Das Farbenhoroskop - Lars van Keuk - E-Book

Das Farbenhoroskop E-Book

Lars van Keuk

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Beschreibung

Erzählungen und Gedichte vom und über das Leben. Wie es war, wie es ist, und wie es möglicherweise sein wird.

Das E-Book Das Farbenhoroskop wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Fantasie, Gefühl, Zeitkritik, Bildsprache, Gedichte

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Seitenzahl: 549

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„Manche Gedanken benötigen lange Sätze Andere drücken sich in wenigen Worten aus Und manche äußern sich nicht durch Sprache Sondern durch ein Gefühl“

Prolog

Grau

Betritt die Bühne

Es schweigt zunächst und dann beginnt sein Gesang

Und wie traurig er klingt

Wie düster und wie mächtig zugleich

Wie ein kaltes Gebirge aus Erinnerung

Grün

Erhebt seine Stimme

Ganz zart und vorsichtig

Und es klingt wie ein sanftes Plätschern, wie ein Fluss

Der von Hoffnung spricht

Dass Hoffnung immer existiert

Grün und Grau bilden ein Duett

Sie erzählen, wie rätselhaft, wie mysteriös

Rot

Sein kann

Sie beschreiben den Sonnenuntergang

Wie das rote Licht vom Himmel fällt

Über den Rand der Welt

Und niemand weiß, ob das Licht jemals wiederkommen wird

Vielleicht bleibt es für immer fort

Nichts ist gewiss

Doch dann betritt Gelb die Bühne

Gelb

Schwebt Stufe für Stufe ins Rampenlicht

Und mit jedem Schritt wird es heller

Es strahlt und spricht keinen Ton dabei

Gelb steht auf der Bühne und es leuchtet

Es leuchtet nur, es macht nichts anderes

Und Grau und Grün und Rot blicken zu Gelb

Das auf der Bühne steht, und sie sehen gleißendes Licht

Das sich erhoben hat über den Rand der Welt

Licht, das mühelos zurückgekommen ist

Und bleiben wird

Inhaltsverzeichnis

Das Farbenhoroskop

Vier Farben

Rot

Grün

Der Klang der Farben

Grau

Gold

Gelb

Farblawine

Das Farbenhoroskop

Blue konnte sich nicht mehr daran erinnern, dieses Buch gekauft zu haben. Niemand hatte es ihm geliehen oder geschenkt. Und doch stand es eines Tages in seinem Bücherregal. Aus irgendeinem Grund ist es plötzlich dort aufgetaucht.

Blue betrat eines morgens sein Wohnzimmer und spürte, dass sich etwas verändert hatte, als wären über Nacht die Wände farbig angemalt worden. Oder als hätten sämtliche Möbel ihre Plätze getauscht. Etwas war anders, etwas war neu. Blue sah sich um und auf den ersten Blick fiel nichts auf, alles stand oder lag an seinem Platz. Er schaute über das Sofa, den Couchtisch. Und sah dann ein Buch im Bücherregal, das er noch nie zuvor dort gesehen hatte. Es war etwas größer als die anderen Bücher und sein Titel war in schwarzer Schrift geschrieben. Blue nahm es aus dem Regal. Das Buch hieß „Das Farbenhoroskop“, es war ungewöhnlich dick und für seine Größe ziemlich leicht. Blue blätterte durch die Seiten und jede Seite klang und roch anders, jede Seite sah anders aus. Mal war sie nahezu ausgefüllt mit Sätzen und Wörtern. Und mal nahezu leer. Der Schrifttyp, die Schriftgrösse. Sie wechselten beständig, als würden sie in Bewegung gehalten.

Das Farbenhoroskop.

Blue mochte den Titel des Buches, er erinnerte ihn an seinen Vater. An der Wand gegenüber des Bücherregals hingen die Bilder und Fotos seiner Familie. Jeder Rahmen war unterschiedlich, einzigartig, wie seine Eltern es waren, oder sein Bruder. Ihre Gesichter und Augen sahen Blue an, wenn er das Zimmer betrat. Manchmal spürte Blue den Blick, der ihm in die Küche folgte. Manchmal stand Blue lange vor den Bildern, vor den vertrauten Gesichtern und sah in deren Augen. Manchmal sah er durch sie hindurch und dann glaubte er, schemenhaft einen leuchtenden Ort in der Dunkelheit zu sehen. Wie ein warmes Feuer in der Nacht oder ein einzelner Stern am Himmel. Irgendwo da draußen war ein Licht. Und eine Stimme, sie klang wie die Stimme seines Vaters, der ihm Geschichten erzählte. Sein Vater liebte Märchen, er las gerne vor und ihm hätte der Titel des Buches gefallen.

Wie lange ist das her? Das fragte sich Blue häufig, wenn er vor den Bildern stand und sie sich ansah.

‚Wie lange ist es her und fühlte ich mich damals auch schon so leer? Warum stehe ich hier, vor diesen Bildern, und suche in ihnen Wärme und meide das Sonnenlicht.‘

Blue wählte zufällig irgendeine Geschichte und während er las, färbte sich die Schrift gelb. Die Schrift strahlte hell und sie erzählte eine Liebesgeschichte. Sie schildert den Augenblick, in dem ein älterer Mann verunsichert die Straße betritt. Seit Monaten hatte er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Er blieb im Schutz der vertrauten vier Wände, er scheute die Welt vor der Tür. Er zog sich zurück und aus dem Leben. Vor irgendetwas hatte er Angst, eine innere Stimme sagte ihm, er solle besser zu Hause bleiben. Und der Mann nahm ernst, was er hörte. Er ließ sich alle Lebensmittel liefern, alles, was er zum Leben brauchte, wurde zu ihm gebracht und auch in der Wohnung bewegte er sich kaum, weil er Angst hatte, zu stürzen. Die Wohnung wurde seine Burg, ihre Mauern waren ein Schutzwall gegen das unberechenbare Leben, das sich gegen alles und jeden werfen und jeden zu Fall bringen kann. Und der ältere Mann fühlte sich schwach und fragil. Würde er stürzen, dann würde er zerbrechen. In viele Stücke, und niemand wäre da, der dieses Puzzle wieder zusammensetzen könnte.

Aber nun betritt er endlich die Straße, er missachtet die warnende Stimme. Er tritt hinaus ins Licht. In den letzten Wochen hat er gespürt, wie einsam er ist. Wie allein er sich fühlt und wie sehr er sich einen Partner wünscht. Er möchte andere Menschen sehen und mit ihnen sprechen, sich austauschen und lachen. Sich wieder fühlen wie ein Kind, das sich vor Lachen den Bauch hält. Und dann trifft er auf seine Jugendliebe, die gerade zufällig durch die Straßen seiner Stadt streift. Als brächte der Zufall sie zusammen. Die beiden sehen und erkennen sich und werden augenblicklich ein Paar. Ein Paar, das für den Rest des Lebens zusammenbleibt.

Blue las die Geschichte. Leichte Lektüre. Eigentlich unwahrscheinlich und absurd. Aber irgendwie auch berührend. Eine schöne Geschichte in gelber Schrift, und Blue ging mit ihrer Stimmung in den Tag und er sah überall helles Licht und Freundlichkeit. An diesem Tag nahm jeder Rücksicht. Keine unfreundliche Geste, kein unfreundliches Wort. Die Sonne ging leuchtend im Osten auf und sie versank im Westen, hell und gelb. Was für ein besonderer Tag. Wie lange ist es her, dass Blue solch einen Tag erlebt hat? Es müssen Jahre sein. Wäre das Leben doch immer so...Wenn es doch bloß so bliebe...

Am folgenden Tag betrat Blue morgens das Wohnzimmer, um dann wie immer direkt in die Küche zu gehen, um sich dort einen Kaffee zu machen. Doch an diesem Morgen fiel ihm auf, dass das Buch nicht mehr auf dem Esstisch lag. Er hatte es am Abend zuvor dort hingelegt und nun war es scheinbar über Nacht verschwunden. Er suchte es in der Wohnung und fand es schließlich im Regal. Irgendwie war das Buch dorthin zurückgekehrt. Blue nahm es und dieses Mal schien es schwerer zu sein als am Vortag. Er schloss seine Augen, reiste in Gedanken durch das Buch und entschied sich für irgendeine Seite, irgendwo in der Mitte des Buches, und dann öffnete er die Augen und begann zu lesen. Und während er las, färbte sich die Schrift rot.

‚...Tess stieg in den Fahrstuhl und drückte auf die „10“. Die Türen schlossen sich geräuschlos und dann schwebte Tess in den zehnten Stock. In Gedanken fragte sie sich, wie hoch ein Stockwerk sei. Drei, vier Meter? Wie lange fiele man aus dem zehnten Stock bis zum Boden...

Würde sich die Zeit dann dehnen und in die Unendlichkeit führen?

