Das ewige Ungenügend - Saralisa Volm - E-Book

Das ewige Ungenügend E-Book

Saralisa Volm

0,0
18,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Saralisa Volm geht knallhart ins Gericht mit dem Körperterror und Schönheitsdruck auf Frauen, vor allem aber mit den Profitstrukturen, die dahinter stehen.« Süddeutsche Zeitung  Wie viel Hyaluron passt in das Gesicht einer intelligenten Frau? Wie viel Botox kann ich meiner politischen Haltung zumuten? Wie viel Hängebrust ertragen? Saralisa Volm, Schauspielerin, Filmproduzentin und Kuratorin, steckt mittendrin im Schönheitswahn. Es ist Zeit für körperliche Selbstermächtigung, besseren Sex, echte Wut, entspanntes Altwerden und dafür, endlich nein zu sagen. »Was für eine kluge, schmerzhafte wie intime Analyse der permanenten Fremdbestimmungen, denen der weibliche Körper ausgesetzt ist.« Samira El Ouassil »Ein ehrlicher Blick in Abgründe und gleichzeitig eine Umarmung, warm und heilsam.« Verena Altenberger »Fantastisches Buch! Lest es! Verschenkt es an junge Menschen.« Teresa Bücker »Gemeinsam bewohnen wir dieses Gefängnis des Nicht-Genügens. Und nur gemeinsam kann uns der Ausbruch gelingen. Dieses so kluge wie schmerzhafte Buch liefert uns den Schlüssel.« Maria Furtwängler

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ewige Ungenügend

Die Autorin

SARALISA VOLM, ist Schauspielerin, Kunsthistorikerin und Filmemacherin. 2017 sorgte die von ihr produzierte Filmsatire »Fikkefuchs« für Aufsehen. 2022 war sie im preisgekrönten Kinofilm »Als Susan Sontag im Publikum saß« (Regie: RP Kahl) als Germaine Greer zu sehen. Ihr Spielfilmdebüt als Regisseurin, »Schweigend steht der Wald«, feierte bei der Berlinale 2022 seine Premiere.

Das Buch

Überall ist Körper. Überall ist Bewertung. Kein Entkommen. Was macht das mit uns?Saralisa Volm, Schauspielerin, Regisseurin und Kunsthistorikerin, ist hin- und hergerissen zwischen der Generalsanierung ihres Körpers und einem großen »Fuck you«. Kann man sich nicht einfach unförmig finden und trotzdem das Leben genießen? Die 38-Jährige hat sich beruflich und privat intensiv mit dem Thema Körper beschäftigt. Hier erzählt sie die Geschichte ihres ambivalenten Verhältnisses zum eigenen Körper. Sie ist Ausgangspunkt für die feministische Auseinander-setzung mit dem Thema. Wer ist schuld an unserem Schönheitsdilemma? Und vor allem: Was können wir Frauen ihm entgegensetzen?

Saralisa Volm

Das ewige Ungenügend

Eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Ullstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlagbild: © Rozenn Le GalUmschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenAutorinnenbild: © Svenja TrierscheidE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2903-1

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Triggerwarnung – ein Vorwort

Kotz dich glücklich

Der Schönheitskomplex

Schuld und Sühne

Spielkind

Ein Bild von einer Frau

Muttertier

Mit zwei linken Händen zum Orgasmus

Die Zigarette danach

Alte weiße Frau

Die Macht der Rebellion

Radikale Hoffnung – Ein Nachwort

Danke

Literatur

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Triggerwarnung – ein Vorwort

Motto

Hinter jeder erfolgreichen Frau steht ein Feminist.Alles für die Kinder. Immer. N.E.X.T.

Triggerwarnung – ein Vorwort

Kultur macht keine Menschen. Menschen machen Kultur. Wenn es wahr ist, dass die volle Menschlichkeit der Frau nicht unsere Kultur ist, dann können und müssen wir sie zu unserer Kultur machen.

– CHIMAMANDA NGOZIA ADICHIE

Mein Körper steht mir im Weg. Beim Sport, beim Wachblei­ben, beim Körperflüssigkeiten-Zurückhalten, beim Schönsein und beim würdevollen Altern. Er stört meine Freiheit, meine Gefühle, mein Denken. Mein Körper nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, die ihm für meinen Geschmack nicht zusteht. Mein Körper stört.

