Das geheime Tor der alten Mühle - M.O. Jelinski - E-Book

Das geheime Tor der alten Mühle E-Book

M.O. Jelinski

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Beschreibung

Was wäre, wenn? ...die Dinosaurier nicht ausgestorben wären? ...Columbus Amerika nicht entdeckt hätte? ...der zweite Weltkrieg nicht stattgefunden hätte? Die Mathematiker und Physiker des 21. Jahrhunderts behaupten, alle diese Möglichkeiten könnten existieren. Als richtige, eigene Welten. Man müßte sie aber "Wahrscheinlichkeiten" nennen. Was wäre wenn? ...man in diese Welten reisen könnte? ...man in die Geschehnisse dort eingreifen könnte? ...es überall auf der Welt Tore gäbe, die für wenige Sekunden den Übertritt ermöglichten? Auf der ganzen Welt verschwinden jedes Jahr viele tausend Menschen spurlos, ohne daß man eine Erklärung finden könnte, sei es auch nur die eines Verbrechens. Was wäre, wenn sie in solch ein Tor geraten waren? Der 13-jährige Jonny aus dem kleinen Dorf Mühlheim entdeckt durch Zufall ein solches Tor. Wären auf der anderen Seite nicht die abenteuerlustigen Freundinnen Henrietta und Zora gewesen, die ihrem Vater gerade einen Torgucker "entliehen" hatten, er wäre wohl ebenfalls nie zurückgekehrt. So aber beginnt eines der unglaublichsten Abenteuer, das Menschen aus unserer Welt je erlebten. Und als der Fremde aus einer bedrohten Welt einen dieser "Torgucker" verliert, sehen sich Jonny und seine Freunde plötzlich, fast allein auf sich gestellt, in einen Abwehrkampf gegen die schlimmsten Verbrecher des Universums verwickelt, ohne sich ihren Eltern anvertrauen zu können. Denn: Was wäre, wenn man alle diese Welten, auch unsere, wieder vernichten könnte?

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M.O. Jelinski

Das geheime Tor der alten Mühle

aus der Reihe „Die Bücher Mühlheim“ - Band 1

1. Auflage 2016

© Ahead and Amazing Verlag, Ostenfeld 2016

erschienen in der Edition Sternenstaub

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelbild:

Illustration: Rose-Marie Staub-Winkler

Gestaltung: Indigo Kid

Korrektorat: Dr. Katrin Schäfer

ISBN (E-Book): 978-3-95990-700-2

Ahead and Amazing Verlag, Jelinski GbR, Magnussenstr. 8, 25872 Ostenfeld

www.aheadandamazing.de

Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Kapitel: Der Umzug ans Ende der Welt
2. Kapitel: Die Wunder des entlegenen Tales
3. Kapitel: Ein Fremder im Wunderland
4. Kapitel: Begegnungen der merkwürdigen Art
5. Kapitel: Ein Junge verschwindet
6. Kapitel: Die große Suche
7. Kapitel: Die andere Seite
8. Kapitel: Das Schöne an Gutwelten
9. Kapitel: Das Warten auf den Sturm
10. Kapitel: Agentenfänger bei der Arbeit
11. Kapitel: Der Ruf der Schmutzigwelt
12. Kapitel: Berichte aus anderen Welten
13. Kapitel: Stille Tage in Mühlheim
14. Kapitel: Briefe aus dem Nichts
15. Kapitel: Die Tore des Paradieses
16. Kapitel: Unwetter über dem Hof
17. Kapitel: Dem Geheimnis auf der Spur
18. Kapitel: Ein Fest für Trevor
19. Kapitel: Am Abgrund der Wahrscheinlichkeit
20. Kapitel: Die Maschinen des Untergangs
21. Kapitel: Frühstück an neuen Ufern
Anhang
Wer wohnt wo in Mühlheim?
Entstehungsgrundlagen paralleler Wahrscheinlichkeiten
Wie es weitergeht

At times I think there are no words

But these to tell what´s true

And there are no truths outside the

Gates of Eden.

Robert Zimmermann

Manchmal denke ich, es gibt keine anderen Worte als diese, um zu sagen, was wahr ist. Und es gibt keine Wahrheiten außerhalb der Tore des Paradieses.

Besonderen Dank an Jon für seine Unterstützung und dass er seinen Namen hergab.

Für Jonny und Zora, und alle Henrys, Palfis und Fabians dieser und aller umliegender Welten. Und logisch, für alle Franks auch.

Und ganz lieben Dank, wie immer, an Tina für ihre gnadenlose Kritik.

Prolog

Jonny setzte den Torgucker ab und schaltete ihn aus. Fast liebevoll strich er über die Einstellknöpfe. Jetzt musste er ein hammergutes Versteck finden! Heute wollte seine Mutter wieder einmal ganz gründlich saubermachen. Wenn sie das Ding fand, war es sicher Schluss mit dem Besuch fremder Welten! Vielleicht hätte er den Torgucker doch seinem Freund Palfi überlassen sollen! Dessen Eltern schauten nie in den Schränken ihres Sohnes nach!

"Aber ich habe ihn gefunden", dachte Jonny, "es ist mein Recht, ihn aufzubewahren! Nicht wahr, Pixi?"

Die rot-gelb-getigerte Katze schaute nicht einmal auf. Sie hatte sich an die Lebhaftigkeit des Jungen gewöhnt. Früher, als er noch klein war, hatte sie auf seinen Bilderbüchern geschlafen, auch wenn er herumtobte. Jetzt zog sie eindeutig den Sessel vor. Jonnys Gesicht erhellte sich. Genau! Das war es! Er hob die Katze vorsichtig hoch und trug sie zu seinem Bett hinüber. Pixi begann zu schnurren, räkelte sich etwas und schlief wieder ein. Das Bett war auch kein schlechter Tausch.

Jonny aber kniete nieder und schaute unter seinen Sessel. Ja, das war die Lösung! Er kippte den Sessel um und versteckte den Torgucker ganz tief eingeklemmt in der Federung. Dann drückte er probehalber das Polster ein, um sich zu überzeugen, dass das kostbare Gerät an seinem Platz blieb und keinen Schaden litt, wenn sich jemand setzte. Befriedigt stellte er das Möbelstück wieder an seinen Platz.

Wenn seine Mutter das alles wüsste! Wahrscheinlich würde sie ihn vor Sorge keine Minute mehr aus dem Zimmer lassen. Vielleicht würde sie ihm auch verbieten, Schlagzeug zu spielen! Weil mit der Musik schließlich alles angefangen hatte. Erwachsene waren so krass, sie fanden immer Gründe! Sie begriffen nicht, dass man mit dreizehn Jahren total auf sich selbst aufpassen konnte.

Aber zum Glück war sie ahnungslos. Sollte sie auch bleiben! Es genügte, wenn er und seine Freunde es wussten. Das Geheimnis von Mühlheim gehörte ihnen allein! Jonny grinste und überlegte, wie alles angefangen hatte. Schwer zu sagen. Als er hierherkam? Als Trev den Hof gekauft hatte? Hm, nein, grübelte Jonny, eigentlich ging es richtig los, als Fabian kam ... Wenn man einmal alles erzählen müsste, an dieser Stelle würde er beginnen.