Und dann öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und Tess stand vor einem langen Flur. Er war unbeleuchtet und schmal. Überall waren Türen, aber kein Mensch war zu sehen und kein Geräusch zu hören. Alles war still und dunkel, kein Tageslicht fiel ein. Tess drückte den Lichtschalter und die Deckenbeleuchtung erwachte wie aus Schlaf. Kaltes Licht leuchtete den Flur aus und der Flur schien endlos zu sein. Rechts von Tess befand sich der Raum „1“, und links von ihr lag der Raum „2“. Irgendwo in der Tiefe des langen Flures wird der Raum „100“ sein. Dorthin wurde Tess bestellt. Ein kühler, nüchterner Brief hat sie eingeladen. Irgendein Beamter wollte sie sprechen. Ein Beamter, der für den „Staat der wohlwollenden Augen“ arbeitet. Die Augen der Beamten waren überall, an jeder Straßenkreuzung und in jedem Viertel der Stadt. Eigentlich haben sie jeden noch so kleinen Fleck beobachtet und das Verhalten der einfachen Menschen ausgewertet. Die einfachen Menschen, zu denen auch Tess gehörte.

Tess ging los, durch Stille und vorbei an geschlossenen Türen. Immer wieder erlosch das Licht und immer wieder fand sich irgendwo ein Lichtschalter. Und irgendwann erreichte sie das Ende des Flures und sie stand vor Raum „100“. Wer wartete dort auf sie? Und weswegen?

Sie klopfte an die Tür und es es fühlte sich an, als schlüge ihre Hand gegen ihren Kopf.

Pock, pock, pock.

Keine Antwort, wieder ging das Licht aus und die Suche nach einem Lichtschalter begann.

Neonlicht erwacht und es zeigt Tess, wie sie die Tür von Raum „100“ öffnet. Die Tür fliegt auf wie ein Vorhang im Sturm und Tess blickt in die Tiefe. Unter ihr zehn Stockwerke. Kein Raum und kein Beamter. Würde sie die Tür durchschreiten, dann würde sie lange fallen. Oder erlöst aus diesem Leben, das kontrolliert und bewertet wird von Kameras.

Tess dreht sich um. Niemand ist hier. Niemand will ihr Fragen stellen. Also entschließt sie sich, zum Aufzug zurückzugehen. Sie wirft einen letzten Blick auf die seltsame Tür, die in den freien Fall führt, und nun trägt sie die Ziffer „1“. Ihr gegenüber befindet sich Raum „2“. Der Flur, der vor Tess liegt, ist lang und ewig.

Alles beginnt von vorne und Tess fragt sich, ob sich am Ende des Flures der Fahrstuhl befindet. Hoffentlich ist er noch da. Sie fragt sich, ob sie jemals zurückkehren wird in ihr Leben...‘

Eine rote Geschichte. Und ihre Stimmung übertrug sich in den Tag. Blue betrat die Straße und begegnete Misstrauen. Jeder wich dem anderen aus oder beäugte ihn voller Verachtung. Blue blieb eine Weile stehen und beobachtete, was um ihn herum geschah. Wirre Blicke flogen durch die Straßen.

Hektische Bewegungen flatterten über den Boden. Jeder blickte sich scheu über die Schulter, wie verfolgtes Wild. Als würde jeder gejagt. Oder aus der Ferne beobachtet.

Ein roter Tag endete. Zum Glück endete er irgendwann, und während Blue in sein Bett fiel und eintauchte in tiefe Träume, erhob sich das Buch vom Küchentisch. Als wären seine Seiten weiße Flügel. Es flog durch jeden Raum, es erforschte jede Ecke der Wohnung, blieb eine Weile schwebend vor den Bildern im Wohnzimmer und irgendwann erreichte es das Schlafzimmer. Dort, wo Blue unruhig schlafend auf seiner Matratze lag. Wie ein lautloser Vogel flatterte das Buch über ihm durch die Dunkelheit, und dabei hörte es seinen Träumen zu. Es hörte ihre Worte und es sah ihre Bilder und verstand, was sie nicht sagen wollten. Was sie verschwiegen. Eine Weile schwebte das Buch über Blue und seinen Träumen. Es blieb dort, aufmerksam und leise. Und dann flog es zurück, durch das Schlafzimmer zum Regal, zu seinem Platz. Dorthin, wo es am folgenden Tag wiederentdeckt werden wird.

Blue betritt das Wohnzimmer und sucht das Buch und er findet es im Regal. Dort scheint sein Platz zu sein. Wie ein Wächter am Strand, der aufpasst, dass niemand zu weit in das Meer schwimmt. Kein Leben soll verloren gehen. Jedes soll wiedergefunden werden.

Jedes Leben ist besonders.

Und heute erzählt das Buch eine graue Geschichte. Und Grau spricht nicht, Grau schreit. Grau beschreibt Wege durch Nebel. Durch dunkle Wolken, die sich über eine weite Fläche legen.

Und dort sind überall Kreuze. Wie dünne abgestorbene Bäume wachsen sie aus dem Boden. Alles ist dunkel und kahl, es gibt nur graue Luft und einen düsteren Wald aus Kreuzen. Ben geht seit Stunden durch eine geräuschlose Welt und über Boden, der wie Asche aussieht. Niemand ist hier, wahrscheinlich wurde jeder Mensch in der Erde begraben. Nur Ben hat man vergessen, oder übersehen. Das Gräberfeld endet nicht, aber Ben nähert sich einer kleinen freien Fläche. Dort ist kein Kreuz zu sehen, aber ein Grab wurde frisch ausgehoben. Ben blickt in die klamme Grube und ahnt, wer dort seine letzte Ruhe finden wird.

Blue legt das Buch auf den Tisch, seine Hände zittern, er spürt seine Einsamkeit so deutlich wie nie zuvor und er fürchtet sich vor dem Tag, der kommen wird. ‚Sterbe ich heute? Ist heute mein letzter Tag? Und wenn es so wäre, würde es mich stören?‘

Blue setzt sich in die Mitte des Wohnzimmers. Wenn die Welt um ihn herum zusammenbrechen sollte und alles umfiele. Wenn das Bücherregal oder der Schrank von einem Erdbeben umgestürzt würden, in der Mitte des Zimmers sitzend wäre Blue in Sicherheit. Hier wird er den ganzen Tag bleiben, er wird keinen Schritt nach draußen machen, in die graue Welt. Jedes Auto und jeder Mensch kann eine Gefahr darstellen.

Stunden vergehen und nichts passiert, nichts bewegt sich außer den vielen Gedanken, die durch Blues Kopf stürmen.

Noch nie

In meinem ganzen Leben

Noch nie

In keiner Sekunde

In keinem winzigen Augenblick

Habe ich mich so einsam gefühlt

Wie jetzt

Die Zeit vergeht und Blue nimmt das Buch, er hofft, es erzählt ihm vielleicht eine gelbe Geschichte. Eine gelbe Geschichte, die diesen grauen Tag beendet. Er schlägt irgendeine Seite auf und liest ein graues Gedicht:

„Das Licht geht aus

Die Platte springt

Und hängt

Der Tanz gefriert

Und steht still

Und schaut zu

Wie die Seele die Bühne betritt

Und ihren Monolog beginnt

Wie sie spricht und spricht

Und nicht verstanden wird

Wie sie Wörter sucht

Für das, was geschehen ist

Wie sie Bilder löschen will

Und nicht kann

Und sie mit ihnen leben muss

Die Seele

Gebrochen wie ein Flügel

Gleitet verletzt durch die Zeit

Und gerät in Sturm

In Gewitter, die gewaltig sind

Blitze zucken und der Boden bebt

Alles brennt und alles fällt

Die Seele schwebt einsam und gebrochen durch die Luft

Niemand ist bei ihr

Niemand bemerkt sie

Kein Arm, keine Hand und auch kein Blick

Sie alle halten Abstand und meiden sie

Und so sucht die Seele weiter nach einem Ort

Einem Ort auf der Welt

Wo sie heilen kann.“

Blue hält das offene Buch in seinen Händen und starrt durch den Raum, durch dessen Wände, durch die Mauern des Hauses in seine Vergangenheit. Das Buch hat Blues Geschichte erzählt, als könnte es Gedanken lesen.

Der Unfall liegt Jahre zurück. Er ist so lange her und doch sind noch immer die Geräusche und die Bilder so präsent, als wäre das alles erst gestern geschehen. Niemand weiß genau, was passiert ist, warum das Auto nachts gegen den Baum gefahren ist. Niemand hat eine Erklärung dafür, aber Blue saß am Steuer, er trägt die Verantwortung für die eigenen Verletzungen und die seiner Mitfahrer. Sie alle sind wieder gesund, sie alle blieben befreundet, aber Blues Seele zerbrach an diesem Tag. Und mit ihr zerbrach Blues Leben. Jahr für Jahr zog er sich mehr zurück. Er sagte Verabredungen ab, ging seltener auf Partys, bis er irgendwann nicht mehr eingeladen wurde. Zuletzt bestand sein Leben aus einer unruhigen Nacht und dem Arbeitstag. Privat traf er kaum noch Menschen und somit verstummte irgendwann auch dieser ewige Satz, er solle doch eine Therapie wegen des Unfalls machen. Er konnte diese Ratschläge nicht mehr hören. Aber nun hat er das graue Gedicht gelesen, an einem grauen Tag, an dem er in der Mitte des Wohnzimmers auf dem Boden sitzt. Niemand ist hier bei ihm, außer den Bildern seiner Familie, von denen keiner mehr lebt.

