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Romantische Fantasy in Edinburgh: Abwechslungsreicher Einzelband der deutschen SPIEGEL-Bestsellerautorin Archivarin Fallon bewahrt die Magie vor denen, die sie nicht verstehen. Doch ein attraktiver Unbekannter bringt alles durcheinander. Für Fans von Sarah J. Maas. Die 19-jährige Fallon hat die Gabe, die Magie flüstern zu hören. Als Archivarin schützt sie Unwissende vor magischen Artefakten wie Tarotkarten. Doch dann trifft sie den geheimnisvollen Reed, der nicht ehrlich zu ihr ist, und ein magischer Gegenstand verschwindet aus ihrem Archiv. Reed und sie müssen die Einwohner Edinburghs retten. Doch kann Fallon Reed wirklich vertrauen? SPIEGEL-Bestsellerautorin Laura Kneidl ist vielseitig. New Adult, Fantasy für Jugendliche, High Fantasy: In jedem dieser Genres hat sie wahre Pageturner veröffentlicht, die ihr schnell eine riesige Fangemeinde bescherten. Ein abwechslungsreicher Pageturner, der die Genres New Adult und Romantic Fantasy streift. Laura Kneidl gelingt es in »Das Flüstern der Magie« hervorragend, eine kleine magische Welt innerhalb unserer Realität existieren zu lassen. Die Magie ist mächtig, und doch kann sie nicht jeder sehen. Die Autorin der »Berühre mich nicht«-Reihe und der High-Fantasy-Reihe »Die Krone der Dunkelheit« schafft hier einen New-Adult-Fantasy-Roman, der mit seiner gut erzählten Story überzeugt. »Stimmungsvolle Fantasy für Jugendliche« ― Westfalenpost
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Originalausgabe © Piper Verlag GmbH, München 2020Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagenturwww.ava-international.deCovergestaltung: Guter Punkt, MünchenCoverabbildung: Guter Punkt, Kim Hoang unter Verwendung von Motiven von Getty Images
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Cover & Impressum
Widmung
Playlist
– O –
DER NARR
– I –
DER MAGIER
– II –
DIE HOHEPRIESTERIN
– III –
DIE HERRSCHERIN
– IV –
DER HERRSCHER
– V –
DER HIEROPHANT
– VI –
DIE LIEBENDEN
– VII –
DER WAGEN
– VIII –
DIE GERECHTIGKEIT
– IX –
DER EREMIT
– X –
DAS RAD DES SCHICKSALS
– XI –
DIE KRAFT
– XII –
DER GEHÄNGTE
– XIII –
DER TOD
– XIV –
DIE MÄSSIGKEIT
– XV –
DER TEUFEL
– XVI –
DER TURM
– XVII –
DER STERN
– XVIII –
DER MOND
– XIX –
DIE SONNE
– XX –
DAS GERICHT
– XXI –
DIE WELT
EPILOG
DAS ENDE
Danksagung
Für alle, die an Magie glauben.
Cage the Elephant – Ain’t No Rest for the Wicked
Post Malone (feat. Ozzy Osbourne & Travis Scott) –
Take What You Want
The White Stripes – Icky Thump
Miley Cyrus (feat. French Montana) – FU
Watsky – Never Let It Die
Jaymes Young – Black Magic
Alison Wonderland – I Want U
The Dead Weather – Die by the Drop
Hozier – Angel of Small Death and the Codeine Scene
The White Stripes – Fell in Love with a Girl
Heaven Shall Burn – Endzeit
BANKS – Before I Ever Met You
Mourning Ritual (feat. Peter Dreimanis) – Bad Moon
Rising
Ich starrte den Türsteher des Banshee Labyrinth an und fragte mich, wen der stämmige Mann wohl vor sich stehen sah. War ich für ihn eine gestresste Studentin, die sich eine Auszeit gönnte? Ein junger Mann, auf der Suche nach seiner nächsten Eroberung? Oder war ich ein Tourist, der auf etwas Nervenkitzel im gruseligsten Pub der Stadt hoffte? Niemand sah in mir die Person, die ich wirklich war, aber gerade das machte den Reiz der Sache aus.
Ein Grinsen trat auf die Lippen des Türstehers, und er nickte in Richtung des Eingangs. »Du kannst rein.«
Ich bedankte mich und trat an ihm vorbei in das Innere des Pubs, das seinem Namen alle Ehre machte. Das Banshee war ein Labyrinth aus Gängen und Räumen, das es mir erleichterte, die Stammgäste von Neulingen zu unterscheiden. Während die Frischlinge nach dem Eingang erst einmal stehen blieben, um die schaurigen Bilder an den Wänden und die gewölbten Decken zu betrachten, und sich fragten, was zum Teufel ein Kino in einem Pub zu suchen hatte, waren die Stammgäste bereits auf dem Weg zu ihrer Lieblingsbar, holten sich eine Tüte Popcorn oder suchten den Billardraum auf.
Ich drängte mich an einem Paar vorbei, das mitten im Weg stand, und schlängelte mich durch die schmalen, dunklen Flure zu einer Bar. Das Banshee war jetzt gut besucht, da die Tage kürzer und die Nächte länger und kälter wurden.
Hinter der Bar entdeckte ich Leo. Er war nicht der beste Barkeeper der Welt und verstand Bestellungen öfter falsch als richtig. Mit seinen schwarzen Haaren, die ihm bis zur Hüfte reichten, seinem voll tätowierten Körper und dem Gesicht, das aus mehr Metall als Haut zu bestehen schien, war er jedoch genau der Typ, den die Gäste und vor allem Touristen im Banshee Labyrinth erwarteten. Sie machten Fotos mit ihm, und mit seiner charmanten Art lullte er sie ein, sodass sie gerne länger blieben als geplant.
»Hey, Leo!« Ich setzte mich an die Bar, die mit schummrigen blauen und roten Lichtern ausgeleuchtet war.
Leo blickte von dem Zapfhahn auf, um den herum er gerade gewischt hatte. Ein breites Lächeln, das seine dunkle Erscheinung aufhellte, trat auf seine Lippen, als er mich entdeckte. »Hallo, Hübscher!«
»Hey«, raunte ich noch einmal und beugte mich weiter vor, um ihn über die Musik hinweg besser verstehen zu können. Die Magie des Mantels tarnte ebenso meine Stimme wie mein Aussehen. »Was geht?«
»Nicht viel, immer derselbe Scheiß, du kennst das.« Ohne nach meiner Bestellung zu fragen, zapfte er ein Bier ab und stellte es vor mir auf die Bar. »Geht aufs Haus.«
»Danke!« Ich erwiderte Leos Lächeln und schob ein paar Münzen in eine Büchse für Trinkgeld, die an der Bar bereitstand. Seit ich das Banshee besuchte, lud mich Leo jedes Mal auf ein Bier ein, vermutlich in der Hoffnung, dass ich das Pub eines Tages gemeinsam mit ihm verlassen würde. Aber das würde nie passieren, denn dann würde meine Täuschung auffliegen.
Ich hatte einige Wochen und viele geschickte Fragen benötigt, um herauszufinden, wen Leo in mir sah. Anscheinend eine Mischung aus Channing Tatum und Hugh Jackman, groß und muskulös, mit einem ausgeprägten Knochenbau.
Auf die Distanz war diese Illusion perfekt, aber spätestens wenn ich meinen Mantel ablegte, würde Leo bemerken, dass ich nicht die Person war, für die er mich hielt. Das Einzige, was ich mit Channing und Hugh gemeinsam hatte, war mein braunes Haar, das mir strubblig vom Kopf abstand. Denn wieso mir die Mühe machen, es zu frisieren, wenn es ohnehin keiner sah, solange ich den Mantel trug?
Leo stützte sich mit den Ellenbogen auf der Bar ab. Sein Gesicht war meinem nun ziemlich nahe. »Wie läuft das Geschäft?«
Ich trank einen Schluck von meinem Bier. »Kann mich nicht beklagen«, antwortete ich, und zumindest das war keine Lüge. Das Geschäft lief tatsächlich gut, nur galt meine Haupttätigkeit nicht dem Verkauf antiquierter Gegenstände, wie der Barkeeper glaubte, sondern ich verdiente meinen Lebensunterhalt mit dem Stehlen, Sammeln und Archivieren magischer Objekte.
