlegen.

»Die Forschung meines Vaters ist genau das: seine Forschung. Und falls einer von Ihnen mit Remington Sawyer sprechen möchte – mein Großvater ist noch sehr aktiv in archäologischen Kreisen und hält regelmäßig Vorträge«, fügte ich freundlich, aber forsch hinzu. »Sie können sie sehr gerne besuchen. Noch irgendwelche Fragen?«

Der Mangel an gehobenen Händen überraschte mich nach dem Tonfall, in dem ich die letzte Frage beantwortet hatte, nicht wirklich.

»Einen Applaus für Dr. Sawyer, bitte«, sagte Liam laut, kam den Mittelgang entlang und verstärkte mit seinem herzlichen Klatschen den spärlichen Applaus. »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, obwohl Sie so ein beschäftigter Mann sind.«

Nach der Stille bei meinem Vortrag waren die Geräusche einer Gruppe Menschen, die miteinander schnatterten und ihre Sachen zusammenpackten, willkommen. Während sie nach und nach den Raum verließen, packte ich meinen Laptop ein.

Liam verlagerte sein Gewicht ein wenig, die Hände hatte er in die Taschen gesteckt. »Du weißt schon, dass man dich liebend gerne nehmen würde, wenn du das hier je Vollzeit machen willst«, sagte er waghalsig.

»Vielleicht die Unileitung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Studentenschaft Remington Sawyer vorziehen würde«, erwiderte ich trocken.

Er verzog das Gesicht. »Ja. Okay. Ein paar Fragen musst du aber erwartet haben, Kit. Er ist ja praktisch eine lebende Legende.«

»Ja. Ich hab’s schon kapiert.« Ich zog so heftig am Reißverschluss meiner Ledertasche, dass er sich verhakte. Langsam und vorsichtig löste ich ihn wieder. Es war meine allerliebste Aktentasche, verdammt.

»Es hilft natürlich nicht gerade, dass du für Ethan Stone eingesprungen bist.« Liam riss die Augen übertrieben auf. Weil ich ein guter Freund bin, erwähnte ich nicht, dass er dadurch wie ein Koboldmaki aussah. »Er war als Freitaucher in einer der tiefsten Unterwasserhöhlen der Welt und hat dabei einen Haiangriff überlebt.«

»Ich hab doch gesagt, ich hab’s kapiert, Liam. Ich bin langweilig und habe noch nie einem Hai einen Hieb auf die Schnauze verpasst.«

»Haie sind wunderschöne Kreaturen«, sagte er mit verletzter Würde. »Man schlägt ihnen nicht auf die Schnauze.«

»Und ob, wenn sie mich für einen Seehund-Burrito halten.« Die Erwähnung von Essen entfesselte den Kraken in meinem Magen. Wie aufs Stichwort zog der sich zusammen und knurrte. »Wir sollten etwas essen. Oder noch besser, du solltest mich zum Mittagessen einladen, schließlich habe ich dir einen Gefallen getan.«

»Du bist doch reich.« Er schüttelte den Kopf. »Also, ganz grundsätzlich lade ich Leute, die vermögend sind, nicht zum Essen ein.«

Ich unterdrückte ein Lächeln. »Also, ganz grundsätzlich spendiere ich Leuten, die eine Babybadewanne als Müslischale verwenden, kein Essen.«

»Was soll das denn heißen?«, fragte er entrüstet. Sein süßes, kleines Gesicht war vor Empörung verzogen.

»Das heißt, dass ich weiß, wie viel du isst, Liam. Keine Ahnung, wo es landet, aber Mannomann.«

Er gab mir einen Klaps auf die Schulter. »Allein dafür spendierst du mir auch noch einen Nachtisch.«

Ich legte ihm den Arm um die Schultern. Das ging ganz einfach, denn er reichte mir kaum bis ans Kinn. Mit fast eins neunzig passierte mir das oft. »Na komm«, sagte ich. »Ich gebe einen aus.«

KAPITEL 2

Nach dem Mittagessen machte ich mich direkt auf den Weg zur Arbeit, denn ich wollte mich unbedingt wieder dem Relikt widmen. Normalerweise arbeitete ich in den Räumen der Sawyer Foundation, aber für mein aktuelles Projekt benutzte ich ein Büro im Museum. Thea, die Kuratorin der Mittelamerika-Sammlung, hatte verlegen zugegeben, dass sie das aztekische Stück lieber im Gebäude behalten wollte. Im Stillen amüsiert hatte ich ihren Bedingungen mit allem gebotenen Ernst zugestimmt.

Das Relikt war eine Keramik, die ein Abbild des Gottes Tlaloc darstellte, auf der Rückseite war eine Reihe aztekischer Symbole eingraviert. Das Museum hatte sie aus dem Nachlass eines verstorbenen Milliardärs erworben. Dafür war ich zwar dankbar, aber solcher Mist machte mich wirklich sauer. Artefakte waren Teil unserer Geschichte. Unserer Geschichte. Jeder Mensch hatte ein Recht darauf, es zu sehen. Stattdessen hatte es dreißig Jahre lang auf einem Sockel in irgendjemandes Privatsammlung gestanden. So ein Quatsch.

Die Tochter des Milliardärs schien derselben Meinung zu sein. Nachdem die Keramik als Artefakt aus dem frühen 14. Jahrhundert authentifiziert worden war, hatte sie sie dem Museum geschenkt. Sie war in bemerkenswert gutem Zustand, aber während des Transports war das Undenkbare passiert: Der Spediteur hatte das Objekt zerbrochen.

Bevor Thea durchdrehen konnte, wurde ihr klar, dass es sich um das glücklichste Missgeschick der Welt handelte. Die zerbrochenen Stücke hatten eine Krone freigelegt, die als Teil der Statue getarnt gewesen und innen mit eingravierten Symbolen versehen war.

Und an dieser Stelle kam ich ins Spiel. Obwohl alle möglichen Experten sich darum gerissen hatten, die Symbole zu entziffern, wurde das Projekt mir übertragen. Ich war ein Experte für Kodizes. Ich hatte brauchbare Nahuatl-Kenntnisse. Und ich war ein Sawyer. Damit war die Sache gegessen.