Und dann möchte er wieder eine Geschichte lesen, in der Hoffnung, sie sei gelb. Aber er ahnt, dass die Geschichte erneut grau sein wird.

Blue legt das Buch zur Seite. Dann schließt er seine Augen. Und denkt sich eine grüne Geschichte aus.

‚Green sitzt auf einer Bank in einem grünen Park. Eine Frau setzt sich zu ihm. Zuerst schweigt sie, aber nach einigen Minuten beginnt sie zu erzählen:

‚Wissen Sie, dass heute ein ganz wunderbarer Tag ist? Heute ist der erste Tag seit Monaten, an dem ich keine Beschwerden habe. Zum ersten Mal seit langem kann ich mich ohne Schmerzen bewegen. Endlich tut mir nichts mehr weh. Tag für Tag habe ich dafür gekämpft. Jeder Tag war eine einzige Quälerei. Aber es hat sich gelohnt. Es hat sich so sehr gelohnt.‘

Die Frau wünscht Green einen schönen Tag und schlendert davon.

Minuten später sieht Green, wie sich zwei Kinder auf Fahrrädern verfolgen. Sie jagen sich gegenseitig und fahren um die Wette und sie fahren wirklich schnell. Das Kind, das in Führung liegt, schaut zurück zum Verfolger und dann prallt es gegen einen Baum. Green springt auf und läuft zum Baum, der Unfall sah übel aus und das Kind liegt regungslos auf dem Rücken. Green erreicht das Kind, das sich jetzt aufsetzt, sich die zerrissenen Hose ansieht und dann zu lachen anfängt. Offensichtlich hat es sich nicht verletzt. Es sitzt am Boden und hält sich vor Lachen den Bauch, und auch das andere Kind stimmt ein. Die beiden können sich kaum halten und Green sieht ihnen zu, wie sie geschüttelt werden von nicht endenden Lachsalven. Stehen sie unter Schock? Geht es ihnen wirklich gut?

Und dann springt das gestürzte Kind auf und läuft los, es stürmt davon und das zweite Kind nimmt sofort die Verfolgung auf. Sie jagen sich über die Wiese und lassen die Fahrräder einfach liegen. Sie vergessen die Vergangenheit. Sie vergessen, was war.‘

Blue öffnet die Augen. Noch immer sitzt er in der Mitte des Wohnzimmers, neben ihm liegt das Buch. Aber es sieht jetzt anders aus. Die Schrift des Buchtitels ist nun grün. Blue nimmt es sich und blättert durch die Seiten und jede Geschichte ist grün. Jedes Wort und jeder Satz sind grün. Und dann sieht Blue, dass das Buch aus einem einzigen Satz besteht, der sich immer wiederholt. Auf hunderten Seiten steht derselbe Satz.

‚Und nach langen Wintern kommt endlich das Leben zurück in den Wald, der sich wie in Zeitlupe verändert, stolz erhebt er sich und wirft sein Grau ab, er wirft es ab, so schnell er kann, als könne er es kaum erwarten, wieder grün zu sein.‘

Grau

Grün

Rot

Gelb

Grau

Ich stehe auf einer Straße. Es hat geregnet und der nasse Asphalt spiegelt graues Licht. Die Häuser sind farblos und die wenigen Autos, die langsam an mir vorüberfahren, sind schwarz. Was für ein merkwürdiger Zufall. Wo sind all die Farben hin? Jeder, der mir begegnet, trägt graue Kleidung. Jedes Schaufenster reflektiert einen tristen Blick, oder den grauen Himmel, der sich unendlich müde an die Wolkendecke über mir klammert. Dieser Augenblick ist grau und Grau ist seine einzige Farbe. Ich gehe weiter über schwarzes Kopfsteinpflaster, es ist wellig und glatt. Nichts fühlt sich vertraut an, alles ist unbequem, meine Kleidung klebt an mir wie ein Schatten. Meine Gedanken kreisen um einen grauen Mittelpunkt. Selbst die Luft ist grau, wie ungesunder Rauch, den ich inhaliere. Vielleicht sollte ich aufhören zu atmen. Einfach die Luft anhalten und mit geschlossenen Augen weitergehen.

Grün

Ich stelle mir einen Menschen vor, der den Wald nur im Winter kennt, wenn die Bäume kahl sind und aussehen wie ein hageres Skelett. Nackt stehen sie nebeneinander. Und doch ragen sie stolz in den Himmel. Wie lebendig sie alle sind und wie klug. Aber das weiß der Mensch nicht, der durch den Winterwald geht und nur graue und schwarze Stämme sieht. Ihre Farbe ähnelt Kohle. Als habe hier alles gebrannt. Trostlose Symmetrie, die sich wie abgestorben aneinanderreiht. Ich stelle mir vor, dieser Mensch würde denselben Wald im Sommer sehen. Wie verändert dann seine Farben sind, alles ist grün und die Luft ist frisch und voller Sauerstoff. Alles lebt und wirbelt vor Kraft. Endlose Energie schwirrt durch den Wald und das wird sie ewig tun. Was für ein Unterschied. Wie anders alles aussieht. So ein lebendiger, gesunder Ort. Ein riesiger Raum, der sich selbst beschützt und der sich in einem selbstbestimmten Kreislauf bewegt. Der Mensch staunt und wundert sich, wie überraschend das Leben sein kann. Was für wunderbare Ideen es immer wieder hat. Wie kurvenreich es verläuft. Verzaubert sieht er in den grünen, gesunden Wald, und denkt dabei: „Immer wieder wirft mich das Leben aus der Kurve und aus der Bahn und Grün fängt mich zuverlässig auf.“

Rot

Langsam wird es eng. Die Menschen drängen sich vor dem roten Licht und sein Signal stoppt jede Bewegung. Und es funktioniert, jeder verharrt. Genau, wie es die Autos tun, auch sie bremsen und sie rollen auf die rote Ampel zu und dann bleiben sie stehen. Die Menschenmenge staut sich und die Autos reihen sich aneinander, sie alle stehen vor einem roten Signal, das sie zum Stillstand zwingt, und doch will jeder vorwärts. Wie eine wilde Herde, die zusammengetrieben wurde und die ein dünner Zaun von der Freiheit trennt. Jeder will vorwärts und nicht stehen. Alles drückt sich nervös nach vorne, jeder belauert sich. Kann ich gehen, soll ich es wagen? Kann ich anfahren und was würde dann passieren? Wer wagt den ersten Schritt? Stillstand vor dem roten Licht. Niemand bewegt sich. Spannung liegt in der Luft, wie die Ruhe vor dem Sturm. Die Menschenmenge schiebt und die Reihe aus Autos dröhnt. Und sie wird immer länger und niemand weiß, was passieren wird, wenn das Ampellicht auf Grün springt. Gleichzeitig. Für jeden. Zur selben Zeit. Was wird geschehen, wenn sich die aufgestaute Energie blind vor Wut in Bewegung setzt und aufeinander prallt?

Gelb

Ich ging durch goldenes Licht, direkt in die Sonne und durch sie hindurch. Wie schön ihre Wärme gewesen ist. Alles hat geleuchtet und gestrahlt. Es gab keine Schatten, nur Helligkeit, alles war angenehm, befreit vom Diktat der Zeit. Ruhe wartete an jeder Ecke und sie empfing mich mit einem fröhlichen Gesicht. Lachende Augen sahen mich an. Die Luft hat Geschichten erzählt, in wunderbaren Worten, Poesie wie ein duftendes Parfüm. Frieden umgab mich und ich konnte meine Augen schließen und sicher sein, dass mich in dieser Minute das Leben beschützt, es verlor an Geschwindigkeit und für eine lange Weile blieb es stehen. Wie schön dieser Augenblick gewesen ist und ich erinnere ihn wieder und wieder. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe. Immer dann kehrt er zurück. Und immer leuchtet er gelb. Wie Gold. Er leuchtet wie Gold.

Als alles begann

Grüner Tunnel

Kontakt

Zeitgleich

Fragen an das Leben

Rückfall

Kraft

Wasser

Verletztes Tal

Esan und der Wind

Domino

Vielleicht

Die Kerze des Glücks

Enebe Choh

Bleiben

Als alles begann

Im Traum geht Tess auf einer schwarzen Straße geradeaus. Alles ist dunkel und von der Welt ist nichts zu sehen. Nichts ist hier außer Tess und dem Licht, dem sie sich langsam nähert.

‚Habe ich jemals eine solche Nacht erlebt? Ging ich schon einmal durch solch eine Finsternis? Ich erkenne nichts, sehe keine Silhouette, keinen Schatten und auch nicht den Weg, der mich dem Licht näherbringt.‘

Sie bleibt stehen. Das Licht ist noch in weiter Ferne, aber Tess fragt sich, ob sie dem Licht vertrauen könne. Führt es zu einem sicheren Ort?

