Das Flüstern der Puppenseelen - Marlene Nachtmann - E-Book

Das Flüstern der Puppenseelen E-Book

Marlene Nachtmann

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Beschreibung

Als die junge Familie Falkenstein in ein altes, abgelegenes Haus am Waldrand zieht, glauben sie, endlich den perfekten Ort für einen Neuanfang gefunden zu haben. Doch schon bald bemerkt die Tochter, dass etwas nicht stimmt – sie hört nachts ein unheimliches Flüstern, das scheinbar von den Puppen im Dachboden ausgeht. Die Puppen, die einst einer anderen Familie gehörten, bergen dunkle Geheimnisse und gefangene Seelen, die verzweifelt nach Erlösung suchen. Während die Puppen langsam zu erwachen scheinen, gerät die Familie in einen Strudel aus Angst und Schrecken. Der schleichende Terror und die Enthüllungen über die Vergangenheit des Hauses treiben die Familie an den Rand des Wahnsinns – und bald erkennen sie, dass die Puppen nicht nur Beobachter sind, sondern auch grausame Pläne verfolgen.

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Über die Autorin Marlene Nachtmann

Marlene Nachtmann wurde im Herbst 1978 in einem kleinen Dorf im Schwarzwald geboren. Schon in ihrer Kindheit faszinierte sie das Unheimliche und Mysteriöse – die tiefen, dunklen Wälder, die von Geheimnissen zu flüstern schienen, inspirierten sie dazu, Geschichten zu erfinden, die die Grenze zwischen Realität und Albtraum überschritten. Ihre Großmutter erzählte ihr oft schaurige Sagen und Märchen, die das junge Mädchen in ihren Bann zogen und eine bleibende Faszination für das Unheimliche hinterließen.

Nach dem Abitur zog Marlene nach Freiburg, wo sie Germanistik und Geschichte studierte. Sie begann zunächst, als Journalistin für eine Lokalzeitung zu arbeiten, doch ihre Leidenschaft für das Schreiben von unheimlichen Erzählungen ließ sie nie los. Nachts, oft begleitet vom Heulen des Windes und der Dunkelheit, schrieb sie ihre ersten Kurzgeschichten, die in literarischen Zeitschriften veröffentlicht wurden und ihr schnell eine Fangemeinde unter Liebhabern des düsteren Genres einbrachten.

Marlene Nachtmann ist bekannt für ihre fesselnde Art, psychologischen Horror mit tragischen Schicksalen zu verweben. Ihre Geschichten zeichnen sich durch intensive emotionale Tiefe aus, in der die Grenzen zwischen Realität und Albtraum verschwimmen und die menschlichen Ängste auf den Prüfstand gestellt werden. In ihren Werken lässt sie oft die Umgebung selbst zu einem lebendigen Charakter werden, sei es ein altes Haus, ein dunkler Wald oder eine verlassene Stadt – stets umgeben von einer Aura des Unheilvollen.

Titel: Das Flüstern der Puppenseelen

Kapitel 1: Das alte Haus

Es regnete in Strömen, als die Familie Gruber endlich am Ziel ihrer Reise ankam. Das alte, herrschaftliche Haus, das in einem verlassenen Teil der Stadt stand, erhob sich wie ein dunkler Schatten gegen den grauen Himmel. Gerda und Martin Gruber stiegen aus dem Auto und betrachteten das Anwesen mit einer Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Ihre Tochter, die siebenjährige Anna, drückte sich im Auto an die Fensterscheibe und starrte das Haus mit großen Augen an.

„Das ist es also“, sagte Martin und legte den Arm um Gerdas Schulter. „Unser neues Zuhause.“

Gerda nickte langsam. Das Haus war größer als sie es sich vorgestellt hatten, und obwohl es von außen alt und etwas verfallen wirkte, hatte es doch etwas Magisches. Die Fensterläden hingen schief, und der Garten war verwildert, aber das Haus strahlte eine Art nostalgischen Charme aus, der sie reizte. Es schien voller Geheimnisse zu sein – Geheimnisse, die darauf warteten, von ihnen entdeckt zu werden.