1. Kapitel: Der Umzug ans Ende der Welt

Der riesige Möbelwagen versperrte die ganze Einfahrt. Wenn man von der Straße her ankam, verdeckte er immerhin dieses spießige Haus am Waldrand mit seinem putzigen roten Ziegeldach und den albernen Fachwerkkästchen. Und wenn man sich etwas hinhockte, versperrte der Wagen sogar die Sonne, die erbarmungslos auf das Geschehen niederbrannte. Die großen Ferien hatten gerade begonnen und Fabian war stocksauer.

Wenn man seine Situation bedachte, konnte man ihn auch gut verstehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedes Recht, sich selbst leid zu tun und alle zu verwünschen, die ihn hierher gebracht hatten, am meisten seine Eltern.

Der Entschluss, in dieses trübe Kaff so hoch oben im Norden zu ziehen, war doch total beknackt. Nach all diesem bescheuerten "zurück zur Natur"- und Ökogefasel, das seine Mutter verbreitete, der absolut traurige Höhepunkt! Wenn sie nur begreifen könnte, wie uncool das alles war! Keine ordentliche Betonwand weit und breit, auf der sich echte menschliche Anwesenheit durch ein paar geile Grafittis zu erkennen geben konnte. Stattdessen: saftige Wiesen mit gelangweilten Kühen, sorgfältig gestutzte Hecken, Bauernhöfe, die manchmal sogar mit Reet gedeckt waren und dann dieses niedliche kleine Fachwerkhäuschen zwischen malerischen, teilweise bewaldeten, sehr flachen Hügeln. Ein echtes Jammertal. Fabian fühlte sich fast wie gekidnappt und verschleppt.

Er umrundete missmutig den Kastenwagen, auf dessen Plane in großen, altmodisch geschwungenen Lettern "Meier und Söhne, Umzüge und Stückgutverkehr" stand. Der hintere Teil war hochgerollt, die Hebebühne lag auf dem Boden auf und der Laderaum war leer. Die Riemen, mit denen man Schränke und Tische an den Seiten festbinden konnte, hingen schlaff herunter. Der Fahrer legte noch eine der grau-braun gemusterten Decken zusammen und schichtete alle sauber aufeinander. Die beiden Männer, die mitgeholfen hatten, die vielen Kisten und Einrichtungs-teile ins Haus zu schaffen, saßen mit einem Bier auf dem großen Findling, dem größten, der vor dem Haus lag. Sie verdeckten ein wenig die riesige 19, die auf den Stein gemalt war. Das Haus stand ziemlich vereinzelt und zurückgesetzt von der Straße, da war es schon wichtig, dass jemand die Hausnummer von weitem lesen konnte.

Wenn einen jemand finden wollte.

Fabian bezweifelte dies, hier in dieser Gegend. Er musste an seinen letzten Mathematiklehrer denken. Der hatte einmal, so ganz außer der Reihe, erklärt, was Wahrscheinlichkeitsrechnung sei. Nicht, dass Fabian sich sehr für Mathe interessierte, aber Schmitz, "der Verschmitzte", konnte gut erklären. Fabian hatte alles verstanden. Es war wenig wahrscheinlich, dass jemand Fabian in solch einem Dorf suchen könnte. Und es war sicher noch viel unwahrscheinlicher, dass in solch einem verschlafenen, kleinen Dorf etwas passierte, was ihn vom Hocker reißen konnte. Sehr, sehr unwahrscheinlich sogar. Dieser Gedanke machte Fabian noch missmutiger. Er stellte mit einem Mal fest, dass er begann, Möbelwagen zutiefst zu hassen.

Der Fahrer schloss die große Hubklappe des Lastwagens, legte die Riegel um und sicherte sie sorgfältig. Dann wischte er sich die schweißnasse Stirnglatze, holte ein Bündel Papiere aus der Brusttasche seiner blauen Latzhose und wandte sich um.

"Frau Sieblitz ... "

Aber da war keine Frau Sieblitz. Sie hatte sich gerade wieder ins Haus begeben. Wer dort stand, war ein ungefähr zwölf- oder dreizehnjähriger Junge, der sich auf eine Gitarre stützte, die irgendwie etwas zu groß für ihn aussah. Er hatte einen wirren Haarschopf von einer ungewissen schmutzig-blonden Farbe. Der Fahrer überlegte kurz, ob man diesen Eindruck auch durch nachhaltige Vermeidung von Wasser und Shampoo erreichen könnte.

Der Junge starrte finster zurück.

"Du bist doch der Sohn von Frau Sieblitz, nicht wahr? Weißt du, wo deine Mutter hingegangen ist?" Die Frage sollte freundlich klingen, aber das ist nicht leicht, wenn einen jemand so anstarrt, wie eben dieser Junge.

Ein paar Sekunden absoluter Stille folgten. Nein, nicht ganz, im Hintergrund hörte man die beiden Möbelpacker genussvoll ihre Flaschen leeren.

Der Junge öffnete den Mund.

"Sind Sie sicher, dass das hier Mühlheim ist?"

"Wie bitte?" Der Fahrer schien seinen Ohren nicht zu trauen.

"Ich habe gefragt, ob das hier wirklich Mühlheim ist!", wiederholte der Junge mürrisch. Er sah nicht so aus, als erwarte er eine erfreuliche Antwort. Eher konnte man annehmen, dass der Junge nach einem lohnenden Ziel suchte, auf das er die Gitarre draufschlagen könnte, bis nur noch Kleinholz übrig blieb.

Den Möbelfahrer überfielen plötzlich Erinnerungen an seine Jugend, als es tatsächlich zum guten Ton einer Band gehörte, wenn der Gitarrist sein Instrument auf der Bühne zerhackte. Aber das war lange her. Inzwischen hatten sich die Instrumente anscheinend so sehr verteuert, dass sich diese Aktion keiner mehr leisten konnte. Nur der Junge da vor ihm sah so aus, als ob er die gute alte Tradition durchaus wieder zum Leben erwecken könnte.

"Mühlheim? Ja, sicher ist das Mühlheim hier. Es gibt zwar sehr viel Orte, die so heißen, aber wir sind bestimmt in dem richtigen. Sonst hätten wir ja nicht dieses Haus hier gefunden." Irgendwie war dem Fahrer überhaupt nicht klar, worauf der Junge mit dem finsteren Blick hinauswollte.

"Und es ist wirklich nur das, was ich gesehen habe? Die paar Häuser, als wir hindurchgefahren sind?" Der Junge sah jetzt aus, als wäre ihm fast schon egal, worauf er seine Gitarre zerschlagen würde. Der Findling vor dem Haus wäre eine gute Idee, befand der Möbelfahrer, aber darauf saßen seine beiden Kollegen, die jetzt die nächste Flasche öffneten.