Ehrlich gesagt musste ich mich sehr zusammennehmen, um auf dem Weg zu meinem Büro nicht durch die Korridore zu hüpfen und zu springen. Dass ich an der Sawyer-Sammlung vorbeikam, half mir, den Anstand zu wahren – ja, meiner Familie war eine ganze Sammlung gewidmet. Die Hauptattraktion war eine alte Schriftrolle, die einem griechischen Philosophen gehört hatte und von meiner Mutter entdeckt worden war.

Meine Fröhlichkeit wurde wie immer von Traurigkeit gedämpft, als ich an den goldgerahmten Bildern an der Wand vorbeikam. Die Rahmen waren kunstvoll, aber die Bilder meiner Eltern waren es nicht. Auf meinem Lieblingsbild standen sie vor Felsmalereien im Amazonasgebiet, in ihren dreckigen Arbeitsklamotten und abgetragenen Stiefeln, mit Panamahüten auf den Köpfen und strahlenden Gesichtern. Auf dem Schild darunter stand: Es ist kein Abschied. Nur ein weiteres Abenteuer.

Ich war elf Jahre alt gewesen, als sie zu dieser Expedition aufgebrochen waren. Vor ihrer Abreise hatte ich ihnen einen selbst gemachten Leitfaden zu der einheimischen Pflanzen- und Tierwelt des Amazonasgebietes überreicht.

»Für eure Reise«, sagte ich ängstlich und hielt das handgeschriebene Buch hoch. Mein Vater unterbrach das Packen und blätterte lächelnd durch die bemalten Seiten. »Und kannst du ein Foto von denen machen, die du findest?«

Er lachte leise und zauste mir das Haar. »Du bist schon in Ordnung, Kit Kat. Du bist in Ordnung.«

Er hatte mein kleines Büchlein eingepackt und sein Versprechen gehalten. Von meinen vierundvierzig Pflanzen und Tieren hatte er achtunddreißig gefunden und noch ein paar, die ich nicht aufgeführt hatte.

Ich hatte mich nie wie der Sohn gefühlt, den sie gerne gehabt hätten. Das tat ich immer noch nicht. Aber selbst wenn es Unmut gegeben hatte, so war da auch immer Liebe gewesen.

Nach wie vor in Erinnerungen versunken, die gleichermaßen schmerzten und mir das Herz wärmten, erreichte ich mein Büro. Ich gab den Türcode ein, schaltete das Licht an und ging zum Safe. Ein weiterer Code und ein gescannter Daumen, und dann hielt ich die Krone in der Hand. Sie war nicht mit großen Edelsteinen und Juwelen verziert, doch sie war trotzdem ein prachtvolles Stück, ein Triumph aztekischer Handwerkskunst mit Einlegearbeiten aus kleinen Türkisen. Allein so ein Objekt zu berühren, war ganz schön aufregend. Ich war möglicherweise kein typischer Sawyer, aber alles, was mit Geschichte zu tun hatte, begeisterte mich.

Und vielleicht reichte das auch.

Das Grübeln über die Vergangenheit ließ meine Gedanken zu Remi wandern, und ich fragte mich, was er wohl von diesem neuesten Fund halten würde. Nicht zum ersten Mal in dieser Woche rief ich ihn an und landete auf seiner Mailbox. Schon wieder.

Ich versuchte mich an einem lockeren und fröhlichen Tonfall und hinterließ eine Nachricht.

»Hi, ich bin’s, Kit. Okay, du weißt natürlich, dass ich es bin. Dein Enkel. Ein Fluch. Natürlich weißt du, dass es dein Enkel ist. Du hast ja nur einen, stimmt’s?« Peinlich berührtes Lachen. »Ruf mich zurück, wenn du kannst. Ist aber nicht wichtig.« Pause. »Weißt du was? Es ist wichtig, und ich wäre froh, wenn du mich zurückrufst, sobald du diese Nachricht abhörst.«

Sehen Sie? Locker und fröhlich. Wenn locker und fröhlich denn bedeutete, Nachrichten zu hinterlassen wie jemand, der gerade aus einem Koma aufgewacht war.

Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Ich war ein wenig besorgt. Gut, dafür brauchte es auch nicht viel. Ich machte mir von Natur aus oft Sorgen. Zweimal gehustet und schon googelte ich Tuberkulosesymptome.

Offen gesagt war es wirklich typisch für Remi, einfach ohne Ankündigung zu verschwinden und dann genauso plötzlich wieder aufzutauchen. Wenn er irgendwo auf der Welt einer Sache auf der Spur war, dachte er kaum daran zu essen, zu duschen oder sich zu rasieren. Das hatte ich wohl von ihm. Wenn ich mitten in einem Projekt steckte, wurde alles andere nebensächlich.

Ich nahm mir vor, ihn in ein paar Tagen noch mal anzurufen. Dann machte ich mich an die Arbeit, mit einer Tasse Kaffee zu meiner Linken und einem Referenzhandbuch für Nahuatl zu meiner Rechten.

Das reine Glück.

***

Unter dem Auge der Tozi.

Ich stützte das Kinn in die Hand und starrte auf die Übersetzung der Symbole auf der zerbrochenen Keramik. Der Weg zu diesem Ergebnis war langwierig, aber lohnenswert gewesen. Tozi war eine von ihren Untertanen viel geliebte Aztekenkönigin gewesen und eine Expertin in Astronomie. Mir war nicht ganz klar, was sie mit dem Relikt zu tun hatte, doch ich würde es herausfinden … später. Erst mal gab es noch mehr zu übersetzen.

Ich ging dabei sorgfältig und exakt vor, zog zur Überprüfung meiner Ergebnisse immer wieder verschiedene Handbücher zurate und entschlüsselte nach und nach den Code. Die Azteken verwendeten eine Mischung aus Piktogrammen, Ideogrammen und phonetischen Symbolen, die mich ein wenig an die amerikanische Gebärdensprache erinnerte. Auch dabei wird oft eine einzelne Geste für ein Wort verwendet, aber wenn keine Geste existiert, kann das Wort mit Zeichen für die Buchstaben buchstabiert werden. Dieselbe Regel traf hier zu. Manche der Symbole standen für Buchstaben, während andere ein ganzes Wort wiedergaben.