„Mama, können wir reingehen?“ Annas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und sah ihre Tochter, die mittlerweile aus dem Auto gestiegen war und ihre Hand hielt. Anna schaute das Haus mit einer Mischung aus Neugier und Furcht an.

„Natürlich, mein Schatz“, sagte Gerda und lächelte ihr zu. „Lass uns unser neues Heim erkunden.“

Drinnen erwartete sie eine seltsame Stille. Das große Wohnzimmer war dunkel, die Luft war kalt, und eine dicke Staubschicht bedeckte die Möbel. Anna lief aufgeregt durch die Räume und schien sich nicht an dem Staub oder der Dunkelheit zu stören. Sie war es, die als Erste die Tür zu dem Raum öffnete, der ihnen später das größte Unbehagen bereiten würde.

„Mama, Papa, kommt mal her!“, rief Anna, ihre Stimme hallte durch die alten Wände.

Gerda und Martin folgten ihrer Tochter die Treppe hinauf, die bei jedem Schritt knarrte. Sie fanden Anna in einem großen Zimmer im ersten Stock, dessen Wände von Regalen gesäumt waren. Gerda schluckte, als sie erkannte, was diese Regale enthielten: Puppen. Dutzende, wenn nicht Hunderte von handgefertigten Puppen, jede einzelne anders, mit unterschiedlich gestalteten Gesichtern und Kleidung. Einige lächelten freundlich, andere hatten einen starren, kalten Blick, der sie durchdringend anzusehen schien.

„Oh Gott, das ist ja...“, murmelte Gerda und versuchte, das richtige Wort zu finden.

„Gruselig?“, schlug Martin vor, und Gerda nickte. Anna jedoch schien völlig fasziniert zu sein. Sie lief von Regal zu Regal, betrachtete jede Puppe genau und flüsterte leise etwas vor sich hin, als würde sie mit ihnen sprechen.

„Anna, komm, lass uns weitergehen“, sagte Gerda schließlich, doch ihre Tochter schüttelte den Kopf.

„Ich will hierbleiben“, antwortete sie, ohne den Blick von den Puppen abzuwenden. „Sie sind so schön, Mama. Sie wollen mit mir spielen.“

Gerda spürte einen kalten Schauer ihren Rücken hinablaufen. Etwas an der Art, wie Anna die Puppen betrachtete, gefiel ihr nicht. Es war, als ob ihre Tochter in eine Art Trance verfallen wäre.

„Anna, jetzt komm“, sagte Martin streng. „Es ist spät, und wir müssen noch die Kisten auspacken.“

Widerwillig folgte Anna ihren Eltern aus dem Zimmer, doch sie warf den Puppen immer wieder verstohlene Blicke zu, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

In dieser Nacht lag Gerda wach im Bett. Der Regen prasselte gegen die Fenster, und der Wind heulte um das alte Haus. Irgendetwas an diesem Ort beunruhigte sie. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und sie konnte das Bild der Puppen einfach nicht aus ihrem Kopf bekommen. Sie wusste, dass es albern war, doch sie konnte das beklemmende Gefühl nicht abschütteln, dass diese starren Augen, die sie tagsüber gesehen hatte, auch jetzt im Dunkeln auf sie gerichtet waren.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es war ein leises, kaum wahrnehmbares Wispern, das durch das Haus schlich. Gerda setzte sich auf und lauschte angespannt. Das Geräusch kam von oben, aus dem Puppenzimmer.

„Martin“, flüsterte sie und stupste ihren Mann an. „Martin, wach auf.“

Martin grunzte verschlafen und drehte sich zu ihr um. „Was ist denn?“, murmelte er.

„Da ist etwas oben“, sagte Gerda, ihre Stimme zitterte leicht. „Ich glaube, es kommt aus dem Puppenzimmer.“

Martin stöhnte und setzte sich langsam auf. „Gerda, es ist ein altes Haus. Es macht Geräusche. Wahrscheinlich nur der Wind.“

Doch Gerda schüttelte den Kopf. „Nein, es klingt anders. Bitte, kannst du nachsehen?“

Widerwillig stand Martin auf und zog sich einen Pullover über. „Gut, ich schau nach“, sagte er und verließ das Schlafzimmer.

