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Elise wundert sich nicht, als sie die erste Motte entdeckt. Doch dann zieht der neue Nachbar ein. Mit ihm ein Hund, der aussieht wie ein Wolf. Und Bücher, die Rätsel bergen. Die Frage, ob sie ihre Geheimnisse wirklich lüften will, stellt sich Elise zu spät. Und die Motten fliegen.
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltswarnung
Inhaltswarnung – Liste
Motten
Danksagung
Impressum
Das vorliegende Werk beinhaltet Themen/Begriffe, die Auslösereize sein können. Diese sind auf der folgenden Seite aufgelistet.
Traumata
Verlust
Einsamkeit
Blut
Depression
Suizidale Gedanken, Suizid
Tierwohlgefährdung
Es war an jenem Abend, an dem das Wetter umschlug und den Winter einläutete, als Elise in der Badewanne saß und ihr eine Motte aus dem Haar flog.
Es war die erste Motte, zumindest die erste, die Elise sah. Sie griff sich an den Kopf und löste das Haargummi, mit dem sie den Knoten festgezwirbelt hatte. Sie dachte, die Motte hätte sich in den Strähnen verfangen und Elise selbst hätte sie in den Dutt eingewickelt. Diese Gedanken brauchten weder viel Raum noch Energie, Elise strickte sich die Geschichte innerhalb eines Lidschlages zurecht.
Elise stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und trat vor den Spiegel. Sie mochte ihr Gesicht gerötet und verschwitzt. Es sah aus, als hätte sie sich einem Liebhaber hingegeben.
Sie griff nach einem Handtuch und wischte über das Glas, dort, wo im Spiegelbild ihre Augen waren. Sie blickte hinein und wunderte sich über die Frage, die in ihnen stand. Dann drehte sie sich um und hob den Kopf. Sie konnte die Motte nicht sehen. Wohin war sie geflogen?
Elise erinnerte sich, dass die Flügel einer Motte mit einem Puder überzogen waren, ohne die diese nicht fliegen konnte. Vielleicht war sie in das Wasser gestürzt. Elise beugte sich über die Wanne und blickte hinein. Sie ließ das Wasser ab, die Motte war nicht zu sehen.
Bevor sie das Bad verließ, suchte sie Decke und Wände des Zimmers ab.
Hallo J. Heute habe ich eine Motte gesehen, sie ist mir aus dem Haar geflogen. Ist das nicht seltsam? Elise hielt inne und hob den Kopf. Sie blickte geradeaus, ohne etwas wahrzunehmen. Dann schrieb sie weiter.
Das passierte heute. Und dann passierte noch etwas. Als ich in den Spiegel blickte, sah ich Dich. Du standest hinter mir. Werden wir uns je wiedersehen?
An diesem Abend föhnte Elise sich nicht die Haare, obwohl sie noch einkaufen musste und es kalt draußen war.
Sie schob den Wagen durch die Gänge. Normalerweise hatte sie es eilig, doch heute ließ sie sich Zeit. Die Tage wurden länger, das hatte sie nicht bedacht. Der kleine Supermarkt lag im Ort, etwa ein Kilometer von ihrem Haus entfernt. Doch Elise ging den anderen Weg über die Felder, weil sie die Bäume sehen und den Wind treffen wollte. Sie hatte vorgehabt, auf dem Rückweg die Kastanien zu besuchen, die wie mit Gespensterfingern in den Himmel zeigten. In diesem Winter hatte Elise zum ersten Mal etwas Unerklärliches gesehen. Etwas, worauf die Bäume deuteten. Nur in der Dämmerung konnte sie es sehen, unmittelbar vor der Dunkelheit.
Elise blieb vor dem Regal mit den Backzutaten stehen und überlegte. Sie hätte die Zeiten notieren können. Dann verwarf sie den Gedanken. Wenn man nach etwas suchte, was man nicht benennen konnte und in den Bäumen zu sehen glaubte, durfte etwas wie die Zeit keine Rolle spielen.
Elise griff nach der Blockschokolade und drehte sie in den Händen. Die dicke Tafel war in Silberfolie eingeschlagen und blau beschriftet. Zartbitter, las Elise und roch an der Folie.
Eine Motte flog aus ihrem Haar. Sie sah sie nicht.
