Das Flüstern der Pappeln - Julia von Rein-Hrubesch - E-Book

Das Flüstern der Pappeln E-Book

Julia von Rein-Hrubesch

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Beschreibung

Als Hennie nach dem Studium und einigen Jahren im Ausland an den elterlichen Hof zurückkehrt, fühlt sie sich verloren. Sie weiß nicht, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen soll. Bevor sie sich fragen kann, wonach sie auf der Suche ist, fallen ihr die Briefe in die Hände. Briefe, die ihre Großmutter geschrieben hatte und die nun zurückkommen, einer nach dem anderen, Woche um Woche. Hennie findet heraus, dass die Schriftstücke für einen Mann bestimmt waren. Und dieser Mann war nicht ihr Großvater ... Während die junge Frau glaubt, mehr und mehr einem Geheimnis auf der Spur zu sein, macht sie sich auf die Suche nach Antworten. Immer mehr taucht sie in die Vergangenheit ein; und während die ihre Türen für Hennie öffnet, muss sie sich fragen, ob diese sie auch in die Zukunft führen werden.

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Seitenzahl: 165

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Das Flüstern der Pappeln

Über die AutorinDas Flüstern der PappelnDanksagungQuellenverzeichnisWeitere Werke/EmpfehlungenImpressum

Über die Autorin

Julia von Rein-Hrubesch schreibt am liebsten Novellen und Kurzromane. Sie ist besessen von dem Wunsch, das Wichtigste zwischen de Zeilen zu verstecken, und verliebt in den Gedanken, dass der Leser in ihren Geschichten vor allem Überraschung findet, wie immer die auch aussehen mag. Die Autorin schreibt Entwicklungsromane, hat es bisher jedoch noch nicht erfolgreich geschafft, dem Genre Fantasy zu widerstehen. Sie veröffentlichte die Novelle Dein Paradies wächst und war Mitherausgeberin der Anthologie Sehnsuchtsfluchten.

In jeder ihrer Geschichten spielt die Natur eine wichtige Rolle. Landschaften sind wild und ungezähmt, rau und spröde. Oder aber besonnen und ruhig. Genau wie die Menschen.

Julia von Rein-Hrubesch schöpft nicht nur Ruhe und Entspannung aus der Natur, sondern auch Inspiration.

Informationen zu künftigen Projekten und Lesungen finden Sie unter:

https://juliaschreibtblog.wordpress.com

Julia von Rein-Hrubesch

Das Flüstern der Pappeln

KURZROMAN

Ich erwarte nichts von Dir. Das habe ich nie.

Es ist wie ein Rascheln von Papier, wie ein Flüstern. Als ob ich jeden einzelnen der Briefe dem Land entnehme, sie unter den Bäumen aufspüre, aus der Erde grabe. Und sie dann in meinen Händen entfalte.

Wie ein Hauch, der mich streift, ein Atemzug. Ein Streicheln, das mich liebkost. Trotzdem bin ich achtsam, ich muss es sein.

Es ist wie der Wind, der durch die Pappeln streift. Nur er kann ihnen ihr Lied entlocken. Diese einmaligen Töne.

Wäre es mein Lied, so würde ich ihm einen anderen Text hin- zufügen. In meinem Lied erzählte ich von dem Mädchen, das nach Hause zurückgekehrt ist und diese Briefe unter den Pappeln findet.

Doch so ist es nicht.

Es ist das Lied des Windes. Jetzt, da ich unter den Bäumen wandle und er mir durchs Haar streift, ist es auch meines. Ich habe es zu meinem gemacht.

Der Liedtext ist nicht stimmig. Ich habe ihn verändert.

Ich finde die Briefe, ja. Eher noch fanden sie zu mir. Doch ich hole sie nicht von tief unter der Erde hervor.

In Wirklichkeit ist es ein nüchterner Prozess. Das ist die Wirklichkeit immer: nüchtern.