Tess steht, doch das Licht nähert sich ihr beständig, es bewegt sich auf sie zu und Tess meint, in seinem hellen Schein eine Gestalt zu erkennen. Sie geht im Lichtkegel und bewegt sich dabei mal langsam, mal schnell, immer wieder wechselt sie die Geschwindigkeit. Ihr Gang wirkt unsicher, häufig stolpert sie und manchmal macht sie große, elegante Sprünge nach vorne.

Etwas nähert sich Tess, etwas kommt auf sie zu. Es schwankt und torkelt und dann wieder geht es mit sicherem Schritt, stolz und aufrecht. In diesen Augenblicken schreitet die Gestalt wie eine Königin aus Licht.

‚Wer kommt da, wer ist sie? Wer ist die Gestalt, die mal über die eigenen Füße stolpert und dann wieder zu schweben scheint wie ein Engel? Sie sieht aus wie eine Frau. Eine Frau mit grauen Haaren und grauen Schuhen. Ist sie blind? Oder betrunken? Ist sie auf dem Weg zu mir? Und wenn ja, was beabsichtigt sie, was möchte sie von mir?‘

Und tatsächlich nähert sich im Traum eine Frau, sie fällt und fliegt Tess entgegen. Ihre Haare und Schuhe sind grau. Sie trägt eine weite grüne Hose, einen roten Pullover und darüber einen wehenden gelben Mantel. Alles flattert, als ginge die Frau durch Sturm in dieser windstillen Nacht. Die bunte Kleidung und die langen grauen Haare sehen aus wie wilde Segel eines Schiffes, das von tobenden Wellen hin und her geworfen wird. Und dann beruhigt sich wieder alles. Das Flattern hört auf, die grauen Haare schwingen leicht im Wind und der Mantel und die Hose folgen geschmeidig den schreitenden Bewegungen der Frau.

‚Wie weit ist das Licht noch entfernt? Seit so vielen Minuten nähert es sich mir und die Frau wird immer größer und doch ist sie noch weit entfernt. Wer ist sie? Warum geht sie so unbeständig? Mal wie ein Kind und mal wie eine Königin? Warum trägt sie so bunte Kleidung, Kleidung, die zu weit zu sein scheint, die nicht zu einer Königin passt und farbig ist wie Spielzeug. Warum umgibt mich diese Dunkelheit und warum wird das Licht immer heller und wärmer?

Wer ist diese Frau, die jetzt vor mir steht und deren flatternder Mantel mich umhüllt wie eine schützende Hand? Die Frau ist so groß wie ein Gebirge, dessen Gestein sich langsam zu teilen beginnt. Es bildet einen Bogen, einen Gang durch den Berg. Wohin führt mich dieser ovale Tunnel, der nun leuchtend vor mir liegt?‘

Im Traum fragt sich Tess, ob die große Frau mit den grauen Haaren und den bunten Kleidern vielleicht das Leben sei. Vielleicht nähert sich ihr das Leben in all seinen Erscheinungsformen in der Dunkelheit. Vielleicht träumt Tess gerade, wie sie zur Welt kam.

Vielleicht erinnert der Traum diesen Augenblick.

Vielleicht schildert er Tess, wie damals ihr Leben begonnen hat.

Grüner Tunnel

‚Dan verließ den Wald und betrat eine Landschaft, mit der er nicht gerechnet hatte. Laut Wanderkarte hätte sich unterhalb des Waldes ein Hochtal mit einem beinahe runden Gebirgssee befinden sollen. Auf diesen Anblick hatte sich Dan die ganze Zeit gefreut, während er durch den Wald ging.

Schon der Wald war irgendwie merkwürdig. Er war weder jung noch alt. Dan hatte einen solchen Wald noch nie zuvor gesehen. Seine Bäume waren gedrungen, sie wuchsen eher zur Seite als in die Höhe und sie standen sehr dicht, wie ein undurchdringliches Bollwerk, wie natürlicher Beton aus Blättern, Ästen und Dornen. Die Kronen der Bäume schienen sich zu vereinen und Dan hatte das Gefühl, in einem grünen Tunnel zu gehen.

Und nun lag diese völlig verdorrte Landschaft zu seinen Füßen. Sie ähnelte einer Steppe und dort, wo der See hätte sein sollen, lag nun ein Meer aus Dünen. Und nicht nur der See war verschwunden. Laut Karte sollte sich direkt hinter ihm ein Berg befinden. In der Form einer Pyramide. Auch ihn gab es nicht.

Wie konnten denn ein See und ein Berg einfach so verschwinden?‘

Das fragte ich mich auch, während ich meine Augen schloss. Können sich Landschaften einfach so verändern, so dass sie mit einem Mal verschwinden? Plötzlich sind sie fort?

Das fragte ich mich und wenig später erfuhr ich, dass auch sie es tat. Auch sie stellte sich dieselbe Frage wie ich. Denn wir beide lasen, was er schrieb. Er, der zwischen uns beiden saß, in den engen Sitzreihen der Boeing 777, wir hoben in Frankfurt ab und sollten Stunden später in Chicago landen. Und schon kurz nach dem Start hatte ich das Interesse an meinem Buch verloren und sie langweilte der Blick aus dem Fenster, wo nur Wolken zu sehen waren. Mein Buch war langweilig und ihr Ausblick war es auch. Ich las die ersten Seiten, die klangen, als habe Einfallslosigkeit sie geschrieben und sie sah in weiße Leere, die nicht verraten wollte, was sich unter ihr befand.

Wieviel interessanter war es, nach links bzw. rechts zu sehen, unauffällig zu beobachten, wie virtuos er mit seinen schnellen Fingern über die Tastatur seines Notebooks flog und dabei langsam eine Geschichte entstand. Heimlich beobachteten wir ihn bei der Arbeit, ihn, den Schriftsteller, der gerade eine neue Geschichte erzählen wollte. Wir belauschten seine Gedanken, wir verfolgten jede Bewegung, und wenn er nachdachte, dann taten wir es auch.

‚Wie kann die Geschichte weitergehen? Wie wird sie verlaufen und wie wird sie enden?‘

Denn die Geschichte machte uns neugierig:

Ein Wanderer folgt seiner Wanderkarte, sie führt ihn tagelang durch die Einsamkeit der Berge hin zu einem Wald, der wirkt, als sei er aus der Zeit gefallen. Dieser Wald ist hier in der Kargheit der Berge am falschen Platz, dies ist nicht der richtige Ort für ihn, auf 3000 Meter Höhe. Hier bestimmen Steine und Geröll das Landschaftsbild. Felsige Ödnis, die schwer zu passieren ist. Graue Wände erhoben sich hier vor langer Zeit und dann fielen sie in sich zusammen wie brüchiges Holz und ergossen sich über die weiten Ebenen wie ein grauer, unebener Teppich. Und über den stolperte Dan tagelang. Er balancierte und sprang über graue Stufen und glatte Flächen, die irgendwann einmal ein Berg gewesen waren. Er zerbrach unter seinem eigenen Gewicht oder wurde zerrissen von einem Blitz oder einem himmlischen Fluch. Eine graue Welt fiel in Stücke und sie fügte sich wieder zusammen als chaotisches Puzzle aus Stein, über das Dan seit Tagen ging. Dan ging durch Grau und stand plötzlich vor Grün, einer grünen Insel in einem grauen Felsenmeer. Wie ein Wunder wuchs sie aus dem tristen Boden und sie steht dort an ihrem Ort, als hätte sie das immer schon getan. Ein beschützter Ort, den die Zeit umtost.

Die Zeit jagt durch die Welt wie ein rauer Besen. Er fegt über Berge und er rast über Seen.

Unentwegt verändert er alles, das sich ihm in den Weg stellt. Ihm, dem rauen Besen der Zeit, der Wolken aufwühlt zu himmlischen Landschaften, die sich erheben und zeitgleich verfallen. Der Besen streicht über ewige Gebirge und über endloses Meer. Und nichts bleibt, wie es ist, der Besen wirbelt alles durcheinander, beständig und gewissenhaft. Er zerreibt Stein und wirbelt Wasser auf. Sie ändern ihre Form und wehen als Staub oder Wolken um die Welt, und wie gerne kehren sie dann zufällig zu diesem grünen Ort zurück, diesem freundlichen Fleck, der aussieht wie eine Insel, umgeben von einem Stillleben aus grauen Felsen. Der alte Wald mit seinen greisen Bäumen, die vielleicht älter sind als die Welt. Sie klammern sich an die Erde und widerstehen der Zeit. Sie halten Stand und durch sie darf die Zeit ziehen. Hin und her. In ihm kommt die Zeit kurz zur Ruhe, hier darf sie stehenbleiben und die Augen schließen. Hier holt sie tief Luft und genießt den Augenblick, nicht sofort ausatmen zu müssen, sondern selbst zu bestimmen, wann es wie weitergeht.

Der Schriftsteller speicherte die Geschichte und schon bald danach erlosch der Bildschirm.