Das Netz mit den Orangen wog schwer. Elise trug Handschuhe, doch nur die dünnen. Sie ärgerte sich. Darüber, dass sie sich nie angemessen kleidete, keine Listen schrieb und nachmittags ein heißes Bad nahm, obwohl sie am Abend am meisten fror.
Es war zu hell, um die Nachricht der Bäume zu sehen und zu kalt, um zu warten. Elise nahm den kurzen Weg über den Friedhof und ging nach Hause.
Sie schloss die Tür auf und ließ das Netz los. Es schlug auf den Holzboden und bewegte sich nicht. Elise wünschte, das Netzt würde aufplatzen und die Orangen herauskullern und über den Boden rollen.
Der Schreibtisch stand wie ein Mahnmal vor ihr. Der Brief an J lag darauf. Daneben Elises Füller. Es war ein alter Füller, sie mochte ihn nicht besonders. Doch den anderen hatte sie verloren.
Elise zog sich aus und ging in die Küche. Dort rührte sie Butter und Eier und Zucker ineinander. Sie schmolz die Schokolade und wartete darauf, dass die Orangen zu ihr in die Küche rollten. Schließlich holte sie sie selbst. Zwei presste sie aus und rührte sie mit der Schokolade in den Kuchenteig. Als sie die Masse in die Form kippte, ließ sie sich Zeit. Am Anfang tat sie das, um die Konsistenz des Teiges zu überprüfen. Das war inzwischen nicht mehr nötig, denn die Konsistenz war immer die richtige. Inzwischen tat sie es, weil sie den Anblick mochte. Das Bild vom Teig, der zäh in die Form kroch und sich ausbreitete, war gewohnt. Es war zur Freundin geworden.
Ein Aroma von Schokolade und Orangen breitete sich aus. Elise würde den Kuchen nicht essen, sie würde ihn Nachbarn und Freunden bringen. Sie selbst buk nur des Aromas wegen. Und weil sie die perfekte Konsistenz liebte. »Nahe an der Perfektion«, hatte Nina gesagt, eine ihrer ehemaligen Mitarbeitenden, nachdem sie den Zitronenkuchen probiert hatte.
Elise hoffte, dass sie die Perfektion niemals erreichen würde.
Als der Kuchen im Ofen war, ging Elise aus der Küche, ohne sie aufzuräumen. Sie setzte sich auf die Couch und starrte den Schreibtisch an. Wie viele Wochen schrieb sie jetzt schon an dem Brief? Sie wusste es nicht. Sie hatte J nicht mehr in ihrem Leben gewollt, oder er sie nicht mehr in ihrem. Spielte das überhaupt eine Rolle? Sie hatte ihm jeden Tag erzählt, was sie getan, gesehen, gedacht und gegessen hatte. Nun, da sie nicht mehr zur Arbeit ging, redete sie nur noch mit den Nachbarn, ab und an mit Freunden, die zu Bekannten wurden.
So hatte sie begonnen, J zu schreiben. Inzwischen schrieb sie ihm jeden Tag.
Elise seufzte und stand auf. Der Füller kratzte.
Am nächsten Morgen ärgerte sie sich über den Anblick der Küche. Am schlimmsten empfand sie es, wenn man die Arbeitsplatte nicht sehen konnte. Das Nussbaumholz war schön. Ein Jammer, dass es zugestellt und verdreckt war. Noch im Schlafanzug räumte sie die Zutaten auf und putzte die Küche. Immer nahm sie sich vor, das zu erledigen, bevor Teigklekse fest wurden und verkrusteten.
Elise wrang den nassen Lappen auf der Arbeitsplatte aus und sah zu, wie das Wasser lief. Während sich die Reste lösten, würde sie sich anziehen und den Kuchen in der Nachbarschaft verteilen.
»Oh, wie der duftet.« Anna zog Elise am Arm in die Wohnung hinein. Früher hatte sie gern bei der Alten gesessen und süßen Tee getrunken. Inzwischen graute ihr davor. In der Wohnung stank es bestialisch. Früher, wann war das gewesen?
»Anna?«, fragte Elise und sog den Geruch des Tees ein, um die anderen abzuschwächen. »Seit wann komme ich und bringe Ihnen Kuchen?«
»Oh, meine Liebe, das muss vor einem Jahr gewesen sein. Als das mit Ihnen und diesem netten Mann auseinandergegangen ist.«
Ein Jahr, dachte Elise. Das war nicht lange genug her, um sich nicht mehr daran zu erinnern.