»Ich habe heute Morgen ein neues Messerset bekommen«, fuhr ich fort. Mit Messerset meinte ich einen magischen Dolch, und mit bekommen meinte ich gestohlen, aus der Haushaltsauflösung eines alten Mannes. Aber das waren Nebensächlichkeiten. »Die Klingen sind in einem guten Zustand und die Schnitzereien in den Griffen sehr gut erhalten.«
»Diese Messer haben es dir wirklich angetan.« Leo lachte und ließ seine gespaltene Zunge zwischen seinen Lippen hervorblitzen.
»Ja, solch besondere Stücke findet man nur selten.« Ich musste an die Blutspritzer denken, die ich am späten Nachmittag von den Fliesen meines Badezimmers geschrubbt hatte, nachdem ich mich mit dem Dolch selbst erstochen hatte, um ihn zu testen. Nicht meine beste Idee. Der Schmerz war unangenehm gewesen, um es milde auszudrücken, da es nie angenehm war, sich eine scharfe Klinge in den Körper zu rammen. Doch zu beobachten, wie sich die Wunde augenblicklich spurlos wieder schloss, war den Schmerz wert gewesen. Durch diesen Dolch beigefügte Verletzungen dauerten nicht an. Es war beeindruckend.
»Du bist ein merkwürdiger Kerl, Fallon.«
»Merkwürdig ist mein zweiter Vorname.« Ich zwinkerte Leo zu und nahm mein Bier von der Theke. »Ich dreh mal eine Runde. Bis später!«
»Bis später!«, echote Leo voller Vorfreude auf unser Wiedersehen. Vermutlich wäre es das Beste, wenn ich heute Abend nicht mehr an seine Bar zurückkäme. Denn mit der Häufigkeit unserer Gespräche wuchsen auch Leos Hoffnungen, dass etwas zwischen ihm und meinem Trugbild passieren könnte. Das Fairste wäre es wohl gewesen, den Mantel abzulegen und diesem Spiel ein Ende zu bereiten, aber ich bekam gerne Freibier und mochte die Leichtigkeit, die damit einherging, jemand anders zu sein. Ich konnte tun und lassen, was immer ich wollte, und frei Schnauze sagen, was ich dachte. Solange ich den Mantel trug, brachte niemand meine Worte mit meinem Gesicht in Verbindung, demnach hatten sie auch keine Konsequenzen, und ich konnte mich vollkommen frei bewegen.
Die alten Steinmauern vibrierten unter den wummernden Bässen. Ich schlängelte mich zwischen den anderen Gästen hindurch in Richtung Billardzimmer, denn in meiner Tasche steckten zwanzig Pfund, die darauf warteten, verdoppelt zu werden. Der Tisch stand inmitten des Raums, dessen niedrige Decke sich an den Seiten fast bis zum Boden wölbte. Links und rechts an der Wand gab es weitere Sitzmöglichkeiten, und im hinteren Teil des Zimmers blinkten die bunten Lichter eines Spielautomaten.
Wie erwartet waren alle Queues bereits vergeben. Ich stellte mich mit meinem Bier in eine schattige Ecke, da alle Plätze besetzt waren, und beobachtete das laufende Spiel.
Hin und wieder begrüßten mich andere Stammgäste. Manche nickten mir freundlich zu, andere schenkten mir ein anzügliches Grinsen oder bedachten mich mit einem skeptischen Blick. Ich wusste nie, wen sie in mir sahen, und es war immer ein Abenteuer, zu erleben, wie sie auf mich reagierten. Inzwischen war ich gut darin, zu improvisieren und mich auf meine vielen Rollen einzulassen. Manchmal kam es dabei auch zu komischen Zwischenfällen, wie vergangene Woche, als mich ein Student angeflirtet hatte und daraufhin von seiner weiblichen Begleitung gefragt wurde, seit wann er für das andere Team spielte. In ihren Augen war ich ein Mann und keine Frau gewesen. An Orten wie dem Banshee waren diese Verwechslungen meist einfach zu klären. Die Leute waren betrunken und leichtgläubig. Und wenn die Sache doch einmal aus dem Ruder lief, machte ich mich aus dem Staub.
Mein Bier war bereits leer, als schließlich ein Queue frei wurde, den ich mir umgehend unter den Nagel riss. Ich gesellte mich zu den anderen Spielern an den Tisch. Zwei Männer und eine Frau, vermutlich Touristen, den Eiswürfeln in ihren Gläsern nach zu urteilen. Kein Schotte, der etwas auf sich hielt, würde Whisky auf diese Weise verwässern.
»Lust, das Spiel etwas interessanter zu gestalten?« Ich zog einen Fünf-Pfund-Schein aus der Tasche meines Mantels und legte ihn auf den Pooltisch. Die Musik aus einer Jukebox wechselte, und meine drei Mitspieler sahen von mir zu dem Geld auf dem Tisch.
Einer der Männer zuckte mit den Schultern. »Wieso nicht?« Er legte etwas Geld dazu. Seine Haut hatte eine natürliche Bräune, und seinem Akzent nach zu urteilen, stammte er aus Süditalien. In meinem Laden gingen jeden Tag so viele Touristen ein und aus, dass Akzente-Erkennen zu meiner zweiten Superkraft geworden war. »Ich bin Gio. Das sind Tessa ...« Er deutete auf die Frau. »... und Mariano.«
Während Gio und mein wahres Ich, das sich hinter dem Mantel verbarg, auf Augenhöhe miteinander waren, überragte mich Mariano um gut einen Kopf. Er hatte schwarzes Haar und dunkelbraune Augen, mit denen er mich interessiert musterte. Sein Lächeln war charmant, und beinahe bereute ich es, meinen Mantel nicht ausgezogen zu haben. Natürlich könnte ich trotz allem mit ihm nach Hause gehen. Wenn seine Vorstellung von mir allerdings zu stark von der Wirklichkeit abwich, könnte dies zu einer sehr unangenehmen Situation werden.
»Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Fallon.«
»Was für ein ungewöhnlicher Name«, bemerkte Tessa, die Hüfte gegen den Tisch gelehnt. Sie wirkte wie jemand, mit dem ich befreundet sein könnte. Das blond gefärbte Haar fiel ihr in Wellen auf die Schultern. Sie trug ein altes Bandshirt, das am Kragen kunstvoll eingerissen war, und ihre Jeans war löchrig. Anders als ich hatte sie für diesen heruntergekommenen Look vermutlich bezahlt, aber das würde mich nicht davon abhalten, mich an ihrem Kleiderschrank zu vergreifen, wären wir Freundinnen.
»Das höre ich öfter.« Ich zuckte mit den Schultern und deutete auf das Geld. »Seid ihr dabei?«
»Logisch.« Tessa fischte etwas Kleingeld aus ihrer Hosentasche und warf es auf den Haufen.
Mariano schüttelte den Kopf. »Ich bin raus.«
»Spielverderber«, neckte Tessa ihn und streckte ihm die Zunge raus, die Mariano mit seinen Fingern einzufangen versuchte, woran er natürlich scheiterte.
»Armer Schlucker trifft es wohl besser.« Er lachte und warf mir einen nervösen Blick zu, als sorgte er sich, sein fehlendes Geld könnte ihn für mich unattraktiver machen. Ich lächelte ihn aufmunternd an, und er antwortete mit einem verschmitzten Grinsen. Sein Flirtversuch wurde allerdings jäh unterbrochen, als ein Fremder an den Tisch trat.
»Darf ich mitspielen?«
»Klar!« Tessas Antwort kam etwas zu schnell und laut, und Gio versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.
