Abgesang - Beat Wild - E-Book

Abgesang E-Book

Beat Wild

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Beschreibung

Ein grössenwahnsinniger Chinesischer Professor, der dem Lieben Gott den Rang Ablaufen will. Ein vom Leben enttäuschter Hilfsarbeiter, der von einer besseren Welt Träumt. Ein Sturer abgehalfterter Rechtspolitiker und Unternehmer, der die Eigenständigkeit der Nation bedroht sieht. Sie stehen für die ersten zwei Teile dieser Trilogie. Ein arglistiger Zeitungsmacher und Rattenfänger, der die Lage, in die die Nation durch das Verhalten der drei Gerät, für sich auszunützen versteht, steht für den dritten Teil.

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Zu diesem Buch

Beat Wild, *1955, lernte die englische Sprache und schloss mit dem Cambridge Certificate of Proficiency in English ab. Er absolvierte einige Kurse an der Open University (UK), welche ihn zum Schreiben führten. Er lebt in Zug.

Seit 2017 arbeitet er als freier Autor. Sein Debut-Roman «Fateful Encounters» (in englischer Sprache) erschien 2014. 2017 erschien sein zweiter Roman «Erlösung» (in deutscher Sprache).

Inhaltsverzeichnis

Warten auf BAM

BAMs Rückkehr

BAMs Vermächtnis

Warten auf BAM

«Ein Herr Li möchte zu Ihnen, Herr Professor. Soll ich ihn hereinlassen?»

«Nein! Ich komme hinauf.»

«Es ist sehr kalt draussen.»

«Es ist kalt hier unten. Ich bin es gewohnt.»

Professor Wang legt seine Handflächen auf eine Glasplatte, schaut gleichzeitig in eine Kamera. Der Portier bestätigt die Identifikation, indem er es ihm gleichtut. Die Türe zur Schleuse geht auf. Die Prozedur wiederholt sich und die Türe nach draussen öffnet sich. Es ist früh am Morgen und noch dunkel, Herr Li nur eine schwarze Gestalt im unbeleuchteten Eingangsbereich. Herr Li nickt Professor Wang zu, nimmt die Hände aus den Manteltaschen und legt wortlos ein kleines Päckchen in die ausgestreckte Hand des Professors. Herr Li verbeugt sich, dreht sich um und geht.

Professor Wang geht ihm nach, sagt, als er ihn eingeholt hat: «Sie haben versagt.»

«Wir konnten nicht wissen, dass das Fleisch verdorben ist», sagt Herr Li, ohne sich umzudrehen.

«Ich will, dass Sie die Sache im Auge behalten. Ich will wissen, wenn sie eine unerwünschte Entwicklung nimmt», sagt Professor Wang. «Ich will wissen, was vor sich geht vor Ort. Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich.»

Herr Li dreht sich um, nickt leicht, macht eine Verbeugung und will gehen.

«Und bereiten Sie die Rückkehr des Hilfsarbeiters vor», sagt Professor Wang.

«Wäre es unter den momentanen Umständen nicht vielleicht besser, wenn wir den Hilfsarbeiter nicht zurückschicken würden, wenn wir warten würden, bis sich die Sache gelegt hat?», sagt Herr Li.

«Es ist nicht an Ihnen, mir zu sagen, was besser ist oder nicht», sagt Professor Wang. Er erschrickt ob der Lautstärke seiner eigenen Worte. Er sagt leiser, jedoch mit Nachdruck: «Ich lasse mir mein Projekt nicht kaputtmachen, von niemandem.»

«Entschuldigung», sagt Herr Li, «ich meine nur –»

«Sie haben auch nichts zu meinen», zischt Professor Wang. «Das steht Ihnen nicht zu. Einem Versager wie Ihnen schon gar nicht. Es gibt nur eine Meinung hier. Ich entscheide. Ich habe das Sagen. Ich allein», sagt er und schaut mit weit geöffneten Augen in den mondlosen Himmel. Er flüstert: «Nichts, aber auch gar nichts wird mich hindern.» Professor Wang geht und lässt Herrn Li in der Kälte stehen.

«Ich werde aus dir etwas ganz Besonderes machen», sagt Professor Wang mit Blick auf die kleine Pralinenschachtel in seinen Händen, eingepackt in goldenes Geschenkpapier. Er zieht zärtlich an der nachtblauen Samtschleife mit den rosa Kirschen darauf und meint: «Ein Geschenk – von mir an die Welt.»