»Es ist ein neues Rezept, nicht wahr?«, fragte die Alte, nachdem sie den ersten Bissen zwischen runzligen Lippen zerdrückt hatte.
»Das ist es«, stimmte Elise zu. »Entschuldigen Sie mich, ich habe noch die anderen Häuser vor mir.«
»Natürlich, mein liebes Kind. Schauen Sie auch ins Eckhaus, da zieht jemand ein.« Oma Anna erhob sich aus dem Ohrensessel, der so verdreckt war, dass man die Ursprungsfarbe nicht mehr erkennen konnte. Von ihm ging ein beißender Geruch aus.
»Tatsächlich?«, fragte Elise. »Ich dachte, da wohnt seit Jahren niemand mehr.«
»Ich habe nur einen Hund gesehen. Oder gehört.« Die alte Nachbarin grinste, und da sie keine Zähne im Mund hatte, sah ihr Gesicht aus wie ein Mond mit einem Krater darin.
Auf der Straße überlegte Elise, ob sie sich Dinge aufschreiben sollte, um dem Vergessen entgegenzutreten. Doch was würde es nützen? Zeit und Wahrheit waren nicht real. Das, was übrigbleiben würde, war echt. Übrig wann? Elise blieb stehen und blickte der Erinnerung nach.
»Du löst dich auf, Elise«, hatte J gesagt. »Merkst du nicht, wie du der Welt Auf Wiedersehen sagst?«
»Ist das schlimm?«, hatte sie geantwortet.
»Ich weiß nicht. Du bist schon lange nichts Irdisches mehr. Immer mehr streifst du deine irdischen Hüllen ab.«
Natürlich hatte sie sich gefürchtet. Sie wollte sich nicht auflösen. Dann hatte sie begonnen, Gefallen an dem Gedanken zu finden.
Das Eckhaus war ein alter Bau mit einem Erker und einem Garten in L-Form. Elise wohnte im Haus gegenüber, oft blickte sie auf das verlassene Grundstück.
Ein Schäferhund sprang an dem weißen Zaun hoch und bellte.
»Hallo«, sagte Elise. Sie hatte noch ein Viertel vom Kuchen übrig.
Der Hund kläffte. Es war ein schöner Hund.
»Harry!«, rief jemand. Aus dem Haus trat ein Mann, Elise schätzte ihn in ihrem Alter.
»Guten Tag«, sagte sie. »Herzlich Willkommen in der Nachbarschaft.«
»Das ist sehr nett«, sagte der Fremde. »Macht man das hier so? Ich bin doch noch gar nicht offiziell da.«
»Aber ich sehe Sie. Und einhundertzwanzig andere Augen auch.«
Der Mann verzog das Gesicht. »Ich hoffe, das ist eine grobe Schätzung. Ansonsten gehe ich von Überwachung aus.«
»Hier wohnen fast nur alte Menschen. Für die ist das Fenster der Fernseher.«
Er streckte die Hand über den Zaun. »Sebastian Schmidt. Freut mich sehr.«
»Elise«, sagte sie. »Der Kuchen ist für Sie. Und für Ihren Hund.«
»Der darf sowas nicht fressen«, erwiderte der neue Nachbar. »Kommen Sie rein.«
Sie folgte ihm zu dem kleinen Tor, zögerte dann.
»Fürchten Sie sich vor Hunden?«, fragte Sebastian.
»Ich weiß nicht.« Sie wusste es tatsächlich nicht. Manche verlorenen Erinnerungen machten ihr Angst.
»Er ist harmlos. Harry, Sitz!«
Der Hund gehorchte und starrte Elise an. Sie ging durch das Tor und streckte ihm ihre Hand hin. Er schnupperte daran und schlug leicht mit dem Schwanz auf das vergilbte Gras des Vorgartens.
»Sieht aus, als hätten Sie Hundeverstand«, sagte Sebastian.
»Das ist ein lustiges Wort.« Elise richtete sich auf und betrachtete Sebastian. Ein gutaussehender Mann. Was machte ein gutaussehender Mann mit einem Hund in einer Siedlung inmitten lauter alter Menschen? Sie könnte ihn fragen.