Gerda blieb allein zurück und lauschte, während Martins Schritte auf der Treppe verhallten. Das Wispern war verstummt, doch ihr Herz schlug immer noch heftig in ihrer Brust. Sie wartete, bis sie Martins Stimme von oben hörte.

„Gerda, komm mal her“, rief er. „Du musst das sehen.“

Gerda stand auf und ging die Treppe hinauf. Das Puppenzimmer war dunkel, nur das schwache Licht von Martins Taschenlampe durchbrach die Dunkelheit. Sie sah, wie Martin auf die Regale zeigte.

„Was...“, begann Gerda, doch ihr blieb die Stimme im Hals stecken. Die Puppen standen nicht mehr in ihren ursprünglichen Positionen. Sie waren bewegt worden. Einige lagen auf dem Boden, andere saßen nun an den Rändern der Regale, als hätten sie versucht, sich selbstständig zu machen.

„Das ist nicht möglich“, flüsterte Gerda, und ihr Blick wanderte zu Anna, die in der Tür stand und sie mit weit aufgerissenen Augen ansah.

„Sie wollten spielen“, sagte Anna leise, und in ihren Augen lag ein seltsames, unergründliches Funkeln. „Die Puppen wollten spielen.“

Kapitel 2: Die Flüsternden Stimmen

Die folgenden Tage fühlten sich für die Grubers an wie ein trüber Albtraum, der sich langsam entfaltete. Das Wetter blieb unbarmherzig, der Regen fiel weiterhin in Strömen, und das Haus schien immer dunkler und beklemmender zu werden. Martin versuchte die merkwürdigen Ereignisse vom ersten Abend als harmlos abzutun, eine Kombination aus Müdigkeit und Einbildung. Aber Gerda konnte das, was sie gesehen hatte, nicht vergessen. Noch beunruhigender war die Art, wie Anna auf die Puppen reagierte. Es war fast so, als hätte ihre Tochter eine besondere Verbindung zu ihnen aufgebaut.

Am vierten Tag nach ihrem Einzug bemerkte Gerda, dass Anna immer wieder verschwand. Sie fand sie meist im Puppenzimmer, sitzend vor den Regalen, während sie leise mit den Puppen sprach. Ihre Gespräche waren merkwürdig eindringlich, und es schien fast so, als würde Anna von den Puppen Antworten erwarten. Als Gerda an der Tür stand und lauschte, hörte sie, wie Anna flüsterte:

„Ja, ich kann das tun... Natürlich, ich möchte eure Freundin sein.“

Gerda trat einen Schritt zurück und fühlte, wie ein kalter Schauer ihren Rücken hinablief. Ihre Tochter hatte schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt, aber das hier fühlte sich anders an. Es war keine gewöhnliche kindliche Vorstellungskraft. Es war, als ob etwas von außen sie beeinflusste, sie in eine fremde Welt zog, die Gerda nicht verstehen konnte.

„Anna, es ist Zeit für das Abendessen!“, rief sie, und ihre Stimme klang brüchiger, als sie es beabsichtigt hatte.

Anna sah auf, ihre Augen waren leicht glasig, als ob sie gerade aus einem Traum erwachte. Sie nickte und kam zu ihrer Mutter, aber Gerda bemerkte das merkwürdige, beinahe verbissene Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Es war kein Lächeln, das zu einem Kind passte – es war zu wissend, zu düster.

In der Nacht lag Gerda wieder wach und starrte zur Decke. Sie hörte Geräusche, leise Schritte, das Quietschen der alten Holzböden. Sie wusste, dass Martin schlief, und Anna müsste eigentlich in ihrem Bett sein. Vorsichtig stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen durch den Flur und blieb vor Annas Tür stehen. Die Tür war einen Spalt offen, und das schwache Mondlicht schien in den Raum hinein.

Anna war nicht im Bett.