Die Buchstaben B, A und M stehen in Schönschrift auf dem Glasschälchen geschrieben. Darin bewegt sich etwas. Professor Wang hüpft das Herz, seine Augen leuchten, er spürt, wie ein Gefühl von Allmacht über ihn kommt, wenn er durch das Elektronenmikroskop auf das Resultat seiner Bemühungen schaut. Er sieht abrupt vom Mikroskop auf und blickt entrückt zur Decke, als sehe er durch sie hindurch in den Sternenhimmel. Er sieht die Szene aus der abendländischen Geschichte vor seinem geistigen Auge und lacht laut auf. «Die Eva aus der Rippe von Adam», kommt es schallend aus seinem Mund, «die Eva aus der Rippe von Adam», immer und immer wieder. Er steigert sich in ein Hohngelächter, das dann jäh abbricht. Er nimmt das Glasschälchen unter dem Mikroskop hervor und hält es ins Licht. Er sagt, den Blick erneut nach oben gerichtet: «Es gibt nur einen Schöpfer, einen einzigen.» Professor Wang stellt das Schälchen mit dem BAM-Geschöpf in die Graviditätsmaschine und gibt mit einer Pipette einen Tropfen Nährlösung dazu.

***

Ein schwarzer Hartschalenkoffer mit chinesischen Schriftzeichen aufgedruckt liegt flach auf dem Boden. Etwas darin bewegt sich; dann springt der Deckel auf. Eine junge Frau mit maskulinen Gesichtszügen und hellblondem, fast weissem kurz geschnittenem Haar entsteigt dem Koffer. Sie trägt einen rosafarbenen Trainingsanzug und dazu passende hellblaue Turnschuhe; sie hat ein Schild in einer Plastikhülle um den Hals gehängt, mit einem Namen und einer Adresse darauf. Die junge Frau begibt sich mit zögernden Schritten zu einem der beiden Sessel am Fenster und setzt sich hin. Sie reibt sich das Gesicht und die Augen, spürt, wie langsam Leben Besitz von ihrem Körper ergreift. Sie schliesst ihre Augen und horcht den Vorgängen in ihrem Innern. Es ist, als würde etwas in ihr ihre Körperfunktionen in Gang setzen, als ginge jemand durch ihren Körper hindurch wie durch Räume und würde Fenster und Läden öffnen, Licht und frische Luft hereinlassen. Die junge Frau öffnet ihre Augen wieder. In ihrem Kopf wird es hell. Sie nimmt langsam ihre Umgebung wahr: zwei Betten, eines davon unbenutzt; ein Schreibtisch mit Stuhl; ein rundes Beistelltischchen, zwei Flaschen Mineralwasser darauf; zwei bequeme Sessel, auf einem der beiden sitzt sie; eine Garderobe mit Schrank und, an der Wand daneben, ein mannshoher Spiegel. Alle Möbel sind aus demselben hellen Holz. Ein Hotelzimmer, registriert ihr Gehirn. Sie nimmt eine der beiden Mineralwasserflaschen und schraubt den Deckel ab, führt sie zum Mund. Auf einem Etikett am Hals der Flasche steht in mehreren Sprachen: Willkommen im Parkhotel. Sie versteht es auf Deutsch, Französisch und Chinesisch, wundert sich. Sie leert die Flasche in einem Zug, greift zu der zweiten Flasche und leert auch diese. Obwohl sie keinen Durst verspürt.

Die junge Frau erhebt sich von dem Sessel und geht zu den Betten, legt sich auf das unbenutzte. Sie möchte für einen Moment innehalten, die ersten Eindrücke verarbeiten; die neue Umgebung in sich aufnehmen, sich ihrer bewusst werden, wie sie es jedes Mal tut, wenn sie an einem neuen Ort ankommt. Sie schliesst die Augen und öffnet die Ohren, lauscht den Geräuschen in ihrer Umgebung. Sie vernimmt keine; hört nur ihren eigenen Herzschlag. Sie kann die Stille nicht ertragen, sie ist sie nicht gewohnt. Sie steht auf und öffnet das Fenster, lauscht den Geräuschen draussen. Sie kann keine hören. Sie hört nichts: keinen Verkehrslärm, keinen Baulärm, kein Geschrei von Kindern, nicht einmal das Bellen eines Hundes oder Vogelgezwitscher. Sie schliesst das Fenster wieder, geht im Zimmer auf und ab, öffnet das Fenster erneut und setzt sich hin, horcht, ob nicht doch etwas zu hören ist; steht gleich wieder auf und geht zum Telefon. Sie will die Rezeption anrufen, möchte zumindest das Rufzeichen hören – irgendetwas. Sie hört nichts, wieder nur Stille. Die Leitung ist tot. Sie nimmt die Fernbedienung des Fernsehers vom Nachttischchen und drückt die Einstelltaste. Nichts. Nichts tut sich. Der Bildschirm bleibt schwarz, die Lautsprecher bleiben stumm, nichts ist zu hören.