»Wollen Sie einen Kaffee?«, kam ihr Sebastian zuvor.
Sie blickte sich um. Vor dem Haus stand ein Transporter, die Türen standen offen. Wenn Sebastian die Kaffeemaschine als eine der ersten Dinge ins Haus getragen hatte, war er wohl ein Genuss- oder Gewohnheitsmensch.
»Gern.« Sie folgte ihm ins Haus. Ein bisschen erschrak sie. Es war dunkel. Und alt. Der gesamte Boden war gefliest, die Decken getäfelt. Sebastian folgte ihrem Blick, dann ging er weiter. »Ja, schön ist es nicht. Ich weiß nicht, was ich zuerst rausreißen soll. Aber warten Sie, bis sie den Erker gesehen haben.«
Sie hatte das Bedürfnis, die Rollläden hochzuziehen. Das hätte sie zuerst getan. »Wollen Sie sicher gehen, dass die Nachbarn nicht hereinschauen?«, fragte sie und trug den Kuchen in die Küche. Ein großer Raum, jedoch ziemlich miefig. Das Fenster über der Spüle zeigte zum Wald. Darauf war Elise neidisch. Sie stellte es sich schön vor, ihre Tasse abzuwaschen und den letzten Geistern des Tages Auf Wiedersehen zu sagen.
J war überzeugt davon gewesen, dass sie mit den Geistern sprechen kann.
»Der Kaffee steht schon ziemlich lang«, sagte Sebastian. »Ich mache uns neuen.« Er kippte den Rest in der Kanne weg und suchte in einer Kiste herum.
»Ich mag abgestandenen Kaffee«, sagte Elise. Sebastian hielt inne und betrachtete sie. »Wo wohnen Sie?«
Sie zeigte hinter sich. »Gleich gegenüber. Ich könnte in Ihr Wohnzimmer blicken.«
»Da gibt es wohl nicht viel zu sehen«, erwiderte er und suchte weiter. »Es ist riesig, ich habe keine Ahnung, was ich da reinstellen soll.«
»Am besten einen Fernseher«, sagte Elise. »Dann wundert sich niemand über Sie.«
»Wieso sollte man sich über mich wundern?«
Diese Frage fand Elise interessant. Entweder, er hinterfragte die Gepflogenheiten der Menschen oder es war ihm egal, was andere von ihm hielten.
»Weil Menschen sich über alles wundern.«
Er richtete sich auf und sah sie an. In seinem Blick lagen Belustigung und Verständnis. Eine ungewohnte Mischung.
»Was suchen Sie denn?«, fragte Elise. »Filter und Kaffee stehen auf der Anrichte.«
»Ich suche Milch und Zucker. Vorhin brauchte ich Koffein, jetzt will ich den Kaffee genießen. Zum Kuchen, verstehen Sie?«
Sie lächelte.
»Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«
»Schwarz», antwortete sie. »Milch und Zucker sind schon im Kuchen.«
Er lächelte ebenfalls. Elise nahm die Alufolie von dem Teller und fragte nach einem Messer.
»Ich habe nur ein Jagdmesser«, antwortete Sebastian. »Das wäre wohl nicht so gut geeignet, um neue Nachbarinnen willkommen zu heißen.«
»Dann brechen Sie sich ein Stück ab«, sagte Elise. Sie überlegte, ob sie sich fürchten musste. In der Küche war es hell, doch die anderen Zimmer waren abgedunkelt.
»Oh mein Gott!«, rief Sebastian aus, als er sich ein Stück Kuchen in den Mund gesteckt hatte. »Sie sind ein Profi!«
Elise lachte. Es war nur ein kurzes Lachen, eher ein Ausruf. So richtig gelacht hatte sie lange nicht mehr. »Ich backe gern.« Sie sah ihm zu, wie er kaute und die Aromen herauszuschmecken versuchte. Dieser Anblick war ihr Genuss.
»Warum?«, fragte er und brach sich ein weiteres Stück ab.
Sie antwortete nicht. Sie kannte ihn gar nicht.
Es schien ihm nichts auszumachen, er aß weiter und schenkte Kaffee ein. Er dampfte in der Tasse und roch stark und bitter.
»Der Wald ist besonders«, sagte Elise.