Ich sah von Mariano zu dem Neuankömmling, und mein eigenes Lachen blieb mir im Hals stecken. Der Kerl, der an uns herangetreten war, sah umwerfend aus. Er war nicht der Größte und schmal gebaut, besaß aber deutliche Muskeln, die sich unter seinem T-Shirt abzeichneten. Sein dunkles Haar, dessen Farbe ich im dämmrigen Licht des Banshee nicht definieren konnte, stand wirr in alle Richtungen ab. Nicht auf eine gestylte Art und Weise, sondern so, als hätte er tatsächlich keine Lust gehabt, nach einem Kamm zu greifen. Doch vor allem seine braunen Augen hielten meinen Blick gefangen. In ihnen lag eine Schwermut, die mich mit sich zog und in mir den Wunsch weckte, den Neuling zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Aber ich hatte die Regel, Gespräche oberflächlich zu lassen, wenn ich den Mantel trug, um keine Bindungen aufzubauen. Nur für Leo hatte ich diese gebrochen. Ob das ein gutes Ende nehmen würde, war noch nicht abzusehen.
»Der Einsatz sind fünf Pfund«, sagte ich und versuchte das Gesicht des Fremden einzuordnen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal hier gesehen zu haben. Und er war eindeutig kein Tourist, dafür war sein schottischer Akzent zu ausgeprägt.
»Ich bin dabei.« Er legte seinen Einsatz auf den Haufen und nahm Mariano den Queue ab, ohne den Blick von mir zu lassen. Ich war es gewohnt, angestarrt zu werden, wenn ich den Mantel trug, immerhin verwandelte er mich in eine Art Fantasie. Manchmal wurde ich zu einem bekannten Star, andere Male zu einer geliebten Person, was oft problematische Situationen hervorrief, denen ich entfliehen musste. Aber abends in einem Pub wurde ich meist einfach zu einem Objekt der Begierde. Doch etwas an diesem Fremden war anders. Sein Blick schien tiefer zu reichen, als könnte er nicht nur die schillernde Oberfläche des Meeres sehen, sondern auch die darunterliegende Dunkelheit.
»Wie heißt du?«, fragte Tessa.
Er blinzelte und sah von mir zu ihr. »Reed.«
»Ich bin Tessa ...« Sie stellte sich und ihre Freunde der Reihe nach erneut vor. Ich hörte ihnen nur mit halbem Ohr zu, denn meine Aufmerksamkeit ruhte noch immer auf Reed. Dieser Name passte zu ihm. Er war gewöhnlich, aber zugleich ausgefallen genug, um nicht einfach überhört zu werden.
»... und das ist Fallon«, schloss Tessa ihre Vorstellungsrunde ab. »Wir kennen uns bereits seit fünf Minuten.«
»Fünf Minuten?« Reed schmunzelte, wobei feine Grübchen auf seinen Wangen erschienen. »Das ruft geradezu nach einem Drink, um darauf anzustoßen.«
»Absolut«, pflichtete Tessa bei und grölte: »Marianoooo?«
Dieser hob die Hände in Ergebenheit. »Jaja, ich geh schon, aber ich bezahl das nicht!«
Gio fischte ein paar Geldscheine aus seiner Hosentasche. Tessa grinste. »Danke!«
Mariano nahm das Geld und warf mir noch ein Lächeln zu, bevor er aus dem Billardzimmer verschwand, um eine der Bars aufzusuchen. Gio brachte die Kugeln auf dem Tisch in Position, und ohne Absprache setzte Tessa zum ersten Schuss an. Die Bälle flogen wild über die Platte, und es brauchte keinen Detektiv, um herauszufinden, dass die beiden keine Ahnung von diesem Spiel hatten. Doch ich ließ sie machen, zumal es nicht in meinem Interesse lag, bereits die erste Runde zu gewinnen.
»Guter Anstoß«, log ich und schlenderte um den Tisch herum. Dabei war ich mir Reeds Blick, der mir folgte, nur allzu bewusst. Wie alt war ich in seinen Augen? Sah er in mir einen Mann oder eine Frau? Hatte ich dunkles Haar, oder war ich blond wie Tessa? Wer immer ich für ihn war, ich hatte den Eindruck, dass Reed ähnlich wie Mariano darauf hoffte, mich später mit nach Hause nehmen zu dürfen. Und auch wenn ich wusste, dass diese Begierde nicht mir und meiner eigenen Erscheinung galt, war es doch schön, daran erinnert zu werden, dass auf dieser Welt Vergnügen jenseits der Jagd nach magischen Gegenständen existierten.
Ich liebte meine Arbeit und die Magie und würde sie für nichts aufgeben wollen. Doch ich durfte mit niemandem über mein Archiv reden, und ein solches Geheimnis brachte Opfer mit sich. Ein Opfer war mein Sozialleben. Nächte wie diese gab es für mich nur noch selten, seit ich das Archiv meiner Tante übernommen hatte. Meistens verbrachte ich die Abende allein in meiner Wohnung, recherchierte magische Objekte, sortierte, katalogisierte oder entstaubte den Bestand, organisierte meine nächsten Diebeszüge oder lag einfach nur in meinem Bett, erschöpft von einem vorausgegangenen Auftrag.
Die Freunde aus meiner Schulzeit hatte ich in London, meiner Heimatstadt, zurücklassen müssen. Der Kontakt war kurz darauf abgebrochen, und jeder Versuch, neue Freundschaften zu schließen, war bisher im Sand verlaufen. Für ein paar Tage und Wochen waren neue Bekanntschaften leicht zu machen. Die Leute lachten über meine verschrobene Art, meine Unpünktlichkeit und meine wirren Ausreden, wenn ich mal wieder plötzlich verschwinden musste, um etwa eine antike Vase zu klauen, die es einem erlaubte, die Vergangenheit ihrer Besitzer zu sehen.
Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis meine vermeintlich neuen Freunde diese Ausreden leid wurden. Was zu Beginn amüsant und liebenswert gewesen war, wurde schnell lästig und egozentrisch, und die Menschen um mich herum bekamen das Gefühl, dass es Dinge gab, die mir wichtiger waren als sie. In gewisser Weise stimmte das. Zwar hatte ich mir diesen Job nicht ausgesucht, aber er war meine Bestimmung.
Plötzlich schnipste jemand mit den Fingern direkt vor meinem Gesicht. Ich fuhr zusammen und sah erschrocken auf. Reed stand vor mir, die Augenbrauen tief zusammengezogen, und musterte mich. »Alles klar bei dir?«
»Ich, ähm ...« Blinzelnd schaute ich mich im dunklen Gewölbe um und erkannte, dass auch Gio und Tessa mich beobachteten. Ich lachte unruhig und trat einen Schritt zur Seite, um Abstand zwischen Reed und mir zu schaffen und die Illusion des Mantels nicht zu gefährden.
»Ja, alles bestens. Ich musste nur an meine Arbeit denken«, antwortete ich halbwegs ehrlich, denn Lügen erzählte man am besten nahe an der Wahrheit. Falls die Familie Emrys ein Motto besaß, dann wohl dieses.
»Vergiss die Arbeit«, sagte Tessa mit einem Schnauben. Dabei spielte sie mit der Spitze ihres Queues. »Du bist dran.«
In meiner gedanklichen Abwesenheit hatte jemand vier Kugeln eingelocht, und mein Gefühl sagte mir, dass es nicht Gio gewesen war. Ein Blick zu dem schelmisch grinsenden Reed bestätigte meinen Verdacht.
Ich studierte die Kugeln auf dem Tisch. Wenn ich es geschickt anstellte, könnte ich die Zwei, die Sieben, die Zehn und womöglich auch die Elf mit einem Stoß einlochen. Aber ich wollte weder angeben noch gewinnen, also beförderte ich die weiße Kugel geradewegs gegen die Bande, ohne einen Treffer zu landen.
»Fuck!«, fluchte ich und schlug gegen den Tisch.
»Mach dir nichts draus, ich bin auch nicht sonderlich gut«, sagte Tessa, dennoch hüpfte sie schwungvoll von ihrem Hocker, um ihren nächsten Versuch zu wagen.
Wie von selbst wanderte mein Blick erneut zu Reed. Er war wie dieser nicht mordende Dolch. Ich hatte gewusst, dass es keine gute Idee war, mich selbst zu erstechen, doch trotz der Schmerzen hatte ich es getan. Und dieselbe Dummheit, die mich veranlasst hatte, mir eine Klinge in den Magen zu stoßen, trieb mich nun dazu, mich neben Reed zu stellen.