Ich hole die Briefe aus einem Postfach. Sie sind nicht an mich gerichtet, das wusste ich von Anfang an, seit ich die ersten Zeilen gelesen hatte. Es spielt keine Rolle. Vielleicht will ich sie ja auch nicht hergeben. Ich will sie für mich. Denn sie entreißen der Wirklichkeit die starre Maske aus Nüchternheit und Logik. Sie entblößen das wahre Gesicht der Welt. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.

Ich gehe unter den Pappeln entlang, diesen hohen, majestätischen Bäumen. Hoch und schlank sind sie, doch voller Demut. Wie der Milan, der über die Ebenen streift. Auch er verneigt sich vor der Welt und der Schönheit, mit der sie gesegnet ist.

Vor dieser Schönheit bin ich geflüchtet. Die Leute im Ort sagen: »Sieh dir die Hennie an, sie ist klug und geht hinaus. Sie fährt nach Übersee, um Mediendesign zu studieren. Sieh sie dir an!« Die Wahrheit erzählt eine andere Geschichte, und auch dieses Mal ist sie nüchtern, während sie das tut.

Ich hatte Angst.

Ich bin geflohen vor dieser Schönheit, vor dieser unwiderruf- lichen Schönheit, die einfach und unbedingt ist und immer da. Sie verlangt einem nichts ab. Genau wie die Liebe meiner Eltern.

Diese Liebe kann einem himmelangst werden lassen. Sie liegt wie eine tonnenschwere Kette zwischen Mama und Papa und verlangt nichts. Manchmal stolpert man darüber.

Meistens bin ich das. Ich tue es noch immer, doch in dem Jahr, als ich mich entschied, den elterlichen Hof zu verlassen, tat ich es beinahe jeden Tag.

»Hennie!« Dieser Schrei fährt einem in die Knochen.

Ich bin ganz allein auf dem Grundstück, zumindest was den Geist angeht. Mama ist körperlich anwesend, doch sie arbeitet in der Werkstatt, dort sind ihre Sinne ausschließlich auf das Glas ausgerichtet. Und Großmutter ist dem Tod näher als dem Leben, ihr Geist schwebt daher frei umher und ist nicht als anwesend zu bezeichnen.

Ich kneife die Augen zusammen und suche die Kirchturmuhr, die jedoch viel zu weit entfernt ist. Der Pappelhof liegt verlassen. Die Nachbargrundstücke sind mit bloßem Auge zu erkennen, ebenso der Ortskern; Einsamkeit ist dennoch das richtige Wort.

Ich sehne mich nach der Einsamkeit. Gern hätte ich sie aufgesucht, im Norden der USA. Wyoming, das war mein Sehnsuchtsort. Das ist er noch immer. Vielleicht kriegt man so einen Sehnsuchtsort nicht mehr los, wenn man ihn einmal gefunden hat. Wenn man ihn einmal in sein Herz gelassen hat. Womöglich ist man ihm für immer ausgesetzt, für immer in ihm verloren.

Mir gefällt das, obwohl ich normalerweise mit für immer nicht viel anfangen kann.

Großmutter ersetzt die Kirchturmuhr. Das schafft ihr Geist noch. Oder vielleicht ist er rüber in den Ort geflogen und hat einen Blick auf die Spitze des Kirchturms geworfen.

Das Erste, was ich getan habe, als ich an den Hof zurückkehrte, war, meine Uhr abzustreifen. In New York braucht man ständig eine Uhr, man ist so abhängig von der Zeit, dass sonst nicht mehr viel von einem übrigbleibt.

Nun liegt sie in der Kommode neben meinem Bett, dieses hässliche Swarovski-Ding. Ich habe nicht vor, es je wieder anzulegen.

