Das Findelkind - Beat Wild - E-Book

Das Findelkind E-Book

Beat Wild

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Beschreibung

Im Pfarrhof taucht ein Kindlein auf. Die Magd des Pfarrers möchte es gern behalten, möchte es grossziehen, ihm Ersatz sein für die fehlende Mutter. Der Pfarrer jedoch ist dagegen. Er bringt das Kindlein ins Waisenhaus. Nur unwillig nimmt die Mutter Oberin, die Leiterin des Waisenhauses, das Kind-lein an. Immer wieder lässt sie es ihren Missmut spüren, vergeht sie sich an ihm. Liebe erfährt das Kind lein erst durch die Magd des Pfarrers, die sich gegen dessen Willen für es einsetzt, sich um es kümmert. Die Liebe, die der zum Jüngling herangewachsenen Waise seinerseits der Magd des Pfarrers entgegenbringt, bleibt von ihr unerwidert

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«Nein! Das dürfen wir nicht. Nein! Das dürfen nur Frau und Mann. Davon hast du in deinen Briefen nichts gesagt; du hast nur von der reinen Liebe gesprochen, von der Liebe des Herzens. Nein! Das darfst du nicht. Nein!»

Inhaltsverzeichnis

Das Findelkind

Liebe Annemarie

Ankündigung

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Warten

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Ich seh

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine - Ich seh

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Ruhn

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Liebe Hermine

Das Findelkind

Zwei Männer steigen vorsichtig die gepflasterte Kirchenstrasse hinauf, vorbei am Pfarrhof, wo gerade der Fensterladen zur Kammer der Magd aufgestossen wird: Wohl um frische Luft und das Licht des nahenden Tages hereinzulassen. Das schrille Quietschen der Angeln zerreisst die Morgenstille. Auf das Wasser des Schäflibrunnens nebenan hat sich eine zerbrechlich dünne Haut aus Eis gelegt. Die Kirche St. Oswald schräg gegenüber behauptet sich dunkel und mächtig im Dämmerlicht des Morgens. Die Heiligen in Stein gehauen, welche die rauen Mauern zieren, mahnen mit Schwert und gefalteten Händen zu Gehorsam, Demut und Tugend.

Die zwei Männer verlassen den Ort. Sie schreiten durch das Stadttor, mühen sich, Kamera und Stativ auf den Schultern, den Fuss des Zugerbergs hinauf; vorbei an den kunstvoll geschmiedeten Kreuzen auf dem Friedhof beim Eingang zur St.-Michael-Kirche; vorbei am Beinhaus, wo die Toten hinter schmiedeeisernen Gittern obszön ihre bleichen Knochen zeigen, und weiter den Berg hinauf – hinterlassen Spuren in der Unschuld des noch jungen Tages.

Fotograf Moos und sein Assistent Werner sind auf dem Weg, um in der Morgendämmerung Winterlandschaften zu fotografieren, als plötzlich ein Vogel vom Boden aufflattert, dabei ihre Aufmerksamkeit weckt. Werner entdeckt es als Erster. Im Tschuepis, dort, wo der Wald anfängt, liegt etwas im Schnee. Es hat die Form eines menschlichen Wesens.

«Ein Mann», sagt Werner. «Ein Vagabund, der kein warmes Plätzchen mehr gefunden hat», meint er.

Fotograf Moos stapft zu der Gestalt hin, geht in die Knie und wischt Schnee vom Kopf des Leblosen. Er erschrickt, als er das Gesicht des Toten sieht, das gefrorene Rinnsal Blut in seinem Mundwinkel, sagt: «Es gibt einige, die ihm nicht wohlgesinnt sind, die ihm einen unschönen Tod gewünscht haben.»

«Du kennst ihn?», fragt Werner.

«Das ist der Findling Hermann oder Moses oder Oswald, je nachdem», sagt Fotograf Moos nachdenklich. «Er wurde nicht weit von hier im Pfarrhof abgegeben, vor etwas mehr als zwanzig Jahren. Wir müssen zurück, wir müssen den Toten melden.»

«Woher kennst du ihn?», fragt Werner. «Was weisst du über ihn?»

«Ich kenne ihn nicht wirklich», sagt Fotograf Moos, «und weiss nicht viel über ihn. Ich habe nach ihm gesucht, weil ich ihm ein Foto geben wollte, das ich am Stierenmarkt von der Knechtschaft gemacht habe. Ich ging dafür aufs Amt, weiss daher seinen Namen und dass er im Pfarrhof abgegeben worden war, dann ins Waisenhaus kam und später seine Aufbringung bei Bauern in der Umgebung abverdienen musste.»

«Und was weisst du sonst noch über ihn?», fragt Werner.

«Das ist alles, was ich weiss.»

«Du hast gesagt, dass es einige gibt, die ihm böse sind, ihm ein gewaltsames Ende gewünscht haben.»

«Das ist mir so herausgerutscht, ist nur eine Vermutung, die nicht an die Öffentlichkeit gehört. Hörst du? Wie alles andere auch, das ich über ihn gesagt habe.»

«Weshalb nicht?», fragt Werner.

«Das ist besser so. Lass uns jetzt gehen.»