Eine Stunde später lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete meine grobe Übersetzung der Symbole auf der Innenseite der Krone. »Meine Krone und mein Speer sollen die Macht des Tlaloc in sich bergen«, las ich langsam. »Möge sie …«

Der Rest der Schrift war über die Jahre verwittert, und ich dachte eine Weile darüber nach, wie der Satz wohl enden mochte. Möge sie was? Vielleicht war es irgendein Segen.

Die Krone zu haben, machte mich glücklich, und die Inschrift entziffert zu haben, noch viel mehr, aber die Zerstörung der Statue war so eine Schande. Seufzend nahm ich eine der Tonscherben in die Hand. Hoffentlich war jemand in der Lage, sie wieder zusammenzufügen. Eventuell konnten die eingravierten Zeichen als Hilfslinien dienen, um die einzelnen Stücke wieder perfekt anzuordnen. Ich war mir immer noch nicht sicher, warum überhaupt etwas auf die Innenseite geschrieben worden war, vor allem wenn die Statue nur als Tarnung für die Krone gedacht gewesen war.

Mit gerunzelter Stirn drehte ich eine Tonscherbe um und starrte die eingravierten Schnörkel an. Ich nahm ein weiteres Stück in die Hand und betrachtete nun etwas, bei dem es sich anscheinend um Vögel in Flug handelte. Eine Weile spielte ich mit den Scherben und versuchte, sie so aneinanderzuhalten, dass die Inschriften irgendwie zueinander passten. Auf einmal ließ sich ein Teil so einfach mit einem anderen zusammenfügen, als wäre es dafür gemacht worden, und ich schnappte aufgeregt nach Luft.

Nun habt ihr euch aber was eingebrockt, warnte ich die Scherben.

Nichts liebte Christopher Addison Sawyer der Dritte mehr als ein Puzzle. Als Kind war ich oft bettlägerig gewesen, und meine Eltern und Remi hatten mir Unmengen an Puzzles mitgebracht – je mehr Teile, umso besser. Während ich die Scherben weiter zusammenfügte, verlor ich jedes Zeitgefühl, und als ich das letzte Stück platziert hatte, blickte ich auf ein seltsames Bild.

Vielleicht bedeuteten die Linien und Schnörkel und fliegenden Vögel gar nichts. Möglicherweise war das Innere des Gefäßes auch einfach nur dekoriert worden, damit niemand genauer hinsah und die Krone fand. Ich machte eine Aufnahme von dem merkwürdigen Puzzle und packte die Scherben dann sorgfältig wieder in ihre Kiste.

Zwar liebte ich Puzzle, aber ich hasste Rätsel. Schon ein Ausschnitt aus der Cold-Case-Serie, die Remi so mochte, ließ meinen Blutdruck beängstigend in die Höhe schnellen.

Plötzlich hörte ich die quietschenden Räder des Wagens der Reinigungskraft vor meiner Tür und schaute auf die Uhr. Es überraschte mich nicht im Geringsten, dass es bereits beinahe acht war. Mich stundenlang in meinen eigenen Gedanken zu verlieren, war ein spezielles Talent von mir. Kit, der Träumer, hatte meine Mutter immer liebevoll gesagt.

Bevor ich die Krone wieder sicher im Safe verstaute, lächelte ich sie traurig an. So wie jetzt würde ich sie nicht mehr für mich allein haben. Nachdem ich den Code dechiffriert hatte, würde Thea sie in die von ihr sorgfältig kuratierte Ausstellung aztekischer Objekte integrieren. Meine letzte Gelegenheit alleine mit einem Relikt. Also … setzte ich sie auf. Ich weiß, ich weiß. Aber wann hätte ich je wieder die Chance bekommen, eine echte aztekische Krone zu tragen?

Tlaloc.

Das Wort war ein Flüstern in meinem Kopf, nicht mehr als ein Hauch. Danach ein Wortschwall, unvertraute Worte kamen aus meinem Mund. Ich runzelte die Stirn, als ich sie mit zunehmender Dringlichkeit erneut aussprach. Und dann noch einmal, beinahe wie eine Beschwörung.

Es klopfte an der Tür, und ich schrak keuchend zusammen. Mein Herz schlug auf Hochtouren, und ich presste eine Hand auf die Brust. Ich lachte leise über meine alberne Reaktion und rief dann: »Ja?«

»Oh, super, Sie sind noch da!«

Thea. Seit ich erwähnt hatte, dass ich die Inschrift auf der Krone schon fast vollständig entziffert hatte, war sie mir ohne Pause auf den Wecker gefallen. Als mir klar wurde, dass ich das verdammte Ding noch trug, flogen meine Hände zu meinem Kopf.

»Haben Sie einen Moment Zeit?« Theas Stimme war gedämpft. »Ich würde gerne mit Ihnen über die Krone sprechen.«

»Äh, einen Augenblick.«

Ich versuchte, die Krone anzuheben, aber sie bewegte sich nicht um einen Millimeter. Ich knurrte leise vor mich hin, denn ich würde etwas mehr Kraft anwenden müssen und mochte gar nicht an die Konsequenzen denken, falls ich das verfluchte Ding beschädigte. Allein der Gedanke daran schmerzte den Historiker in mir. Und Thea würde mir vollends den Garaus machen.

Ich zerrte und zog, bis mir die Kopfhaut wehtat. Falls es überhaupt einen Effekt hatte, dann fühlte sich die Krone noch enger an. Es klopfte wieder an der Tür, diesmal nachdrücklicher als beim ersten Mal. »Christopher?«

»Ja, ich komme, ich muss nur …« Ich ächzte, während ich ruckartig an der Krone zog.

Nichts. Ich sah mich entschlossen nach etwas Scharfem um. Hätte ich doch meiner albernen Idee, das Ding aufzusetzen, nie nachgegeben. Wenn ich meine Locken abschneiden musste, um es in einem Stück wieder loszuwerden, würde ich das tun.

Aha! Ich schnappte mir eine Schere aus einem reichlich mit Kugelschreibern befüllten Becherhalter. Aber sobald mich der Krone mit der scharfen Schere näherte, zog sie sich zusammen. Ein spitzes Stück grub sich in meine Kopfhaut, und ich jaulte vor Schmerzen auf.