Ich wurde mit einem Augenfehler geboren. Ich schiele. Bereits mit sechs Monaten trug ich eine Brille. Nahm ich sie ab, begannen meine Augen, wie wild zu tanzen. Menschen, die mit mir sprachen, wusste nicht genau, ob ich sie ansah oder gelangweilt in die Ferne blickte. Meine Eltern nannten mich Otto, wie Otto Schily. Der RAF-Anwalt machte damals als prominentes Mitglied der ersten Grünen Fraktion im Bundestag von sich reden. Daran gewöhnte ich mich. Ich war dürr und lang – wodurch meine Hosen immer zu kurz waren – und unfassbar unbeliebt. Eine sportliche Begabung kann in solchen Fällen helfen. Mich jedoch mussten die Mitschüler*innen im Sportunterricht immer als Letzte ins Team wählen. Bis heute kann ich Bälle weder werfen noch fangen. Meine Gliedmaßen fallen beim Rennen unkoordiniert durch die Luft, und mein Kopf läuft nach zwei Minuten Anstrengung knallrot an. Mit weißen Punkten. Ich bekomme keine Luft mehr und beginne zu japsen. Natürlich war ich nicht gerne unbeliebt, aber ich kam aus der Nummer nicht raus. Ich war eine typische Außenseiterin mit vielen Gründen, mich selbst hässlich zu finden und meinen Körper zu verachten. Er war schuld, und es fühlte sich gut an, einen Schuldigen zu identifizieren.

Wie alle anderen Mädchen in meiner Klasse fand ich schon mit sieben Jahren meine nicht vorhandenen Oberschenkel zu fett. Bei Übernachtungspartys quetschte ich sie mit allen Kräften zusammen und schrie: »Guck, guck wie eklig! Ich bin viel dicker als du.« Natürlich mit der Hoffnung, die anderen Mädchen würden widersprechen. Das taten sie auch fleißig, doch das änderte nichts an meinem Gefühl. Wir alle wussten, dass es unsere Aufgabe ist, uns irgendwann in die Diätwelt des Frauseins zu stürzen. Selbst mir war das klar, obwohl ich so dünn war, dass meine Eltern mich mit Kakao und süßen Cerealien mästeten, doch an mir blieb davon nichts hängen.

Über die nächsten Jahre hinweg verglichen wir Mädchen immer wieder unser Gewicht, berechneten den BMI und verfolgten aufmerksam, wie wir uns körperlich entwickelten. Das bedeutete auch, auf einer Klassenfahrt nachts um zwei nebeneinander vorm Toilettenspiegel zu stehen und Mittesser zu zählen. Zu Hause in meinem Bett stapelten sich die Ausgaben aller damals erhältlichen Frauenzeitschriften: Maxi, Freundin, petra, Cosmopolitan und Young Miss. Ich lag Schokolade essend daneben und las ein Buch. Es war sehr anstrengend, nicht vollständig zu verblöden.

Die Lektüre der Zeitschriften brachte mich dazu, unzählige Shampoos, Pflaster gegen Mitesser, Gesichtsmasken, Schaumfestiger und Spülungen zu kaufen sowie jede Menge Make-up und mehrere Epilierfoltergeräte. Meine Klassenkameradinnen machten es genauso. Hätte ich meinem damaligen Ich erzählt, was es zwanzig Jahre später sehen wird, wenn es in den Spiegel blickt, hätte es vermutlich gesagt: »Das lasse ich nicht zu, vorher erschieße ich mich.«

So weit sollte es nicht kommen. Heute stehe ich vor dem Spiegel und bin froh, dass es viele gute Gründe gibt, die mich am Leben halten. Das Alter macht milde und genügsam. Mittlerweile habe ich ein paar erfolgreiche Sportmuffel im Umfeld sowie Freund*innen, die mich in Teams brauchen, in denen ganz andere Fähigkeiten gefragt sind. Die Blicke, die ich in meiner Kindheit und Jugend wahrgenommen habe, und die Spitznamen, die ich in meiner Schulzeit hatte, kann jedoch niemand vergessen machen. Wer mich damals mochte, hatte getrennte Eltern, ein Drogenproblem oder war todunglücklich. Es finden sich immer die Richtigen im Leben. Zum Glück.