Als Fotograf Moos und sein Assistent Werner auf dem Weg zurück in die Stadt am Pfarrhof vorbeikommen, ist die Magd des Pfarrers gerade dabei, den Weg vom Pfarrhof zur Kirche vom Schnee zu befreien.

«Guten Morgen», grüsst Fotograf Moos.

«Guten Morgen», grüsst Werner. «Wir kommen grad vom Tschuepis, haben dort am Waldrand einen Toten gefunden. Er soll vor mehr als zwanzig Jahren hier im Pfarrhof abgegeben worden sein. Kennst du ihn vielleicht?»

Fotograf Moos packt Werner unsanft am Arm und zieht ihn weg. «Ich habe dir doch grad gesagt, dass du es für dich behalten sollst. Da hast du ja etwas angerichtet.»

«Warum?», fragt Werner.

«Das geht dich nichts an, du kannst deinen Mund ja sowieso nicht halten.»

Annemarie lässt den Besen fallen und eilt den Berg hinauf ins Tschuepis, fällt vor Hermann auf die Knie. Sie schaut ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an, wischt Reste von Schnee von seinem Gesicht, von seiner Kleidung und legt sich dann auf ihn, den Kopf auf seine Brust. Sie bleibt so mit ihm liegen für einige Zeit, bis sie glaubt, nur noch Kälte zu spüren. Dann richtet sie sich auf, sagt: «Jetzt bist du gegangen, ohne dass wir uns haben verabschieden können. Ich hätte dir so gern noch gesagt, wie lieb ich dich habe, auch wenn wir kein Liebespaar sein durften; hab mir sogar eine Zukunft mit dir ausgemalt, selbst in Afrika oder Indien, wo du so geschwärmt hast davon. Jetzt bleibt mir nur noch das Kloster, das Warten darauf, mit dir einst im Himmel vereint zu sein. Grüss die Mutter von mir. Sag, ich hätte mein Bestes versucht, Ersatz zu sein für sie. Sag, dass es mir leid tut, dass es mir nicht gelungen ist. Es hat einfach nicht sein dürfen. Jetzt hast du sie wieder und sie dich. Mach dir um mich keine Sorgen.»

Sie küsst ihn auf die Wange, zögert, küsst ihn dann auf den Mund – es war ihr versagt, als er noch lebte. Dann steht sie auf, schaut wehmütig auf den Toten, sieht zwei Briefe aus seiner Jackentasche schauen. Sie nimmt sie an sich. Der eine Brief ist an ihn adressiert. Sie kennt ihn. Er hatte ihm erklären sollen, weshalb die Liebe zwischen ihnen nicht hatte sein dürfen. Lydia hatte ihn für sie geschrieben. Jetzt ist die Lydia alles, was ich noch habe auf dieser Welt, denkt sie. Jetzt bekommt halt sie meine Liebe. Auf dem zweiten Briefumschlag steht ihr Name. Annemarie ist dabei, ihn zu öffnen, als sie eine Gruppe Männer den Berg heraufkommen sieht. Sie steckt die beiden Briefe ein und macht sich auf den Weg zurück zum Pfarrhof. Als sie an der Gruppe vorbeikommt, sieht sie den Mann, der ihr die schlechte Nachricht von Hermanns Tod überbracht hat, unter ihnen und den Pfarrer.

«Ja, ich kenne ihn», sagt sie zu dem Mann. «Ich habe ihn damals entgegengenommen. Ich hätte ihn so gern behalten, ihm ein anständiges Leben ermöglicht», sagt sie, nun an den Pfarrer gerichtet. «Es hat nicht sein dürfen, da habt ihr das Resultat.»

Sie geht weiter, geht zurück zum Pfarrhof, setzt sich in ihrer Kammer auf die Kante ihres Bettes und liest Hermanns Brief an sie.

Liebe Annemarie,

ich bin dir ganz nahe, wenn ich dir diesen Brief schreibe, verweile in der Schönegg. Bin durch den dunklen Wald gelaufen, scheue die Mühe des steilen Wegs zurück nicht, um dir nahe zu sein und der Bäuerin fern. Sie lässt mir viele Freiheiten, ist sehr generös zu mir. Sie würde es mir jedoch sicher nicht erlauben, hier zu sein, wenn sie wüsste, was ich hier mache; würde mir ihre Zuneigung entziehen, sich wieder dem Knecht zuwenden. Mir wärs recht. Ich fürchte mich aber vor ihr. Fürchte, dass sie mir etwas antun könnte oder ihren Knecht dazu anstiften. Seine Blicke machen mir jedes Mal Angst, wenn er in die Küche kommt, wo ich oft mit der Bäuerin zusammen bin. Ich fürchte, dass er es einmal mitbekommt, wie sie ihre Hände auf meine Schultern legt, mir durchs Haar fährt, mich ihren Liebsten nennt. Sie hat ihn lieb gehabt, bevor ich auf den Hof gekommen bin. Ich fühle mich nicht gut, wenn sie so mit mir umgeht, fühle mich schlecht, das Glück des Knechtes mit meiner Anwesenheit zerstört zu haben, wo ich das doch gar nicht gewollt habe, die Bäuerin doch gar nicht mag, aber jemand anderen. Sie darf es nicht wissen. Ich weiss, es ist nicht recht, und doch wünschte ich mir, der Knecht wäre nicht so rasch wieder gesund geworden, sodass ich weiter seine Arbeit machen müsste, anstatt meine Zeit mit der Bäuerin zu verbringen.