"Ich kenne nur eine einzige Stadt, die Mühlheim heißt. Die liegt an der Ruhr, einem Fluss, der durch ein großes Industriegebiet fließt. Aber das ist sehr weit weg von hier."

"Das dachte ich mir", antwortete der Junge, und man konnte fast seine Zähne dabei knirschen hören.

"Fabian! Wo bist du denn? Räum doch mal bitte deinen Verstärker aus dem Weg! Er steht mitten im Wohnzimmer! Da sollen noch andere Sachen hin!" Mutter Sieblitz kam rufend aus dem Haus gelaufen, wild nach ihrem Sohn Ausschau haltend. "Fabian, da bist du ja! Steh nicht so rum und hilf doch mal mit! Wir haben weiß Gott genug zu tun."

Fabian rührte sich keinen Zentimeter.

"Also, bitte, jetzt geh` doch mal rein und fass mit an ..."

Man konnte deutlich sehen, wie der Junge den Hals seiner Gitarre fester umklammerte. Der Möbelfahrer wurde unruhig. Er wird doch nicht etwa? dachte er. Seine Mutter hatte ihm doch gar nichts getan. Was war das bloß für ein Junge? Was hatte er für Probleme?

"Mutter, es sind 20 Häuser hier im Ort. Ich habe sie gezählt."

"Einundzwanzig", verbesserte Frau Sieblitz etwas abwesend, "du hast unseres vergessen." Zu dem Fahrer gewandt: "Kann ich noch etwas für Sie tun?"

"Ja, gewiss, ich brauche noch ihre Unterschrift auf den Arbeitspapieren. Dass wir pünktlich da waren, dass nichts fehlt und nichts kaputt gegangen ist, na, Sie wissen schon. Der ganze Kram eben. Hier, bitte!" Er hielt ihr ein Bündel Papier und einen Kugelschreiber entgegen.

Die Frau nahm die Papiere und begann, sie zu studieren.

"Ja, ich glaube, dass alles da ist. Was ist das hier ... elf Stunden? Wir haben doch erst ... warten Sie mal, zwei ... drei ... vier ..." Sie nahm versuchsweise ihre Finger zu Hilfe.

"Wir müssen ja noch zurückfahren. Die Zeit geht von und bis Betriebshof, das stand im Angebot", beeilte sich der Fahrer zu erklären und deutete auf eine Stelle mitten im Papierwust.

"Ach so, jaja. Hm." Frau Sieblitz nestelte etwas ungeschickt mit dem Kugelschreiber herum, den Blick suchend in die Runde, wo man die Papiere fest auflegen konnte, um zu unterschreiben.

"Einundzwanzig Häuser! Ein winziges Dorf. Nein. Nicht mal ein Dorf. Ein Nichts! Ein Garnichts!"

Fabian fühlte sich wieder einmal wie eine Figur, die man nach Belieben auf einem Spielbrett herumgeschoben und dann vergessen hatte.

In der Tat waren seine Mutter und der Möbelfahrer mit der Abwickelung der Formalitäten völlig ausgelastet. Auch die beiden Arbeiter unterhielten sich lautstark, ab und zu trinkend, ohne weiter herüber zu schauen. Bielefeld hatte doch tatsächlich in der neunzigsten Minute noch das Gegentor von Osnabrück einstecken müssen. Die totale Sensation in der Liga, ganz klar. Jedenfalls da, wo die beiden herkamen.Was, bitte schön, war wichtiger als Fußball? Na also!

Fabian sagte nichts mehr.

Als der Möbelfahrer die Papiere faltete und einsteckte, konnte er den Jungen nirgends mehr entdecken. Er nahm an, dass dieser ins Haus gegangen sei und seinen Verstärker wegrollen würde. Auch Frau Sieblitz kam dieser Gedanke. Na bitte, es geht doch, dachte sie.

Sie irrte sich leider.

Fabian war nicht im Haus. Er räumte auch nicht seinen Verstärker weg. Er war einfach verschwunden.

Im Wald, der dicht hinter dem Haus begann, musste man wohl kaum mit jemandem rechnen, der einem dauernd eine Arbeit aufgab, sich sonst aber nicht im Geringsten für seine Probleme interessierte. Fabian stapfte den Fußweg entlang, der hinter dem Grundstück begann und zu diesem kleinen Hügel zu führen schien. Er hatte seine Gitarre geschultert und lief entschlossen los. Es ging ein wenig aufwärts, das Dorf lag an der tiefsten Stelle zwischen diesen sehr mittelmäßigen Hügeln. Ihr könnt mich mal alle, dachte Fabian erbittert. Noch nicht mal ordentliche Berge haben sie hier! Die meiste Zeit ihrer Fahrt hatte er überhaupt nur flaches Land gesehen.

Der Weg machte eine kleine Windung und plötzlich schien es, als stünde er mitten im Wald. Wenigstens war jetzt nichts mehr von diesem bescheuerten Haus zu sehen, das seine Eltern ohne sein Einverständnis gekauft hatten, hier in dieser Einöde.

Alles hatte sich gegen ihn verschworen. Wie sollte er hier ein berühmter Gitarrist, ein Popstar werden? Hier, wo ihm neben ein paar Rentnern höchstens noch ein paar Hunde oder Katzen zuhören konnten? Eine Band hatte er sich gewünscht, umjubelte Auftritte vor großem Publikum, Studiogast bei MTV und in allen Musikshows von allen anderen Fernsehsendern!

Und nun das hier! Ein Dorf mit 21 Häusern! Das war`s! Schluss, Ende, Aus! Tschüß, liebe Karriere! Fabian trat wütend nach einem Kieselstein auf dem Weg und beobachtete grimmig, wie dieser nach ein paar Sprüngen im Unterholz verschwand. Wofür hatte er geübt, die ganzen drei Jahre, seit er seine Liebe für die Musik entdeckt hatte? Für nichts, nichts und wieder nichts! Und nie wurde er gefragt! Seine Eltern hatten alles einfach so durchgezogen, einfach so!

Dabei hatte seine Mutter immer so geheimnisvoll getan. Es würde ganz wunderbar werden, hatte sie geschwärmt. Gesunde Luft und mitten in der Natur, und sie hatte ihm über das Haar streichen wollen, das auch sie gern etwas ordentlicher gesehen hätte. Fabian knurrte unwillkürlich, als er an diesen Moment zurückdachte. Da war er schon etwas misstrauisch geworden. Wenn seine Mutter anfing, irgendwas von Gesundheit zu erzählen, endete das bestimmt in einem ungezuckerten Müslibrei mit einem unverhofften Steinchen, das sie für eine Haselnuss gehalten hatte. Oder einem sehr bissfesten Gemüseauflauf, dem neben Salz alles fehlte, was einen Auflauf schön machte. Außer Gemüse, natürlich, meistens zwei Sorten. Genau zwei Sorten, nämlich Mohrrüben und Broccoli. Weil die so gesund waren.

Und Musik machen war für seine Mutter natürlich mit Lärm verbunden. Andere Eltern waren stolz, wenn ihre Kinder freiwillig sagten: "Ich gehe jetzt etwas üben!"