Später erst nannte er mir seinen Namen, aber schon jetzt nenne ich ihn Nad.

Nad lehnte seinen Kopf zurück und schloss seine Augen, nahezu zeitgleich mit dem erlöschenden Display des Notebooks. Er schlief oder er dachte nach. Vielleicht hoffte er, dass der Schlaf die Geschichte zu Ende erzählt. Vielleicht war er aber auch hellwach und spielte mit geschlossenen Augen verschiedene Szenarien durch. Wie die Geschichte weitergehen könnte.

Und wir taten es auch, ich und die Frau, die sich uns später als Marin vorgestellt hat. Marin und ich dachten darüber nach, was Dan tun wird, nachdem er den Wald verlassen hat und die trockene, veränderte Welt betritt.

Ich fühlte, was Dan dachte. Ich ahnte, wohin ihn die Geschichte führt:

„Ist das hier heiß. Und hell. So eine grelle Hitze habe ich noch nie erlebt. Wie intensiv die Sonne strahlt. Ich fühle, dass sie mich innerhalb weniger Sekunden verbrennt. Ich brauche meine Sonnenbrille und meine Kappe. Besser jeden Ärmel runterkrempeln und jedes Hosenbein. Was für eine Hitze. Welch unmenschlicher Ort.“

Und Marin dachte:

„Jahr für Jahr wurde es immer wärmer. Ach, was sage ich. Immer heißer. Wasser verdunstete und Seen trockneten aus. Gebirge wurden instabil und sie brachen ein, sie fielen zusammen wie die Hoffnung an die Zukunft. Winde verstärkten sich, sie bildeten Teams, wie im Wettbewerb. Sie formten Tornados und Hurrikans und sie fegten als Rivalen um die Welt und alles, was ihnen im Wege stand, wurde zerrieben zu Sand. Sand rieselte durch die Luft wie Asche und sie sank zurück zu Boden und blieb zurück als Erinnerung.“

Nad erwachte, er kehrte zurück aus seinem kreativen Schlaf mit einer Idee. Und diese Idee brachte das Display seines Notebooks zum Leuchten und Nad führte Dans Geschichte fort, er begann, sie weiter zu erzählen, und es schien, als fänden sich die Gedanken von mir und Marin in ihr wieder.

‚Wie anders die Landschaft aussieht. Und wie heiß und trocken sie ist. Dan stellt seinen Rucksack auf den sandigen Boden und beginnt sich zu verhüllen. Er schützt sich gegen die vernichtende Sonne mit allem, was er hat: Sonnenbrille, Kappe, Creme und lange Ärmel. Dan meint, den Stoff seiner Kleidung zu spüren, wie er schmilzt oder sich auflöst im sengenden Licht.

Wo ist er nur?

In welchem Teil des Lebens? In welcher Schleife der Zeit?

Dan ahnt, dass er im Wald durch einen Tunnel ging, der in die Zukunft führt. Er hat die Gegenwart verlassen und befindet sich in irgendeiner kommenden Zeit, irgendwann zeigt sich das Leben in diesem tristen und leblosen Gewand. Diese flirrende Hitze, die wie Feuer um die Erde rennt und dabei alles blendet und versengt.

„Ich stehe in der Zukunft und sehe einen zerstörten Planeten. Wie trostlos alles aussieht. Wie unbelebt.

Doch was ist das? Diese langsam schreitende Gestalt im weißen Mantel? Sie scheint zu schweben oder in der Luft zu stehen. Aber sie bewegt sich fort, als würde die Hitze sie tragen. Ihr Gewand ist hell wie das Licht und die Kapuze ist riesig. Wie lang die Ärmel sind... welch perfekter Sonnenschutz. Was macht die Gestalt hier, an diesem gottverlassenen Ort? Warum geht sie hier auf und ab, als sei sie auf der Suche? Was sucht sie hier? Weswegen setzt sie sich dieser Hitze aus, es gibt hier keinen Schatten, kein Versteck vor diesen vernichtenden gelben Wellen, die die Sonne zur Erde schickt.“

Die Gestalt sucht etwas und dabei nähert sie sich Dan. Sie kommt näher und Dan weicht zurück und geht rückwärts zum Wald, der sich hoffentlich noch immer in seinem Rücken befindet. Hoffentlich gibt es ihn noch.

Kein Blick zurück, nur in Gedanken den Schritten folgen, die Dan hierher gebracht haben. Schritt für Schritt zurück Richtung Wald und zurück Richtung Vergangenheit oder Gegenwart. Dan ist das egal. Hauptsache, er entflieht dieser tödlichen Sonne und dieser leblosen Landschaft, durch die eine Gestalt schleicht, die vermummt auf der Suche ist nach irgendetwas.

Vielleicht sucht sie den Weg zurück? Zurück in die Zeit vor der Klimakatastrophe? Vielleicht hat jemand ihr von einem Tor erzählt, durch das man die Gegenwart verlassen könne. Das Tor sei dort, wo sich in einer vergangenen Zeit ein fast runder See befand, auf dem ein Schatten lag, in der Form einer Pyramide?

Zog die Gestalt seitdem ihre Runde über die ausgedörrte Erde, gehüllt in den kühlenden Mantel mit den langen Ärmeln? Hat sie seitdem den Wald gesucht? Den grünen Tunnel?‘

Und jetzt sitzen wir dicht nebeneinander zusammen und kennen uns nicht. Und trotzdem denken wir über die gemeinsame Geschichte nach. Wie wird sie enden?

„Entschuldigung. Ich habe... ich habe mir erlaubt, heimlich Ihre Geschichte zu lesen...“

„Ich...auch... auch ich war so frei.“

„Sie haben mich beim Schreiben beobachtet?“

„Ja, entschuldigen Sie bitte, aber Ihre Geschichte ist soviel spannender als mein Buch.“

„Oder der triste Blick aus dem Fenster.“

„Na immerhin. Sie unterhält zwei gelangweilte Menschen im Flugzeug... wenigstens das. Ich arbeite mich an ihr ab. Ein richtiger Kampf.“

„Ich heiße Marin.“

„Und ich heiße Niram.“

„Ich heiße Nad. Sie beide haben also gelesen, was ich da gerade versuche zu schreiben? Worauf ich seit längerem rumkaue wie auf zähem Fleisch? Diese ganze Geschichte macht mich fertig. Ich komme nur langsam voran, aber seit ich im Flugzeug sitze, mit Ihnen als Nachbarn, fällt mir das Schreiben leichter, die Ideen sprudeln nur so durch meinen Kopf.“

„Wie geht denn die Geschichte weiter?“

„Das weiß ich noch nicht, die Gestalt mit dem hellen Sonnenschutz habe ich eben erst in die Handlung eingebaut. Hat einer von Ihnen eine Idee, wie die Geschichte enden könnte?“

Marin sagt, sie könne sich vorstellen, dass Dan rückwärts Richtung Wald ginge und dabei immer die Gestalt im Auge behält. Sie scheint ihn nicht gesehen zu haben, immer noch irrt sie suchend durch die Hitze. Dan betritt den Wald, er geht weiterhin rückwärts. Der Weg beschreibt eine leichte Kurve bis die Bäume den Blick nach vorne verstellen. Schlagartig wird es kühl. Dan bleibt stehen und atmet erleichtert ein und aus. Er ist wieder in der Gegenwart.

„Genau.“, sage ich.

„Dan kommt zurück in die Gegenwart und dort beschließt er, in der Nähe des Waldes sein Zelt aufzubauen. Er hat noch Proviant für eine Woche und er möchte ein paar Tage warten, ob die Gestalt den grünen Tunnel findet und ob sie ihn betritt und ob sich dann vielleicht ihre Wege kreuzen.“

„Gute Idee. Die beiden treffen aufeinander, zwei Menschen, die mehrere hundert Jahre trennen, begegnen sich...Das ist gut.“, sagt Nad. „Gute Idee. Danke dafür. Ich führe das mal fort und Sie können gerne mitlesen. Aber sprechen Sie mich bitte währenddessen nicht an.“

‚Das Zelt wird schnell aufgebaut. Dan hat einen schönen Platz an einem Bach gefunden, etwas abseits vom Wald. Von hier aus kann er beobachten, ob die Gestalt aus der Zukunft ihm gefolgt ist. Dan würde sie sehen, sobald sie aus dem Schutz des Waldes ins Freie tritt. Wieviele Jahre werden zwischen ihnen liegen? Hunderte? Vielleicht sogar tausend? Wie sollten sie sich austauschen? Verständigen? Ist es unvorsichtig von Dan, auf die Gestalt zu warten? Bestünde Gefahr, wenn sie aufeinanderträfen?

Dan sitzt vor seinem Zelt und schaut Richtung Wald, und da, langsam tritt die Gestalt mit ihrer weiten Kleidung ins Licht. Sie steht etwa 30 Meter von Dan entfernt und wie groß sie ist. Viel größer als er. Die Kleidung weht im Wind und die Kapuze verdeckt das ganze Gesicht. Minutenlang steht die Gestalt unbewegt in einer Landschaft der Vergangenheit, die ihr scheinbar völlig unbekannt zu sein scheint. Sie hebt den Kopf Richtung Sonne. Und nimmt dann langsam die Kapuze ab, denn die Sonne und ihr Licht sind so anders.

