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Für den dreizehnjährigen Timothy bricht die Welt zusammen, als er seine Freundin Bella verliert. Er spürt, dass sie noch da ist - irgendwo. Doch wie soll er sie suchen, wenn ihm der Mut fehlt? Er ist nicht mutig, er fürchtet sich. Davor was er in jener Nacht, in der Bella verschwand, im Wald gesehen hat. Vor der alten Grüßwetter, die allein am Waldesrand wohnt und aussieht wie eine Hexe. Und vor der unbekannten Stimme, die seitdem zu ihm spricht. Wie soll er ein Held sein, wenn er ein Hasenfuß ist? Diese Geschichte ist eine Auskopplung aus dem unveröffentlichten Roman "Der Sender".
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Seitenzahl: 67
Die vorliegende Geschichte behandelt Themen, die Auslösereize sein können. Eine Aufzählung befindet sich am Ende des Buches.
Auskopplung aus dem unveröffentlichten Roman Der Sender
Besonders fürchtete er sich vor ihrem Mund. Ein Brunnen; tiefe Furchen in der Erde führten zu einem Loch, das alles in sich zog und verschlang: Worte, Sauerstoff, Menschen. Irgendwann würde sie die ganze Welt verschlingen. Nur der Tod würde sie aufhalten. Diesen Gedanken fand Timothy seltsam. War das Ironie? Dass nur ihr Tod die Menschheit vor dem Tod retten konnte? Er entschied sich dafür.
Oben auf dem Hügel wartete Bella mit einem Bollerwagen. Ihr Haar leuchtete ihm entgegen, roter und fackelnder als das Laub der Ahornbäume. »Wo bleibst du denn?« Sie sah ihn nicht einmal an, ihre Ungeduld sprang auf ihn über. »Es wird zeitig dunkel, ich muss dann zuhause sein.« Nun streifte ihn ihr Blick, graue Augen unter zusammengezogenen, hellen Brauen. »Du etwa nicht?« Diesen Ton kannte er. Bella fürchtete sich stets davor, etwas zu verpassen. Oder etwas nicht zu bekommen, das jemand anderes bekam.
»Doch«, erwiderte er und musste laufen, um mithalten zu können.
Bella glich einer Gazelle: Sie rannte und sprang so schnell und so hoch, dass kaum jemand hinterherkam. Als sie den Hügel herablief, rumpelte der Bollerwagen auf und ab, und Timothy dachte bei jedem Stein, er würde abheben und beim Aufprall in Hunderte Teile zerbersten.
»Du hast wieder getrödelt, stimmt’s?«, fragte sie.
»Na und?« Ihn störte es nicht, wenn sie so etwas zu ihm sagte oder ihm Vorwürfe machte, doch das sollte sie nicht wissen. Sie war seine beste Freundin, und das war sein Geschenk an sie. Ihr war es wichtig, ihn manchmal (ziemlich oft) kommandieren zu können. Als jüngste von acht Schwestern musste sie jeden Tag tun, was die anderen befahlen. Es war sicher gut für sie, auch mal auf der anderen Seite zu stehen.
Timothy überholte Bella, als diese ihr Tempo drosselte. Er drehte sich um und lief rückwärts, mit dem kribbelnden Gefühl im Magen, das er vor einigen Tagen entdeckt hatte. Das Risiko, zu stolpern und zu fallen, verführte mehr, als es abschreckte. Bisher hatte er nur das eine gekannt: Vernunft. Er war erschrocken darüber, welch waghalsige Ideen ihn plötzlich überfielen, doch er war nicht gegen sie gewappnet. Wenn er ehrlich war, hielt er das Schild zur Abwehr auch ziemlich niedrig. Das Gefühl war einfach zu gut.
Bella maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Damit ich pünktlich daheim bin, hat mir Clarissa Hänsel und Gretel vorgelesen. Ist das zu fassen? Als wären wir fünf Jahre alt, großer Gott.« Dabei rollte sie die Augen, und Timothy grinste.
Er mochte es, wenn sie sich aufregte, besonders wenn ihre Schelten nicht ihm galten. Doch nicht immer konnte er ihren Ärger nachvollziehen. Er hätte gern eine große Schwester namens Clarissa, die ihm vorlas. »Wenn es so wäre, wüsste ich, wer die Hexe ist«, sagte er.
Bella runzelte die Stirn, doch blickte ihn nicht an. »Wer?«
Sie nahmen erneut Tempo auf. Der Hügel verschmolz mit der Ebene, auf der das Gras noch saftig grün stand wie im Sommer. Dann begann der Wald.
»Die alte Grüßwetter«, antwortete Timothy leise, als bedeutete der Name etwas Unanständiges.
»Wer?«, plärrte Bella. Der Wagen polterte hinter ihr her.
Timothy blickte sich um, als würde die Grüßwetter irgendwo in der Nähe lauern. Er verringerte den Abstand zu Bella und wiederholte den Namen.
»Ach die«, sagte sie gelangweilt. »Wegen ihrer Finger? Die sehen so aus wie die einer Hexe. Das wäre aber gemein, sie hat bestimmt Arthritis.«
Timothy wusste, dass das gemein war, doch er konnte seiner Angst vor der alten Frau mit nichts anderem als Gemeinheit begegnen. Sie hat nen Buckel, sie hat Hexenfinger, sie hat eine Warze, sie stinkt.