»Hast du schon einmal Billard gespielt?«, fragte er, die Hände auf seinem Queue abgestützt. Sie sahen rau und schwielig aus, als würde er oft hart mit ihnen arbeiten.
»Hin und wieder mit meinem Dad.«
Reed nickte langsam und gab einen brummenden Laut von sich, den ich nicht deuten konnte.
»Ich würde dich ja auch fragen, ob das dein erstes Mal ist, aber das ist es eindeutig nicht.«
»Vielleicht ist es nur Anfängerglück.«
»Niemals.«
»Stimmt, aber zumindest führe ich diese Leute nicht an der Nase herum.« Er wandte sich mir mit seinem ganzen Körper zu, ein wissendes Lächeln auf den Lippen. »Niemand, der so schlecht spielt wie du, hätte vorgeschlagen, um Geld zu wetten. Selbst Tessa hat eben eine Kugel gestreift. Du hast absichtlich gegen die Bande gespielt.«
In seiner Stimme schwang so viel Überzeugung mit, dass ich nicht widersprechen konnte. Er hatte mich durchschaut. Wieso wunderte mich das nicht? »Wirst du mich verraten?«
Reed zuckte leichthin mit den Schultern, blieb mir eine richtige Antwort aber schuldig, denn in diesem Moment rief Gio seinen Namen. Er war an der Reihe. Unbeirrt trat er an den Billardtisch heran und studierte die Lage, ehe er sich über den mit grünem Samt überzogenen Tisch beugte und seinen Stoß setzte. Unterlegt von dem Soundtrack aus der Jukebox, war kurz darauf das Klackern von aneinanderschlagendem Holz zu hören. Zwei Kugeln rollten in die Netze an den Ecken, und Tessa klatschte begeistert in die Hände, obwohl sie dabei war, fünf Pfund zu verlieren.
Reed versenkte noch eine weitere Kugel. Die darauf folgende verfehlte jedoch knapp ihr Ziel, und ich war wieder an der Reihe. Ich griff nach meinem Queue, den ich an die Wand gelehnt hatte, und obwohl der Raum praktisch leer war und es keinen Grund gab, sich aneinander vorbeizudrängeln, streifte Reed im Vorbeigehen meinen Arm.
»Viel Glück«, raunte er. Seine Worte vibrierten durch meinen Körper und lösten ein Kribbeln aus, wie ich es in den letzten Wochen und Monaten selten verspürt hatte. Doch unweigerlich fragte ich mich, ob das, was Reed bei der Berührung gefühlt hatte, mit seinem Bild von mir übereinstimmte. Natürlich kam ich öfter versehentlich mit Leuten in Kontakt. Die meisten runzelten die Stirn, drehten sich einmal nach mir um und liefen dann einfach weiter, weil der menschliche Verstand sich nicht gerne mit Dingen auseinandersetzte, die er nicht begreifen konnte.
Zögerlicher, als es für mich typisch war, sah ich über meine Schulter hinweg zu Reed. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte mich. Nicht auf eine fragende, verwunderte Art und Weise, als wäre er irritiert. Sondern auf eine neckische, provokante, als wäre ich für ihn die einzige ernst zu nehmende Gegnerin in dieser Runde. Herausfordernd hob er die Augenbrauen.
Nein, auf eine solche Provokation ließ ich mich nicht ein. Denn wenn ich dieses Spiel gewann, würden Gio und Tessa schneller mit ihrem Geld verschwinden, als ich Kugeln in die Netze stoßen konnte; und das wollte ich gewiss nicht.
Dennoch spielte ich etwas besser als in der ersten Runde, um nicht auch noch das Misstrauen der anderen zu wecken. Mit einer Kugel auf meinem Konto und nur noch sieben auf dem Tisch schlenderte ich zurück zu Reed. Es wäre wohl das Beste gewesen, mich von ihm fernzuhalten, aber ich konnte nicht. Er zog mich auf geradezu magische Weise an wie die silbern glänzende Klinge des Dolches.
»Wir könnten uns zusammentun«, sagte Reed aus dem Nichts heraus, ohne mich anzusehen. Er sprach so leise, dass ich seine Worte unter der kreischenden Musik von AC/DC kaum ausmachen konnte. »In der nächsten Runde spielen wir in Teams. Wir gegen sie.« Er nickte in Richtung von Tessa und Gio. »Den Gewinn teilen wir uns.«
»Nein.«
»Nein?« Reed runzelte die Stirn, als würde er nicht verstehen, wie ich sein großzügiges Angebot ablehnen konnte.
Ich beugte mich zu ihm, setzte mein charmantestes Lächeln auf und flüsterte mit einer Stimme so klebrig wie Honig: »Wieso sollte ich mir das Geld der beiden mit dir teilen, wenn ich doch weiß, dass ich das Geld von drei Leuten für mich allein haben kann?«
Reeds rechter Mundwinkel zuckte. »Du glaubst wirklich, du kannst gegen mich gewinnen?«
»Ich glaube es nicht nur. Ich weiß es.«
Ich war es gewohnt zu gewinnen oder so lange zu kämpfen, bis ich als Sieger hervorging. Zu verlieren konnte ich mir nicht erlauben, nicht in der Wirklichkeit und auch nicht im Spiel. Das Leben mancher Menschen hing von meinem Erfolg ab und meine eigene Zukunft von den achtzig Pfund, um die ich gerade spielte. Denn das Antiquariat, das dem magischen Archiv vorgeschoben war, hatte diesen Monat nicht genug Gewinn erzielt. Verlor ich das Geld, würde ich vor meinen Eltern zu Kreuze kriechen und sie um ein kleines Darlehen bitten müssen. Was ihnen nur Anlass dazu geben würde, ihre Entscheidung, mir das Archiv zu überlassen, infrage zu stellen.
Ursprünglich hatten sie nicht mir die Leitung übertragen wollen, sondern einem Archivar, der aktuell in Russland aktiv war. Doch zu meinem Glück hatte er sich geweigert, nach Schottland zu ziehen. Es lag in der Verantwortung der Archivare, dafür zu sorgen, die Gefahr durch magische Gegenstände einzudämmen. Wenn Menschen wegen eines Gehstocks, der sich in eine Schlange verwandelte, hysterisch wurden, sich versehentlich mit einer uralten Haarnadel vergifteten oder die Welt in eine Katastrophe stürzten, weil sie nicht ahnten, dass sie mit ihrer Taschenuhr die Zeit um vierundzwanzig Stunden zurückdrehen konnten, war dies die Schuld der Archivare.
Einige Familien, darunter auch die Emrys, waren vor Jahrhunderten von den Königshäusern dieser Welt ausgewählt und mit der Aufgabe bedacht worden, die Magie zu schützen. Inzwischen existierten die meisten dieser Königshäuser nicht mehr, aber gewiss würde es nicht ungestraft bleiben, wenn wir Hüter unseren Auftrag nicht erfüllten. Und davor hatten meine Eltern Angst, weshalb sie zuerst gezögert hatten, mir das Archiv anzuvertrauen. Ihrer Meinung nach war ich zu jung und unerfahren, um eines zu leiten, besonders in einer solch magischen Stadt wie Edinburgh.
Es gab Orte, an denen die Magie besonders präsent war. Niemand konnte diesen Umstand genau erklären. Dennoch gab es Dörfer, Städte und Regionen, in denen sich magische Gegenstände häuften. Edinburgh gehörte zu jenen magischen Städten, und das machte mein Archiv in der Candlemaker Row zu einem der wichtigsten auf der ganzen Welt.
Es war nicht einfach gewesen, meine Eltern von mir und meinen Fähigkeiten zu überzeugen, aber schließlich hatten sie eingewilligt, mir das Archiv für einen Monat als eine Art Test zu überlassen. Ich hatte nie in meinem Leben so wenig geschlafen wie in diesen dreißig Tagen, aber es hatte sich gelohnt. Meine Eltern waren zufrieden gewesen und hatten zugestimmt, es in meiner Obhut zu lassen. Aber obwohl ich mittlerweile seit über einem Jahr auf das Archiv aufpasste, ließen sie es sich nicht nehmen, mich im Auge zu behalten und mir jeden noch so kleinen Fehler immer und immer wieder vorzuwerfen. So wie Eltern das eben taten.