Sie setzt sich wieder hin, trommelt mit den Fingern auf das Beistelltischchen. Schneller, immer schneller, energischer, immer energischer. Schliesslich nimmt sie die beiden Mineralwasserflaschen in die Hände und schlägt sie gegeneinander. Heftiger, immer heftiger, bis eine der beiden Flaschen zerbricht. Die junge Frau steht auf und geht im Zimmer umher, spricht mit sich selbst, laut. Sie erschrickt ob ihrer eigenen Stimme, beginnt leise zu weinen, fasst sich gleich wieder. Sie bleibt vor dem Spiegel neben der Garderobe stehen und hält eine Ansprache, schreit einen imaginären Zuhörer an, der offensichtlich ständig auf das Display seines Mobiltelefons schaut. «Ich verlange Ihre Aufmerksamkeit», schreit sie ihn an. «Ich will, dass Sie mir jetzt zuhören.» Sie gerät in Rage, sagt: «Ich bin … ich bin … ich bin …» Sie verstummt. Wer bin ich?, fragt sie sich. Sie sieht im Spiegel das Schild um ihren Hals, liest, in Spiegelschrift, den Namen und die Adresse darauf, wundert sich, dass es ihr keine Schwierigkeiten bereitet, in Spiegelschrift zu lesen. Der Vorname auf dem Schild ist der eines Mannes. Ein Irrtum, denkt sie. Sie schaut auf das Etikett, das am Hartschalenkoffer angebracht ist. Es steht kein Name darauf, nur eine Adresse. «Bushaltestelle Altstadt» ist alles, was sie liest.

Die junge Frau verlässt das Zimmer, will zur Rezeption gehen, um die Sache zu klären. Es ist niemand am Empfang. Auch befinden sich keine Gäste in der Lobby. Die wuchtigen schwarzen Ledersessel sind leer, keine Menschenseele weit und breit. Sie schlägt auf die Klingel auf dem Tresen und wartet, doch niemand kommt. Sie versucht es erneut, immer und immer wieder. Verzweifelt; vergeblich. Es scheint niemand da zu sein. Sie möchte ausrufen: «Was ist denn das für eine Bedienung!», doch ihre Stimme versagt. Die Worte bleiben ihr im Halse stecken. Es ist vergeblich, sagt eine Stimme in ihrem Innern. Da ist niemand, der dich hört.

Die junge Frau schaut sich um. Die Schiebetüre des Hoteleingangs steht weit offen. Sie tritt nach draussen. Es ist still, still wie in der Lobby, still wie in ihrem Zimmer. Selbst der Wind ist still. Kein Lüftchen geht. Nichts bewegt sich. Nicht einmal die Federn eines toten Vogels, der auf dem Vorplatz liegt, bewegen sich. Sie geht hin, sieht ihn an, sieht noch mehr tote Vögel herumliegen. «Was ist denn mit euch passiert?», hört sie sich fragen; fühlt Tränen in die Augen treten, unterdrückt sie, fängt sich gleich wieder. Sie geht zurück in die Lobby, setzt sich in einen der Sessel, versinkt im weichen Polster. Sie steht gleich wieder auf. Sie muss etwas tun; sie ist es nicht gewohnt, untätig zu sein. Die junge Frau schlägt wiederholt auf die Glocke am Empfangsschalter, um deren Klingelton zu hören. Auf dem Tresen der Bar neben dem Empfangsschalter steht ein Drahtkorb mit abgepackten Snacks. Sie bedient sich und setzt sich erneut in einen der Sessel. Sie reisst einige Packungen auf und isst Erdnüsse, Salzstangen und Chips durcheinander; geniesst die Geräusche, die dabei entstehen. Auf dem Beistelltisch vor ihr liegt eine Zeitung. Die Titelseite zeigt das Bild eines alten Mannes. Die Überschrift lautet: «Wird er zurückkommen?» Sie betrachtet für lange Zeit das Gesicht des alten Mannes. Es verwirrt sie; es erscheint ihr irgendwie vertraut. Ihr Unterbewusstsein sagt: Das bin ich. Ihr Verstand sagt: Nein, das kann nicht sein.