Was aber hatte Fabian mit anhören müssen, einmal beim letzten Geburtstag seines Vaters? Es war genau die Zeit, zu der die Weinflaschen bedenklich leerer wurden, als seine Mutter das Wort ergriffen hatte.

"Ich glaube, ich habe im Leben nur zwei Fehler gemacht. Der erste war, Fabian eine Gitarre zu schenken. Der zweite Fehler war dann zu Weihnachten der Verstärker." Dabei lachte sie so furchtbar schrill, was Fabian genau so ärgerte, wie er nicht verstand, wo da der Witz sein sollte.

Seiner Meinung nach hatte sie nur einen Fehler begangen: heute, ausgerechnet an einem 13. Juli in dieses Dorf am Ende der Welt zu ziehen. Das Schicksal war ungerecht und er ihm hilflos ausgeliefert. Fabian hielt an, griff in die Tasche und holte sein Handy hervor. Auch so ein Geschenk, mit dem er zutiefst haderte. "Dann kannst du mich immer erreichen, wenn etwas ist", hatte seine Mutter gesagt. In Wahrheit rief sie ihn mehrmals am Tag an, wo er gerade sei, was er täte und wann er nach Hause käme. Fabian sah das Ding angewidert an, dann schaltete er es ab und steckte es wieder ein.

Der Weg machte eine zweite, enge Biegung und stieg wieder ein wenig an. Fabian schätzte, dass er etwa 100 Meter vom Haus entfernt war. Das war entschieden zu wenig. Er schritt weiter voran und der Wald wurde zusehends dichter und wohltuend kühl. Noch mal so weit, dachte der Junge, dann suche ich mir ein schönes Plätzchen zum Spielen. Neben seiner Gitarre hatte er einen kleinen, kaum milchpackungsgroßen Verstärker mit eingebautem Lautsprecher mitgenommen und an seinen Gürtel gehängt. Er würde eben den Vögeln etwas vorspielen. Noch einmal kickte er einen Stein davon. Das tat sehr gut.

Nach einer Weile hörte er ein leises Plätschern. Beim Näherkommen entdeckte er die Ursache. Ein lebhafter kleiner Bach sprudelte quer unter einer schmalen Bücke hindurch. Das war doch ein schöner Ort.

Der Junge nahm die Gitarre von der Schulter, setzte sich auf das Geländer und schaltete den kleinen Verstärker ein.

Zuerst spielte er sein Lieblingsstück, "Nowhere you can go to" von den Fleshdevils, einer Band, die zum Glück sonst niemand kannte. Er hatte die Platte zufällig bei einem seiner vielen Besuche in der Musikabteilung des Kaufhauses entdeckt. Das Cover war grandios, der Gitarrist stand genau so am Bühnenrand, wie man dastehen musste. Fabian hatte den Kauf nie bereut. Bald kannte er jedes Stück auswendig und zwei oder drei konnte er sogar spielen. Jedenfalls den Gitarrenteil, und er war sehr stolz darauf, dass er die Akkorde selbst herausgehört hatte. Na gut, ein bisschen hatte sein Musiklehrer geholfen, aber das war wirklich nebensächlich.

Fabian entdeckte, dass der Bach fast ein bisschen wie Schlagzeug-begleitung klang. Wie leise Wirbel und das Rühren des Besens auf dem kleinen Standtom oder der Snare. Plötzlich hielt er inne. Das war nicht der Bach. Das hörte sich wirklich an wie ein richtiges Schlagzeug. Es war weit entfernt und sehr leise, aber er war sich nach längerem Lauschen ganz sicher. Das rhythmische Geräusch hörte manchmal wieder auf, begann wieder, brach wieder ab.

Es kam irgendwie von oberhalb des Bachlaufes. Aber wie kam man dort hin? Am Bach entlang sicher nicht. Das Wasser hatte einen tiefen Einschnitt in den Waldboden gegraben und an den Seiten bildete Unterholz ein undurchdringliches Dickicht. Der Weg, den Fabian gekommen war, führte eigentlich von den Geräuschen weg, wenn auch weiter aufwärts.

Fabian packte die Neugier. Er schulterte wieder sein Instrument, griff den Übungsverstärker und lief los. Der Weg entfernte sich wieder von den Schlagzeuggeräuschen, stieg aber ständig weiter an. Nach weiteren hundert Metern war klar, dass man hier eine Art Serpentine angelegt hatte, auch wenn ihm völlig schleihaft war, wozu. In einem scharfen Knick ging es zurück und bald war auch wieder dieses faszinierende Trommeln zu hören, in das sich ein paar Schritte weiter noch ganz andere Töne mischten. Fabian stutzte. Sollte hier ...? Nein, das war vollkommen unmöglich. Das hier war ein Kuhkaff, so hatte er es beschlossen. Das war so und das blieb so. Oder doch nicht?

Er schwankte in seiner Ansicht, je mehr er einen Fuß vor den anderen setzte. Es klang tatsächlich wie Schlagzeug, und das andere war zweifellos eine Bassbegleitung und ab und zu eine Art Gitarre. Aber sie klang nicht richtig, irgendetwas war falsch daran. Dazu sang sogar jemand, wenn auch längst nicht so gut, wie das Spiel der Instrumente herüberkam. Fabian kannte sogar das Stück, es war "Behind Blue Eyes" von einer Gruppe mit dem merkwürdigen Namen "Flip Biskit".

Sie hatten es sogar bis in die Charts geschafft. Fabian fand das beachtlich, auch wenn er zu Hitparaden eine gespaltene Meinung hatte. Eine wirklich coole Band konnte nicht an die Spitze eines Massengeschmacks kommen. Andererseits gab es ohne Fans, die viele Platten kauften, auch keine gefeierten Gitarristen.

Schlagzeug und Begleitung klangen wirklich nicht übel, befand der Junge, und wer immer hier spielte, schien zu üben, weil die Musik öfter zwischendurch abbrach.

Wer übt, will noch besser werden. Das gefiel Fabian. Sollte hier etwa doch ... Er schwankte zwischen Hoffung und Unglauben.

Noch eine letzte kleine Ecke, dann lag sie vor ihm, die Quelle dieser aufregenden Geräusche. Hinter einer Brücke stand eine alte Wassermühle. Sie schien noch ganz gut erhalten, aber außer Betrieb. Das Antriebsrad war abgebaut und an der Schmalseite des Hauses gelagert. Als Fabian herankam, sah er, dass es schon eine ganze Zeit dort liegen musste. Es war völlig von Unkraut überwuchert. Auch das Haus machte keinen sehr frischen Eindruck mehr.

Die Musik kam eindeutig aus dem Innern. Fabian ging vorsichtig um die Ecke, nach einem Fenster suchend, durch das man hineinspähen konnte. Die Töne waren jetzt ziemlich laut, wenngleich wie durch geschlossene Türen und Fenster gedämpft. An der Frontseite der alten Mühle gab es nur zwei blinde Fenster und eine knorrig aussehende Tür.