Sie lässt mich am Küchentisch schreiben, setzt sich neben mich, will, dass ich ihr vorlese, was ich geschrieben habe – kann selber nicht lesen –, findet es grossartig. Man hätte ihr nicht sagen sollen, dass ich schreiben kann. Ich schreibe nur Banales in ihrer Gegenwart, nichts, was uns verraten könnte. Mich reut die Tinte, die ich dabei verschwende. Ich kann die Bäuerin nicht mehr ertragen und ihren Knecht, sehne mich nach dir, möchte dir nahe sein, nur dir und niemand anderem, möchte dich zur Frau.

So! Jetzt ist es raus, jetzt ists gesagt, was so lang in mir geschlummert hat, mich quälte, was ich dir habe sagen wollen; schon damals, als wir getrennt wurden und ich zu den Bauern musste, um meine Aufbringung abzuverdienen.

Ich weiss nicht, ob ich dich noch verdiene nach all dem, was vorgefallen ist in den vergangenen Jahren, als ich dich entbehren musste. Doch ich kenne niemand anderen, dem ich mich so nahe fühle; glaube immer noch fest daran, dass wir zusammengehören. Kannst du mir verzeihen?

Nun ist mir leichter, wo ich es dir gesagt habe. Jetzt kann ich vorwärtsschauen, den Mut aufbringen, mich zu wehren, für unser Glück zu kämpfen; jetzt kann ich dir zurückgeben, was du für mich getan hast, als ich noch hilflos war und ohne Mut; die Bildung nutzen, um für dich zu sorgen. Nun wird alles gut.

Ich mag nicht warten, bis der Postbote kommt. Ich werde dir die frohe Botschaft selber überbringen, schon morgen; werde nicht warten, bis noch ein Unglück geschieht.

Ankündigung

Heiterheller Himmel, unbewegt

Der See, graublaues Wasser, ebenso

Sanfte Hügel, lang gezogen, Grün in Grün

Silhouetten von Bäumen auf den Kopf gestellt, spiegeln

So, weissweiche Wolken im Graublau des Sees

Auf dem Wasser ein heller Streifen. Eine Verletzung?

In der Entfernung der Himmel, verhangen

Dunkel und Hell, ringen bedrohlich; werfen Schatten

Ein Glockenschlag, ein Warnruf, erinnert

An den lieben Menschen nah dem Turm, so fern

Der Himmel, der See schweigen

Vorboten von Unglück?

Annemarie faltet den Brief zusammen. Sie nimmt den kleinen Koffer unter dem Bett hervor, mit dem sie damals hier angekommen war, legt die beiden Briefe auf dessen Boden und das Wenige, das sie besitzt, obendrauf und verlässt den Pfarrhof Richtung Waisenhaus.

***

Das Mädchen sitzt auf der Bettkante. Es tunkt einen Zipfel seines Unterhemdes in einen Becher mit Milch. Dann drückt es den Zipfel über seiner Brust aus. Die Milch rinnt ihm den Bauch hinunter in den Schoss. Nur ein Tropfen bleibt an seiner Brustwarze hängen. Der Säugling im Arm des Mädchens saugt, saugt verzweifelt, wenn nichts kommt, fängt an zu wimmern.

«Schschsch», sagt das Mädchen und wiegt das Kind in seinen Armen. Es tunkt den Zipfel seines Unterhemdes erneut in die Milch und führt ihn dann zum Mund des Kindes.

Der Pfarrer steht vor der Tür zur Kammer seiner Magd, wie jeden Abend, und lauscht den Vorgängen darin. Wie sich die Magd für das Zubettgehen zurechtmacht. Er wünscht ihr im Stillen eine gute Nacht, fühlt sein Herz zum Hals schlagen; hört aus der Kammer ein leises Wimmern. Er wundert sich, öffnet die Türe und tritt ein. Das Mädchen schaut erschrocken auf, schaut den Pfarrer an, der wie versteinert dasteht und sie anstarrt: ihre nackte Brust, das Kind in ihrem Arm.

«Sie wollten es nicht», sagt das Mädchen nach einer Pause, «es sei sowieso nicht lebensfähig, haben sie gesagt, wollten es sterben lassen. Da habe ich es genommen.»

«Wir können es nicht behalten», sagt der Pfarrer ruhig. «Ich werde es ins Waisenhaus bringen. Wir werden sagen, es sei im Pfarrhof abgegeben worden, ein Findelkind.»

«Sie werden es nicht nehmen wollen», sagt das Mädchen, «das Waisenhaus ist voll. Zu viele Mütter sind gestorben, wegen der schweren Grippe. Wir müssen es behalten.»

«Das geht nicht», sagt der Pfarrer. «Versteh! Konntest du sie nicht überzeugen, es zu behalten? Um Gottes Willen. Es ist auch ihr Blut.»