Mich an all das zu erinnern – und das musste ich, um dieses Buch überhaupt schreiben zu können –, war ein krasser Trigger. Zu Beginn fiel es mir leicht, weil ich alles noch vor Augen habe: die matt vibrierenden Nächte voller Kontrollverlust, das schwarze Loch in mir, das ich mit meinem Magen verwechselte, der Geruch von ausgekotztem Schokoladeneis und der Geruch meines Ex-Freundes, der neben mir auf dem Badewannenrand saß und mir fasziniert dabei zusah, wie ich mich übergab, und mich anschließend tröstete. Der grabschende, onanierende und übergriffige Täter und die Wochen voller Ohnmacht und erstickten Worten danach. Die Namen der Menschen, die in diesem Buch auftauchen, ihre Elternhäuser und ihre Traumata. Jahre später waren sie nur Schatten, die sich gelegentlich in der schimmernden Oberfläche meiner Selbstbeherrschung spiegelten. Doch für dieses Buch musste ich ihnen wieder näherkommen. Das war nicht einfach.

Der Vergangenheit Raum zu geben bedeutet, der Sehnsucht nach Erkenntnis nachzuspüren. Sich der Gefahr auszuliefern, Erklärungen zu finden, die heute keine Entschuldigung mehr sein dürften und trotzdem zur Stelle sind, wenn ich in die falsche Richtung blicke. Doch mir einzugestehen, was ich lange nicht wahrhaben wollte, und es zu formulieren, fühlt sich befreiend an.

Etliche Episoden der Apple-TV-Serie Physical beginnen mit einer Warnung: »Die folgende Episode enthält Szenen über eine Essstörung, die einige Zuschauer als beunruhigend empfinden könnten. Wir raten den Zuschauern nach ihrem eigenen Ermessen zu handeln.« Die Serie triggert. Und sie erzählt von Triggern. Von Burgerläden und Männern, die auf der Straße neben Frauen wichsen. Von Frauen, die genormten Bildern zu entsprechen versuchen, und von heimlichen Essstörungen und Kontrollzwängen. Die Hauptfigur Sheila steht vor dem Spiegel und beschimpft sich mit den Worten: »Meine Güte, sieh dich nur an, ist das dein Ernst? Glaubst du wirklich, dass du das noch tragen kannst? […] Heute ernährst du dich frisch und gesund. […] Und wenn du das alles geschafft hast, darfst du dir nach dem Abendessen eine kleine Portion Cobbler gönnen. Aber ohne Eis. […] So schwer ist das nicht. Du brauchst nur ein kleines bisschen Scheißdisziplin. […] Du Fettarsch.«1 Sie tut das, was unendlich viele Frauen jeden Tag machen.

Das ist ein Trigger, aber einer, der mich mit Dankbarkeit erfüllt. Das gilt auch für die ungeschönte Darstellung von Prinzessin Diana in der vierten Staffel von The Crown, wenn sie zwischen glänzenden Kupfertöpfen und endlosen Regalen versteckte Törtchen, Trifles und Eclairs in sich hineinstopft. Oder wenn sie vor der Toilettenschüssel in die Knie geht, nachdem sie sich vollgefressen hat.2 Und nicht nur das. Auch die echte Prinzessin, Lady Di, machte nach ihrer Scheidung Mitte der 1990er ihre Depressionen und ihre Essstörung publik.

Vor solch expliziten Darstellungen wird oft gewarnt, weil sie zur Nachahmung anregen könnten – auf diese Gefahr hat beispielsweise die NEDA (National Eating Disorders Association / USA) in Bezug auf The Crown hingewiesen. Wenn die wunderschönen Vorbilder davon erzählen, wie sie in den Hochzeiten ihres Ruhms nur Halt an der Klobrille finden konnten, wirke es so, als ob die Krankheit zum Lifestyle der Reichen und Schönen gehöre. Dabei ist oft das Gegenteil der Fall: Der Ruhm, der Druck und die Angst zu scheitern lösen die Krankheit aus. Bei den Reichen und Schönen und bei unfassbar vielen Menschen vor den Endgeräten. Die Erwartungshaltungen an unsere Körper überschwemmen uns alle überall.

Und genau deshalb ist es so wichtig, in Filmen, Büchern, auf Podien und in den Medien zu thematisieren, was hier gesellschaftlich falsch läuft. Das hilft uns, Zwänge und Krankheiten einzuordnen, wir müssen uns nicht mehr allein schämen, sondern fühlen uns gesehen. Trotz der Ohnmacht.