Fabian wagte nicht, hineinzugehen. Vielmehr lugte er durch die Scheiben. Dahinter sah er staubige Räume mit uraltem Mobiliar. Aber dort drinnen musste es doch sein.

An der anderen Schmalseite der Mühle fand sich noch ein Fenster. Leider lag es wegen des zum Bach hin abschüssigen Bodens zu hoch. Er konnte also nicht ohne weiteres hineinschauen.

Fabian schleppte einen alten Hauklotz herbei und stellte sich darauf. Gleich darauf verlor er das Gleichgewicht und fiel wieder herunter. Es ist nicht gut, sich auf einem wackeligen Stand kräftig in den Arm zu kneifen. Fabian wählte diesen Test, weil er glaubte, zu träumen. Es tat ziemlich weh, denn Fabian hatte sehr kräftige Finger. Gut für einen Gitarristen, schlecht, wenn man wackelig steht und sich mit aller Kraft kneift.

Er träumte also tatsächlich nicht. Nun, dann war aber etwas faul an der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Das Bild, das sich ihm geboten hatte, war trotz der Vorwarnung durch die Musik eine völlige Überraschung für ihn.

Auf einer kleinen Bühne stand ein komplettes Schlagzeug und ein ziemlich großer Bassverstärker. Davor sah er etwas, was er als Synthesizer einstufte. Das Ganze wurde bedient von zwei Jungen, die auf keinen Fall viel älter sein konnten als er selbst.

Fabian befand sofort, dass sie akzeptabel aussahen. Gut, der Bassist war vielleicht etwas dicklich, aber er hatte ganz vernünftig gespielt, und da konnte man das durchgehen lassen. Soweit man das hinter dem ganzen Aufbau sehen konnte, war der Schlagzeuger eher klein, aber drahtig. Sie sahen auf jeden Fall nicht wie irgendwelche Loser aus und hatten vor allem keine dieser peinlichen Sachen an, auf denen sowas draufstand wie "Phillipstown University" oder "Manhattan Baseball no1". Der Schlagzeuger trug ein T-Shirt von den "Nightriders", das Fabian noch nicht kannte und der Bassist war einfach in cooles Schwarz gekleidet. Ab und zu versuchte er, neben seinem Bass auch auf dem Synthie zu spielen. Das also war die komische Gitarre, die Fabian vorhin gehört hatte. Es klang aber sehr merkwürdig und der Dicke war mit dieser Aufgabe ganz offensichtlich überfordert.

Kein Zweifel, es sah so aus, als ob sie einen Gitarristen brauchen könnten. Zufällig kannte Fabian einen besonders guten, der gerade sinnlos im Wald herumgestanden und sich eine Band gewünscht hatte.

Die Tür knarrte erbärmlich, aber das ging in dem Lärm unter, der ihn im staubigen Flur empfing.

Welch göttliche Klänge. Er pirschte sich vor, bis er in der halboffenen Tür dieses merkwürdigen Übungsraumes stand.

2. Kapitel: Die Wunder des entlegenen Tales

Es dauerte ein paar Takte, bis die beiden Musiker den Eindringling bemerkten. Der Bassist sah Fabian zuerst, als er sich von seinem Mitspieler wegdrehen und aus dem Fenster schauen wollte, wie coole Bassisten das so tun. (Man musste ja auch sowas üben.)

Sein Mund öffnete sich, die Finger hörten auf zu spielen, er erstarrte sozusagen und schaute, als wäre ihm ein Geist erschienen. Sein Freund spielte noch ein paar Wirbel, ehe auch er hochschaute und ebenso verwirrt reagierte. Der letzte Wirbel endete auf dem Hängetom, wo sich die Sticks ineinander verfingen. Einer davon segelte wie in Zeitlupe auf Fabian zu.

Wenn wir jetzt in einem Film wären, dachte Fabian plötzlich, würde ich den Stick auffangen und einen coolen Spruch machen. Er war aber in keinem Film, und so klatschte der Stock neben ihm auf den Boden.

Dann fiel ihm aber doch noch etwas ein, was er sagen konnte. Nicht, dass er den magischen Moment unterbrechen wollte, zu dem die Szene gefroren schien. Er wollte eigentlich nur der erste sein, der etwas sagte.

"Hallo, Jungs. Hört sich ja schon gut an. Kann man was draus machen. Ach ja, ich bin euer neuer Gitarrist. Ich hoffe, ihr habt euch nicht gelangweilt, bis jetzt."

Sein Spruch hatte aber nur zu Folge, dass die beiden auf der Bühne ihn noch entsetzter und wie gelähmt anglotzten.

Endlich platzte der Schlagzeuger heraus: "Das gibt’s nicht. Das gibt`s nicht." Er sah genau so aus, als würde er den Satz gern noch ein paarmal wiederholen.

Und der Bassmann fügte etwas langsamer hinzu: "Ich glaub`s nicht, ich glaub`s einfach nicht!"

"Was ist los? Bin ich ein Geist?"

Die beiden Jungen glotzten ihn jetzt schweigend an.

Jetzt muss etwas passieren, dachte Fabian. Diesen Augenblick konnte man nicht einfach vertun.

Er fummelte in seiner Tasche herum und brachte ein schwarzes Kabel zum Vorschein. Ein Ende steckte er in seine Gitarre, mit dem anderen in der Hand machte er drei Schritte vorwärts.

"Hast du einen zweiten Eingang für mich? Muss ja keine Klangregelung dran sein, das krieg ich schon hin."

Der Bassist machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite und gab das Paneel seines Verstärkers frei. Fabian fand noch eine angemessene Buchse und drückte seinen Klinkenstecker hinein.

"Was habt ihr gerade gespielt? Das war geil, das kann ich auch. He, glotzt bloß nicht so. Hier ist dein Stick!" Er reichte dem Schlagzeuger sein entflogenes Werkzeug und begann, die ersten Akkorde herunterzuspielen. Es war, als ob die beiden Jungen aufwachten. Das Schlagzeug setzte ein und auch der Bass kam brummelnd in Bewegung. Es war genial. Diese Dorfkinder spielten wirklich gut. Das war zwar völlig unverständlich, aber Fabian hatte keine Lust, jetzt über das Wieso und Warum nachzudenken. Er stand am Rand der kleinen Bühne und genoss das Gefühl, gleich abzuheben.

Leider geht jedes Stück einmal zu Ende. Fabian drehte sich um, nickte dem Schlagzeuger zu und sie kriegten sogar einen ziemlich passablen Schluss hin, ohne dass einer noch lange nacheierte.

"Ich bin Fabian!" sagte Fabian, weil es einfach so sein musste. Jerry Brix von den Fleshdevils hätte das auch so getan. Noch ein paar Sekunden vergingen, dann dämmerte es dem Bassisten.

"Du bist einer von den Leuten, die in Nummer 19 einziehen wollten, stimmt`s?"

"Wir sind gerade dabei. Ich bin da abgehauen. Ging mir auf den Nerv." Fabian schlug unwillkürlich ein paar sehr schräge Akkorde. "Und wer seid ihr? Schöner Übungsraum übrigens, muss man euch lassen."