‚Wie angenehm die Temperatur hier ist. Der Himmelskörper aus Feuer wärmt und die Wärme tut so gut. Die Strahlen des ungeliebten Planeten zerstören nicht alles, was sich ihnen ungeschützt in den Weg stellt.‘

Die Gestalt hat sehr helle Haut und keine Behaarung. Sie könnte ein Mann sein, oder eine Frau. Noch immer schaut sie nach oben, zum Himmel, von dem keine Gefahr auszugehen scheint. Wie friedlich diese Gestalt wirkt, unendlich entspannt. Oder erleichtert. Jetzt schaut sie in die Landschaft, die sich vor ihr erstreckt. Wahrscheinlich sieht sie weit entfernt den See, an dem Dan noch gestern übernachtet hat. Lange blickt die Gestalt in diese Richtung und dabei scheint sie nachzudenken. Jede ihrer Bewegungen strahlt große Ruhe aus. Sie geht wenige Meter nach vorne und schließt die Augen. Und dann atmet sie lange ein. Dan kann sehen, wie sich der Brustkorb hebt und dabei immer größer wird. Nun hält sie inne. Ganz ruhig steht die Gestalt wenige Meter vor dem Eingang zum Wald und nichts an ihr bewegt sich. Wie versteinert steht sie da, als hörte sie eine Stimme, die zu ihr spricht. Vielleicht ist es der Wind oder die Luft, die sie eingeatmet hat. Vielleicht erzählen sie von diesem Ort in der Vergangenheit, vielleicht schildern sie, wie es sich hier leben lässt. Irgendwann atmet die Gestalt wieder aus und krempelt die Ärmel des Umhangs hoch. Ganz langsam, als habe sie noch immer Zweifel. Vielleicht hat sie noch nie in ihrem Leben tagsüber die Arme dem Sonnenlicht ausgesetzt. Auch die Arme sind unbehaart und die Haut ist fast weiß. Sie ist großflächig bemalt oder tätowiert. Feine schwarze Linien ziehen sich über den ganzen Unterarm. Die Gestalt bückt sich und fährt mit der Hand über den Boden. Sie wischt hin und her, langsam und konzentriert, und dann führt sie die Hand zum Gesicht und riecht an ihr. Viel Zeit vergeht, aber irgendwann sinkt die Hand zu Boden und die Gestalt nickt. Und während sie nickt, neigt sie den Kopf. Es sieht wie eine Verbeugung aus. In der gebeugten Haltung bleibt sie lange stehen und Dan hört jetzt eine Stimme. Sie ist hell und nicht zu verstehen. Sie spricht monoton, als würde sie den immer gleichen Satz wiederholen. Oder ein sehr langes Wort. Es klingt wie ein stotternder Gesang, der nur aus einem Ton besteht. Dan hat sich hinter dem Zelt versteckt und beobachtet. Wahrscheinlich ist sein Zelt nicht gut zu sehen, denn es ist grau und verschwimmt mit der Farbe der Felsen. Dan könnte auf die Gestalt zugehen, sich langsam und vorsichtig nähern. Aber er möchte auch nicht stören. Und er hat auch Angst vor der Begegnung. Er möchte nur zusehen, wie die Gestalt aus der Zukunft auf die Welt der Vergangenheit reagiert.

Und mittlerweile hat Dan den Eindruck, die Gestalt sei eine Frau. Eine schlanke Frau ohne Haare.

Sie hebt den Kopf und schweigt. Jetzt zieht sie sich die Ärmel des weißen Umhangs über die Arme, setzt die Kapuze auf und dreht sich um und verschwindet geräuschlos im Wald.

Dan stellt sich vor, wie die große Gestalt mit ihrem weißen Umhang und der weiten Kapuze zurückgeht durch den grünen Tunnel. Zurück in ihre Gegenwart, die heiß und grell auf sie wartet. In der der ungeliebte Planet seine erbarmungslose, zerstörerische Runde zieht. Wohin geht die Gestalt? Wo kam sie her? Wie sieht der Ort aus, an dem sie lebt? Und ist sie wirklich eine Frau?‘

Nad hebt den Kopf und nickt. Wie eben noch die Frau in der Geschichte.

„OK so? Soweit ganz gut?“

Marin und ich hören die Frage wie durch Watte. Wie in Zeitlupe schwebt sie durch die Luft. Wir hängen fest in Dans Gedanken. Wohin die unbehaarte weiße Frau zurückkehrt. Und wer sie dort erwartet. Wir sehen sie vermummt durch die Hitze gehen. Über Sand, der glüht und der irgendwann einmal ein Berg gewesen ist, der die Form einer Pyramide hatte.

„Ja...“

„Ja...aber so endet die Geschichte nicht. Oder doch?“

Nad starrt auf den Hinterkopf eines Passagiers, der in der Reihe vor ihm sitzt. Er schaut unbewegt wie die Frau, nachdem sie den entfernten See erblickt hat.

„Nein. Ich hatte gerade eine Idee. Aber wie würdet Ihr die Geschichte enden lassen?“

„Vielleicht wartet Dan weiter am Rand des Waldes. Er wartet, ob die Frau zurückkommt.“

„Kommt sie denn zurück. Und wenn ja. Kommt sie allein? Oder bringt sie ihre Familie mit, oder ein ganzes Volk? Ist die Frau vielleicht eine Herrscherin, die für die Menschen ihres Staates eine Zukunft sucht, und die diese in der Vergangenheit findet?“

„Wartet. Wartet. Wartet.

Die Idee... ist gut... ja, das könnte funktionieren, bitte gerne mitlesen, aber nicht stören.“

Und Nad legt los. Seine Finger fliegen über die Tasten seines Notebooks und Gedanken und Bilder legen sich übereinander wie Gesteinsschichten.

‚Dan wartet

Tagelang, und dann geht er los

Er bricht auf

Und sucht einen Weg, der nicht durch den Wald führt

Ein Weg durch Berge aus Schutt und Stein

Was für eine Kletterei

Ein grauer Albtraum

Der den grünen Tunnel umgeht

Dan bleibt in der Gegenwart und irgendwann

Irgendwann sieht er die Landschaft, die laut Karte zu erwarten war

Ein runder See, den ein Berg überragt, der die Form einer Pyramide hat

Wie schön

Was für ein Bild

Ein blaues Oval und im Hintergrund ein Koloss aus Stein

Der einen dreieckigen Schatten wirft

Aus der Zukunft in die Vergangenheit

Oder andersherum

Dan macht Pause und genießt, was er sieht

Und würde er hier sitzen, hier an diesem Fleck

Tage später, nachdem die Anführerin im weißen Umhang zurückkehrte an ihren Ort

Und sie jedem dort erzählt hat von der Vergangenheit

Vom grünen Tunnel, den sie endlich gefunden hat

Von der Wärme und dem Geruch

Wenn Dan hier säße, auf diesem Stein

In der Zeit, in der die Frau mit ihrem weißen Sonnenschutz lebt

Dann sähe Dan Menschen, die weiß gekleidet sind

Sie tragen Kapuzen und weite Kleidung und sie gehen schnell

Es sind viele, sie wehen über den heißen Boden wie Sand

Eine endlose Schnur zieht vom Horizont Richtung Wald

Wieviele es sind

Wie lang die weiße Reihe ist

Sie sehen aus wie Zugvögel

Die zurückkehren zu einem Ort

Der sie schützt

Sie sind auf dem Weg in die Zukunft

In eine vergangene Zeit, die lebenswert erscheint‘

So endet die Geschichte. Wie leicht hat sie begonnen und wie schwer klingt sie nun, da sie scheinbar fertig erzählt ist.

„Gut?“ ...

„Gut.“ ...

„Gut.“ ...

Und jetzt landet der Flieger und wenig später tauschen Nad, Marin und ich Telefonnummern aus, verabschieden uns voneinander und dann geht jeder seinen Weg. Und jeder Weg führt in die Zukunft.

Und eines Tages, in einer fernen Zeit, sieht die Zukunft vielleicht aus wie die Welt, durch die die Frau mit dem weißen Umhang und der großen Kapuze ging. Vielleicht wird die Sonne dann „ungeliebter Planet“ genannt. Vielleicht machen sich die Menschen in dieser Zukunft irgendwann auf den Weg und gehen auf die Suche nach einem grünen Tunnel, der in die Vergangenheit führt.

Kontakt

Sarah geht durch den Park, ihre tägliche Runde, dreißig Minuten durch intakte Natur. Der Spaziergang ist immer derselbe und doch ist er jedes Mal anders. Denn wie oft ist Sarah auf ihrem Weg etwas zum ersten Mal aufgefallen, wie oft hat sie etwas an einer Ecke des Parks zum ersten Mal gesehen, obwohl sie doch schon so oft an genau dieser Ecke vorbeigekommen ist?