Die Pappeln lasse ich hinter mir, sie schweigen. Ich wünschte, es würde ein Wind aufkommen, damit sie ihre Geschichte erzählen. Der Hof ist ein riesiges Karree, auf der Seite zur Straße die breite Einfahrt und das Tor, links daneben das Wohnhaus, dahinter die Werkstatt.

Ich steuere auf das Haus zu, der Kies knirscht unter meinen Füßen. Ich weiß, dass Mama bis zum Abend in der Werkstatt beschäftigt sein wird. Papa ist draußen auf den Feldern. Ich schätze, dass er bereits mäht. Es war trocken die letzten Tage.

Im Haus hat sich nichts verändert. Nur der ungewohnte Geruch stört mich. Es riecht nach Krankenhaus. Vermutlich hat sich dieser Beigeschmack ins Haus geschlichen, als Großmutter aus der Klinik wiederkam.

Der Krankenhausgeruch legt sich über diesen herben Duft von Holz und Gras und ich habe Angst, dass er ihm den Atem nimmt. Über kurz oder lang wird das geschehen.

Wie lang, das vermag niemand zu sagen. Keiner wagt eine Prognose darüber, wann Großmutter sterben wird. Doch alle wissen, dass es bald sein sollte.

Ich bin nicht die Einzige, die so denkt, doch ich bin die Einzige, die es ausspricht. Alle haben sich entsetzt angeblickt. Die sollen nicht so tun, diese Heuchler.

Ich gehe die mächtige Treppe nach oben. Ein langer Flur führt durch das Geschoss zum Zimmer mit dem Krankenbett. Pflegebett heißt es. Was hat das mit Pflege zu tun, frage ich mich. Es ist ein Sterbebett. Oder ein Übergangsbett, wenn der Sarg das Totenbett ist. Oder der Platz unter der Erde.

Ich möchte einmal unter den Pappeln liegen.

Der Flur zieht sich beinahe endlos, ich nehme an, dass es im Winter ziemlich schaurig ist, ihn entlangzugehen. Allein das Ziel dieses Ganges ist schaurig. Im Winter ist es duster und still, man hört Dinge, die man sonst nicht hört in diesem riesigen Haus.

Doch jetzt im Frühsommer ist es hell, alle Fenster sind geöffnet, neben Desinfektionsmitteln und Exkrementen riecht es nach Erde. Vielleicht passt das auch zusammen.

Ich besuche Hedi jeden Tag um dieselbe Uhrzeit. Ein Uhr mittags. Heute war ich mit dem Essen später dran, Hedi hat meine Abwesenheit bemerkt und nach mir geschrien. Das ist äußerst selten. Dass sie überhaupt etwas mitbekommt, ebenfalls. Nur wenn ich ihr von den Briefen erzähle, scheint sie hellwach.

Ich halte die Luft an, als ich vor ihrem Zimmer stehe, dann drücke ich die Klinke herunter.

»Guten Tag, Oma. Wie ist das Befinden?«

Es ist schlecht. Scheiße ist es. Und als würde das Schicksal auf einem unbestreitbaren Indiz beharren, klebt die Scheiße überall an Hedis Körper. Ich habe keine Ahnung, wie sie das anstellt, doch ich weigere mich, das sauber zu machen. Meine Eltern haben entschieden, sie nach Hause zu holen, also sollen sie auch den Dreck wegmachen.

»Der Tod macht Dreck, was, Hedi?« Ich setze mich in den Korbsessel zu ihrer Rechten, so habe ich den Blick auf die Pappeln.

Die Großmutter nickt mit aufgerissenen Augen. Ich nenne das den Blick der Wahrheit. So schaut sie immer, wenn sie denkt, dass ich etwas Gutes gesagt habe. Ich freue mich darüber. Ich habe die Sprache vermisst. Die Formen, die sie annehmen kann; die Gebilde, die man aus Worten entstehen lassen kann.

»Ich putze das nicht weg, das weißt du. Warten wir auf den Pflegedienst.«

Sie tut nichts. Meine Großmutter ist die Einzige, die meine Einstellung zu akzeptieren scheint.