Es mehren sich Stimmen, die behaupten, dass die Triggerwarnung selbst triggert. Wer die Warnung liest, habe sofort Bilder im Kopf und Gefühlsempfindungen. Immerhin erlaubt sie, zu entscheiden, ob man weiterlesen will. Andere sagen: Heilung geht durch den Schmerz. Überwindung entsteht durch Aushalten. Ich weiß nicht, was stimmt. Ich befürchte, es stellt sich für jede*n anders dar und ändert sich immerzu. Das Leben bleibt bis auf Weiteres unfair und kompliziert.

Dieses Buch handelt ungeschönt von Essstörungen, von sexualisierter Gewalt, nicht vorhandenen Orgasmen, der Angst vorm Alter und ausgefransten Mottenlöchern im Gemütsteppich. Zu Beginn des Schreibprozesses dachte ich, es ginge hauptsächlich um mich. Dann aber erkannte ich, dass das Gefühl der körperlichen Unzulänglichkeit gewollt ist. Zahlen, Analysen und Texte von Psycholog*innen und Expert*innen untermauern diese Auffassung ebenso wie die Erfahrungsberichte anderer und ihre Geschichten. Nicht ich bin verrückt, sondern das System: Die Erwartungshaltung der Gesellschaft treibt viele Frauen in den Wahnsinn. Das ewige Ungenügend trübt wie ein Grauschleier den Blick auf uns selbst.

Was mir am Ende des Schreibens geblieben ist, sind Wut und Hoffnung zugleich. Aus körperlicher Entfremdung ist Annäherung geworden. Ich wollte mir die Deutungshoheit zurückerobern. Es ist mir immerhin gelungen, einiges klarer zu benennen. Ich habe keine einfachen Lösungen, die uns davor bewahren, uns morgen wieder traurig im Spiegel anzusehen. Ich glaube nicht an Body Positivity und Simplifizierungen. Ich glaube nicht an die alleinige Lösung durch Wohlfühl-Safe-Spaces und erst recht nicht an ihr Gegenteil. Aber ich halte gesellschaftlichen Wandel für möglich, wenn wir aus unserer Ohnmacht ausbrechen.

Ich glaube an all die Menschen, die jeden Tag für körperliche Selbstermächtigung und Autonomie kämpfen. Die für Selbstbestimmung und Akzeptanz auf die Straße gehen, die sich zeigen, sich der Öffentlichkeit aussetzen und Beschimpfungen einstecken. Ich glaube an die, die sich verweigern. Ich glaube an die, die mitlaufen. An alle Geschlechter. An alle Formen. Ich schreibe für die, die ihr Denken und Handeln hinterfragen. Jeden Tag ein kleines Stück mehr, auch wenn es wehtut.

Lange Zeit wäre ich meinen Körper am liebsten losgeworden. Wollte transzendent sein wie die Menschen in der Literatur oder im Kloster. Nur noch Geist sein. Innerlich. Doch ich glaube nicht an die Aufteilung von Körper und Geist. Für mich sind da nur Nervenenden und Hormone, Schweißperlen und Übelkeit, Tränen und Juckreiz. Ich betrachte meine Gefühle als hyperrealistische Illusion, die mein Körper produziert und meinem Bewusstsein aufdrängt. Ich kenne die Macht meines Körpers. Ob etwas bequem ist oder nicht, ist abhängig von ihm. Er ist gleichzeitig Analysezentrum, Gefahrenabwehr und Kommunikationsabteilung. Er bleibt mein einziges Mittel, um mich zu erfahren und mich auszudrücken. Er ist meine Verlängerung in die Welt hinein. Er ist da, und ich muss mit ihm umgehen.

Unser Körper ist mehr als Haut, Nase, Mund. Mehr als Oberfläche und Erscheinung. Er ist unser Zuhause. Er lässt uns atmen und verwehen, rennen und innehalten. Er lässt uns lachen und erstaunen, zweifeln und zurückschrecken. Er erträgt Krankheiten, Behinderungen und das Alter mit Hingabe und Akzeptanz. Wenn wir unser Spiegelbild nicht ertragen können, gibt er uns salziges Wasser, um den Stress über unsere Wangen zu spülen. Wenn wir ihn mit Chemie vollpumpen, versucht er, sie abzubauen. Wenn ein Skalpell unsere Haut durchsticht, fließt das Blut heraus, mit dem er lebensnotwendigen Sauerstoff durch unsere Arterien pumpt, und verschließt die Wunde.