Gerda konnte ihren Herzschlag in ihren Ohren pochen hören. Sie drehte sich zum Puppenzimmer und bemerkte, dass die Tür ebenfalls offen stand. Ein seltsames Glühen kam aus dem Inneren des Zimmers. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich der Tür, die knarrend aufschwang, als sie sie vorsichtig öffnete.

Anna saß mitten im Raum, und sie war nicht allein. Die Puppen, die sich vorher starr und leblos auf den Regalen befanden, waren jetzt um sie herum versammelt. Sie standen, saßen und lagen, in einem perfekten Halbkreis um Anna, und ihre Köpfe waren auf das kleine Mädchen gerichtet. Ihre Augen – Glasaugen und gestickte Augen – schienen lebendig zu sein, sie schienen zu blinken und zu atmen. Anna redete leise mit ihnen, aber es schien fast, als würde sie auf Anweisungen lauschen.

„Anna!“, rief Gerda erschrocken, und in dem Moment, als sie das Wort aussprach, sah sie, wie die Köpfe der Puppen sich in ihre Richtung drehten. Für einen schrecklichen Augenblick hatte Gerda das Gefühl, sie würden sie wirklich ansehen, mit einem Ausdruck von Wut und Entschlossenheit.

Anna sah ihre Mutter an, ihre Augen waren kalt, fast fremd. „Mama, du solltest nicht stören“, sagte sie mit einer Stimme, die nicht die ihrer kleinen Tochter war. Es klang älter, dunkler, als ob eine fremde Macht durch sie sprach.

Gerda packte Anna am Arm und zog sie weg, raus aus dem Puppenzimmer. Sie hörte das Wispern wieder, dieses flüsternde, raschelnde Geräusch, das wie tausend winzige Stimmen klang, die miteinander sprachen. Sie schlug die Tür zu, atmete schwer und spürte, wie Anna sich gegen ihren Griff wehrte.

„Lass mich los!“, schrie Anna und versuchte, sich zu befreien, aber Gerda hielt sie fest. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Tochter weiter in diesen Raum ging, weiter mit diesen Puppen spielte, die – sie wusste nicht, wie es möglich war – lebendig zu sein schienen.

Martin wachte durch den Lärm auf und eilte herbei. Er sah seine Frau, die verzweifelt versuchte, ihre schreiende Tochter zu beruhigen, und runzelte die Stirn. „Was ist hier los?“

„Die Puppen“, stammelte Gerda. „Etwas stimmt mit diesen Puppen nicht, Martin. Sie bewegen sich, sie...“

„Gerda, du hörst dich selbst zu“, sagte Martin scharf. „Es sind nur Puppen. Anna ist müde, und du bist es auch. Ihr braucht beide Schlaf.“

Doch Gerda sah in Annas Augen, dass es nicht so einfach war. Da war eine Dunkelheit, ein Schatten, der ihre Tochter veränderte, und sie spürte es tief in ihrem Inneren: Diese Puppen hatten ihre Seelen nicht aus reiner Handwerkskunst erhalten. Sie trugen die Seelen von jemand anderem in sich – und sie wollten etwas von Anna, etwas Grausames und Unheimliches.

In dieser Nacht schlief niemand von ihnen wirklich. Das Flüstern hielt an, es durchzog das Haus, schlich durch die Flure und die Wände, und es fühlte sich an, als ob es jede Ecke des Hauses durchdrang. Martin ignorierte es, oder tat zumindest so, als hörte er nichts, aber Gerda wusste, dass sie nicht einfach die Augen verschließen konnte.

In den folgenden Tagen verschlimmerten sich die seltsamen Ereignisse. Gegenstände verschwanden, tauchten an anderen Stellen wieder auf, und immer öfter fand Gerda ihre Tochter im Puppenzimmer, selbst wenn sie ihr ausdrücklich verboten hatte, dort hineinzugehen. Es war, als ob Anna einer unsichtbaren Macht nicht widerstehen konnte, die sie immer wieder zu den Puppen zog.