Es ruckelte am Türknauf. »Christopher?«

»Äh … Thea, wäre es in Ordnung, wenn wir später sprechen? Ich stehe äh … kurz vor einer Entdeckung!«

In der folgenden Stille rauschte das Blut laut in meinen Ohren.

»Ja, sicher«, sagte sie, klang jedoch ein bisschen ernüchtert. Und argwöhnisch. »Aber Sie sagen mir sofort Bescheid, wenn Sie dahintergekommen sind?«

»Natürlich.«

Ich hielt die Luft an, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren. Dann machte ich mich mit der Schere über mein Haar her. Wieder fühlte es sich an, als würde die Krone enger werden, sie grub sich gewaltsam in meine Kopfhaut. Ich schrie auf und ließ die Schere fallen.

Mist. Mein Kopf hämmerte.

Erschrocken schaute ich auf mein blasses Spiegelbild im Fenster neben dem Schreibtisch. An meinem Haaransatz zeigte sich ein Blutstropfen und rann langsam über meine Stirn. Mit zitternden Fingern wischte ich ihn ab. Ich brauchte einen Moment, bis ich Mut für einen weiteren Versuch gesammelt hatte. Doch ich hatte keine Wahl. Ich konnte schließlich nicht mit einem verdammten aztekischen Relikt auf dem Kopf nach Hause gehen.

Endlich gelang es mir, meine Finger unter die Krone zu bekommen, und konnte sie anheben. Was ich vorsichtig tat. Puh. Ich starrte die Krone böse an, während ich sie behutsam auf meinen Schreibtisch legte. So eine Nummer würde ich auf keinen Fall noch mal abziehen.

Ich rief schnell bei Thea durch, und sie kreischte auf, als ich ihr erzählte, dass ich mit dem Entziffern der Krone fertig war. »Sie sind genial«, schwärmte sie. »Ich bin in zwei Sekunden da.« Sie legte auf, bevor ich antworten konnte.

Ich betrachtete die Krone auf meinem Schreibtisch. Jeder Hauch sehnsüchtiger Trauer war verschwunden. Ich war froh, dass ich sie mir vom Leib geschafft hatte – und zwar wortwörtlich. Jetzt konnte ich es kaum erwarten, dass Thea mit ihr zur aztekischen Ausstellung trabte und sie in die schon vorbereitete Glasvitrine verfrachtete.

KAPITEL 3

Als ich zu Hause ankam, hatte ich mich beinahe davon überzeugt, dass ich mir den ganzen verdammten Vorfall nur eingebildet hatte. Mein Haar war seit jeher ein wirrer Schopf dunkler Locken. Verflucht, mir waren schon Bleistifte darin abhandengekommen und eine Brille, die ich den ganzen Tag gesucht hatte. Eine Krone mit spitzen Zacken war da wirklich nicht viel abwegiger.

Im dunklen Haus streifte ich Schuhe und Jacke ab und ging auf Socken in die Küche. Mein Stadthaus war ein Reihenendhaus und damit sehr begehrt: Es hatte nur eine geteilte Wand mit einem Nachbarhaus. Paul und ich hatten es erst vor ein paar Jahren gemietet, und es war für uns beide besonders gewesen. Ich liebte die moderne Fassade aus Glas und weißen Backsteinen, Paul dagegen die exklusive Nachbarschaft. Ich hatte ihm die Inneneinrichtung überlassen, und er hatte es wunderbar gemacht, klassisch, aber schick. Nach unserer Trennung war es nur logisch, dass ich blieb. Na ja, Sie wissen schon, weil er ein betrügerischer Schweinehund war und so.

Es hatte nicht so sehr wehgetan, wie es das hätte tun sollen. Ich war unerwartet früh nach Hause gekommen und hatte ihn in flagranti erwischt – und in dem Moment hatte ich erkannt, dass wir nie wirklich zueinander gepasst hatten. In keinster Weise. Das war mir unmissverständlich klar geworden, als ich in der Tür zu unserem Schlafzimmer gestanden und beobachtet hatte, wie er auf meiner Lieblingsbettwäsche von einem muskulösen Kerl durchgevögelt worden war. Ich war auch lieber Bottom, aber ich hatte mich nach Kräften bemüht, ihn glücklich zu machen.

Also hatte ich ihn rausgeschmissen. Und die Bettwäschegarnitur entsorgt. Außerdem hatte ich ihm höflich mitgeteilt, dass er eine Woche Zeit hatte, um seine Sachen abzuholen – oder ich würde ihnen eine anständige Feuerbestattung ganz im Stil der Wikinger verpassen.

Er hatte auch ein paar Treffer gelandet, Kommentare, an die ich mich nur zu gut erinnerte.

»Wo zum Teufel soll ich denn hin?« Seine Stimme wurde immer lauter.

»Ich glaube, das fällt in die Rubrik ›Ist mir doch schnuppe‹.«

»Ist das dein Ernst?«

»Klinge ich etwa nicht ernst?«, fragte ich langsam. »Ich kann es mit einer anderen Stimme versuchen, wenn nötig. Meine Robert-de-Niro-Imitation ist ziemlich gut.«

»Du privilegierter kleiner Scheißkerl«, knurrte er und gab die gelassene Fassade nun ganz auf. »Dir ist in deinem Leben alles auf dem Silbertablett serviert worden. Tja, ich habe eine Eilmeldung für dich. Ich habe dich nie gewollt.«

Mir rauschte das Blut in den Ohren. »Ach ja?«

»Wer würde dich denn wollen? Du bist langweilig. Selbstgefällig. Die menschliche Version einer Schlaftablette, Himmelherrgott noch mal.« Er klang einfach nur noch hinterhältig, und seine Worte versuchten, sich in meinem Kopf festzusetzen. »Ich wollte dich, weil du ein Sawyer bist. Nicht gerade ein beeindruckendes Exemplar, aber in der Not frisst der Teufel ja Fliegen.«

Ich packte weiter seine Sachen zusammen. Zugegeben, es ging jetzt ein wenig durcheinander, doch ich wollte ihm nicht die Befriedigung geben, zu sehen, welche Wirkung seine Worte auf mich hatten.