Unser Körper ist nicht nur Gefäß, sondern Ich. Keine manipulierbare Hülle, sondern mein Erfahrungsraum. Kein seelenloses Fortbewegungsmittel, sondern mein Leben. Das Denken wird durch diesen einen Körper geprägt, bedingt und begrenzt. Was ich ihm zumute, beherrscht mich. Was er durchleidet, verletzt mich. Was ich ihm verzeihe, befreit mich. Verändert er sich, verändert sich alles.

Kotz dich glücklich

Ich wurde mehr als nur ein braves Mädchen, ich wurde Bulimikerin. Kein Mensch kann ewig die Luft anhalten. In der Bulimie atmete ich auf. In der Bulimie weigerte ich mich, mich zu fügen, schwelgte im Hunger, gab meiner Wut Ausdruck. In meinen täglichen Fressorgien wurde ich zum Tier.

– GLENNON DOYLE,

UNGEZÄHMT

Es ist Sommer. In der knallenden Sonnenhitze verbrenne ich meine Haut, auf der Schwimmbadwiese liegend, auf der ich so gerne mittags schlafe. Auf Partys im Wald und auf Balkonen von Bekannten, die sturmfrei haben, kühle ich sie ab. Ich ernähre mich von Chips und Pommes und Schokoladeneis. Von Center Shocks und Mentos Fruit und Milchschnitte. Von Pizza und Alcopops. Von Berentzen Saurer Apfel und Wodka mit Orangensaft, eiskalt. Das Leben ist okay. Wenn es nur nicht so verdammt ungerecht wäre. Ich spüre sie sehr genau, diese Ungerechtigkeit: Niemand versteht mich. Niemand sieht mich. Ich stecke fest im tiefen Tal der Pubertät.

Ich tue alles für ein bisschen Aufmerksamkeit und Anerkennung: teile Kopfhörer, lüge Lehrer*innen an, klaue Klamotten, übe tanzen, lasse abschreiben und verschenke Zigaretten. Alles dreht sich darum, beliebt zu sein und begehrt. Wir alle wollen glänzen, aber dennoch eine Persönlichkeit entwickeln mit eigenwilligen Macken und individuellen Interessen. Wir alle wollen unseren innersten Wünschen folgen und trotzdem nicht unangenehm auffallen. Die Welt liegt uns zu Füßen, doch wir rutschen ständig aus auf ihrer glatten Oberfläche, die uns blendet. Weich gebettete Rebellion, ohne in Ungnade zu fallen, ist das Ziel. Der Weg dorthin findet oft verheult im Bett sein jähes Ende. Ich suche die große Liebe oder zumindest ein bisschen echte Nähe. Aber wie sagte Klaus Lemke so schön: »Im Leben gibt’s mehr aufs Maul als Küsse im Dunkeln.«

Wir suchen nach Halt während wir uns im Kreis drehen. Und nach Vorbildern. Die große Schwester meiner besten Freundin ist in allem extremer und krasser als wir. Wir downloaden Musik bei Napster, sie lernt Programmieren. Unsere Haare sind Natur, ihre Haare sind blondiert. Wir hören Hip-Hop, sie tanzt zu Techno. Wir leihen uns am Wochenende ihren Perso, sie kommt in jeden Club. Wir haben gerade angefangen zu kiffen, sie schmeißt schon Ecstasy. Wir finden uns zu fett, sie hat Bulimie. Wir beobachten diesen Umstand zunächst angewidert, dann besorgt, dann immer faszinierter. Ist das bisschen Kotzen nicht eine gute Option, um die Fressflash-Kalorien wieder loszuwerden? Immerhin wissen wir alle, wie wichtig es ist, schlank zu sein. Bauchfreie Tops muss man tragen können. Die geklaute Unterwäsche muss sitzen. Und wer will schon die Love Handles über dem engen Bund der Schlaghose rausschwabbeln lassen?

Das Idealbild hängt im Sommer 2000 an Bushaltestellen und funkelt als Editorial vom Hochglanzpapier der Magazine: Ich bin schön, also bin ich. Ich bin schlank, also bin ich. Ich bin von mir erschaffen, um für euch zu sein. Mit dieser Sicherheit in den Augen strahlen uns die jungen Frauen auf den Werbeplakaten an. So rekeln sie sich in Filmen, so beherrschen sie die roten Teppiche und so viben sie durch Musikvideos. Welches Girl will nicht einmal so tanzen wie Queen B – Beyoncé? Die strahlenden Popikonen sind moderne Königinnen und Prinzessinnen. Ihr Bild ist ein überlebensgroßes Mahnmal: Auch du kannst in dem 14,99-Bikini gut aussehen. Der sitzt hervorragend, wenn dein Körper es erlaubt.