«Ich habe es versucht», sagt das Mädchen, «aber sie wollen es nicht, haben sie gesagt. Sie wollen nicht noch ein Kind grossziehen …», das Mädchen stockt, «… von so einem. Wir müssen es behalten. Ich kann es grossziehen», sagt es. «Ich kann die Verantwortung für es übernehmen. Es ist auch mein Blut.»

«Das geht nicht», sagt der Pfarrer. «Du bist selbst noch ein Kind. Du kannst nicht für es sorgen; bist kein Ersatz für eine Mutter, bist noch nicht erwachsen, noch keine Frau mit deinen zwölf Jahren. Du hast nicht die Erfahrung, die es braucht, um ein Kind grosszuziehen.»

«Ich koche, ich putze, ich bügle, ich bin Ihre Haushälterin», sagt das Mädchen.

«Das ist etwas anderes», sagt der Pfarrer. «Du weisst, warum.»

«Sie wollten mich nicht mehr haben», sagt das Mädchen, «das Blut von so einem. Ein Malheur.»

«Sag so was nicht, Kind», sagt der Pfarrer. Er geht auf das Mädchen zu, nimmt ihr das Kind aus dem Arm, schaut auf ihre entblösste Brust; schluckt leer, dreht sich um und will gehen.

«Ich kann nichts dafür», sagt das Mädchen leise, aber eindringlich. «Er kann nichts dafür.»

«Er wird es gut haben», sagt der Pfarrer und verlässt die Kammer. Das Mädchen nimmt ihren Wollschal von der Stuhllehne und geht dem Pfarrer in den Flur nach. Sie wickelt den Schal um das Kind, nimmt es dem Pfarrer ab, sodass er seinen Mantel anziehen kann. Sie drückt den Buben an sich, flüstert ihm ins Ohr: «Ich schau nach dir. Ich lass dich nicht allein. Wir gehören doch zusammen.» Sie küsst ihn auf die Wange; erschrickt, wie heiss sie ist, sagt: «Er hat Fieber.»

Der Pfarrer tritt, den Säugling an seine Brust gedrückt, in die kalte Nacht hinaus. Er schaut um sich, überlegt und macht sich dann auf den Weg. Er will mit dem Kind ins Waisenhaus, zu den Behörden, zum Doktor – irgendwohin.

Der Pfarrer klopft an die Türe des Waisenhauses. Die Schwester Pförtnerin öffnet sie, sieht den Pfarrer draussen stehen mit einem Bündel im Arm.

«Was bringt Sie hierher, so spät am Abend?», bittet sie ihn herein.

«Ich habe ein Kind, das Pflege braucht», sagt der Pfarrer. «Es wurde im Pfarrhof abgegeben. Die Magd hat es entgegengenommen, anstatt die Leute, die es gefunden haben, mit ihm aufs Amt zu schicken.»

«Setzen Sie sich doch bitte hin», sagt die Schwester Pförtnerin. «Ich werde die Mutter Oberin rufen. Sie wird keine Freude haben», sagt sie leiser.

«Die Oberin kommt gleich herunter. Sie war schon im Bett», sagt die Schwester Pförtnerin, als sie zurückkommt. «Darf ich das Kindlein halten?», fragt sie. Der Pfarrer reicht ihr das Bündel.

Die Oberin kommt langsam die Treppe herunter, stützt sich auf dem Treppengeländer ab. Sie schaut erst die Schwester mit dem Kind im Arm missbilligend an und wendet sich dann dem Pfarrer zu.

«Es wurde im Pfarrhof abgegeben», sagt der Pfarrer entschuldigend. «Der Doktor ist bei einer Entbindung, und für das Amtshaus war es zu spät, da bin ich hierhergekommen. Können Sie es über Nacht nehmen?», fragt er. «Ich werde morgen gleich als Erstes aufs Amt gehen und es melden.»

«Hätte nicht die Magd solange zu ihm schauen können?», fragt die Oberin.

«Sie ist selbst noch ein Kind, kann ihm nicht geben, was es braucht», sagt der Pfarrer. «Ich sähe es lieber in erfahrenen Händen.» Das Kind fängt an zu wimmern. «Es ist wohl hungrig», sagt der Pfarrer, «zu schwach, um nach Nahrung zu schreien.»

«Und wie, glauben Sie, sollen wir es nähren?», fragt die Oberin.

«Die Magd hat umständlich versucht, ihm Milch zu geben», sagt der Pfarrer. «Sie haben gewiss etwas Milch im Haus, verstehen es sicher besser, so ein Kind zu versorgen.»

«Wir haben nicht den Platz für noch ein Kind», sagt die Oberin.

«Es wird sich, mit gutem Willen und dem Glauben an die Kraft durch Gott, sicher etwas machen lassen», sagt der Pfarrer.

«Es kann in meine Kammer, in mein Bett», sagt die Schwester Pförtnerin.

Die Oberin schaut die Schwester streng an und sagt dann zum Pfarrer: «Morgen, als Erstes, haben Sie gesagt.»

«Ja. Danke, vergelts Gott», verabschiedet sich der Pfarrer und eilt aus dem Waisenhaus. Draussen vor der Tür schlägt er den Kragen hoch und geht in die kalte Nacht hinaus. Er atmet tief durch. Erleichterung will sich jedoch nicht einstellen.