Ich blicke in ihre Augen aus Wasser. Sie sehen aus wie Seen in einer runzeligen Berglandschaft. Manchmal habe ich Angst, dass sie zerfallen. Einen besseren Begriff habe ich für das Wasser noch nicht gefunden.

Wenn ich vom Anblick meiner Großmutter zu viel habe, blicke ich aus dem Fenster auf die Pappeln.

Hedi sieht komisch aus, wie breitgelaufen. Flach und breit, als habe sie vor, die gesamte Fläche des Bettes auszufüllen.

Sie bewegt ruckartig die Hand, es ist immer der Zeigefinger, die anderen Finger folgen. Es sieht aus, als würde sie dirigieren. Eine zuckende Melodie. Eine Arie in Ekstase.

Ich ziehe den Brief aus meiner Tasche und lese ihn ihr vor. »Ich erwarte nichts von dir. Das habe ich nie.«

Wir lauschen den Worten und warten, wie sie nachhallen. Das tun sie immer. Auch wir beide tun jedes Mal dasselbe, meine Großmutter und ich. Wir sitzen da und lauschen und warten. Warten darauf, was die Worte mit uns anstellen werden.

Ganz am Anfang konnte ich das nicht. Es tat einfach zu sehr weh. Die ersten Briefe waren wortreicher. Das war schmerzhaft. Die Worte waren wie eine Spitzhacke, die sich zu den tiefsten Reichen der Seele durchgräbt. Und dort alles freilegt.

Natürlich wollte ich das nicht, ich will es noch immer nicht. Ich weigere mich, etwas freizulegen.

Doch die Neugier ist mächtig. Sie verdeckt den Schmerz. Der Schmerz ist ja nicht meiner, er gehört meiner Großmutter.

Während die Spitzhacke weiter gräbt, ihre tiefsten Kerne freilegt und sie in Seelenpein verwandelt, liegt sie in ihrer Scheiße und wartet auf den Tod.

Der Brief, den ich in den Händen halte, ist der achte. Ich habe ihn Hedi bereits gestern vorgelesen und den Tag davor. Vorgestern habe ich ihn aus der Stadt geholt, gleich nach dem Essen bin ich die Stufen hochgestiegen zu Hedis Zimmer.

Ich kann lediglich einmal in der Woche in die Stadt fahren, höchstens. Es gibt nur ein Auto auf dem Hof, und Mama und Papa wollen wissen, was ich zu tun habe, was ich brauche.

Ständig müssen sie alles wissen über mich. Mir ist klar, dass sie sich fragen, warum ich wieder da bin, das fragt sich jeder, einschließlich mir. Über das Gerede im Ort will ich gar nicht nachdenken.

Natürlich brauche ich nichts aus der Stadt. Auf dem Hof gibt es Lebensmittel und WLAN. Das ist alles, was ich benötige.

Doch jetzt sind da diese Briefe, die etwa einmal pro Woche kommen, sie werden an ein Postfach geschickt, von wo ich sie abhole. Als die Benachrichtigung kam, war ich wie so oft alleine auf dem Hof. Es waren ein kleiner Schlüssel und die Nummer des Postschließfaches, adressiert an H. Steumann. Die Adresse war korrekt, also dachte ich, es sei an mich gerichtet. Ich erwartete noch einige Schreiben aus New York und London, und meine Großmutter konnte ja wohl kaum gemeint sein. Also fuhr ich in die Stadt und holte den Brief ab.

»Was meinst du, Hedi?«, frage ich. Das tue ich oft. Dann sieht sie irgendwohin, zur Decke oder aus dem Fenster, wenn sie es schafft, den Kopf zu drehen.

Ich erwarte nichts von dir. Das habe ich nie.