»Dein Name öffnet Türen, auch wenn du selbst nie etwas in unserem Fach erreicht hast«, führte er seine gehässige Attacke fort. »Zum Teufel noch mal, sogar deine Position im Vorstand der Stiftung hast du geerbt. Was genau hast du denn selbst entdeckt?«

Ooh, jetzt hatte er meine Aufmerksamkeit gewonnen. »Halt deine Scheißfresse, Paul!«, fauchte ich förmlich.

»Habe ich einen Nerv getroffen?« Er ließ ein hässliches Lachen hören. »Ich bin auf dem Weg nach oben, Christopher. Ich hätte es besser wissen sollen, als das zusammen mit jemandem zu versuchen, der nie mehr sein wird als ein Schatten seines Vaters.«

Er ist ein verdammter Lügner, sagte ich mir innerlich vor. Das weißt du.

»Von daher, mach nur. Schreib weiter deine lächerlichen kleinen Kinderbücher, die nie das Licht der Welt erblicken werden. Und halte weiterhin Vorlesungen als zweite – nein, dritte – Wahl. Erbärmlich.« Er machte ein verächtliches Geräusch. »Ich bin zu Besserem berufen, Christopher. Mit oder ohne dich.«

Ich betrachtete seine wütende Miene. Nun machte ich ein Geräusch, ein ungläubiges. Er glaubte immer noch an die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft? Nach allem, was er gesagt und getan hatte?

»Ohne.« Meine Stimme war rau vor Gefühlen. »Auf jeden Fall ohne.«

Ich seufzte und widmete mich den üblichen Alltagsdetails des Feierabends. Müll und Wäsche und ein Mikrowellen-Fertiggericht, das ich im Stehen neben der Spüle verzehrte. Bis ich zu Bett ging, hatte Paul mit wirklich eigenartigem Timing mindestens drei Mal angerufen, aber ich ließ ohne das geringste Bedauern die Mailbox drangehen.

Ich rollte mich auf den Rücken und starrte die Decke an.

Es war alles meine Schuld. Mit Epilepsie zu leben bedeutete, dass ich andere Prioritäten gehabt hatte, als meine Altersgenossen sich fröhlich durch sämtliche Betten geschlafen hatten. Und als ich so weit war, mich diesem Teil meines Lebens zu widmen, schien es irgendwie zu spät zu sein. Es war alles so furchtbar peinlich. Nach einer Weile hatte ich einfach aufgeben wollen.

Ich hatte versucht, bereits im Vorfeld ganz offen über meine Situation zu sprechen. So sieht es im schlimmsten Fall mit mir aus, und wenn du damit nicht klarkommst, bla, bla, bla. Aber das hatte nicht gerade gut funktioniert. Ich wurde förmlich mit Fürsorge erdrückt. Kit, überanstrenge dich nicht. Kit, du bist schon viel zu lange in der Sonne. Kit, soll ich das Auto holen? Wir haben so weit entfernt geparkt, und du wirkst müde.

Das war zwar nicht entsetzlich, doch in meinem Leben erinnerte mich sowieso so vieles daran, dass ich nicht vollkommen gesund war, da brauchte ich keinen Partner, der mich aufgrund meiner Epilepsie für schwach hielt. Ich brauchte einen Partner, der verstand, dass sie mich in Wirklichkeit stark machte. Absolut kampferprobt.

Also versuchte ich, meine Erkrankung zu verstecken. Wie naiv das war, lernte ich dank eines sehr netten Kerls namens Jonathan, der gerne in der freien Natur unterwegs war. Ich hatte beschlossen, dass ich wie alle anderen sein konnte, wenn ich mich nur ausreichend bemühte. Ich hatte es sattgehabt, es ruhig angehen zu lassen und vorsichtig zu sein.

Klar konnte ich am Samstag eine Fahrradtour mit ihm machen. Und jawohl, ich genoss stramme Spaziergänge im Park. Und das funktionierte. Einen Monat und drei Tage lag. Der Anfall kam mitten auf dem Radwanderweg. Ich hatte einen Sekundenbruchteil Zeit, um zu begreifen, dass die Anzeichen, die ich für Erschöpfung gehalten hatte, tatsächlich einen nahenden Krampfanfall ankündigten, und das reichte gerade so, um meinen Sturz vom Fahrrad ein wenig abzufangen.

»Kit, Babe, alles in Ordnung?« Jonathans besorgte Stimme drang zu mir durch, als ich zu zucken begann, aber ich konnte nichts tun, außer herumzuzappeln wie ein Fisch. Oh, und ich hatte ihm bereits gesagt, wie sehr ich den Kosenamen Babe hasste, das ging mir noch durch den Kopf. »Was ist los?«

Und dann erfasste mich der Krampfanfall ganz, und ich kriegte nichts mehr mit. Als ich mich endlich wieder auf etwas konzentrieren konnte, reichten meine Kräfte nur noch, um mir über die trockenen Lippen zu lecken und mit trüben Augen in die Gegend zu gucken. Ich sah … Beine. Mehrere Paar Beine, die sich in Beschaffenheit, Farbe und Größe unterschieden, umgaben mich. Oh, und da war der Schritt einer besorgten Seele, die in die Hocke gegangen und meinem Gesicht viel zu nahe gekommen war. Von meinem extrem guten Blickwinkel aus konnte ich sehen, dass er ordentlich was in der Hose hatte – doch seine Hose war deutlich zu nah an mir dran.

Ich öffnete den Mund, um ihm genau das zu sagen, aber mir fehlte noch die Fähigkeit, Wörter aneinanderzureihen. Ich hasste es, wenn ich in Gegenwart von Fremden einen Anfall hatte. Wenn ich ihnen ausgeliefert war.

Aber es waren ja nicht nur Fremde, nicht wahr? Ich sollte mich sicher fühlen, weil Jonathan hier war und wusste, was zu tun war. Nur hatte ich ihm nichts davon erzählt. Ich hatte es ihm verschwiegen, weil ich wusste, dass er damit nicht klarkommen würde. Und plötzlich war ich den Tränen nahe.

Atmen, Kit.

»Was fehlt ihm denn?« Eine weitere Stimme. »Passiert das öfter?«

»Keine Ahnung.« Das war wieder Jonathan, und er klang völlig panisch.