Die junge Frau steht auf und geht zur Bar, schaut in die verspiegelte Rückwand, blickt in das Gesicht einer jungen Frau, sieht das eines alten Mannes, des alten Mannes aus der Zeitung. «Nicht möglich», sagt sie. Ihr Unterbewusstsein antwortet: Doch. Sie schaut auf das Schild um ihren Hals, liest erneut den Namen, die Adresse, zerbricht sich den Kopf und bricht dann auf. Bevor sie das Hotel verlässt, langt sie noch einmal in den Drahtkorb auf dem Tresen der Bar und nimmt ein Paar Packungen mit Snacks heraus und steckt sie ein.

Die junge Frau läuft in der Stadt umher, erkundet die Umgebung, schaut sich nach Leben um, nach jemandem, der ihr vielleicht weiterhelfen kann, sie vielleicht sogar kennt. Sie findet niemanden. Nur leere Strassen, leere Parkplätze, leere Gebäude. Die einzigen Wesen, denen sie begegnet, sind tote Vögel. Der einzige Mensch, den sie sieht, ist sie selbst, widergespiegelt im Glas von Schaufenstern und im Bild des alten Mannes auf Aushängen an Kiosken, mit der Schlagzeile in fetten Lettern: «Wird er zurückkommen?» Es liest sich wie eine Drohung, die sich im Blick des alten Mannes wiederholt, ein Unheil ankündigt, das den Menschen hier bevorsteht.

Die junge Frau geht entlang eines Eisenbahnviadukts und gelangt so zum Bahnhof. Die riesige Glasfront des tortenstückförmigen Gebäudes kommt ihr bekannt vor. Sie glaubt, sie schon einmal gesehen zu haben, schon einmal hiergewesen zu sein. Auch der nahe Busbahnhof weckt Erinnerungen in ihr. Sie studiert die Streckenpläne der Busse, findet darauf die Bushaltestelle Altstadt, geschrieben wie auf dem Etikett am schwarzen Schalenkoffer, dem sie entstiegen war. Sie beschliesst, die Bushaltestelle aufzusuchen, um herauszufinden, was es mit ihr auf sich hat. Sie geht den See entlang Richtung Altstadt. Das Wasser ist still, der Himmel ist blau, die Sonne strahlt – sie vermag jedoch nicht ihr Gemüt zu erhellen, wenn sie die Quaibrücke überquert. Auf dem See dümpeln tote Enten und Schwäne, dazwischen Pakete in transparenten Plastiksäcken, mit orangefarbenen Fallschirmen daran befestigt. Die junge Frau wundert sich, beschliesst, sie sich später anzusehen, und geht weiter zur nächsten Bushaltestelle. Sie erschrickt. Unter der Sitzbank im Bushäuschen am Postplatz liegt, tot, ein grosser schwarzer Hund. Sie bleibt einen Moment lang stehen und betrachtet das leblose Tier, fragt sich, wie der Hund wohl hierhergekommen ist und wem er gehört hat. Dann geht sie weiter zur nächsten Bushaltestelle, ihrem Ziel.

«Altstadt» steht auf einer Tafel, die an einer Stange befestigt ist. Ein grosser Baum mit ausladenden Ästen, der auf einem gepflasterten Platz vor einer Zeile alter Häuser steht, ersetzt das Bushäuschen. Die Umgebung ist ihr unbekannt und doch glaubt sie zu spüren, dass der Ort Bedeutung für sie hat. Möglicherweise ist er sogar der Schlüssel zu ihrer Existenz; zumindest zu jener, seit sie den schwarzen Schalenkoffer verlassen, die Augen geöffnet und das Licht erblickt hat.

Die junge Frau setzt sich auf die Bank unter dem grossen Baum und schaut sich um, versucht Erinnerungen wachzurufen, indem sie die Umgebung in sich aufnimmt. Ein Plakat an einer Telefonkabine lenkt sie davon ab. Im Speziellen das Bild darauf: Es ist eine Kopie des Fotos von dem alten Mann aus der Zeitung und von den Aushängen an den Kiosken. «Warten auf BAM» steht gross von Hand darauf geschrieben. Die junge Frau steht auf und schaut sich das Plakat von Nahem an, betrachtet lange das Gesicht des alten Mannes, sieht ihr eigenes widergespiegelt im Glas der Telefonkabine. Unter dem Bild des alten Mannes stehen Namen von Leuten und die Uhrzeit, zu der sie offenbar hier auf ihn gewartet hatten. Jemand hat mit rotem Lippenstift «Wehe, er kommt zurück» auf das Glas der Telefonkabine geschrieben. Die junge Frau nimmt den Stift, der an einer Schnur am Plakat befestigt ist, und schreibt als letzten Eintrag «Bin zurück» auf das Plakat und sagt: «Bin zurück.» Erst zu sich selbst, dann lauter, für andere zu hören; dann schreit sie es in die Stadt hinaus. Sie wird wieder leiser, als sie die leere Strasse hinuntersieht, die sich den See entlang Richtung Alpen schlängelt.