Welch Aussage. Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Ich tue es langsam, damit meine Großmutter meinen Schritten folgen kann. Ihre Augen sind schnell, die letzten Beine des Geistes, doch ihre Halswirbelsäule ist fest und die Automatik gestört.

»Weißt du, wer auch nichts erwartet?«, frage ich, bevor ich mich zu ihr umdrehe. Der Geruch von Urin und anderen Dingen kommt mir wie ein Schwall entgegen. »Der Tod.«

Hedi nickt mit dem Blick der Wahrheit.

»Der Sensenmann. Der Übersetzer. Der Fährmann. So hast du ihn immer genannt, weißt du noch?«

Sie schließt die Augen, ein müdes Nicken.

»Du hast oft von ihm erzählt, Hedi. Wie er übersetzt auf einem Boot mit einer schaukelnden Laterne. Manchmal war es eine gebogene Baumwurzel, in der er stand, der Fährmann. Weißt du das noch, Hedi?«

Ein Nicken mit den Augen.

»Das war schön. Es waren schöne Geschichten. Immer habe ich ihn vor mir gesehen, wie er da stand in der Baumwurzel. Und drüben …« Ich deute aus dem Fenster Richtung Norden, »drüben im Sumpfgebiet habe ich mir immer eingebildet, ihn zu sehen. Ich meine, wirklich zu sehen. Wahrhaftig. Im Moor.«

Meine Großmutter schließt die Augen, ich weiß, dass sie in diesem Moment das Moor vor sich sieht, genauso wie ich.

»Ich habe mich immer gefragt, wie groß diese Wurzel sein muss, um genug Platz zu bieten für den Sensenmann und seinen Gast. Ist das der richtige Ausdruck, Hedi?«

Sie macht die Augen auf und sieht mich an. Ein Nein.

»Dann muss ich wohl nach einem richtigen Ausdruck suchen«, sage ich. Dann trete ich näher ans Bett heran, in dem sie liegt, flach wie ein Tuch.

»Und du musst mir sagen, wer dieser Mann war, Großmutter. Warum du ihm Briefe geschrieben hast und warum sie jetzt zurückkommen. Jede Woche einer.« Ich sage es eindringlich. Hedi schließt die Augen, und eine Träne sammelt sich in dem Gebirge aus Hautfalten.

Ich habe sie erschöpft. Missmut beschleicht mich. Ich weiß, dass sie dem Rätsel genauso auf der Spur ist wie ich. Sie kann sich nicht erinnern. Oder sie will, dass ich es löse. Es ist ihre letzte Aufgabe für mich.

»Okay«, sage ich. »Das war zu viel. Es tut mir leid. Mach ein Nickerchen, bevor der Pflegedienst kommt.«

Sie hat noch immer die Augen geschlossen, als ich das Zimmer verlasse.

Das Mädchen, das die Briefe fand, die eigentlich an jemand anderes gerichtet waren, bin ich. Es ist ein trauriges Lied, das ich zusammen mit den Pappeln singe.

Und doch ist es schön.

Meine Großmutter ist ihrem Mann untreu gewesen. Ich verurteile das nicht. Ich halte nicht sehr viel von der Liebe. Vielleicht, weil sie und ich uns noch nicht begegnet sind. Ich habe Angst vor den Ketten, die sie wirft.

Vielleicht habe ich auch deswegen Angst vor den Briefen. Weil sie an diesem Grundsatz rütteln. Nur wer mit solchen Worten sprechen kann, dem ist etwas Besonderes widerfahren. Das ist die Liebe?

Ich muss es zumindest in Betracht ziehen. Noch nie habe ich solche Leidenschaft in Worten gespürt. Ich kann sie beinahe schmecken. Nur wer so leidenschaftlich liebt und leidet, der lebt.

All diese Gedanken kommen mir auf dem langgezogenen Flur, durch den der Geruch von Leben und Tod streift.