Eines Abends, als Gerda in die Küche ging, bemerkte sie etwas, das ihr Blut in den Adern gefrieren ließ. Auf dem Küchentisch lag eine kleine, handgefertigte Puppe, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Haar war dunkel und ihre Augen waren aus Glas – aber das, was Gerda erstarren ließ, war der Gesichtsausdruck der Puppe. Es war Annas Gesicht, detailgetreu nachgebildet, bis hin zu den winzigen Grübchen, die ihre Tochter hatte, wenn sie lächelte.

Gerda spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie griff nach der Puppe, drehte sie in ihren Händen, und eine grausame Erkenntnis drang in ihren Verstand. Die Puppen sammelten nicht nur Erinnerungen – sie sammelten Seelen.

Kapitel 3: Die erste Warnung

Die Puppe, die Annas Gesicht trug, war schwerer, als Gerda erwartet hatte. Sie fühlte sich kühl und fest in ihren Händen an, als ob eine fremde Energie in ihr pulsierte. Der Ausdruck auf ihrem kleinen Gesicht war zugleich sanft und beunruhigend. Es war, als ob die Puppe Gerdas Angst gespürt und ein geheimnisvolles Lächeln darauf geantwortet hatte. Gerda schauderte, legte die Puppe langsam auf den Tisch zurück und wandte sich hektisch um.

„Martin!“, rief sie panisch durch das Haus. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und ihr Atem ging stoßweise. Martin musste das sehen – er musste verstehen, dass hier etwas unheimlich Schreckliches vor sich ging. Sie hörte, wie sein schwerfälliger Schritt die Treppe hinunter polterte, und als er in die Küche kam, sah er seine Frau mit angstgeweiteten Augen.

„Was ist denn jetzt schon wieder, Gerda?“ Seine Stimme klang müde, fast genervt.

Gerda zeigte auf die Puppe. „Martin, schau sie dir an. Sie sieht aus wie Anna. Sie – sie ist genau wie unsere Tochter. Das ist nicht normal.“

Martin seufzte, ging näher heran und nahm die Puppe in die Hand. Er drehte sie, sah sich das Gesicht an und runzelte die Stirn. „Es ist nur eine Puppe, Gerda“, sagte er, obwohl in seiner Stimme ein Hauch von Zweifel mitschwang. „Vielleicht hat sie der Vorbesitzer des Hauses gemacht. Es ist unheimlich, ja, aber wir dürfen uns da nicht reinsteigern.“

Gerda schüttelte den Kopf. „Nein, Martin. Es ist mehr als das. Ich fühle es einfach. Diese Puppen... sie sind gefährlich. Anna benimmt sich auch immer merkwürdiger, seit wir hier sind.“

Martin legte die Puppe zurück auf den Tisch und legte seine Hände auf Gerdas Schultern. „Gerda, ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber wir dürfen uns nicht von Angst überwältigen lassen. Wir müssen stark sein – für Anna.“

Gerda nickte widerwillig, doch das ungute Gefühl blieb. Sie konnte nicht leugnen, dass es eine Verbindung zwischen Anna und diesen Puppen gab, eine Verbindung, die tiefer und düsterer war, als sie sich vorstellen konnte.

In den folgenden Tagen geschahen immer mehr seltsame Dinge. Annas Verhalten verschlechterte sich weiter. Sie wirkte oft abwesend, sprach kaum noch mit ihren Eltern und schien völlig in ihrer eigenen Welt gefangen zu sein. Gerda fand sie immer wieder im Puppenzimmer, oft mitten in der Nacht, und jedes Mal sah Anna sie mit diesen kalten, leeren Augen an, die nicht die eines Kindes waren.

Eines Nachts hörte Gerda Geräusche, die sie sofort auf die Beine springen ließen. Es war ein Poltern, gefolgt von einem leisen, dumpfen Schlag. Sie rannte aus ihrem Schlafzimmer, den Flur hinunter, und blieb vor dem Puppenzimmer stehen. Die Tür war offen, und im Schein des schwachen Mondlichts, das durch das Fenster fiel, sah sie, was geschehen war.