Bei den meisten von uns schafft es der schlechte Schnitt der Chinaware, gerade einmal das Nötigste zu verdecken, bevor wir ins Wasser springen und danach den Tag mit Zuppeln verbringen. Doch daran denken wir nicht, wenn wir konsumgierig zuschlagen. Immerhin geht es darum, unser Bedürfnis nach Anerkennung zu stillen, und bei Claudia Schiffer und Gisele Bündchen sitzt der Bikini doch auch. Ihre Blicke, ihre Grazie, ihre Körper sind uns Vorbilder, Leitbilder, Begleiter. 90-60-90 ist der Goldstandard. Ihre grazilen Gliedmaßen, ihre Sanduhrfigur und ihre schlanke Taille wollen wir auch.

Das Maß der dünnsten, jemals vermessenen Taille liegt angeblich bei 33 Zentimetern, mit dementsprechend deformierten Rippen und Organen. Die Super-Sanduhr sozusagen und die Übersteigerung eines Schönheitsideals, das sich in den westlichen Ländern immer wieder durchzusetzen vermochte. Schon im antiken Griechenland gab es erste Schnürbänder für die Taille.3 Im 14. und 15. Jahrhundert wurden in Europa dann die Schnürmieder erfunden. Bald folgten die Korsetts. Getragen wurden sie von Adligen, aber auch von Frauen des aufstrebenden Bürgertums. Selbst Mägde trugen Miederwesten. Die Sanduhrfigur in unterschiedlich starker Ausprägung blieb bis auf wenige zeitliche Ausnahmen – so war die Französische Revolution auch eine Befreiung der weiblichen Figur – das Ideal. Bis heute sind Mieder und Shapewear in Mode. Ohne Spanx kein abzeichnendes Kleid. Die Unternehmerin Sara Blakely wurde mit dieser Geschäftsidee zur Selfmade-Milliardärin.4 Korsagen und Korsetts sind aktuell auch dank der fiktiven Prinzessinnenserie Bridgerton auf den Must-have-Listen der Modezeitschriften zu finden.5

Die Taille der berühmten Kaiserin Elisabeth von Österreich soll ins Korsett geschnürt gerade einmal einen Umfang von fünfzig Zentimetern gehabt haben. Nicht von ungefähr gibt die Regisseurin Marie Kreutzer ihrem Film über die Kaiserin den Titel Corsage. Er steht für das Kleidungsstück und gleichermaßen für das enge höfische Korsett, aus dem die Kaiserin auszubrechen versucht. Im Laufe des Films hören wir Vicky Krieps in der Rolle der zarten und verbissenen Kaiserin immer wieder herrisch »fester« sagen, wenn eine Zofe die Schnüre am Korsett nicht entschieden genug anzieht. So, als wolle sie sich selbstbestimmt den Atem rauben, weil die Luft in dieser Umgebung zu dünn ist für eine freie Frau.

Sisi gilt in ihrer Zeit als »schönste Frau Europas«. Sie arbeitete jeden Tag hart, um ihr sagenumwobenes Aussehen zu behalten, das bis heute Gesprächsstoff geblieben ist. Kein Wunder also, dass Schönheitstipps der Kaiserin im Internet kursieren: Alle paar Wochen hat es einen ganzen Tag in Anspruch genommen, ihre außerordentlich langen Haare zu waschen und über Wäscheleinen zu trocknen. Bis zu drei Stunden täglich wurden sie gekämmt. Die Kaiserin soll aus Angst vor einem Doppelkinn ohne Kissen geschlafen und Gesichtsmasken aus rohem Kalbfleisch angewandt haben.6 Den Fleischsaft trank sie pur. Das Gesicht reinigte sie mit dem Saft leicht vergammelter Zitronen. Spezielle Rezepturen für Anti-Sommersprossen-Creme, Sonnenschutz und Haarkuren aus Cognac und Ei wurden für sie vom Personal angefertigt. Heute sind die Rezepte online zu finden, zum Nachmachen. Für einen strahlenden Sisi-Auftritt. Selbst der Stuhlgang der Kaiserin ist hier Thema. Das durch sie berühmt gewordene Veilchensorbet verströmt auch beim Verlassen des Körpers noch guten Duft. Hier zeigt sich eine Frau als Gesamtkunstwerk. Eine von ihr geschaffene Lebensleistung.