Das stimmt nicht ganz. Die Gedanken waren schon da, als ich den ersten Brief gelesen hatte. Aber jetzt erst formen sie sich, bündeln sich zu einer Erkenntnis. Diese Erkenntnis sollte höher stehen als die Lösung des vermeintlichen Rätsels.

Mir ist das bewusst, trotzdem will ich es nicht wahrhaben.

Ich fühle mich nicht lebendig. Seit dem Tag, an dem ich die Briefe gefunden habe – oder sie mich – kenne ich auch den Grund. Und das fühlt sich nicht gut an. Es fühlt sich nicht richtig an.

Gregor. Ich warte, solange es nötig ist. Ich brauche aber ein Zeichen. Wenn es auch noch so klein ist. Willst Du jeglichen Kontakt abbrechen, für immer, so muss ich das von Dir hören, und nicht von irgendjemand anderem. H.

Diese Zeilen standen in dem ersten Brief. Ich kenne sie auswendig.

Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass es sich um Doppelnachrichten handelte. Sie hatten quasi ihr Ziel erreicht und waren von dort aus zurückgeschickt worden. Jemand muss sie gelesen haben, wer auch immer das sein mochte. Dieser jemand, vielleicht jener Gregor, schickt sie nun zurück, Woche für Woche.

Ich wurde vom Postamt dazu aufgefordert, das Fach regelmäßig zu leeren. Als ich erklärte, dass ich einen weiten Weg zurücklegen müsste und das nicht so einfach sei, sagte die nette Dame am Schalter, es wäre okay, solange das Fach nicht überquellen würde.

Die nette Dame half mir auch zwei Wochen später, nach dem anderen Nutzer des Postfaches zu suchen. Es gab nur zwei, also ihn und mich.

»Das ist seltsam«, sagte die Frau von der Post, nachdem sie eine Weile mit gerunzelter Stirn auf ihrer Tastatur herumgeklimpert hatte. »Es ist nichts angegeben, weder Name noch Adresse des Absenders.«

»Oh«, machte ich daraufhin. »Dann ist es … Es ist nicht so wichtig.«

Die Dame machte Schlitzaugen hinter ihren Brillengläsern. »Das vielleicht nicht. Doch es ist gesetzlich vorgegeben.«

Mich kümmern keine Gesetze. Irgendwie war ja davon auszugehen, dass der Absender anonym bleiben wollte.

»Können Sie die Richtung erkennen?«, fragte ich, als sei ich Kolumbus oder hielte mindestens einen Kompass in der Hand.

Die nette Frau nickte. »Nun, es ist immerhin Deutschland. Die Postleitzahl gehört zu Mecklenburg-Vorpommern, ziemlich an der nördlichsten Spitze.«

»Hm.« Das sagte mir gar nichts. Ich wusste, dass Großmutter viel gereist war, doch immer war der Süden ihr Ausflugsziel gewesen. Eigentlich sollte sie an der Côte d’Azur sitzen, oder an einem Weinhang Roséwein schlürfen.

»Vielen Dank«, sagte ich zu der netten Dame, notierte mir noch die Postleitzahl und fuhr wieder nach Hause.

Nach Hause.

Ein seltsamer Begriff. Erst nach meinem Leben in New York und London weiß ich so ungefähr, was derjenige, der sich das ausgedacht hat, damit meint. Vermutlich ist das auch der Sinn einer Reise. Denn gewohnt habe ich nirgends, ich habe nur existiert. Arbeiten, schlafen, essen. Das wollte ich so und ich beschwere mich auch nicht.

Doch es ist ein Extrem. Genauso wie es der Pappelhof ist. Alles ist so langsam.

Es muss doch was dazwischen geben. Vielleicht hat Hedi so gedacht, als sie sich auf einen Mann einließ, der nicht ihr eigener war.

Am Abend ziehen Wolken auf. Wir sitzen zu dritt auf dem Hof und trinken Tee. Ich habe keinen Appetit, manchmal schließe ich die Augen und lausche auf die Töne der Umgebung.