Er war ein netter Kerl, dachte ich widerwillig. Ich kniff die Augen zusammen. Er hatte auch extrem haarige Beine, fast schon wie ein Wolf. Vielleicht war es ganz gut, dass das hier das Ende für uns war.

Ich war immer noch dabei, mich wieder in den Griff zu kriegen, als die Sanitäter eintrafen.

Wie peinlich, dachte ich empört, als sie mit ihrer lächerlichen Trage ankamen. Ich brauchte kein Krankenhaus, ich brauchte Ruhe. Und ich wollte ganz sicher nicht mit Fahrradhosen in die Notaufnahme, die – wie ich jetzt nach einem genaueren Blick aus der Rückenlage sah – meine Beine so dünn und blass wie Spaghetti wirken ließen.

Jonathan bot mir seine Begleitung an … nachdem er seinem spezialangefertigten Fahrrad ein paar sehnsüchtige Blicke zugeworfen hatte. Ganz wie ein Liebespaar, die beiden. Ich seufzte und winkte ab. Sie würden ihm sowieso nicht erlauben, sein ultraschickes Mountainbike irgendwie in den Rettungswagen zu zwängen. Oder es auf dem Dach zu befestigen, als wäre das Sanitätsfahrzeug ein Jeep.

Immerhin hatte er den Anstand, mein Fahrrad bei mir zu Hause abzustellen, versteckt unter, nun ja, einer Fußmatte, die es nicht im Geringsten verbarg.

Hey, ich habe nie behauptet, dass er ein großer Denker war. Ich habe gesagt, dass er nett war.

Er schrieb zweimal und erkundigte sich nach mir, dann kam ein zaghaftes »Vielleicht sollten wir uns auf einen Kaffee treffen und reden.«. Das war deutlich. Also kam ich ihm zuvor und machte Schluss. Einen klaren Schnitt. Ich überschritt nie wieder seine gesunde, robuste Türschwelle. Und das war’s.

Dann war ich ein paarmal mit einem Typen namens Kyle ausgegangen, den Liam mir vorgestellt hatte. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass das nichts werden würde. Er war jung, ging gerne aus und zog von Party zu Party. Dass ich keinen Alkohol trank, betrachtete er als Herausforderung, was total nervig war.

»Du trinkst also nie?« Kyle beäugte mich ungläubig.

»Nein«, antwortete ich zum zigsten Mal.

»Nicht mal Weinschorle?«

»Nein.«

»Warst du mal Alkoholiker?«, fragte er weise.

Selbst meine Augäpfel seufzten. »Nein.«

»Oh. Hm, okay. Darum bist du wahrscheinlich so steif. Aber das hier …« Er gab mir einen ordentlichen Klaps auf den Hintern. »Fuck, das ist es wert, weißt du?«

Es tat mir sehr leid, dass ich ihm je erlaubt hatte, mit mir zu schlafen.

Als wir mit einem zweiten Paar, Freunden von ihm, unterwegs waren, entschied Kyle, dass ich etwas »lockerer« werden müsste, und schob mir einen Screwdriver unter. Zwei köstliche Schlucke lang hielt ich den Drink für Orangensaft – und dann erlitt ich einen Krampfanfall, der dafür sorgte, dass ich auf dem Fußboden des ziemlich eleganten Ladens herumzappelte. Er und seine Freunde ließen mich einfach zurück, und ich kam unter den besorgten Blicken der panischen Restaurantbelegschaft wieder zu mir.

Nach einer Reihe von Fröschen hatte ich also Paul bei einer Veranstaltung in einem Museum getroffen, und es funkte sofort. Meine Anfälle waren ihm nicht peinlich. Meine Familie beeindruckte ihn nicht übermäßig. Hatte ich jedenfalls gedacht. Und auch wenn er kein Prinz war, verdammt, so war er kein Frosch, und das war immerhin etwas.

Nur war er eben doch ein Frosch. Ein schlauer Frosch. Einer, der vortäuschen konnte, dass er eben kein beschissener Frosch war. Und ich hatte ihn in mein Leben treten lassen, statt seinen amphibischen Arsch zurück in den Teich zu befördern.

Mein Handy klingelte erneut, und ich blockierte seine Nummer mit einem zufriedenen Brummen. Zum Glück ließen sich manche Fehler bereinigen.

»Keine Frösche mehr«, murmelte ich, als ich einschlief.

 

***

 

Ich wachte mitten in der Nacht auf und blinzelte mit trüben Augen zur Decke hoch. Ich konnte nicht genau sagen, was mich geweckt hatte, und warf einen Blick auf die leuchtenden Ziffern meines Weckers. Drei Uhr morgens. Das war eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Ja, ich war mitten in der Nacht aufgewacht. Aber ich konnte noch vier Stunden liegen bleiben. Ich gähnte, streckte mich und drehte mich dann auf die Seite, um mich etwas gemütlicher hinzulegen. Was mit einer verfluchten Krone auf dem Kopf echt schwierig war.

Ach du Scheiße!

Ich setzte mich im Bett auf … und stolperte beim Aufstehen, wobei ich mich in dem Haufen meiner Klamotten neben dem Bett verhedderte und zu Boden ging. »Au«, stöhnte ich und rieb mir den Hintern.

Einen Moment nahm ich mir Zeit, um über meine Existenz in ihrer Gesamtheit nachzusinnen.

Ich stellte sicher, dass ich wach genug war, um mich unfallfrei in Bewegung zu setzen, und kam vorsichtig auf die Füße. Meine Hüfte schmerzte schon ein wenig, als ich ins Badezimmer taumelte. Ich schaltete das Licht an und starrte in den Spiegel. Meine Hüfte würde eine Wartenummer ziehen müssen, denn ich hatte in diesem Moment größere Sorgen. Ich gaffte die verdammte Krone auf meinem Kopf an, während meine Gedanken zwischen wie, warum und Oh Gott wechselten.

Ich musste sie loswerden. Und zwar verflucht noch mal sofort.