»Wegen des Mundes«, sagte er. Bella konnte er alles sagen. Sie wusste genau, wann der Zeitpunkt gekommen war, ihm zuzuhören. Also so richtig. So war es auch dieses Mal. Bella blieb abrupt stehen. Den Wagen ließ sie los, einige Meter fuhr er allein weiter, bevor er ächzend stehen blieb. »Was ist damit?«
Timothy verzog das Gesicht, ohne es zu bemerken. Über seinen Körper kroch eine Gänsehaut und es war, als würde seine Hülle zu eng für Knochen und Gedärme werden. Unwillkürlich krümmte er sich.
Bella betrachtete ihn aufmerksam. »Du siehst aus wie ein Igel. Willst du dich zusammenrollen?«
Er lachte und das half ihm, sich zu entspannen. Nach und nach gab seine Haut mehr Platz für sein Inneres frei. Timothy hatte das Bedürfnis, sich zu strecken. Er tat es, und Bella ebenfalls. »Danke«, sagte er – und sie: »Wofür?«
Er zuckte die Schultern.
»Also was ist mit dem Mund der Wetterhexe?«
»Er ist runzelig.«
»Ja klar, sie ist alt.«
»Natürlich ist sie alt. Aber ihr Inneres ist schwarz. Und der Mund ist ein Brunnen, der in die Tiefe führt. In das schwarze Loch.«
Bella kaute auf der Lippe. »Was ist in dem Loch?«
»Die Unendlichkeit. Das schwarze Für-immer.« Früher hatte er sich für die Worte geschämt, die seine Gedanken formten. Sie waren angeberisch. Bella hatte ihm die Scham genommen. Sie fand nichts angeberisch, was er sagte. Blöd vielleicht oder kindisch. Doch das war etwas anderes. Scham war etwas ganz anderes.
Timothy ging weiter und Bella folgte ihm. »Bist du deswegen so spät gekommen? Bist du an ihrem Haus stehen geblieben?«
»Ja«, antwortete er.
»Wie oft machst du das?«
Ständig, wollte er sagen. »Manchmal.«
Sie überholte ihn und zog die Brauen hoch. Das sah lustig aus, weil ihre Brauen so hell waren. Sie schienen durchsichtig, als hätte sie gar keine. Er hob die Schultern, und sie wusste, dass das Haus der Grüßwetter ihn nicht nur manchmal, sondern stets aufhielt.
»Warst du mal drinnen?«, fragte Bella und Timothy riss die Augen auf.
»Spinnst du?«
Sie neigte den Kopf. »Das wäre gut für deine Angst. Wo die Angst ist, ist der Weg.«
»Mann«, sagte Timothy langgezogen. »Lass es dir eintätowieren.« Am meisten nervte ihn, dass sie recht hatte. Der Spruch war blöd, aber er stimmte.
»Tätowieren«, erwiderte sie. »Das ein ist überflüssig.«
Er bedachte sie mit einem Blick, der sie zum Grinsen brachte.
»Erzählt dir deine Schwester immer, was ihre Therapeutin zu ihr sagt?«
»Ja«, sagte Bella beiläufig, und erneut spürte Timothy Neid.
»Darf sie das überhaupt?« Da war sie wieder, die Vernunft. Timothy Vernunft Hasberger.
Bella stöhnte. Sie dachte vermutlich dasselbe wie er. »Sie hat die Mülltonnen am Krankenhaus angezündet. Ich denke, Stine ist es so ziemlich egal, was man darf oder nicht.«
Timothy wusste das. Theoretisch. Praktisch konnte er nichts anders tun, als sich zu wundern. Als Mut verteilt wurde, hatte er ganz weit hinten angestanden.
»Los jetzt«, sagte Bella, und er fragte sich, ob sie die Dunkelheit fürchtete oder Hausarrest. Bella bekam dauernd Hausarrest und Timothy kletterte dann über die alte Birke in ihr Zimmer. Das teilte sie sich mit zwei Schwestern, doch die waren fast erwachsen und gingen ständig aus. Bella und Timothy bastelten aus den BHs von Tamara und Sophie Katapulte, aus denen sie Walnüsse bis in die Wulnerstraße feuerten. Der Rekord lag bei 97 Metern. Diesen Sonntag wollten sie die Hundert knacken. Nüsse hatten sie genug gesammelt, Timothy hielt sie im Keller feucht, damit sie nicht trockneten und zu leicht wurden.
»Halt die Gehirne schön nass«, hatte Bella letztens zum Abschied gesagt und gekichert. Sie hatte ein bisschen irre geklungen, und Timothy fragte sich, wie viele ihrer Gene sich mit denen von Stine, der Mülltonnenzündlerin, glichen.
Die Wiese lag wie ein akkurat geschnittenes Stück Land vor ihnen. So eben, dass es eine Wohltat war, sie anzusehen. Timothy kam manchmal her und rannte den Hügel runter, um dann japsend in der Aue zu stehen und sich von ihrer Geradlinigkeit beruhigen zu lassen.
»Sonnenuntergang ist um 17 Uhr 43«, sagte er. »Wir haben drei Stunden Zeit.«
Sie blickten sich stumm an. Die Mammutbäume hatten sie erst ein einziges Mal gefunden. Sie standen tief im Wald. Kein Navi funktionierte hier, obwohl der Sender gleich oben auf dem nächsten Hügel thronte. Irgendwie ein schöner Gedanke, dass jemand, der den Weg nicht kannte, die Bäume nicht einfach mit einer digitalen Karte finden konnte. Doch in ihrem Fall war es ziemlicher Mist.
»Mist«, sagte Bella. »Ich wünschte, wir hätten den Weg damals gekennzeichnet.«
»Und wie?«, fragte Timothy.