Mittlerweile waren ihre Kontrollbesuche auf ein Minimum zurückgegangen, aber ich war mir sicher, dass ein Minus meines Kontostandes sie sofort auf der Bildfläche erscheinen lassen würde, mit all den alten Zweifeln und Sorgen. Aus diesem Grund konnte ich es mir nicht leisten zu verlieren – und das tat ich auch nicht.
Mit einem selbstgefälligen Grinsen nahm ich die achtzig Pfund, die sich am Rand des Billardtisches gesammelt hatten, an mich und ließ sie in einer meiner Manteltaschen verschwinden. Ich war wie üblich vorgegangen und hatte mich Runde für Runde langsam gesteigert, um den Ehrgeiz meiner Mitspieler zu wecken, bis ich in der letzten Runde alles auf eine Karte gesetzt hatte.
»Wirklich gut gespielt«, sagte Mariano mit einem Lächeln, das halb Flirtversuch, halb Schadenfreude war. Vermutlich war er glücklich darüber, sich auf keine Wette eingelassen zu haben.
»Danke!«
Er beugte sich vor, den Kopf in meine Richtung geneigt. »Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster, aber hättest du vielleicht Lust, mir von dem Geld einen Drink auszugeben?«
Dem Klang seiner Stimme entnahm ich, dass er keineswegs nur auf ein kostenloses Getränk aus war, sondern auf etwas ganz anderes. Und ich musste zugeben, er sah gut aus mit seinen langen, dichten Wimpern und dem vollen dunklen Haar. Dennoch wich ich zurück. »Sorry, aber das Geld ist schon anderweitig verplant.«
Das Lächeln rutschte von Marianos Gesicht.
»Sorry«, wiederholte ich noch einmal, obwohl es mir nicht wirklich leidtat. Er hatte gefragt, ich hatte Nein gesagt. So lief es nun mal, und damit musste er klarkommen. Dennoch verabschiedeten sich die drei Freunde kurz darauf und verließen mit leicht getrübter Stimmung das Banshee. Kurz meldete sich mein schlechtes Gewissen, sie um ihr verbliebenes Urlaubsgeld gebracht zu haben, aber immerhin besaßen sie so etwas überhaupt. Davon konnte ich nur träumen. Magische Archive brachten keinen Cent ein, und auch Antiquariate waren nur in Maßen rentabel. Warum das Archiv in Edinburgh ausgerechnet als Antiquariat getarnt war und nicht als Café oder Boutique – keine Ahnung.
»Armer Kerl«, säuselte Reed. Er stand mir gegenüber, die Arme auf der Tischplatte abgestützt, und beobachtete mich. Dabei umspielte noch immer ein wissendes Lächeln seine Lippen, als kannte er ein Geheimnis, das sich mir nicht zeigte.
»Er ist ein großer Junge, er kommt damit klar.«
Reed schnaubte und verlagerte sein Gewicht, wobei sich sein T-Shirt über seiner Brust spannte. Nicht weil er besonders breit oder muskulös gebaut war. Das Shirt wirkte schlichtweg zu eng, und dem verwaschenen Stoff nach zu urteilen, war es bereits einige Jahre in seinem Besitz. »Weißt du schon, was du dir von deinem neu gewonnenen Vermögen kaufen wirst?«
Ich nippte an meinem Bier. »Ich glaube, ich kaufe mir eine Jacht.«
Er rümpfte die Nase, als hätte er etwas Ekliges gerochen.
Ich zog die Brauen nach oben. »Nicht gut?«
»Nah. Ich bin eher der Privatjet-Typ.«
Ich schmunzelte. »Das habe ich mir gleich gedacht.«
Sein Lächeln wurde breiter, und er senkte den Kopf, jedoch nur für den Moment eines Herzschlages, ehe er mich wieder ansah. »Nein, ernsthaft«, fragte er, »was wirst du dir von dem Geld kaufen?«
»Langweilige Dinge«, antwortete ich und öffnete den obersten Knopf meines Mantels, denn allmählich wurde es ziemlich warm im Banshee, mit all den angeheiterten und tanzenden Menschen. Reed folgte der Bewegung mit seinem Blick, als würde er etwas sehen, was ihm gefiel.
»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, ob dir in dem Mantel nicht langsam zu warm wird«, sagte er wie aus heiterem Himmel.
Ich stockte in der Bewegung. Irritiert blinzelte ich Reed an. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe mich gefragt, ob dir heiß ist.« Er deutete an meinem Körper auf und ab. »Wir können den Mantel gerne in die Garderobe bringen. Es sei denn, du möchtest gehen.«
»Ich ...« Fassungslos starrte ich Reed an. Mir war deutlich bewusst, dass mein Mund offen stand, denn mir fehlten die Worte. Mein Mantel? Er konnte ihn unmöglich sehen.
Er konnte mich unmöglich sehen.
Ich war von der Magie des Mantels geschützt. Und die Magie machte keine Fehler. Sie war perfekt. Ich verstand nicht genau, wie sie funktionierte – niemand tat das. Denn auch wenn sie an Gegenstände gebunden war, war sie selbst kein Ding, sondern etwas Lebendiges, das sich wandelte und anpasste, an Orte, an Menschen, an Zeiten, an Gedanken – an alles!
»Welche Farbe hat mein Mantel?« Meine Stimme hatte einen leicht panischen, geradezu hysterischen Klang angenommen.
Verwirrt neigte Reed den Kopf und musterte mich, als würde er sich darum sorgen, dass mir das Bier zu Kopf stieg, aber ich war vollkommen nüchtern. »Ähm. Rot?«
»Was für ein Rot?«
Er kniff die Augen zusammen und beugte sich über den Tisch hinweg zu mir. Mein Herz schlug schneller, und mein Blick war auf Reeds Lippen geheftet, während ich auf seine Antwort wartete. Eingehend betrachtete er mich im bunten Licht des Banshee, und in mir wuchs der Drang zurückzuweichen.
Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Dieser Mantel war dazu geschaffen, die Realität zu verbergen, dennoch sah Reed mich, wie ich war. Oder nicht? Vielleicht schätzte ich die Situation falsch ein, und die Magie zeigte ihm rein zufällig ebenfalls ein Mädchen im roten Mantel. Es könnte ein Missverständnis sein ...
Doch die Art, wie Reed mich angesehen hatte, hatte in mir vom ersten Moment an ein eigenartiges Gefühl ausgelöst. Wie war das möglich? Die einzige Erklärung, die sich mir bot, war die, dass er seinerseits einen magischen Gegenstand besaß, der es ihm erlaubte, die Realität zu sehen. Allerdings erklang aus seiner Richtung nicht das vertraute Flüstern der Magie, das nur Archivare hörten.
»Traube?«, sagte Reed schließlich und lehnte sich zurück. »Er hat die Farbe von roten Trauben, einen V-Ausschnitt und goldene Knöpfe. Außerdem ist deine Hose schwarz, dein Haar braun, deine Augen sind irgendwie gräulich, und du hast eine wirklich süße Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen.« Ein gefälliger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Habe ich den Test bestanden?«
Ja?
Nein?
Vielleicht?
Scheiße!
Mir sank das Herz. Wenn Reed mich ansah, erkannte er wirklich mich. Mich. Die Magie des Mantels wirkte bei ihm nicht. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Keine Lektion meiner Eltern hatte mich auf einen Moment wie diesen vorbereitet.
Es gab neben den Archivaren noch eine kleine Gruppe Eingeweihter, Menschen, welche in die Familien eingeheiratet hatten und von der Magie wussten. Die Entscheidung darüber, wer zu einem Eingeweihten werden durfte, wurde nicht leichtfertig und gemeinsam von den Oberhäuptern der Archivarenfamilien getroffen. Doch Reed war gewiss kein Eingeweihter, davon wüsste ich. Unsere Gruppierung war so klein und vernetzt, dass jeder jeden kannte. Demnach sollte es ihm nicht möglich sein, durch die Magie hindurchzusehen.
Doch er konnte es, und ich war wie gelähmt. Sollte ich ihn mit ins Archiv nehmen? Sollte ich Jess informieren? Oder meine Eltern anrufen?