Das Mädchen ist wach geblieben und hat sich auf einen Stuhl an die Türe gesetzt, hat gewartet, bis der Pfarrer nach Hause kommt. Als es ihn eintreten hört, öffnet es die Tür seiner Kammer und tritt in den Flur. Es hilft dem Pfarrer aus dem Mantel und schaut ihn fragend an.

«Das Kind ist im Waisenhaus», sagt der Pfarrer, «der Doktor war nicht zu Hause. Ich werde morgen als Erstes aufs Amt gehen und melden, dass es bei uns abgegeben worden ist.»

«Wir hätten ihn behalten sollen», sagt das Mädchen. Der Pfarrer schüttelt den Kopf.

«Es gehört nicht hierher», sagt er.

«Er wurde hier gezeugt», sagt das Mädchen.

«Es gehört zu seiner Mutter», sagt der Pfarrer. «Sie aber ist tot. Es wird im Waisenhaus ein rechtes Zuhause finden, falls der Herr es leben lässt, er es nicht heim zur Mutter schickt. Ich habe mein Bestes getan; so hast du. Der Herr wird es dir einmal anrechnen. Das ist alles, was wir beide für das Kind tun konnten. Es ist nun am Herrn und an den Behörden, wenn Er es leben lässt, zu entscheiden, wie es mit ihm weitergeht.»

«Auch an uns», sagt das Mädchen. «An mir ganz bestimmt. Ich lass den Buben nicht im Stich.»

«Ich bitte dich», sagt der Pfarrer, «bleib vernünftig. Setz unsere Anstellung hier nicht aufs Spiel.»

«Ich bring das Kind auf meine Kammer, wenn es recht ist, Mutter Oberin», sagt die Schwester Pförtnerin.

«Und wer schaut zu ihm?», fragt die Oberin.

«Vielleicht kann eine meiner Mitschwestern den Pförtnerdienst übernehmen», sagt die Schwester.

«Nein», sagt die Oberin barsch. Das Wimmern des Kindes wird stärker. Die Schwester und die Oberin schauen es an.

«Soll ich versuchen, ihm etwas Milch zu geben?», fragt die Schwester Pförtnerin.

«Nein!», sagt die Oberin. «Es hört dann schon auf zu wimmern, wenn es müde ist.»

«Es braucht ein Plätzchen zum Schlafen», sagt die Schwester. «Einer der Weidekörbe, die wir für die Ernte benutzen, würde sich eignen. Es könnte ja dann, dort drin, bei mir bleiben.»

«Nein», sagt die Oberin, «die Körbe brauchen wir selber.»

«Es sind noch Monate bis zur ersten Ernte», sagt die Schwester Pförtnerin, «bis dahin ist er schon ein Grosser.»

«Nein», sagt die Oberin, «und widersprich nicht ständig. Das gehört sich nicht für eine Ordensschwester. Ich sage hier, was gemacht wird.»

Die Schwester Pförtnerin verstummt, schaut beschämt zu Boden. Für eine Weile herrscht betretenes Schweigen, nur das Wimmern des Kindes ist zu hören. Bis die Oberin sagt: «Hol endlich den Korb, oder muss man dir alles zweimal sagen.»

«Können Sie das Kindlein halten, während ich den Korb hole?», fragt die Schwester. Die Oberin nimmt das Kind umständlich in den Arm, verzieht dabei ihren Mund.

Die Schwester Pförtnerin nimmt der Oberin das Kind wieder ab und legt es in den Korb. Sie hat ihn mit Stoffbeuteln ausgelegt, damit es weich liegt. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie das Kindlein im Korb liegen sieht.

«Moses», sagt sie. «Wir nennen es Moses.»

«Nein!», sagt die Oberin. «Es gehört nicht uns. Es sind nicht wir, die ihm einen Namen geben. Geh an deinen Platz und mach, was man dir sagt», herrscht sie die Schwester an. Die Schwester schaut traurig in den Korb. «Geh! Tu, was man dir sagt», sagt die Oberin laut.

Nachdem die Schwester zurück an ihren Platz gegangen ist, nimmt die Oberin den Korb und geht zu einem Stuhl im Flur, um sich hinzusetzen. Über dem Stuhl hängt ein Bild mit der Mutter Maria, das Jesuskind in ihrem Schoss. Die Oberin betrachtet das Bild und setzt sich dann hin. Sie nimmt den Korb auf ihren Schoss, wirft ab und zu einen Blick hinein. Nach einer Weile steht sie auf, nimmt den Korb und geht auf ihre Kammer. Die Schwester Pförtnerin schaut ihr traurig nach, wie sie sich, den Korb am Arm, die Treppe hochmüht. Als wäre es ihres, denkt sie neidisch.