So oft hat sich Sarah gefragt, warum sie diesen Baum oder dieses Bächlein oder diesen Brunnen noch nie bemerkt hat? Sie hat sich immer gewundert, wie unaufmerksam sie durch die Minuten des Tages läuft, was sie alles zu verpassen scheint. Sie hat sich oft gewünscht, ein Augenblick würde einfrieren zu einem Bild, vor dem sie steht, und sie hätte dann die Zeit, sich alles genau anzusehen. Und weil jeder Augenblick einzigartig ist, fing sie an zu fotografieren. Sie wollte Momente festhalten und abbilden. Denn diese Bilder konnte sie sich immer genau ansehen, so lange sie wollte und sie konnte jederzeit zu ihnen zurückkehren. In ihren Fotos hielt sie Zeit fest.

Sie hat seitdem viel fotografiert und ihre Speicherkarte ist gefüllt mit tausenden Bildern. Es sind besondere Momente, die sie festgehalten hat, und einige hängen großformatig in Wohnungen oder Häusern ihrer Freunde.

Ihre Speicherkarte.

Wie wertvoll sie ist, denn nur sie sichert die Fotos. Ihre Momente im Leben, an denen sie die Zeit zum Stehen gebracht hat. Nirgendwo sonst sind sie gespeichert. Und immer, wenn sie die Fotos anschaut, kehrt das Leuchten zurück, oder der durchsichtige Nebel, oder das Schattenspiel, oder das Lachen, oder die zufällige Symmetrie. Oder der Kontrast, der Gegensatz aus Farben, ihr Schatten und ihr Licht.

Für Sarah ist die Speicherkarte wertvoller als Gold, sie ist ein visuelles Tagebuch, ein individueller Blick auf das Leben.

Und jetzt steht hier dieser Baum. Eine Trauerweide. Am Ufer des Sees, den sie schon so oft umrundet hat. Und unter dem Baum steht eine Bank.

‚Diesen Baum und diese Bank habe ich noch nie gesehen.‘

Sarah sieht sich dieses vollendete Stillleben an. Ehrfürchtig hält sie Abstand, denn diesen Ort gab es vorher nicht. Er ist wirklich neu.

‚Diesen Ort kann ich nicht übersehen haben. Er ist perfekt, er ist himmlisch. Wenn es ihn schon immer gab, dann hätte ich jeden Tag stundenlang auf der Bank unter der Trauerweide gesessen und den Wellen des Sees zugesehen. Dieser Ort ist neu, als hätte die letzte Nacht ihn erschaffen und heute erlebt er seinen ersten Tag.‘

Sarah hebt langsam ihre Kamera, sie schaut durch den Sucher und wählt den Ausschnitt. Sie blendet leicht ab, denn das Grün des Baumes und das Blau des Sees sollen leuchten. Leuchten, wie dieser Augenblick. Sarah belichtet das Bild und nimmt die Parkbank in den Fokus, sie soll der Mittelpunkt des Fotos sein, auf die Bank stellt Sarah scharf. Das Wasser glitzert silbern blau und die Blätter des Baumes schweben grün durch die gelblich schimmernde Luft. Überall ist Licht und Schatten. Und diese diffuse Zwischenwelt, dieses tanzende Grau. Perfekt. Und Sarah drückt den Auslöser.

Dann schließt sie ihre Augen und erinnert, was sie gesehen hat.

‚Hoffentlich ist das Bild so schön geworden wie dieser Augenblick.‘

Sie ruft das Bild im Display auf. Und ja, es fängt die Stimmung perfekt ein. Wow. Das Licht und die Farben sind großartig. Und im Mittelpunkt ist die Bank.

Aber was ist das? Die Bank ist unscharf. Hat Sarah verwackelt? Mit Hilfe der Zoomfunktion vergrößert sie das Bild, und die Bank ist tatsächlich verschwommen, wie Linien aus Rauch. Wie Nebel, und im Display sieht Sarah nicht nur eine unscharfe, schwebende Bank. Dort ist noch etwas anderes. Etwas deutet sich dort an. Sitzt dort jemand? Mit überschlagenen Beinen? Sind diese fliegenden weißen Linien die Umrisse einer Gestalt, die auf der Bank verweilt?

Sarah schaut zur Bank. Niemand ist in ihrer Nähe. Haben vielleicht die Äste der Trauerweide ein Schattenspiel gespielt und die Kamera dadurch verwirrt?

Sie macht dasselbe Bild noch einmal. Die gleiche Belichtung und derselbe Fokus. Die Bank ist scharf und Sarah drückt den Auslöser.

‚Klack.‘

Dieses Bild kann nicht unscharf sein. Sarah hat scharfgestellt und dann die Luft angehalten. Ganz entspannt. Dieses Bild zeigt den Moment, wie er gewesen ist.

Wieder ruft sie das Foto im Display auf und vergrößert den mittleren Bildausschnitt maximal. Wieder ist die Bank nicht scharf, wieder zeigt sich der Nebel, der jede Linie verschwimmen lässt. Nichts ist geradlinig. Jede Linie schwebt auf und ab. Die Bank am See ist ein Gewirr aus gleichförmigen Wellen und vor ihnen steht jemand. Seitlich zum See. Jemand steht dort und schaut Sarah an. Sarah erkennt einen unklaren Umriss, wechselnde Formen, wie heller Rauch, den der Wind in Bewegung hält. Und sie spürt etwas. Klar und deutlich. Sie spürt einen Blick. Einen Blick, der sie berührt wie ein leichter Hauch.

‚Was passiert hier? Woher kam dieser Ort? Er ist so schön. Warum habe ich ihn seit Jahren übersehen? Warum ist die Bank immer überbelichtet und verwackelt? Ist die Bank zu hell oder ist es diese Silhouette aus Licht, die eben noch saß und die jetzt aufgestanden ist?

Die jetzt vor dem See steht und mich anschaut?

Ich sollte fortgehen. Davonlaufen und das alles vergessen: Dieses Bild von einem Baum und einem See und einer Bank, vor der jemand steht und mich ansieht, als ob er mit mir in Kontakt treten wolle. Ich sollte diesen Ort verlassen.

Aber vorher mache ich noch ein Foto von ihm und diesem Augenblick.‘

Und Sarah fokussiert und drückt ab und kontrolliert das Foto. Und wieder ist es unscharf. Alles ist verwackelt. Nichts ist so, wie sie es durch den Sucher sah. Der Baum, der See, die Bank. Ihre Formen und Farben verschwimmen zu Wellen, die den Hintergrund bilden, aus dem jemand hervortritt, und nichts an ihm ist konstant. Er scheint sich Sarah zu nähern und dabei wechselt er seine Gestalt. Alles verzerrt sich hell. Linien und Formen aus hellem Licht bewegen sich auf Sarah zu und sie drückt ab und ab und ab. Sie macht ein Foto nach dem anderen.

Sie lässt die Kamera sinken und blickt zum See. Niemand ist zu sehen. Sie sieht nur den See, die Trauerweide und die Bank. Und auch im Sucher sieht sie nur dieses zauberhafte Idyll. Scheinbar sind die Fotos eine Verbindung. Wie ein Medium. Die Linse der Kamera bildet scheinbar etwas ab, was dem menschlichen Auge verborgen bleibt.

Sarah schaut schnell, wie das letzte Bild geworden ist. Was es zeigt. Wieder hat sie auf die Bank scharfgestellt und dann ausgelöst. Ganz schnell. Zack. Zack. Was ist das nur für ein besonderer Augenblick?

Sie sieht im Display ein Gesicht. Sie sieht keinen See und keinen Baum. Und keine Bank. Sie sieht nur etwas, das aussieht wie ein Gesicht. Wie ein Sternbild. Nichts ist deutlich zu erkennen, aber es ist eindeutig ein Gesicht und es nähert sich mit jedem Foto. Friedlich kommt es daher. Zurückhaltend. Ohne Aufregung. Es schwebt heran, kein Sturm, kein Orkan, kein Wirbelwind. Es nähert sich ein Wesen aus Luft, das sich Zeit lässt, das nicht erschrecken will. Sarah macht weitere Aufnahmen, Bild nach Bild. Immer wieder, und jetzt ruft sie hektisch das letzte Foto im Display auf und sieht nur noch Augen. Zwei Augen, die in die Kamera blicken und deren Pupillen aussehen wie Planeten. Zwei Planeten sehen sie im Display an. Sie schweben dort und sie sind riesengroß. Zwei leuchtende Kugeln nähern sich wie rollende Murmeln.

Sarah sieht das letzte Bild und spürt eine fremde Welt, die sich vor ihr aufbaut, sie muss jetzt ganz nah vor ihr sein. Ganz dicht. Runde Formen ziehen unsichtbar ihren magischen Kreis, sie schweben schwerelos hin und her, und werden dabei immer größer. Noch zeigt sich diese Welt nicht, noch existiert sie nur in Sarahs Bildern und Sarah wählt im Menü „alle Fotos löschen.“ Sie denkt kurz nach.