Nein, auf keinen Fall. Sie würden mir nur eine Standpauke darüber halten, dass magische Gegenstände kein Spielzeug waren und ich den Mantel überhaupt nicht hätte tragen, geschweige denn aus dem Archiv hätte entwenden dürfen. Vermutlich würden sie diesen Zwischenfall nur als Anlass sehen, mir das Archiv wegzunehmen. Das konnten sie, ohne großes Aufsehen zu erregen, denn meine Eltern waren seit drei Jahren die Oberhäupter der Familie Emrys.
Meist leiteten wir die Archive bis zu unserem Tod, aber manchmal führten besondere Umstände oder ein verantwortungsloses Verhalten dazu, dass man seiner Position frühzeitig enthoben wurde. Und unter keinen Umständen wollte ich dieser kleinen, teils verhöhnten Gruppe angehören. Das Archiv bedeutete mir alles, und das wiederum bedeutete, dass meine Eltern niemals von Reed, unserem Treffen und dieser Sache erfahren durften.
»Fallon? Ist ...«
»Ich muss los«, fiel ich Reed ins Wort. Ich stürzte den Rest meines lauwarmen Biers runter. Es schmeckte bitter und abgestanden und hinterließ einen fahlen Geschmack auf meiner Zunge. Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf fragte mich, ob ich nicht womöglich überreagierte, aber die Antwort war ein klares Nein. Ich konnte nicht zulassen, dass eine zufällige Begegnung in einem Pub meine Zukunft als Archivarin in Gefahr brachte. Reed ohne eine Erklärung stehen zu lassen, war vielleicht nicht nett, aber wir kannten uns kaum, und vermutlich würde er mich bis morgen bereits wieder vergessen haben.
Mit schnellen Schritten verließ ich das Banshee und ließ die wummernden Bässe von Post Malones Take What You Want hinter mir, während ich aufwärts zur Royal Mile eilte.
Ich vergrub die Hände tief in den Taschen meines Mantels und fühlte die zusammengeknüllten Geldscheine meines Gewinns. Vielleicht war die Begegnung mit Reed die Strafe für meinen zu großen Stolz. Wäre ich über meinen Schatten gesprungen und hätte meine Eltern um etwas Geld gebeten, wäre ich ihm nie begegnet und könnte weiter in Unwissenheit leben.
Denn selbst wenn ich Reed vor den anderen Archivaren verheimlichte, würde mir diese Begegnung einige schlaflose Nächte bereiten. Es war wie damals, als ich mir verbotenerweise die Ohrringe meiner Mum ausgeliehen und einen verloren hatte. Sie hatte nie erfahren, was mit dem Schmuckstück, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, geschehen war. Der Stecker war einfach weg gewesen, aber ich lebte bis heute mit der Schuld; und die Angst, es ihr zu sagen, war Teil meines Lebens.
Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir. An sich wäre das nichts Besonderes gewesen, aber diese Schritte klangen schnell und zielstrebig. Sie kamen näher, wurden lauter. Eine Vorahnung keimte in mir auf, noch ehe ich seine Stimme hörte.
»Fallon!«
Ich blieb nicht stehen.
»Fallon! Warte!«
Ich tat, als würde ich Reed nicht hören, aber bereits einen Moment später hatte er zu mir aufgeschlossen und passte sein Tempo meinem an. »Ist alles in Ordnung?«
Nein.
»Wenn ich etwas getan habe, um dich zu kränken, tut mir das leid. War es der Kommentar zu deiner Zahnlücke? Ich wollte dich damit nicht verärgern. Sie ist wirklich süß.«
Ich presste die Lippen fest aufeinander, den Blick starr geradeaus gerichtet. Wenn ich ihn nur lange genug ignorierte, würde er vielleicht von selbst verschwinden, und ich würde nicht Gefahr laufen, etwas auszuplaudern, was ich besser für mich behielt. Würde er von der Magie wissen, wenn ich ihn danach fragte?
»Komm schon, rede mit mir«, drängte Reed. Er beschleunigte seine Schritte, bis er vor mir lief. Doch anstatt mir den Weg zu verstellen, drehte er sich um und begann rückwärtszulaufen, sodass ich nicht anders konnte, als ihn anzusehen. Im klaren Licht der Straßenlaternen erkannte ich, dass seine Haare von einem dunklen Braun waren wie Zartbitterschokolade, und seine Augen heller, als es im bläulichen Licht des Banshee den Anschein gehabt hatte.
Wie Bernstein ...
Ich wurde langsamer. Wie sollte ich vor ihm davonrennen, wenn er mich so flehend ansah?
Ich blieb stehen. »Reed ...«
»Es spricht!«
Ich unterdrückte den Drang, mir trotz der frischen Nachtluft den Mantel zuzuknöpfen, um Reeds Aufmerksamkeit nicht erneut darauf zu lenken. »Mir geht es gut, ehrlich. Mir ist eben nur eingefallen, dass ich dringend nach Hause muss.«
Reed neigte den Kopf. »Soll ich dich begleiten?«
Bevor ich antworten konnte, klingelte plötzlich das Handy in meiner Manteltasche. Ich hätte in Erwägung gezogen, nicht dranzugehen, wäre nicht ausgerechnet der Ghostbusters-Theme-Song zu hören gewesen. Diesen Klingelton hatte ich nur einer einzigen Person zugeordnet. Einer Person, die ich nicht ignorieren sollte. Verdammt! Unter Reeds misstrauischem Blick nahm ich mein Handy hervor.
»Ja?«, bellte ich in das Gerät.
»Da hat aber jemand gute Laute.«
Ich stieß ein Seufzen aus. »Was willst du, Jess?«
Der Tonfall meiner Stimme schien Jess Warnung genug zu sein. Er verzichtete auf einen spitzen Kommentar und wurde unvermittelt ernst. »Es gibt ein Feuer in Bruntsfield, Merchiston Cres, Ecke Castle Road.«
»Dann ruf die Feuerwehr.«
»Es lässt sich nicht löschen«, erwiderte Jess trocken, der sich von meiner schnippischen Art nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Hört sich nach dem Ewigen Feuer an, das du bereits seit ein paar Wochen suchst. Was denkst du?«
»Mhh«, brummte ich und legte auf, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ein alter-neuer Auftrag hatte mir gerade noch gefehlt, aber ich konnte diesen Notruf nicht ignorieren. Sollte der Brand wirklich von dem Ewigen Feuer verursacht worden sein, musste ich dorthin, um die magische Kerze zu suchen.
»Wer war das?«, fragte Reed, der mich die ganze Zeit über beobachtet hatte.
»Ein Notfall«, antwortete ich und hob meinen Arm, um das Taxi heranzuwinken, das gerade an uns vorbeifuhr. Es bremste scharf und schwenkte an den Straßenrand. Ich stieg umgehend ein, um keine Zeit zu verlieren. Das Feuer war mir bereits zu oft durch die Lappen gegangen.
Ich wandte mich an den Fahrer: »Merchiston Cres, Ecke Castle Road ... Was soll das?« Mit aufgerissenen Augen starrte ich Reed an, der zu mir ins Taxi gestiegen war.
»Bruntsfield ist genau meine Richtung.«
»Du kannst doch nicht einfach zu Fremden ins Taxi steigen!«
»Wir sind keine Fremden, Fallon. Du hast zwei Urlauber bestohlen, und ich habe dichtgehalten. Das macht mich zu deinem Verbündeten.«
»Ich habe sie nicht bestohlen. Ich habe gewonnen.«
»Unter Vortäuschung falscher Tatsachen.«
»Über sein Können zu flunkern, ist nicht verboten«, erklärte ich, aber protestierte nicht weiter. Ich hatte weder Zeit noch Lust, mit Reed zu streiten. Es brauchte keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, dass Bruntsfield nicht seine Richtung war, aber die Feuerwehrmänner vor Ort würden ihn schon für mich loswerden.
»Merchiston Cres, Ecke Castle Road«, sagte ich noch einmal zu dem Taxifahrer. Blitzschnell fuhren wir die South Bridge entlang.