Die Oberin betritt ihre Kammer, stellt den Korb in die Ecke neben die Tür und legt sich dann, ohne sich auszuziehen, auf ihr Bett und versucht zu ruhen. Es will ihr nicht gelingen, obwohl das Kind inzwischen aufgehört hat zu wimmern. Immer wieder steht die Oberin auf, um nachzusehen, ob das Kind im Korb sich noch regt. Als sie einmal glaubt, dass es sich nicht mehr bewegt, öffnet sie den Schal, die Decke und das Tuch, in welche das Kind eingewickelt ist. Sie sieht den ausgemergelten, winzigen Körper, sieht das Herz zwischen den Rippen des Kindes schwach schlagen, sieht sein blasses Gesicht; glaubt das Kind näher dem Tod als dem Leben. Sie wickelt es wieder ein, nimmt den Korb, verlässt die Kammer und geht die Treppe hinunter.

Die Schwester Pförtnerin sitzt eingeknickt auf ihrem Stuhl.

«Geh, hol den Doktor, schnell, das Kind», schreckt die Oberin die Pförtnerin aus ihrem Schlummer. «Sag ihm, das Kind ist hungrig, es braucht die Amme», sagt sie laut und mit ungewohnter Sorge in der Stimme. Die Schwester möchte einen Blick in den Korb werfen. Die Oberin zieht ihn weg, sagt: «Geh! Dafür ist keine Zeit.» Die Schwester wirft sich ihren Umhang über und eilt in die kalte Nacht hinaus.

Stadtarzt Carl Bossard kommt von einer Entbindung nach Hause. Seine Frau Berta steht im Flur, als er zur Türe hereinkommt. Sie hat auf ihn gewartet. Sie nimmt ihm den Mantel ab und schaut ihn fragend an. Der Doktor schüttelt den Kopf, sagt: «Die Mutter ist tot, der Vater verzweifelt, drei weitere Kinder verwaist.»

«Ein viertes», sagt seine Frau. «Der Pfarrer hat vor Kurzem angeklopft. Er hatte ein Kindlein auf dem Arm, hat gesagt, es sei im Pfarrhof abgegeben worden. Er ist mit ihm ins Waisenhaus gegangen, nachdem ich ihm gesagt hab, dass du bei einer Entbindung bist.»

Es klopft an der Tür. Die Frau des Doktors öffnet sie. Draussen steht die Schwester Pförtnerin vom Waisenhaus.

«Was führt Sie hierher, zu so später Stunde?», fragt die Frau des Doktors.

«Schnell, das Kind, das der Pfarrer ins Waisenhaus gebracht hat, es will sterben», sagt die Schwester. «Es ist hungrig, es braucht die Amme.»

Doktor Bossard nimmt den Mantel vom Arm seiner Frau, schaut sie aus müden Augen an und sagt: «Kannst du mir die schwangere Esther vom Schuhmacher ins Waisenhaus bringen?»

Der Doktor untersucht das Kind. Die Oberin und die Schwester Pförtnerin stehen neben ihm, schauen ihm zu, wie er das Herz des Kindes abhört, als es an der Tür klopft. Die Frau des Doktors ist gekommen. Sie hat die Esther vom Schuhmacher mit sich. Ein dickes, hochschwangeres Mädchen. Nachdem der Doktor das Kind untersucht hat, reicht er es dem Mädchen und fragt: «Ist es dir recht?»

«Ja», sagt die Esther, «ich habe genug Milch. Es reicht auch für zwei.»

«Ein gefallenes Mädchen», sagt die Oberin zum Doktor, mit Blick auf das dicke Mädchen, das unter Anleitung seiner Frau versucht, das Kind zu stillen.

«Ein missbrauchtes, wenn Sie mich fragen», sagt der Doktor.

Die Frau des Doktors nimmt Esther das Kind ab, nachdem diese es gestillt hat, und legt es zurück in den Korb.

«Ich nehme es, wenn aus meinem nichts wird», sagt das Mädchen.

«Die Gefahr ist, dass trotz deiner gütigen Hilfe aus ihm nichts wird», sagt der Doktor.

«Darf ich es morgen wieder stillen?», fragt die Esther.

«Wenn es dich morgen noch braucht», sagt der Doktor. «Ich werde morgen in der Früh wiederkommen, die Esther mitbringen. Wenn wir das Kind so lange in Ihrer Obhut lassen dürfen?», fragt der Doktor die Oberin. «Ich möchte es lieber nicht mit in die kalte Nacht hinausnehmen, in dem Zustand, in dem es ist.» Die Oberin schaut den Doktor an. «Ich verantworte es», sagt der Doktor. Die Oberin nickt. Sie nimmt stumm den Korb und geht auf ihre Kammer.

«Es steht schlecht um das Kind», sagt Carl Bossard. «Hätte die Esther es gestern Abend nicht gestillt, es wäre diese Nacht schon gestorben. Und ich habe es heute Morgen nicht besser angetroffen als gestern Abend. Die Oberin kann es bestätigen. Sie hat die ganze Nacht wach gelegen, hat kein Auge zugetan bei dem Gedanken, das Kind könnte in ihrer Obhut sterben.»

Die Oberin nickt.

«Das heisst, wir sollten es besser gehen lassen», sagt Stadtschreiber Weiss. «Es ist eine Qual für das Kind, eine Belastung für die Oberin, die sonst schon mehr als genug zu tun hat. Das Waisenhaus ist völlig überbelegt wegen der schweren Grippe, die so mancher Mutter das Leben gekostet hat.»