In einiger Entfernung entdeckt sie ein grosses Gebäude. Auf einem Wegweiser steht «Casino-Theater» geschrieben. Es löst etwas in ihr aus und so geht sie hin. Die Flügel der Eingangstüre stehen weit offen. Sie betritt das Gebäude. Ein Gefühl überkommt sie, als würde sie erwartet. «Grosser Saal, kleiner Saal», steht zusammen mit Richtungspfeilen auf einer Hinweistafel. Sie begibt sich zum grossen Saal, läuft den Hauptgang durch die Sitzreihen hinunter, fühlt alle Blicke auf sich gerichtet. Sie geht die Stufen zur Bühne hoch, läuft zur Mitte und bleibt stehen, möchte etwas sagen, die Anwesenden begrüssen. Sie schaut in den Zuhörerraum, sagt nichts – es ist niemand da, kein Publikum, das ihr zuhört, zu ihr aufsieht. Ein Gefühl von Ohnmacht überkommt sie, sie fühlt sich betrogen und fängt an zu schluchzen. Die junge Frau bricht mit einem lauten Stöhnen zusammen; richtet sich umgehend wieder auf und schreit in den leeren Zuschauerraum: «Ich bin zurück, ich bin zurück, ich lasse mich nicht auf halten, von niemandem!» Sie steigt, den Kopf hoch und Entschlossenheit in ihrem Gesicht, von der Bühne hinunter und verlässt das Casino-Theater, geht zum Hotel zurück. Dort lässt sie sich in ihrem Zimmer auf das Bett fallen und vergräbt ihr Gesicht im Kissen. Nach kurzer Zeit dreht sie sich wieder um und starrt zur Decke, lässt die Geschehnisse Revue passieren. Dann steht sie auf und geht zur Lobby, setzt sich dort auf einen der Sessel und liest die Artikel zur Schlagzeile auf der Frontseite.

Langsam kommt ihre Erinnerung zurück; sie fühlt, je mehr sie über sich liest, dass sie nach Hause möchte. Sie schaut auf die Adresse auf dem Schild um ihren Hals und bricht erneut auf. Sie will ihr Zuhause aufsuchen, ihre Familie, die sie mag und auf sie wartet.

Ihr Zuhause gibt es nicht mehr, nichts ist mehr, und schon gar niemand, der auf sie wartet. Nur Ruinen und verbrannte Erde, soweit das Auge reicht.

Die junge Frau steht ungläubig an den Gestaden des Zürichsees und schaut zum anderen Ufer, zur Goldküste hinüber, wo all die Vermögenden wohnen – gewohnt hatten. Das Wasser ist ruhig. Es herrscht eine unheimliche Stille. Im See dümpeln tote Enten und Schwäne. Die junge Frau schaut sich nach Paketen um, in Plastikbeuteln, an orangefarbenen Fallschirmen befestigt. Sie sieht keine. Sie sieht stattdessen eine Wasserleiche im Schilf, glaubt, aus der Entfernung weitere Leichen zu sehen.

Kein Leben ist mehr hier, alles ist tot. Hier ist es noch hoffnungsloser, jemanden zu finden, als dort, von wo aus sie aufgebrochen war. Die junge Frau fängt an zu weinen. Zuerst leise, dann immer lauter, bis sie schliesslich in Hysterie ausbricht. Eine Stimme in ihr sagt: Es ist niemand da, der dich hört, dich hören kann. Sie fängt sich wieder, schämt sich für ihr Benehmen, kann sich nicht erinnern, in ihrem Leben jemals wirklich geweint zu haben. Sie war ein einziges Mal den Tränen nahe gewesen, erinnert sie sich, damals, als man sich gegen sie verschworen, sie ausgebootet hatte. Ich bin zurück. Ich bleibe, denkt sie trotzig. Ich lass mich nicht mehr vertreiben; ich bin nicht das erste Mal von ganz unten gekommen. Dieses Mal werde ich mich durchsetzen, an die Macht zurückkommen. Nichts und niemand wird mich mehr davon abhalten.