Fotos und Gemälde einer Elisabeth mit Falten sucht man übrigens vergebens. Die lässt sie nicht zu. Wie manche Schönheit nach ihr will sie alternd nicht gesehen werden. Sie diktiert früh das öffentliche Bild von sich, das wir noch heute kennen und bewundern.7 Gemalt wird sie so, wie sie es verlangt. Nicht erst Photoshop und Social Media schenken den öffentlichkeitswirksamen Menschen Methoden zur fleißigen Verbesserung und Manipulation des eigenen Abbilds. »Kleider machen Leute« und »Fake it till you make it« sind seit Generationen westlicher Konsens. Ihre Inspiration findet Sisi zwar nicht an der Bushaltestelle oder im TikTok-Feed, aber im von ihr angelegten »Schönheitenalbum«, worin sie Fotografien besonders hübscher Damen Europas sammelte.8

Sisi kann als unfreiwilliges It-Girl ihrer Zeit verstanden werden. Sie wurde durch ihre Ehe zu einer öffentlichen Person und litt unter dem Druck, perfekt sein zu müssen. Was auch immer sie tat, sie stand unter Beobachtung. Sie musste Eindruck machen und eine unfehlbare Herrscherin verkörpern. Dieser Aufgabe stellte sie sich widerwillig, aber engagiert. Am Ende gewann sie zumindest den Kampf gegen ihren Körper.

Verheiratet wurde Sisi 1854, mit gerade einmal 16 Jahren, an den streng regierten Hof der Habsburger in Wien. Zwei Wochen später dichtete sie bereits: »Ich bin erwacht in einem Kerker, und Fesseln sind an meiner Hand.« Die Ehe betrachtete sie ab diesem Moment als eine »widersinnige Einrichtung«, und sie sah sich als verkauftes Kind.9 Eine schlanke, sportliche Jugendliche mit eigenem Kopf. Der Wiener Hofstaat versuchte, ihn ihr abzutrainieren. Wenn Romy Schneider im Film die junge Kaiserin und ihre Schicksalsjahre verkörpert, indem sie freudig reitet, ihre Kinder liebkost und ihren Gatten anhimmelt, wird ihr wahres Schicksal nur fragmentarisch dargestellt. Die echte Kaiserin genügte ihrem Publikum nicht. Sie verließ den Hof gen Süden, strebte nach Freiheit und quälte ihren Körper.10

Im Ratgebersegment für Frauen eines Online-Buchhändlers entdecke ich etwas Kurioses. Die Autorin Elisabeth Praschl-Bichler hat Sisis Körperthematik gleich ein ganzes Buch gewidmet: Kaiserin Elisabeths Fitness-Programm – Sport und Diäten einer Pionierin des 19. Jahrhunderts. Ist die Pionierleistung Sisis, dass sie sich bereits dem modernen Schlankheitsdiktat unterwirft? Täglich trainierte Elisabeth an eigenen Geräten und ritt wie eine Besessene. Überlieferungen zufolge ernährte sie sich zeitweise nur von ein paar Orangen und ihrem frisch gepressten Fleischsaft. All das wirkt so, als hätte die Kaiserin sich einer Diagnose stellen müssen: Anorexia athletica. So wird heutzutage eine Essstörung bezeichnet, die Schlankheitswahn mit manischer sportlicher Betätigung verbindet. Besonders unter Tänzer*innen ist sie weit verbreitet. Statt dies besorgt zur Kenntnis zu nehmen, bleibt bis heute die Bewunderung für Sisis eiserne Disziplin.

Was trieb sie um? Die Hoffnung, ihr Körper könnte ihr ein angenehmeres Zuhause sein als jenes, dem sie entfloh? Der Körper als bezwingbarer Feind in einem Leben voller Zwänge, aus denen sie sich nur mühsam zu befreien vermochte? Der Körper als einer der wenigen Schlachtplätze, auf dem es für Frauen* einen fairen Gegner und einen Kampf mit Gewinnaussicht gibt? Die Selbstkasteiung vermittelt vielen Frauen* Sicherheit. Die schlanke Taille macht sie zu Siegerinnen über ihre Lust und ihre Gefühle in einer Welt, in der sie kaum Chancen haben, auszubrechen, sich zu wehren und ihren Bedürfnissen zu folgen. So werden sie von den Unterdrückten zu Unterdrückerinnen, die die Kontrolle haben.