Der Schlagzeuger war jetzt auch zu sich gekommen. "Ich bin Jonny", sagte er schnell und begann, auf seinem Hocker hin und her zu wippen. "und ich wohne direkt neben Trev, den musst du auch kennenlernen. Ein hammergeiler Schlagzeuger! Und das hier ist Palfi, seine Eltern haben den Gasthof! Den Bass hat er auch von Trev gekriegt! Du weißt ja gar nicht, was hier los ist! Mann, ist das krass, dass du hier auftauchst, genau, wie Trev es vorausgesagt hat!"

"So hat Trev das aber nicht gesagt!", unterbrach der Bassmann, den der Schlagzeuger Palfi genannt hatte, was Fabian für einen ziemlich albernen Rufnamen hielt. "Trev hat gesagt, wir sollen erstmal üben, dann kommt ein Gitarrist von ganz allein. Das hat er gesagt!" Palfi drehte sich zu Fabian um. "Manchmal spielt Trev auch mit uns. Er kann nämlich auch ganz gut Gitarre!"

"Ja, aber am besten spielt er Schlagzeug, da war er mal ganz groß!", fiel ihm Jonny ins Wort, wobei er aufstand und seine ganze Schießbude mit einem Wirbel überzog. Dann kam er hinter seiner Trommelbarrikade hervor und piekte mit einem Stick in die Luft vor Fabian. "Er war mal bei den Wizards of Scorpio, die waren ultrabekannt, und da hat er soviel

Geld gemacht, dass er sich ein ganzes Studio für sich allein bauen kann! Das ist echt der Hammer!"

Jetzt schien er nicht mehr zu bremsen. Er redete ohne Pause, während er um Fabian herumhüpfte. Er hatte eine Art, sich fortzubewegen, die einen ruhenden Betrachter ganz wirr machte. Fabian kam einer dieser Gummibälle in den Sinn, die viel heftiger wegspringen, als man sie aufgetippt hat. Kein Wunder, dass dieser Junge Schlagzeug spielte. Da konnte er sich austoben.

Es war nicht leicht, auf diese Art an brauchbare Informationen zu kommen. Der Bassist Palfi, der einen ziemlich ruhigen Eindruck machte, kam einfach nicht zu Wort. So dauerte es eine ganze Weile, bis sich für Fabian ein Bild formte, das er noch vor einer Stunde für völlig unmöglich gehalten hatte. Es war auch zu unwahrscheinlich. Langsam beschlich ihn der Gedanke, dass er sich vorhin gründlich geirrrt hatte.

Jonny hieß eigentlich Jon Welker und wohnte an dem Ortsausgang, der am weitesten von Fabians neuem Zuhause entfernt lag. Das bedeutete aber nicht viel, denn Mühlheim hatte tatsächlich nur 21 Grundstücke. Man konnte in zehn Minuten von einem Ortsschild zum anderen laufen. Wenn man rannte, brauchte man nur wenig mehr als drei.

Aber dieses Dorf hatte es in sich. Das Wichtigste war natürlich der Resthof, der diesem Schlagzeuger gehörte, der mit dieser berühmten Band, die Fabian leider völlig unbekannt war. Er lag direkt neben dem Haus, das Jonnys Mutter geerbt hatte. Das war auch der Grund, der Jonny in dieses Dorf verschlagen hatte. Obwohl, konnte man solche Worte benutzen, wenn man ihn so über Mühlheim berichten hörte? Aber es kam noch besser.

Dieser Musiker wollte tatsächlich den alten Resthof zu einem ultracoolen Musikstudio umbauen. "Ungestörte Plattenproduktionen in schöner Landschaft." Jonny erzählte begeistert von der Anzeige, die in allen Musikmagazinen abgedruckt werden sollte. Einer der Redakteure war natürlich ein alter Freund von Trev, und so gab es sicher auch einen schönen Bericht mit vielen Fotos.

Der Bassist stellte sein Instrument in den Ständer.

"Wir sollten hingehen", sagte er bestimmt. "Ich krieg jetzt sowieso nichts mehr zusammen."

Auch Jonny hielt das für eine gute Idee. Er hatte so etwas ähnliches ebenfalls sagen wollen, aber die anderen Sachen waren viel wichtiger gewesen. Mit Schwung deponierte er seine Trommelstäbe am Standtom und sprang von der Bühne.

"Also los, auf zu Trev!"

Sie verschlossen sorgfältig die museumsreife Tür und machten sich auf den Weg. Es ging zurück über die Brücke, von der aus Fabian vorhin zum ersten Mal die alte Mühle betrachtet hatte. An der ersten Wegbiegung, jener, die ihn wieder zurück zu den Trommelgeräuschen geführt hatte, verschwand der vorauseilende Jonny plötzlich im Unterholz. Fabian zögerte.

"Pass auf, da geht es ein Stück steil runter", bemerkte der Bassist, "es ist eine Abkürzung. Sie führt direkt zum Hof hinunter."

Fabian fasste seine Gitarre fester, die er natürlich nirgendwo allein stehen ließ, auch nicht in so einem tollen Übungsraum. Hinter der Blätterwand des Unterholzes konnte man plötzlich einen Trampelpfad sehen, auf dem sich Jonny hüpfend und rutschend hinabbewegte. In Fabians Gedanken stieg wieder das Bild eines Gummiballes auf.

Mit einer Gitarre, die weder schmutzig noch beschädigt werden sollte, war es nicht ganz so leicht, den Abhang zu überwinden. Schließlich wurde der Boden etwas ebener.

"Jetzt halt dir mal lieber die Ohren zu", sagte Jonny, als sie weitergingen.

"Warum? Gibt’s hier noch mehr Übungsräume?", fragte Fabian zurück.

"Na, wirst schon sehen", meinte Palfi, der eigentlich Konrad hieß und manchmal so klang, als käme er überhaupt nicht aus dieser Gegend hier.

Sie kamen an einen Zaun, und sofort setzte ohrenbetäubendes Gebell ein.

"Wuäähh-Wuff!", machte Jonny fast genauso laut und drehte sich nach den beiden anderen um. "Es gibt auch Hunde, die ich leiden kann. Aber dieser hier gehört nicht dazu."

Ein tobender und geifernder schwarzer Rottweiler sprang wie irrsinnig am Zaun hoch. "Und hier muss ich immer vorbei, wenn ich zur Mühle will. Ist das nicht eine Zumutung?" Man konnte ihn kaum verstehen, so laut war das Gebell.

"Hier wohnt so ein Rentner, ein verbiesterter alter Knochen, der immer schlecht drauf ist und rumschreit. Der passt zu dem Hund. Manchmal weiß man nicht, wer gerade bellt", erläuterte Palfi und deutete in den Garten, den man jetzt gut überblicken konnte. "Schau dir mal den Rasen an."

Fabian sah sofort, dass man diesen Rasen nie betreten durfte. Was machte bloß der Hund, oder war er so erzogen, nur die Wege zu benutzen?