Martin lag regungslos am Boden, sein Kopf blutete, und Anna stand über ihm, die Puppe in den Händen. Es war die Puppe mit Annas Gesicht. Sie hielt sie fest umklammert, und ihr Blick war leer, fast wie in Trance.

„Anna!“, schrie Gerda entsetzt und stürzte sich zu Boden, um nach ihrem Mann zu sehen. Er atmete noch, aber sein Atem ging flach und langsam, und das Blut sickerte auf den Holzfußboden. Sie hob den Kopf und sah ihre Tochter an. „Was hast du getan?!“

Anna blinzelte, als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachte, und sah ihre Mutter verwirrt an. Sie ließ die Puppe fallen, und sie landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. „Mama?“, flüsterte Anna, und ihre Stimme klang so unschuldig, so verletzlich, dass Gerda für einen Moment nicht wusste, was sie denken sollte.

„Martin!“, rief sie panisch. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf, ihre Finger zitterten so sehr, dass sie fast nicht in der Lage war, die Tasten zu drücken. Die Minuten vergingen wie in einem Albtraum, als sie versuchte, Martin wach zu halten, bis die Rettungskräfte kamen. Anna stand immer noch da, und es schien, als hätte sie keinerlei Erinnerung daran, was gerade passiert war.

Martin wurde ins Krankenhaus gebracht. Er war bewusstlos, und die Ärzte konnten nicht genau sagen, wann oder ob er wieder aufwachen würde. Sie sagten, dass er schwer am Kopf verletzt war, und dass es ein schwerer Sturz gewesen sein musste. Gerda konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen – wie hätte sie auch? Dass ihre eigene Tochter ihn mit einer Puppe geschlagen hatte, in einem Zustand, der nicht normal war?

Zurück im Haus blieb Gerda mit Anna allein. Das Haus wirkte leerer und dunkler als je zuvor. Das Wispern der Puppen schien lauter zu sein, fast wie ein Chor, der in einer Sprache sang, die Gerda nicht verstehen konnte. Sie wusste, dass sie etwas tun musste, um Anna zu schützen, aber sie wusste nicht, wie.

Eines Abends beschloss sie, das Puppenzimmer endgültig zu verriegeln. Sie ging hinauf, eine schwere Kette und ein Schloss in der Hand. Sie würde dieses Zimmer abschließen und den Schlüssel verstecken, sodass Anna keinen Zugang mehr dazu hätte. Als sie die Tür öffnete, fühlte sie eine Welle von Kälte, die ihr entgegenströmte, und ein beunruhigendes Gefühl von Abscheu überkam sie.

Die Puppen standen regungslos in ihren Regalen, aber Gerda wusste, dass sie sie beobachteten. Sie hörte das leise Flüstern, das von ihnen ausging, und sie fühlte, dass sie wütend waren – wütend, weil sie sie von Anna fernhalten wollte. Sie schritt langsam in den Raum, die Kette in der Hand, und begann, die Tür zu verschließen.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Rascheln, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass eine der Puppen vom Regal gefallen war. Es war dieselbe Puppe, die Annas Gesicht trug. Sie lag da, ihr Blick starr auf Gerda gerichtet, als würde sie sie verhöhnen.

„Ihr werdet Anna in Ruhe lassen!“, rief Gerda, ihre Stimme brach fast, während sie das Schloss anbrachte und die Tür endgültig verriegelte. Sie wusste, dass das nicht das Ende war – dass die Puppen nicht einfach aufgeben würden. Aber sie musste es versuchen, für Anna.

In dieser Nacht schlief Gerda mit Anna im selben Zimmer. Sie hielt ihre Tochter fest, während das Wispern von oben durch das Haus drang. Sie wusste, dass die Puppen sie beobachteten, dass sie versuchten, einen Weg zu finden, um wieder zu Anna zu gelangen. Und während sie Anna in den Armen hielt, fühlte sie, wie ihre Tochter zitterte, als ob sie selbst gegen etwas ankämpfte, etwas Dunkles und Unbekanntes.