»Kommst du morgen mit raus auf die Wiese? Es soll noch mal schön werden.« Mein Vater sagt es und beißt dann genussvoll in eine dicke Scheibe Schwarzbrot, auf der Frischkäse und Radieschen thronen. Er kann sich das leisten, denn er hat kein Nein zu befürchten.

Anders als meine Mutter. »Du warst doch als Kind immer so gern mit dabei beim Mähen.« Sie nippt an ihrer Tasse. Sie ist die Verkäuferin. Immer muss sie mir etwas schmackhaft machen. Ich habe keine Ahnung, ob ich das auf irgendeine Weise einfordere.

Vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen. Weil sie immer wollte, dass ich in die Glaskunst einsteige und damit ihren und Großmutters Spuren folge.

Nur müsste ich diejenige sein mit dem schlechten Gewissen.

Womöglich ist das so als Eltern, dass man alles Schlechte von den Kindern nehmen will. Man trägt es selbst.

Noch nie habe ich so viel über meine Eltern nachgedacht wie in den letzten Tagen.

Während des Studiums hat kein Mensch von seinen Eltern gesprochen, es sei denn, es handelte sich um die Alten, dann hat eh keiner mehr zugehört. Während meiner Arbeit in New York war es ebenso – mehr noch: Wir allen waren Individuen mit Aussicht auf große Karrieren. Da hat man keine Eltern. Man ist selbstständig, ehrgeizig, fleißig. Egoistisch.

Seltsam ist das. Ich wollte vom Hof weg, weg von Mama und Papa, aber so stimmte es auch nicht.

Wieder diese beiden Extreme. Diese Kette zwischen meinen Eltern hier. Diese Kette aus Anonymität dort.

»Hennie?«

Ich hebe den Kopf und blicke meiner Mutter ins Gesicht. Sie ist schön. Das macht wohl die Liebe. Und der grüne Tee.

»Ja?«, sage ich.

»Wo warst du denn mit deinen Gedanken?«

Beim Finden eines Weges. Müsste ich sagen. Doch ich tue es nicht.

Stattdessen blicke ich in den Himmel. »Sieht nach Regen aus. Bist du dir sicher, dass es morgen noch trocken ist?«, frage ich meinen Vater, dann lächeln wir und greifen nach unseren Tassen.

Das war keine klare Aussage von Dir, Gregor. Ich habe meinem Mann alles erzählt, denn ich lasse mich nicht erpressen. Ich habe Fehler gemacht, aber ich führe ein selbstbestimmtes Leben. Ich habe ihm nicht alles haarklein erzählt, und er will es auch nicht wissen. Wir beide, Du und ich, haben Fehler gemacht, doch das rechtfertigt nicht ein alle Grenzen überschreitendes Verhalten anderer Menschen, auch wenn wir sie sehr stark verletzt haben. Vermutlich weißt Du das auch alles selbst. Jetzt sag mir, dass Du keinen Kontakt mehr willst. Dann wirst Du nichts mehr von mir hören.

So lautete der zweite Brief, er macht mir Angst und Freude zugleich. Er erzählt, dass etwas passiert sein muss.

Ich schrecke mitten in der Nacht hoch. Es ist still, ich höre nur meinen eigenen schnellen Atem.

Ich muss aus diesem Zimmer raus.

Die Nacht ist sternenklar. Es ist noch nicht Juni, ich friere in dem dünnen Bademantel und den Pantoffeln. Nur einmal muss ich sie sehen, nur einmal ganz kurz. Sie beruhigen mich.

Wenn Großmutter tot ist, möchte ich in ihr Zimmer ziehen. Ich brauche die Pappeln.

Auf dem Weg über den Hof gehe ich die Zeilen des zweiten Briefes durch. Hedi hat ihrem Mann also von der Affäre erzählt. Wann war das gewesen?