"Ich habe schon gesehen, dass er mit einer Schere dahockte und einzelne Halme beschnitt. Kannst du dir das vorstellen?"

Fabian wurde einer Antwort enthoben.

"Was ist da wieder los? Lasst sofort den Hund in Ruhe!" Ein ziemlich alter, aber sehr rüstiger Mann sprang hinter der Hausecke hervor. "Ah, ihr seid das wieder! Ich werde mit euren Eltern reden, damit sie euch mal richtig verprügeln. Gleich mache ich die Tür auf, dann kann euch Harras mal packen. Dann habt ihr ihn zum letztenmal geärgert."

"Das sagt er immer", informierte Jonny und rief über den Zaun. "Auf Wiedersehen, Herr Hassema!" Und: "Der heißt wirklich so!", als Fabian ihn verdutzt anschaute.

Der Trampelpfad führte genauso abrupt, wie er oben begonnen hatte, auf die Hauptstraße hinaus. Plötzlich schien ihnen wieder die Sonne ins Gesicht.

"Da drüben wohne ich", rief Jonny und Fabian sah, als er sich langsam an die Helligkeit gewöhnte, dass er auf die andere Straßenseite zeigte. Dort stand ein schmuckes altes Fachwerkhaus, mit blühenden Blumenbeeten davor, in der gerade eine Frau mittleren Alters herumwerkelte.

"Hallo, Mama!", rief Jonny. Sie richtete sich auf, als die Jungen näherkamen.

"Schau mal, das ist Fabian, der ist neu hier. Wir gehen mal rüber zu Trev! Wann gibt`s Abendbrot?"

"Um sechs, das weißt du doch. Es ist jetzt vier, du hast noch zwei Stunden. Aber vergiss es nicht!" Und zu Fabian gewandt: "Hallo! Gehörst du zu den Leuten, die in das Haus neben der Bushaltestelle eingezogen sind? Hast du dich schon umgesehen? Es ist schön hier nicht wahr?"

Fabian versuchte, etwas Höfliches zu sagen. Es fiel ihm aber nichts ein, und Jonny zog ihn auch schon fort. "Ja, gefällt ihm sehr gut. Also, wir sind dann bei Trev!"

"Schon gut", seufzte Frau Welker, die auf den schönen Namen Annemarie hörte, und machte sich wieder über das Beet her. "Aber komm nicht so spät!"

"Jaja, Mama!" Und als sie ein paar Schritte weiter waren, sagte er zu Fabian und Palfi: "Uähh. Der Abend wird ja wieder ätzend!"

"Du kannst ja sagen, dass du bei mir schlafen willst. Das letzte Mal ist doch schon wieder zwei Wochen her", schlug der Gastwirtssohn vor.

"Nee, nee, lass mal. Da muss ich durch. Hat sie ja schon angekündigt. Ein andermal wieder, wenn es vorbei ist." Jonny ballte missmutig die Hände in den Taschen.

"Was ist denn, deine Mutter sieht doch ganz nett aus. Verprügelt sie dich oder was? Ist doch normal, dass man zum Abendbrot nach Haus kommt, oder?"

Fabian war der Sinn des Wortwechsels völlig entgangen.

"Hach, verprügeln ist gut. Wenn sie das mal täte!" Sie waren inzwischen in der Einfahrt des Nachbargrundstückes angelangt. Ein breiter Weg führte zu einem großen Bauernhaus mit angrenzenden Scheunen. "Hier ist es, der Hof, den Trev gekauft hat! Ich denke, wir suchen ihn mal in der Spielscheune!"

Jonny wandte sich nach rechts, auf ein offenstehendes Tor zu, in das bequem ein Lastwagen hätte hineinfahren können.

"Was hat er, eben war er noch so gut drauf?", wandte sich Fabian halblaut an Palfi.

"Ja, das ist schon schlimm. Er muss heute Abend wieder zuhören. Seine Mutter schreibt Kinderbücher, die liest sie ihm dann vor", gab der Bassist ebenso halblaut zurück.

"Ja und? Ist doch okay sowas!"

"Es sind Bücher für ganz kleine Kinder. Die Schnecke und das Hoppelchen. Du weißt schon, gell?" Er sagte eigentlich "scho" und nicht "schon", und außerdem noch ein sehr eigenartiges Wort. Fabian erinnerte sich dunkel an eine Ferienreise, wo die Leute auch so merkwürdig gesprochen hatten wie Palfi.

"Ach so, ah, wie grauenhaft! Sag mal, kommst du aus Bayern?"

"Ja, aus München. Wir sind auch zugezogen, wie fast alle hier. Ich heiße Palfinger mit richtigem Namen. Das wirst du nicht los ..."

"Ach, so ist das. Palfinger ... Palfi. Hm. Aber ist doch ganz lustig, wie du so sprichst."

"Du heißt ja nicht so."

"Trev!" Jonny, den es immer schneller vorangezogen hatte, rief in die offene Scheunentür hinein. "Trä-äff, wo bist du?"

"Hi-ier!", kam die Antwort gedämpft irgendwo aus dem Innern, "unter dem Pu-ult!"

Fabian sah Jonny nach rechts schwenken, dann hatten sich seine Augen langsam an die Lichtverhältnisse in der Scheune gewöhnt. Sie standen in einer riesigen Halle mit sauberem, glatten Fußboden, den noch nie ein einziger Pferdeapfel berührt zu haben schien. An der linken Schmalseite erhob sich eine Bühne, die auch einem kleinen Orchester genug Raum geboten hätte. Fabians Herz machte einen Sprung. Alles, was Jonny gesagt hatte, schien wahr zu sein. Für ein Dorf am Ende der Welt gab es hier reichlich Überraschungen.

Er wandte den Kopf nach rechts und sah Jonny auf ein Gerüst zusteuern, auf dem unverkennbar ein riesiges Mischpult thronte. Irgendetwas Großes, Dunkles bewegte sich darunter, krabbelte hervor, richtete sich auf und schüttelte die langen schwarzen Haare.

Ach nein, dachte Fabian, ein alter Hippie! Das war also dieser berühmte Trev. Und einen Bauch hatte er auch schon. Nun, man konnte schließlich nicht alles haben. Fabian beschloss, erstmal ganz höflich zu bleiben, schon, um nicht gleich eine Diskussion mit seinen neuen Freunden vom Zaun zu brechen.

"Na, ihr Helden der Volksmusik, schon fertig mit Üben? Hab euch noch nicht erwartet. Irgendwelche Probleme?" Der Hippie schüttelte noch einmal seine Haare und man konnte einen goldenen Ring in seinem Ohr sehen.

Fabian fragte sich, ob das vielleicht piratenartig wirken sollte. Die schwarze Lederhose und das armlose Shirt bestärkten diesen Eindruck nicht gerade.