Ich fürchtete schon, beim Versuch, sie zu entfernen, würden sich die Geschehnisse vom Nachmittag wiederholen, aber sie ließ sich ganz leicht anheben. Ich stellte sie mit einem sanften Klacken auf die Ablage. Dann stürzte ich zum Garderobenschrank im Flur, nahm eine mittelgroße Plastikbox voller Bandagen und Verbandsrollen heraus und schüttete den Inhalt einfach in den Schrank. Ich schloss die Tür mit einem Versprechen, das Ganze morgen aufzuräumen, bevor ich wieder ins Badezimmer rannte.

Ich legte die Krone in die Box und verschloss sie sorgfältig. Fluchtbereit wartete ich ab, nur für den Fall der Fälle. Ich wusste nicht mal, worauf ich wartete. Glaubte ich wirklich, dass das Ding sich von selber bewegen würde?

Ich starrte es noch etwas länger an. Es bewegte sich keinen Millimeter, vermutlich weil es, Sie wissen schon, ein unbelebtes Objekt war und so weiter. »Versuch bloß nicht, da wieder rauszukommen«, sagte ich leise.

Schließlich verstaute ich die Box im Kofferraum meines Audis.

Sicher war sicher.

KAPITEL 4

Ich wartete in meinem Büro im Museum und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum.

Nach dem Aufwachen war ich mit einer gereizten Nachricht von Thea zur Krone konfrontiert gewesen … Zumindest vermutete ich, dass es um die Krone ging. Ihre Stimme hatte abgehackt und wütend geklungen, als sie um meine Anwesenheit im Museum gebeten hatte. »Gleich als Erstes«, hatte sie betont, ihre Stimme ein hartes Staccato.

Tja. Also rechnete ich damit, einen Anschiss zu kassieren, der sich gewaschen hatte.

Ich war ja schon froh, dass ich nicht mit der Krone auf dem Kopf aufgewacht war. Als ich in meinen Kofferraum gespäht hatte, als wäre er ein Portal in eine andere Dimension, hatte sie sich noch wohlbehalten in der Plastikbox befunden. Das reichte beinahe aus, um mich davon zu überzeugen, dass die ganze Episode reine Einbildung gewesen war … allerdings hatte ich mit Sicherheit kein unbezahlbares Artefakt mit nach Hause genommen.

Aber was für eine Erklärung konnte es sonst geben? Eine mystische? Eine magische? Verzauberte Relikte gab es nur im Film, und ich war kein Indiana Jones.

Nun ja, ich könnte Indiana Jones sein, wenn er zierlich, schlank und erheblich besser gepflegt wäre. Und wenn er dunkle Haare und graue Augen hätte und über eine gehörige Portion Epilepsie verfügte. Also … eher nicht? Vielleicht könnte ich Ohio Jones sein, sein etwas weniger toller Cousin.

Thea kam auf einer Welle des Ärgers hereingerauscht. Ihr rotes Haar bauschte sich hinter ihr wie eine Wolke. Sie machte ein verblüfftes Gesicht, als sie die Krone sah, und hob einen Finger drohend in meine Richtung. »Ich wusste es!«, rief sie.

Ich hatte eine Erklärung vorbereitet. Ich hätte sichergehen wollen, dass meine Übersetzung korrekt war, und die Krone deshalb mit nach Hause genommen und die Nacht durchgearbeitet. Ja, es war eine zwielichtige Erklärung, doch etwas Besseres war mir in letzter Minute nicht eingefallen. Besser zwielichtig als verrückt.

Ich öffnete den Mund, aber sie gab mir keine Chance. Stattdessen las sie mir die Leviten vorwärts und rückwärts, ohne Luft zu holen.

»Sie können ein Relikt nicht einfach mit nach Hause nehmen, als wäre Spielzeugtag im Kindergarten«, regte sie sich auf. »Ein Relikt! Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

»Es tut mir leid, ich …«

»Im Ernst, wie konnten Sie nur? Ich hätte gedacht, dass jemand mit Ihrem Ruf es wirklich besser wüsste.«

»Das tue ich! Ich habe nur …«

»Was wenn dem Relikt etwas zugestoßen wäre? Oder man Sie beraubt hätte?«

»Ich glaube nicht, dass ein durchschnittlicher Autodieb nach einer Aztekenkrone Ausschau halten würde, Thea«, sagte ich trocken. »Und wenn Sie mir einen Augenblick zuhören würden, kann ich Ihnen …«

»Das ist ja noch schlimmer. Der Dieb wüsste nicht mal, was er da hat, und würde es wegwerfen. Ein Stück Geschichte auf einem Haufen Abfall, der für die Müllhalde bestimmt ist!«

Und so ging es in einem fort.

»Du liebe Zeit, Thea«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Ich habe mich bereits entschuldigt. Vielleicht sollten wir Ihnen eine Peitsche besorgen?«

Sie hatte den Anstand, etwas belämmert dreinzublicken. »Entschuldigen Sie. Ich bin nur … es ist ein ganz besonderes Stück.«

»Ich weiß.«

»Und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit genommen haben, bei der Decodierung der Inschrift zu helfen.«

»Sie müssen mir nicht danken«, erwiderte ich mit einem Achselzucken. »Es hat mir Spaß gemacht.«

Sie lächelte zaghaft. »Ich darf mich also noch mal bei Ihnen melden?«

»Wann immer Ihnen ein aztekisches Relikt unterkommt, sagen Sie einfach Bescheid«, entgegnete ich mit einem Zwinkern.

Sie lachte. »Wird gemacht.«

Als sie die Krone an sich nahm, seufzte ich erleichtert. Ich hatte dumpfe Kopfschmerzen bekommen und rieb mir ermattet die Augen. Auf ihren besorgten Blick hin ließ ich die Hand sinken. »Sind Sie …«

»Alles in Ordnung«, sagte ich kurz angebunden.

Ich musste mir nie Gedanken darüber machen, ob ich Leute über meine Erkrankung informieren wollte. Sie mussten nur die Geschichte meiner Familie nachschlagen, und schon wussten sie über den jüngsten Sawyer und sein »Leiden« Bescheid.

Aber das war der alte Kit.

Dr. Naveed hatte endlich den richtigen Medikamentencocktail gefunden, der meine Krampfanfälle verhinderte. Schon zwei Jahre, Tendenz steigend. Das war mein bisher längster anfallfreier Zeitraum, und den wollte ich gerne verlängern. Die Angst vor einem plötzlichen Anfall und davor, der Hilfsbereitschaft von Fremden ausgeliefert zu sein, verließ mich allerdings nie ganz.