Gerda wusste, dass dies erst der Anfang war. Das Haus, die Puppen, die Dunkelheit, die sich in Annas Augen spiegelte – es war alles Teil eines größeren, finsteren Plans. Und sie hatte das schreckliche Gefühl, dass die Puppen nicht nur Annas Seele wollten – sie wollten mehr. Sie wollten alle, die dieses Haus betraten, und sie würden nicht eher ruhen, bis sie bekommen hatten, was sie wollten.

Kapitel 4: Der Ruf der Dunkelheit

Gerda war entschlossen, Anna zu schützen. In den Tagen nach Martins Unfall verließ sie das Haus kaum. Sie verschloss das Puppenzimmer, versteckte den Schlüssel und verbrachte jede freie Minute bei ihrer Tochter. Doch die Ruhe, die sie sich erhofft hatte, trat nicht ein. Sie konnte die Dunkelheit spüren, die sich in den Ecken des Hauses sammelte, sich wie ein Schleier um sie legte. Und auch Anna schien verändert – stiller, als ob etwas sie belastete.

Eine Woche nach dem Unfall geschah es. Gerda hatte gerade versucht, Anna ins Bett zu bringen, doch ihre Tochter war aufgewühlt, konnte nicht schlafen und wollte ständig, dass ihre Mutter bei ihr blieb. Schließlich gab Gerda nach und setzte sich auf Annas Bettkante. Anna starrte zur Decke, und ihre Augen wirkten leer, als sie zu flüstern begann.

„Sie rufen mich, Mama“, sagte Anna leise, ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Gerda fühlte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. „Sie sagen, ich gehöre zu ihnen. Sie wollen mich bei sich haben.“

Gerda schluckte hart. Sie nahm Annas kleine Hand in ihre und drückte sie fest. „Nein, Anna. Du gehörst zu mir. Zu Papa und zu mir. Niemand darf dich mitnehmen.“

Anna drehte den Kopf und sah ihre Mutter an. Ihre Augen waren trüb, als ob eine fremde Macht in ihr wohnte. „Aber sie sagen, dass ich schon bei ihnen bin. Sie sagen, dass ich ihnen gehöre.“

Gerda fühlte, wie eine Welle der Angst sie überrollte. Die Puppen, dachte sie. Es waren die Puppen. Sie hatten einen Weg gefunden, Annas Geist zu berühren, selbst durch die verschlossene Tür. Sie umarmte Anna fest, als wollte sie ihre Tochter damit vor dem Bösen schützen, das im Haus lauerte.

„Schlaf jetzt, mein Schatz“, flüsterte sie, auch wenn sie wusste, dass Schlaf das Letzte war, was sie finden würden. Doch irgendwann fiel Anna in einen unruhigen Schlaf, und Gerda blieb neben ihr sitzen, hielt Wache über ihre Tochter, bis das erste Licht des Morgens durch die Vorhänge schien.

Doch die nächste Nacht brachte nur noch mehr Schrecken. Das Wispern begann wieder, und diesmal war es lauter. Es schien aus den Wänden zu kommen, durch das ganze Haus zu dringen. Gerda saß aufrecht im Bett, lauschte, und plötzlich hörte sie Schritte – schwere Schritte, die den Flur entlanggingen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie sprang aus dem Bett, eilte hinaus und fand Anna nicht mehr in ihrem Zimmer.

Mit panischer Angst rannte sie durch das Haus, bis sie die Schritte wieder hörte, jetzt von oben – von dem Flur, der zum Puppenzimmer führte. Sie rannte die Treppe hinauf, und ihr Atem ging stoßweise. Das Licht des Mondes schien durch die Fenster und warf lange Schatten auf den Boden.

Die Tür des Puppenzimmers stand offen.

Gerda blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, dann stürzte sie hinein. Sie sah Anna in der Mitte des Raumes stehen, umgeben von den Puppen. Sie standen aufrecht, ihre Augen – diese schrecklichen Glasaugen – waren auf Anna gerichtet. Es sah aus, als hätten sie sich selbst von den Regalen hinunterbewegt, um einen Kreis um das kleine Mädchen zu bilden.