Sisi wird aktuell in so vielen Kino-, Fernseh- und Streaming-Produktionen wie noch nie gefeiert. Heute wird auch ein Blick auf die wahre Sisi hinter der Schmonzette geworfen. Aber würden wir uns so sehr für sie interessieren, wenn ihr selbst auferlegtes Schönheitsideal nicht dem zeitgeistigen Frauenbild von heute entspräche und wir in ihren Qualen nicht uns selbst erkennen würden?

Kaiserin Sisi ist eine der ersten berühmten Frauen, deren Essstörung bekannt ist. Anorexia nervosa, früher Anorexia hysterica, und Bulimia nervosa sind moderne Krankheiten, deren Symptome vor dem 17. Jahrhundert nicht beschrieben wurden. Einzelne Fälle wurden in religiösem Kontext verortet,11 andere dann bei Frauen in psychoanalytischer Behandlung beobachtet.12 Doch Essstörungen blieben seltene Krankheiten. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Essen lange Zeit nicht im Übermaß vorhanden war. Die Bulimie wird sogar erst ab 1980 als eigenständige Krankheit geführt.13

Seit den Wirtschaftswunderjahren sind es nicht mehr nur die satten Eliten, die Gefahr laufen, an einer Essstörung zu erkranken. Wir alle wollen schön sein. Und schön sein heißt schlank sein. Der weltberühmten Modeschöpferin Coco Chanel (1883–1971) wird der Spruch zugeschrieben: »Man kann nie reich und dünn genug sein.« Die durch sie vorangetriebene Befreiung von Korsett und Mieder führte zu einem neuen Problem: Unabhängig davon, ob gerade Jugendlichkeit oder Sanduhrform mit Rundungen en vogue ist, die Taille der Frau hat jetzt von sich aus schlank zu sein. Was mit den Mannequins von Chanel in Paris begann, setzt sich erbarmungslos bis heute fort. Bereits in den 1960ern sah man die ultraschlanke Twiggy, die aus einer Arbeiterfamilie stammte, auf der Vogue – dem Schlankheitswahn-Fachblatt schlechthin – in die Welt blicken. Kein Gramm Fett zu viel. Und dank der omnipräsenten Werbung für Abnehmpillen, Sportprogramme und Ernährungscoachings wirkt das Korsett von innen so erreichbar wie nie zuvor.

Der Magerwahn verbietet das Essen, denn Essen ist Lust. Essen ist Hingabe. Essen ist Schwäche. Und Schwäche ist in unserer Leistungsgesellschaft nicht vorgesehen. Vor allem nicht, wenn du hoch hinauswillst. Kein Wunder also, dass Essstörungen im Showgeschäft fast schon dazugehören – wie bei Jane Fonda, Lady Gaga, Taylor Swift oder Lily Collins, die ihre Geschichten öffentlich machten, und Zoë Kravitz, die in einem Interview sagte: »Ich dachte, es sei Teil des Frauseins und der Promiwelt. Ich denke, dass es definitiv daran lag, dass ich umgeben von dieser Welt war. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt.«

Anorexia nervosa und Bulimie haben in den letzten Jahrzehnten ihren Platz in der Popkultur manifestiert. In einer Zeit, in der überall die Rede von fettleibigen Menschen ist und die Volkskrankheit Adipositas als erbarmungsloser Teufel an die Wand gemalt wird, kann durch Schlankheit ein elitäres Gefühl geschaffen werden. Die gute Figur ist etwas, womit man sich von der Masse abhebt und Leistungsfähigkeit beweist. Der Körper war und ist ein Statussymbol, in das es zu investieren gilt. Die schlanke Figur ist ein Zeichen für Kontrolle und Zugehörigkeit. Und die Menschen auf den Laufbändern und unterm Skalpell kämpfen gewaltig, um mitzuhalten. Dünn zu sein ist in diesem Machtkampf nicht nur ein Beweis für Gesundheit, sondern auch für Jugend. Denn der junge Körper ist normalerweise schlanker, hat weniger Fettpolster gebildet, noch schwabbelt er unnötig. Sein festes Bindegewebe ist die Benchmark.