«Und die Sozialkassen leerte», meint Kassier Brandenberg.

«Wegen dem Geld ein Leben aufzugeben, so fragil es auch sein mag, ist nicht recht», sagt der Pfarrer. «Auch nicht wegen der Müh, die es kostet, es am Leben zu erhalten, sei es auch nur für einen weiteren Tag, eine Nacht», meint er. «Dem Kind das Leben nicht zu vergönnen, wäre Sünde. Wenn der Herr es nicht will, wird er das Kind nicht leiden lassen.»

«Ihr habt gut reden, Herr Pfarrer», sagt Stadtschreiber Weiss. «Weshalb habt ihr es dann nicht selbst behalten, die Kosten und Mühen auf euch genommen? Es wurde schliesslich euch gegeben, es kommt aus eurem Haus.»

Der Pfarrer schluckt leer.

«Es ist nicht die Aufgabe eines Einzelnen, aber die der Gemeinschaft, dem Bedürftigen zu helfen, einen hilflosen Menschen zu tragen. Ein jeder trägt das Seine dazu bei.»

«Wir könnten es wenigstens versuchen», meint Landschreiber Stadlin. «Wegen der Kosten: Der Kanton könnte behilflich sein. Ich werde es gern an die Verantwortlichen herantragen. Das Kind könnte ja dann die Kosten, die es verursacht hat für seine Aufbringung, zurückbezahlen, wenn es ins arbeitsfähige Alter kommt. Wir könnten es dann ja zu den Bauern in den Gemeinden geben.»

«Und du übernimmst die Verantwortung, wenn es dann doch stirbt», sagt Stadtschreiber Weiss, «wenn es vielleicht Schaden nimmt, blöd wird, zum Arbeiten gar nicht zu gebrauchen ist, unnütz ist für die Gesellschaft, ihr weiterhin auf der Tasche liegt. Du übernimmst also die Vormundschaft für das Kind.»

«Niemand ist unnütz», sagt der Pfarrer, «der liebe Gott lässt kein unnützes Leben zu.»

«Die Gemeinschaft übernimmt die Verantwortung.», sagt Landschreiber Stadlin, «Das ist ja das Wesen einer Gemeinschaft, dass sie Bürden gemeinsam trägt. Ich übernehme gern das Administrative, schaue, dass alles seine Richtigkeit hat, begleite ihn bei Behördengängen, zu den Bauern, wenn es nötig ist.»

«Und der Herr Pfarrer übernimmt gern die Patenschaft, nehme ich an, wo er sich so für das Kind einsetzt», bringt sich Stadtpräsident Weber ein, der bisher geschwiegen hat.

«Und wo soll das Kind bleiben?», öffnet die Oberin zum ersten Mal ihren Mund. «Das Waisenhaus ist voll, kein Platz ist mehr frei; die Kleinsten schlafen zu zweit in einem Bett, und so ein Kind wie er braucht besondere Aufmerksamkeit und Sorge.»

«Es war in guten Händen bei Ihnen, liebe Frau, wie ich gehört habe», sagt Stadtpräsident Weber. «Sie haben grosse Barmherzigkeit gezeigt, als Sie es bei sich aufgenommen haben, wahre Mutterliebe, als Sie sich persönlich um sein Wohl gekümmert haben, sich um es sorgten. Es wird sicher für eine Nacht und vielleicht auch länger in Ihrer Kammer bleiben können, so lange, bis es über den Berg ist, ein Platz im Schlafsaal frei wird für es. Wir sollten zu einem Ende kommen, einem vorläufigen», meint er. «Es stehen noch andere wichtige Sachen an. Können wir so verbleiben?» Der Stadtpräsident schaut in die Runde. Alle nicken, selbst der Stadtschreiber, nachdem er dem fordernden Blick des Stadtpräsidenten und dem der anderen Anwesenden nicht mehr standhalten kann. «Ist da noch etwas, was wir vergessen haben?», fragt der Stadtpräsident.

«Der Name des Kindes», sagt der Landschreiber. «Unter welchem Namen sollen wir es registrieren?»

«Oswald» – «Moses», kommt es gleichzeitig aus dem Mund des Stadtschreibers und der Oberin.

«Er wurde gegenüber der St.-Oswald-Kirche abgegeben», antwortet der Stadtschreiber auf die Frage des Stadtpräsidenten, wie er gerade auf diesen Namen komme.

«Weshalb Moses?», möchte dieser von der Oberin wissen.

«Ich fand für das Kind kein anderes Plätzchen als in einem der Körbe, welche wir für die Ernte benutzen. Ich dachte, als ich es darin liegen sah, an Moses.»

«Gut», sagt der Stadtpräsident, «Moses Oswald dann, so hat es sogar einen Vor- und einen Nachnamen, oder haben Sie einen anderen Vorschlag, Herr Pfarrer? Sie sind ja quasi der Vater des Kindes, jetzt Pate, wenn es Ihnen recht ist. Es wurde ja bei Ihnen abgegeben, Sie haben es angenommen.»

«Es wurde von der Annemarie, der Magd, entgegengenommen», sagt der Pfarrer verlegen. «Moses ist schon recht», meint er, «es ist ja jetzt der Frau Oberin ihres.»