Inzwischen sollte ich eigentlich daran gewöhnt sein. Seit meinem neunten Lebensjahr hatte ich mindestens einmal im Monat einen fokalen Anfall. Zumindest ging es relativ schnell vorbei. So wie mein Vater sie beschrieben hatte, starrte ich einfach ein paar Minuten ins Leere, während mein Mund sich bewegte, als würde ich ein riesiges Kaugummi kauen. Aber als Krönung einer beschissenen Situation hatte ich zwei Mal im Jahr einen generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall. Die darauffolgende Benommenheit dauerte tagelang an. Manchmal sogar wochenlang.

Medikamente und Arztbesuche wurden zu einem Teil meines Lebens. Ebenso die gelegentlichen Besuche in der Notaufnahme, sooft ich die Anzeichen eines nahenden Anfalls nicht erkannte und mich verletzte. Ich erlebte Monate voller Glück, wenn die Medikamente endlich zu wirken schienen. In dieser Phase schwebte ich förmlich vor Hoffnung, dass die Ärzte zu guter Letzt die richtige Kombination entdeckt hatten. Dann kehrten die Krampfanfälle zurück wie ein mieser Ex, der noch ein Hühnchen mit einem zu rupfen hatte, und ich war am Boden zerstört.

Vor zwei Jahren hatte sich die Situation erneut geändert. Dr. Naveed war entschlossen gewesen, die Ursache für meine epileptischen Anfälle zu finden, und hatte mich einem Langzeit-EEG unterzogen. Ich musste drei Nächte lang zur Beobachtung bleiben, bis sich endlich ein Anfall einstellte, aber es hatte sich gelohnt. Jedenfalls dem Arzt zufolge. Er hatte entdeckt, dass die Anfälle im linken Temporallappen meines Gehirns lokalisiert waren, und hielt mich für einen geeigneten Kandidaten für eine Lobektomie.

Er versicherte mir, dass es sich um fantastische Neuigkeiten handelte. Daraufhin hatte er mir einen Haufen medizinischer Fachbegriffe an den Kopf geworfen, die ich nicht wirklich verstand. Möglicherweise hatte deshalb meine Fantasie übernommen. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, mir vorzustellen, wie mein Hirn in einem Einmachglas in einer goldenen Flüssigkeit schwamm, um aufmerksam zuzuhören. Albern, ich weiß, aber … Mist. Eine Hirn-OP? War es tatsächlich so weit gekommen?

Als ich ihm gesagt hatte, dass ich Zeit zum Nachdenken brauchte, hatte er verständnisvoll genickt. »Ich weiß, es handelt sich um eine schwerwiegende Entscheidung, Christopher, doch Sie könnten anfallfrei sein. Es sollte ein relativ unkomplizierter Eingriff sein.«

Sollte?

Das war kein Wort, das ich im Zusammenhang mit einer Operation an meinem Gehirn hören wollte. Und ich war bereits anfallfrei. Er hatte meine Dosis wieder einmal angepasst, und es schien zu wirken. Er glaubte offenbar nicht, dass es dabei bleiben würde, aber ich war der lebende Beweis, nicht wahr?

Es geht mir besser, rief ich mir in Erinnerung und umklammerte die Schreibtischkante so fest, dass meine Knöchel weiß wurden. Viel besser. Und womöglich würde ich es auch glauben, wenn die Leute nur aufhörten, mich an meine Erkrankung zu erinnern.

Nach einem weiteren ängstlichen Blick in meine Richtung verließ Thea mein Büro. Ich ließ mich in meinem Stuhl zurücksinken. Ich würde mir keine Sorgen um die Zukunft machen. Vielleicht würde ich weiterhin anfallfrei bleiben, vielleicht auch nicht. Aber ich hatte mein Leben zu leben. Dinge zu tun. Heute war wahrscheinlich mein letzter Tag im Museum, da ich mit der vermaledeiten Krone fertig war.

Gott sei Dank.

Ich fragte mich, was Remi wohl von ihr halten würde. Er hatte zu seiner Zeit so allerlei Merkwürdigkeiten gesehen. Ich rief erneut bei ihm an und runzelte die Stirn, als ich wieder nur die Mailbox erreichte. Das gab mir zu denken. Mein Großvater rief mich immer zurück, selbst wenn es eigentlich unmöglich sein sollte. Himmelherrgott, der Mann hatte mich einmal von einem Berggipfel in Tibet angerufen. Und jetzt war er zu beschäftigt, um auch nur eine Nachricht zu hinterlassen?

Das leichte Gefühl des Unbehagens, das mir auf den Magen drückte, war zwar noch nicht überwältigend, aber es ließ sich nicht mehr ignorieren. Vielleicht war es Zeit für einen Trip nach Hause nach Indian Creek Island, damit ich mich persönlich davon überzeugen konnte, dass es ihm gut ging.

Das Timing war denkbar schlecht. Ich musste zwei Artikel fertigschreiben und hatte die Stiftung schon viel zu lange zugunsten der Sache mit der Krone vernachlässigt. Ich hatte keine Zeit, so mir nichts, dir nichts nach Florida zu jetten. Aber … es ging um Remi. Ich hätte mir keinen besseren Großvater wünschen können. Er war der einzige Mensch in meinem Leben, der mich je an erste Stelle gesetzt hatte. Wie könnte ich weniger für ihn tun?

Ich entsperrte mein Telefon und öffnete die Flug-App.

KAPITEL 5

Von unten sahen die Wolken immer so magisch aus.

Ich seufzte, und mein Atem ließ das Flugzeugfenster für einen Moment beschlagen. Von unten schien es beinahe so, als könnte es über den Wolken alles geben – Vögel, tanzende Einhörner, selbst ein Königreich im Himmel. Aber wenn man hier oben ankam, wurde man mit völliger Leere konfrontiert.

Vielleicht lag das nur am wunderlichen Teil meiner Einbildungskraft, der schon immer ein wenig überaktiv gewesen war, das gebe ich zu. Remi hatte mich immer davon überzeugen wollen, dass das eine gute Sache war.