»Was für ein Notfall ist denn in Bruntsfield?«, fragte Reed wie selbstverständlich und ließ sich gemütlich tiefer in seinen Sitz sinken, als würden wir einen Ausflug unternehmen.
»Das geht dich ’nen Scheiß an.«
Reed schnalzte mit der Zunge. »Du bist ganz schön bissig.«
»Und du ganz schön nervtötend.«
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und warf einen Blick aus dem Fenster. Bunte Lichter rauschten an uns vorbei. »Jeder Mensch hat schlechte Eigenschaften.«
»Mhm, und manche mehr als andere.«
Reed hob die Augenbrauen. »Was soll das heißen?«
»Das kannst du dir wohl denken«, brummte ich mit schlagartig schlechterer Laune, die mir umgehend auf den Magen schlug. Ich hatte mich wirklich auf meinen freien Abend gefreut, und nun jagte eine Katastrophe die andere. Erst Reed, dann das Feuer. Was würde als Nächstes kommen?
»He, ich habe viele gute Eigenschaften.«
»Natürlich ...« Ich verdrehte die Augen.
»Wirklich, soll ich sie dir aufzählen?«
»Das kommt darauf an. Kann ich dich irgendwie davon abhalten?«, fragte ich mit wenig Hoffnung in der Stimme. Das Taxi verließ den Grassmarket und fuhr weiter in den Süden der Stadt. Die Straßen waren um diese Uhrzeit ziemlich leer, bald würden wir da sein.
»Ja, erzähl mir, was in Bruntsfield ist.«
Gewiss würde ich ihm nicht erzählen, was es mit Jess’ Anruf auf sich hatte. »Du gibst nie auf, oder?«
»Nein, das ist eine meiner guten Eigenschaften.«
Ich schnaubte. »Gut, und was sind die anderen?«
»Ich bin eigenständig und sehr tolerant«, antwortete Reed. »Außerdem auch spontan und neugierig, wobei das nicht alle gut finden. Mein Humor ist auch ziemlich okay, würde ich sagen, aber meine mit Abstand beste Eigenschaft: Ich weiß, wann ich die Klappe halten muss.«
Ich lachte laut auf. »Ist das dein Ernst?«
Er nickte, als wäre er sich der Ironie nicht bewusst. »Du hältst mich vielleicht für echt nervtötend, aber ich habe es geschafft, dass diese tiefe Sorgenfalte von deiner Stirn verschwindet. Hätte ich dich nicht zugeschwallt, wäre sie mit Sicherheit noch immer da.«
Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir, denn er hatte recht. Er hatte mich mit seiner Aufzählung sogar so weit abgelenkt, dass ich erst jetzt den Rauch bemerkte, der unmittelbar vor uns in den dunklen Nachthimmel emporstieg.
Ich versteifte mich, und das Taxi wurde langsamer, bis es schließlich vor einer Absperrung zum Stehen kam. Von hier aus hatte man einen klaren Blick auf das brennende Haus mit dem kleinen Garten. Es stand lichterloh in Flammen, und üppige Rauchschwaden stiegen empor. Feuerwehrmänner in braunen Schutzanzügen und leuchtend gelben Helmen hatten sich um das Haus herum positioniert und versuchten dem Feuer Einhalt zu gebieten – ohne Erfolg. Es waren auch Polizisten anwesend und mehrere Krankenwagen. Eine Traube Schaulustiger hatte sich vor der Absperrung versammelt, und ein paar Reporter waren herbeigeeilt, die es wohl kaum erwarten konnten, über das gewaltige, unlöschbare Feuer zu berichten.
Wortlos bezahlte ich den Fahrer, vom Anblick des Feuers zu eingenommen, um meinem eben gewonnenen Geld nachzutrauern. Umgehend stieg ich aus dem Taxi und lief in Richtung des brennenden Hauses. Sollte tatsächlich das Ewige Feuer verantwortlich sein, musste der Ursprung – die Kerze – in der Nähe sein, denn nur so konnte sie ihre Magie entfalten. Zumindest wenn ich den Informationen der Archivar-Datenbank vertraute.
Solange sich der Gegenstand, der das Feuer verursacht hatte, allerdings nicht in meinem Gewahrsam befand, musste ich vorsichtig und auf alles vorbereitet sein. Denn immer wieder tauchten neue magische Gegenstände auf, von denen die Archivare bis dato nichts gewusst hatten, oder alte zeigten neue Facetten ihrer Magie.
Ich zog meinen Mantel fester um mich, straffte die Schultern und hoffte inständig, dass sich diese Feuerwehrmänner nach Unterstützung sehnten. Dann würde ich durch die Magie des Mantels als eine Person erscheinen, die sie hinter die Absperrung ließen. Zielstrebig und mit festem Schritt lief ich darauf zu. Hitze schlug mir entgegen und trieb mir sogleich den Schweiß auf die Stirn.
Mein Herz pochte wild, und ich rechnete damit, jeden Augenblick aufgehalten zu werden. Doch keiner der Feuerwehrmänner oder Polizisten stoppte mich. In einer fließenden Bewegung tauchte ich unter der Absperrung hindurch, und ein Officer mit einem geretteten Huhn auf dem Arm nickte mir zufrieden zu. Ich unterdrückte ein Lächeln und beschleunigte meine Schritte, um Reed ein für alle Mal hinter mir zu lassen, den der Polizist am Absperrband aufgehalten hatte.
Ich lächelte zufrieden.
In der Nähe eines Feuerwehrwagens blieb ich stehen, um meine Gedanken zu sortieren. Der Rauch reizte meine Nase, und meine Augen begannen zu tränen. Ich blinzelte heftig und wünschte, ich hätte die venezianische Maske dabei, die in meinem Wohnzimmer an der Wand gegenüber dem Sofa hing. Sie war aus schwarzem Stoff gewebt und mit Perlen bestickt. Nicht sonderlich schön, aber ihre Magie erzeugte eine Blase um den eigenen Körper, sodass man nichts mehr riechen konnte. Praktisch, wenn man durch Abwasserkanäle kriechen musste, um irgendwo einzubrechen, oder in der Nähe eines Großbrandes nach einer Kerze suchen sollte.
Mein Blick glitt zu dem brennenden Haus. Die Flammen hatten sich bis in den Dachstuhl gefressen, und auch ein nahe stehender Baum hatte Feuer gefangen. Ich war keine Expertin, aber hier war nichts mehr zu retten.
Mittlerweile hatten auch die Feuerwehrmänner und -frauen ihre Löschversuche mit Wasser und Schaum aufgegeben. Fassungslos und kopfschüttelnd starrten sie in die Flammen. Ich näherte mich einem kleinen Grüppchen, das hitzig diskutierte, was zu tun sei. Schließlich konnten sie das Feuer nicht einfach toben lassen. Über das Knistern der Flammen hinweg hörte ich einzelne Gesprächsfetzen.
»... Tochter ...«
»... verschwunden ...«
»... Schlafzimmer im zweiten Stock ...«
»... zu gefährlich ...«
»Was machst du da?«
Ich zuckte zusammen und wirbelte zu Reed herum, der nur eine Armlänge von mir entfernt stand, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Wie um alles in der Welt hatte er es an den Polizisten vorbei geschafft?
»Wie ich im Taxi schon sagte: Das geht dich ’nen Scheiß an«, zischte ich, wobei der Rauch an meinen Atemwegen kratzte, und machte eine wegscheuchende Handbewegung. Ich wollte nicht fies sein, aber ich stand unter Strom. Ein brennendes Haus war eine Sache, ein Kind, das noch im Gebäude gefangen war, eine völlig andere. Es würde sterben, wenn ich die Kerze nicht rechtzeitig fand und das Ewige Feuer löschte.
Unbeeindruckt trat Reed neben mich. »Was ist das hier?«
Ich ignorierte seine Frage und setzte mich in Richtung des brennenden Hauses in Bewegung, aber eine Hand an meinem Oberarm hielt mich zurück. Mit festem Griff bohrte er die Finger durch den Stoff des Mantels.
»Lass mich los!«, zischte ich und riss an meinem Arm.
»Nicht bevor du mir sagst, was du vorhast«, verlangte Reed, und seine bernsteinfarbenen Augen fingen das Licht des Feuers auf. Es wirkte, als würden eigene kleine Flammen in ihnen brennen.