«Somit können wir die Sitzung schliessen», sagt der Stadtpräsident. «Ach ja: Getauft werden sollte das Kind natürlich auch noch.»

Das Mädchen tritt in den Flur, als es den Pfarrer nach Hause kommen hört. Es schaut ihn fragend an.

«Das Kind darf im Waisenhaus bleiben», sagt der Pfarrer, «in der Obhut der Oberin.»

«Wir hätten ihn behalten sollen», sagt das Mädchen.

«Es ist dort besser aufgehoben», erwidert der Pfarrer.

«Wie geht es ihm?», fragt das Mädchen.

«Nicht gut, laut dem Doktor», sagt der Pfarrer. «Es bekommt die Brust vom Schuhmacher seiner Esther. Hoffen wir, es bekommt dem Kind. Alles, was wir für es tun können, ist beten.»

«Wir sollten ihn taufen, bevor es zu spät ist», meint das Mädchen, «ihm einen Namen geben.»

«Es ist von den Behörden als Moses Oswald registriert worden», sagt der Pfarrer. «Alles Weitere ist jetzt an der Oberin zu entscheiden. Es wurde ihr von den Stadt- und Kantonsbehörden aufgetragen. Sie ist jetzt seine Mutter, der Herr im Himmel sein Vater, das Waisenhaus seine Familie.»

«Er ist Ihr Blut, er ist meines, hat Familie», sagt das Mädchen lauter als gewohnt.

«Ich bitte dich», sagt der Pfarrer, «behalte das für dich. Ich möchte dich gern behalten.»

«Ich hätt ihn gern behalten», sagt das Mädchen. «Ich kann ihn nicht verleugnen.»

Der Gang zum Waisenhaus wird zum täglichen Spaziergang für das Mädchen. «Ich bin die Magd des Pfarrers, das Kind wurde bei uns abgegeben. Ich habs in Händen gehalten. Es kann mir nicht gleichgültig sein, was mit ihm geschieht», antwortet sie auf die Frage von des Schuhmachers Tochter ob ihrer Neugierde. Sie hatte die Esther jeweils in der Nähe des Waisenhauses abgepasst, um zu erfahren, wie es dem Kind geht.

«Es lebt, bekommt seine Milch», ist meist die knappe Antwort, die sie von Esther erhält.

«Ich bin vorsichtig. Ich weiss, was ich mach», entgegnet das Mädchen auf die Warnung des Pfarrers, nachdem dieser erfahren hat, dass sie sich weiterhin um das Kind sorgt, die Nähe zu ihm sucht. Sie lässt sich nicht davon abhalten, sich immer und immer wieder in der Umgebung des Waisenhauses aufzuhalten.

Dann ist die Esther auf einmal nicht mehr da. Wahrscheinlich mit ihrem Kind niedergekommen. Das Mädchen fragt sich, sorgt sich, wie das Kind wohl zu seiner Milch kommt, wie es ihm wohl geht. Es wagt sich näher an das Waisenhaus heran, streicht ums Haus herum, schaut zu den Fenstern hoch, fragt sich, hinter welchem sich das Kind wohl befindet und was es gerade macht. Eine junge Schwester arbeitet im Garten, spaltet Holz. Sie schaut in seine Richtung und spricht es an.

«Was suchst du hier, was streichst du ständig ums Haus herum? Wenn du einen Mann suchst, die sind da drüben, im Armenhaus, wir hier sind das Waisenhaus», sagt sie. «Ich könnte dir dort aber auch keinen empfehlen; nicht einmal zum Holzspalten kann man sie gebrauchen.»

«Ich such keinen Mann, ich such ein Kind», sagt das Mädchen. «Es wurde vor Wochen im Pfarrhof abgegeben, wo ich als Magd arbeite. Ich hab es im Arm gehalten, möcht wissen, wies ihm geht.»

«Der Moses», sagt die junge Schwester. «Hättest ihn besser behalten. Er wohnt in der Kammer der Oberin. Es ginge ihm sicher besser bei dir.»

«Ich hätt das Kind gern behalten», sagt das Mädchen. «Der Pfarrer wollt es nicht.»

«Ach, die Männer. Erst machen sie dir ein Kind, und dann wollen sie davon nichts mehr wissen», lacht die junge Schwester.

Das Mädchen errötet. An einem der Fenster erscheint eine Schwester und mahnt zur Arbeit.

«Wie heisst du?», fragt die junge Schwester, während sie weiterarbeitet, ein Scheit auf den Hackklotz stellt. «Komm wieder einmal her», sagt sie, «dann kann ich dir vielleicht mehr sagen. Aber sei vorsichtig, die sehen das nicht gern.»

«Ich heiss Annemarie», sagt das Mädchen.

«Und ich heiss Lydia», sagt die junge Schwester. «Ich mag dich.»

Annemarie lächelt sie verlegen an, nickt und geht.

Zwischen Annemarie und Lydia entwickelt sich eine Freundschaft. Annemarie bekommt auf diese Weise das Heranwachsen des Kindes mit, auch wenn die Informationen nur spärlich sind.