‚Wirklich alles löschen?‘

Wie sähe das nächste Foto aus? Wahrscheinlich erschiene eine riesige Pupille im Display. Eine gewaltige Pupille, die wie ein fremder Planet aussieht und der in Kontakt treten möchte mit ihr.

Sarah drückt auf „OK“. Sämtliche Fotos werden gelöscht und der Kontakt bricht ab.

Und in Gedanken entschuldigt sie sich dabei. Bei wem auch immer, wer auch immer sie im Display angesehen hat. Sie entschuldigt sich bei ihm. Sie möchte keinen Kontakt. Noch nicht.

Vielleicht später. Später vielleicht.

Vielleicht sogar schon morgen...

Wie hätte das nächste Foto wohl ausgesehen? Nachdem die Pupille unendlich groß geworden ist? Hätte Sarah den fremden Planeten vor sich gesehen? Hätte sie ihn vielleicht sogar durch den Sucher ihrer Kamera betreten können, wie durch eine Tür?

Sarah schaut zum See. Die Trauerweide und die Bank sind verschwunden. Sie sieht nur den See mit seinem blauen Wasser. Und eine einsame Welle, die sich langsam von ihr entfernt und die sich irgendwann in der Oberfläche des Sees verliert.

ZeitgleichoderParallelwelt

Hier kommt das Leben zur Welt

Und dort endet es

Eins taucht auf und ein anderes ab

Wie verschieden die Wege sind

Die das Leben beschreitet

Zur gleichen Zeit

Hier fallen Tränen aus Trauer und dort aus Erleichterung

Freude und Leid

Dicht beieinander am selben Ort

Hier geht das Leben weiter und dort bleibt es stehen

Hier macht das Glück Sprünge und dort fällt es in den Abgrund

Jemand steht am Bahnsteig, ein anderer auf den Schienen

Und beide erwarten den Zug

Schweben und Absturz

Alles passiert parallel

Seite an Seite

Das Leben ist ein ungleiches Paar

Das sich ständig widerspricht

Und sich voneinander abwendet

Und sich doch nicht trennen kann

Rücken an Rücken stehen sie da

Und doch sind sie eins

Vereint

Überall

Dort hungert jemand und durchsucht den Müll

Und ein anderer lässt das Essen zurückgehen, weil es zu salzig ist

Oder zu kalt

Oder zu heiß

Immer gibt es einen Grund sich zu beschweren

In einem feinen Restaurant

Mit Blick auf das Meer

In dem in diesem Augenblick jemand ertrinkt

In dem in diesem Augenblick ein anderer schnorchelt und taucht

Einer macht Urlaub und ein anderer stirbt

Zeitgleich

Am selben Ort

Einer gleitet mit Flossen hinab in die Dunkelheit

Vorbei an einem Körper, der dort leblos schwebt

Und unbewegt zu Boden sinkt

All das passiert zur selben Zeit

Zeitgleich

Parallelen, die in unterschiedliche Richtungen fliegen

Eine Waffe ist Angriff oder Verteidigung

Feuer wärmt und verbrennt

Regen fällt wie ein Gesang

Oder wie ein Fluch

Der eine Moment ist unvergesslich

Und der andere wäre besser nie geschehen

Alles passiert zeitgleich

Als gäbe es zwei Leben

Wie unterschiedliche Geschwister

So fremd und doch verwandt

Hungerbauch und Übergewicht

Schönheitsoperation und Amputation

Die Spritze, die heilt oder süchtig macht

Eine Linie Koks und Linien, die ein Messer ritzt

In den Unterarm

Salz in die Wunde oder Salz über das Gericht

Das Leben hinkt und humpelt

Und es springt

Zur selben Zeit

Es ist hässlich und schön

Es friert und schwitzt

Im gleichen Augenblick

Es ist hungrig und satt

Dick und dünn

Farbig und froh und langweilig

Es ist scharfsichtig und blind

Es rennt und steht

Es denkt nach und es denkt nicht

Zeitgleich

Zeitgleich tut es das

Verwirrt und zerrissen steht es da

Wie unwohl es sich fühlt

Wie gerne wäre es gerecht und fair

Aber irgendwann kommt es zur Ruhe

Das Leben bleibt stehen

Erschöpft und ausgelaugt

Schön, hässlich, leise und laut

Es holt tief Luft und atmet ein

Ein und aus

Und dann stellt es sich Fragen und es beantwortet sie

Es redet mit sich selbst und es hört sich zu

Es versteht und begreift doch nicht

Wie all das geschehen kann

Zur gleichen Zeit

Auf dem gleichen Planet

Der Planet ist rund

Und er dreht sich um sich selbst

Und um die Sonne

Zeitgleich

Er zieht zuverlässig seine Runde

Sie ist immer gleich

Ein berechenbarer Kreis

Und es gibt nur diese eine Richtung

Immer derselbe Weg

Einbahnstraße

Umkehr ist keine Möglichkeit

Die Himmelsbahn ist vorbestimmt

Und ewig

Ewig gleich

Das Leben steht und es fragt sich

Wie dieser Planet das Leben erträgt

Wie er es aushalten kann

Er zieht gewissenhaft seine Bahn

Durch den immer gleichen Raum

Und er bleibt dabei stabil

Er zerbricht nicht

Als ignoriere er, was auf seiner Oberfläche passiert

Vielleicht spürt er nicht

Was sich dort abspielt

Was dort trampelt und tobt

Und vielleicht interessiert es ihn auch nicht

Vielleicht ist ihm das Leben egal

Dieses nervöse Ding

Dieses kindliche Gemüt

Dieses unberechenbare Geschöpf

Diese unheimliche Kraft

Und wenn es dem Planeten irgendwann doch zuviel werden sollte

Wenn die Eskapaden des Lebens ihn stören

Dann dreht er sich etwas schneller

Dann legt er sich in die Kurve

Und beschleunigt

Langsam, aber bestimmt

Und wirft das Leben ab

Und sieht ihm nach

Wie es stürzt

Und verschwindet

Und dann zieht der Planet weiter seinen Kreis

Etwas langsamer als zuvor

Als genieße er

Die Ruhe auf seiner Oberfläche

Wie still es dort geworden ist

Wie friedlich und entspannt

Und wie viel leichter es sich nun fliegen lässt

Fragen an das Leben

Leben

Du unbegreifliche Kraft

Du rätselhaftes Wunder

Immer bist du da

Hast überall deine Finger im Spiel

Erschaffst dich immer neu

Und löscht dich selber aus

Du beginnst nicht mit der Geburt

Und endest nicht mit dem Tod

Warst schon lange vorher da

Und noch ewig wirst du weitergehen

Du nimmst

Alles

Und gibst

Niemals auf

Folgst weder Regel noch Gesetz

Eigentlich machst du, was du willst

Du gehst einfach deinen eigenen Weg

Und nichts geht ohne dich

Und nichts kann folgen, nichts hält Schritt

Leben

Du ewiger Fluss

Der sich in großen Schleifen durch die Zeit bewegt

Sanft und reißend

Leise und laut

Oder alles zusammen im Sekundentakt

Du bist nicht fair

Und willst es auch nicht sein

Du bist unberechenbar

Alles ist dir gleichgültig

Alles scheint dir egal zu sein

Kein schlechtes Gewissen weit und breit

Kein Sinn für Gerechtigkeit

Als du zur Welt gekommen bist

Hat sich niemand Gedanken gemacht

Über ein Gewissen oder Gerechtigkeit

Niemand wusste, dass es sie gibt

Niemand hat jemals von ihnen gehört

Und wahrscheinlich hat auch niemand sie vermisst

Leben

Allgegenwärtige Macht

Verspielt und brutal

Lachst du mich an oder aus?

Bist du heute Freund und morgen Feind?

Oder andersrum?

Oder bin ich einfach Luft für dich?

Warum sitzt du immer am längeren Hebel?

Weißt du mit ihm umzugehen?

Warum sprichst immer du das letzte Wort?

Warum machst immer du als letzter die Lichter aus?

Warum liegt alles in deiner Hand?

Warum immer du?

Und warum antwortest du nicht, bin ich so unwichtig?

So unbedeutend und klein?

Vielleicht bin ich es

So wird es sein

Du bist eine Nummer zu groß

Wahrscheinlich bist du viel zu groß für mich

Und wahrscheinlich habe ich dich überhaupt noch nicht verstanden

Rückfall

Suu geht immer weiter. Immer weiter in den Tunnel. Hinein in sein tiefer werdendes Schwarz. Sie vertraut diesem Weg und umkehren will sie nicht. Kein Schritt zurück, nur nach vorne, in eine Richtung, die stimmt. Alles passt, alles fühlt sich richtig an. Weitergehen und die Dunkelheit ignorieren, die Helligkeit wartet. Irgendwo dahinten ist sie schon zu sehen. Ein zarter Hauch. Schüchternes Licht. Suu geht weiter und Zeichen tauchen auf. Signale, die warnen, sie sind rot und ihre Botschaft ist klar.

‚Meide diesen Ort. Kehre um.‘