»Ist das nicht offensichtlich? Ich versuche zu helfen.«
Er runzelte die Stirn. »Wie?«
Ich versuchte, ihn wegzuschieben und mich aus seinem Griff zu befreien. »Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen.«
»Du wolltest gerade in ein brennendes Haus rennen.«
»Na und?«
»Das ist nicht ungefährlich.«
Das konnte ich nicht abstreiten. Ich biss mir auf die Unterlippe, denn diese Argumente würden nirgendwo hinführen. Ich seufzte. »Reed, es ist noch jemand im Haus, und ich kann helfen, vielleicht als Einzige. Bitte lass mich los!«
Sein Blick wanderte von mir zu den Flammen, und ein Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte, trat auf sein Gesicht. Dabei spannte er seinen Kiefer an, und eine Dunkelheit, ähnlich dem schwarzen Rauch, kroch über sein Gesicht und ließ seine Züge härter werden.
»Reed ...«
Er ließ mich los, jedoch nicht, um mich gehen zu lassen, sondern um selbst loszurennen.
Bevor ich begriff, was vor sich ging, stürmte er in Richtung des brennenden Hauses. Er hatte den lodernden Eingang bereits erreicht, als die Feuerwehrleute ihn bemerkten. Sie brüllten und riefen, er solle stehen bleiben. Doch Reed tat nichts dergleichen, sondern rannte geradewegs in das Flammeninferno.
Einen Herzschlag lang war ich wie erstarrt und konnte nur mit ansehen, wie Reed in den Flammen verschwand. Doch dann übernahmen Instinkt und Routine die Kontrolle. Ich befreite mich aus meiner Reglosigkeit und stürmte los. Ohne Plan, aber mit einem Ziel: die Kerze.
Sie musste in der Nähe sein. Ich musste sie nur finden und löschen, um das Feuer zu stoppen. Die schlagartige Enge in meiner Kehle hatte nichts mehr mit dem dichten Qualm zu tun. Ich hatte Reed loswerden wollen, aber nicht auf diese Weise. Was dachte sich dieser Idiot nur dabei, in ein brennendes Haus zu rennen?
Vermutlich hatte er überhaupt nicht nachgedacht, aber das änderte nichts daran, dass ich ihn retten musste. Anderenfalls klebte sein Blut auch an meinen Händen, denn er war nur meinetwegen überhaupt hier.
Auf der Rückseite des Hauses blickte ich mich panisch um und suchte nach einem Hinweis auf das Verbleiben der Kerze. Laut unserer Archivaren-Datenbank funktionierte sie nur in einem Radius von zweihundert Fuß, aber diese kamen mir im Moment wie fünf Meilen vor. Die Kerze könnte überall sein. Es gab zu viele Häuser. Zu viele Gärten. Zu viele Plätze, um sie zu verstecken. Schwer atmend nahm ich das Handy aus meiner Manteltasche und drückte die Schnellwahltaste.
Jess nahm sofort ab. »Hast du ...?«
»Wo könnte die Kerze sein?«, unterbrach ich ihn. »Es ist noch jemand im Haus. Wir müssen das Feuer sofort löschen!«
»Scheiße!«, fluchte Jess. Mit der freien Hand hielt ich mein anderes Ohr zu, um das Knistern der Flammen und die Rufe der Feuerwehrleute und Polizisten auszublenden, während am anderen Ende der Leitung hektisches Tippen zu hören war. »Vermutlich versteckt sich unser Brandstifter in der Nähe, um seine Kerze zu bewachen und das Chaos zu beobachten.«
»Das hilft mir rein gar nicht.«
»Immer mit der Ruhe, ich bin schon dabei.« Erneut war das Geräusch einer Tastatur zu hören. »Wenn ich das richtig sehe, gibt es drei mögliche Verstecke im Umkreis. Auf dem Grundstück rechts von dir müsste eine Art Pavillon stehen. Schräg davon befindet sich ein Schuppen, und in dem Garten links von dir, genau an der magischen Grenze, ist ein Baumhaus.«
»Danke!« Ich hatte keine Ahnung, woher Jess sich diese Infos holte, aber es war mir auch egal, solange sie stimmten. Ich blickte abermals zu dem brennenden Haus. Inmitten der Flammen glaubte ich eine Bewegung auszumachen, aber vermutlich war das nur meine Einbildung.
Nun musste ich mich entscheiden. Pavillon, Schuppen oder Baumhaus? Wo sollte ich hin? Ich fühlte mich hilflos wie beim russischen Roulette. Mir blieb keine Zeit. Ich musste abdrücken, aber wenn ich Pech hatte und eine falsche Entscheidung traf, würde vermutlich jemand sterben. Was hätte Tante Louisa in meiner Situation getan?
Ich hatte keine Ahnung, doch anders als ich wäre Louisa auch nicht allein hier gewesen. Vom Tag ihrer Hochzeit an hatte sie mit Murray einen Eingeweihten an ihrer Seite gehabt. Die beiden hätten sich aufteilen können, um ihre Chancen, die Kerze zu finden, zu verdoppeln. Doch ich war ganz auf mich allein gestellt. Pavillon? Schuppen? Oder Baumhaus?
Pavillon? Schuppen? Oder Baumhaus?
Pavillon? Schuppen? Oder Baumhaus?
Baumhaus.
Ich konnte mir nicht erlauben, länger über diese Entscheidung nachzudenken, geschweige denn, sie infrage zu stellen oder mir Sorgen darüber zu machen, was passieren würde, wenn ich den Brandstifter erst einmal fand. Oft verwendeten Menschen die Magie versehentlich aus Unwissenheit heraus und waren dankbar dafür, wenn man ihnen zu Hilfe eilte. Aber wer immer die Kerze entzündet hatte, hatte dies mit Absicht getan, denn er hatte schließlich den Wunsch gehegt, das Haus niederzubrennen. Diese Person war also bereit, über Leichen zu gehen, und das machte sie gefährlich. Darauf musste ich vorbereitet sein.
Ich tastete die Innentaschen meines Mantels nach dem Pfefferspray ab, das ich immer mit mir herumtrug, und packte es griffbereit in die Vordertasche.
Entschlossen straffte ich meine Schultern und rannte los. Das Blut rauschte in meinen Ohren, und das Feuer brannte in meinem Rücken. Ich stürmte auf das Grundstück, das Jess erwähnt hatte. Im Garten entdeckte ich das Baumhaus sofort. Es lag in etwa zwanzig Fuß Höhe im dichten Geäst eines Baumes. Licht flackerte in der kleinen Holzhütte, und die Strickleiter war nach oben gezogen.
Jackpot!
Ich erlaubte mir jedoch nicht, übermütig zu werden, dafür konnte noch zu viel schiefgehen. Ich wurde langsamer, bis ich wenige Fuß vom Baum entfernt war.
»Hallo?«, rief ich, um den Aushilfsmagier hervorzulocken. Ein Schatten bewegte sich durch das Baumhaus, und einen Augenblick später tauchte er in der offenen Tür auf. Im dämmrigen Licht der Laterne erkannte ich einen Mann mittleren Alters. Sein dunkles Haar war kurz geschoren, und in seinen rundlichen Gesichtszügen stand Verwunderung, als er mich erblickte. Er legte den Kopf schräg. »Abigail? Bist du das? Was ... was machst du hier?«
»Ich bin deinetwegen hier«, antwortete ich, ohne zu zögern, denn ich kannte dieses Spiel bereits. Dennoch umklammerte ich Halt suchend das Pfefferspray in meiner Tasche.
Fieberhaft blickte sich der Mann in der Dunkelheit um, als rechnete er damit, jeden Moment gestellt zu werden. Dies war nicht das Verhalten eines Unschuldigen. Innerlich klopfte ich mir selbst auf die Schulter, aber noch hielt ich das Ewige Feuer nicht in den Händen.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
Ich trat näher an den Baum heran und versuchte meine Sorge um Reed und das Kind niederzuringen, um mich besser konzentrieren zu können. Aber es war schwer, trotz Lärm und Hitze das Feuer zu vergessen.
Ende der Leseprobe