"Trev, du hattest recht! Das ist krass! Man muss sich nur einen wünschen, dann kommt er! Wir haben ihn gleich mitgebracht! Schau mal, das ist Fabian! Hammergeil! Er ist in der 19 eingezogen!" Jonny hüpfte zu dem Piraten-Hippie auf die Plattform und versuchte, diesen in den Bauch zu boxen. Neben dem kräftigen, breitschultrigen Mann wirkte sein Versuch etwas verloren. Trev lachte laut und hob den Jungen spielerisch hoch. Fabian konnte die dicken Muskelpakete auf den nackten Armen sehen. Ach ja, fiel ihm ein, das war ja ein Schlagzeuger, hatte Jonny gesagt. Und dann klingelte es noch einmal bei ihm. Er erinnerte sich plötzlich an eine alte Musikzeitschrift, die bei einem Zahnarzt herumgelegen hatte. Es war Jahre her, als er gerade anfing, Gitarre zu lernen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Natürlich! Ganz breit auf der Titelseite! Wizards of Scorpio, genau, die erfolgreichste Hardrock-Band. Und in dem Interview stand dann, dass sie sich auflösen wollten. Ein Jammer für die Fans. Ihn hatte es völlig unberührt gelassen. Er kannte die Band nicht und Metal-Musik, zu der die Kids immer so mit den Köpfen nickten, war sowieso nicht sein Fall. Na gut, also kein Hippie. Ein Rocker-Pirat, oder Piraten-Rocker. Vielleicht konnte man damit leben.

Jonny war gerade dabei, wortreich und blumig die Ankunft des vom Himmel gesandten Gitarristen zu beschreiben. Der langhaarige Rocker hörte ergeben zu, schaute aber manchmal wie hilfesuchend zum Himmel. Palfi blickte herüber und grinste.

"Ja, und dann haben wir zusammen gespielt und er kann es wirklich. Glaubste nicht. Hammerscharf! War sowas von krass!", beendete jetzt Jonny seinen Vortrag.

"Na schön", sagte der Schlagzeugpirat, "wenn ich dich also richtig verstehe, ist euch ein Gitarren-Engel erschienen und ihr habt ihn gleich mitgebracht. Gut so. Dann lasst mal sehen!"

Jonny sprang leichtfüßig von dem Podest und der große Mann schwang sich nicht unelegant, aber deutlich langsamer hinterher.

Er streckte Fabian eine nicht zu übersehende Hand hin, eine echte Pranke. Kriegte man so was vom täglichen Trommeln?

"Hi, ich bin Trevor, Trevor Angermeier. Die Jungs nennen mich Trev, das hast du ja schon mitbekommen. Und du bist also ein begnadeter Gitarrist. Willkommen in Mühlheim, dem Nabel des Universums!"

Fabian schüttelte etwas verlegen die Hand des Schlagzeugers und überlegte, ob diese Begrüßung bedeutete, dass er ernst genommen wurde.

"Ja, äh, hi auch. Wir sind heute eingezogen. Ich dachte ... ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass hier ..." Seine Stimme verlor sich irgendwie und er fand sich selbst sehr uncool. "Was äh ... meinen Sie mit dem Nabel des Universums?"

"Nenn mich einfach auch Trev. Na klar ist das hier das Zentrum der ganzen Welt. Weil wir hier sind. Wir machen das dazu. Siehst du diese großartige Halle? Hier werden bald die obergeilsten Konzerte abgehen. Und das schon in wenigen Wochen! Jawohl!!"

Er wandte sich zu den beiden anderen.

"Und dieser Typ ist wirklich gut? Dann lasst es mich hören!" Und zu Fabian zurück: "Hast du Lust, kleines Match? Wenn Jonny so begeistert ist, muss das einen Grund haben. Ich kann ihn ja nicht dazu bringen, dass er das mit Worten sagt, wie zu meiner Zeit, dass er etwas abgefahren oder ätzend findet, aber der Sinn ist klar."

Trevor stockte plötzlich, die Augen auf Fabians Lieblingsstück geheftet. "Kann ich mal deine Gitarre sehn, das ist ja ..."

Er streckte die Hand wieder aus und Fabian zögerte. Dann reichte er mit sehr gemischten Gefühlen seinen Schatz hinüber. Der große Mann nahm sie mit einer routinierten Bewegung an sich und plötzlich schien er ein Baby im Arm zu haben. Fabian beobachtete, wie ein breites Grinsen seine Mundwinkel auseinander schob.

"Schau an. Das ist ja wirklich irre", sagte Trevor, und es schien, als sagte er dies voller Bewunderung. "Weißt du eigentlich, was du da hast?"

Seine linke Hand glitt über den Bund, er versuchte ein paar Griffe, ließ den rechten Daumen über die Saiten streichen. Nein, nicht streichen, befand Fabian, und es rührte ihn tief in der Seele an. Der Mann streichelte die Saiten.

"Wo hast du denn die her?"

"Meine Mutter hat die gekauft. Ich glaube bei einem Trödler. Sie war noch sauer, weil der sich nicht so weit runterhandeln ließ, wie sie wollte. Hat sie jedenfalls gesagt. Eine neue fand sie zu teuer. Also, es sollte ja auch keine Ramschware sein, hat sie immer gesagt, und das ist doch okay, oder? Ich glaub, sie stammt aus einer Wohnungsauflösung." Fabian war jetzt etwas nervös. Was meinte der Mann eigentlich?

Trevor starrte ihn auch etwas befremdet an, dann gab er sich einen Ruck und ihm die Gitarre sehr vorsichtig zurück.

"Halte sie in Ehren, hab viel Spaß damit. Für so ein Stück musst du normalerweise einige Tausend bezahlen. Dollar, Euro, wie du willst. Das ist eine ganz besondere Gitarre. Sie ist ziemlich alt. Eine Del-Mestre aus einer ganz speziellen Serie. Der Korpus ist aus Honduras-Mahagoni, leicht und trotzdem fest. Ein ganz edles Stück. Diese Saitenlage haben sie nie wieder hingekriegt. Vielleicht weil die Produktion umgestellt wurde, keine Ahnung. Ist aber so. - So und jetzt kommt mal mit auf die Bühne!"

Er drehte sich schnell um und ließ die Jungen hinter sich herlaufen. Fabian hatte den unbestimmten Eindruck, als wäre schon wieder etwas Merkwürdiges geschehen. Warum wischte sich dieser große Mann mehrmals über die Augen, und zwar so, dass man es von hinten nicht genau sehen konnte?

Sie waren am Bühnenrand angekommen. Trevor schwang sich mit einem behenden Satz hinauf, der ganz im Gegensatz zu seinem deutlich beginnenden Bauchansatz stand. Jonny, Fabian und besonders Palfi krabbelten etwas mühsamer hinterher. Die Bühnenkante war nicht gerade niedrig.

Auf der Bühne war eine komplette Konzertanlage aufgebaut. Vieles schien noch nicht fertig, aber das Schlagzeug sah komplett aus und ein paar Gitarrenverstärker standen auch herum. Der Musikpirat schaltete drei davon an und griff sich eine sehr schön ausgelegte "Flying V"-Gitarre von einem Ständer.

"Was habt ihr vorhin zusammen gespielt? Komm Jonny, mach mit. Nimm den anderen Sitz, der dahinten steht."

Fabian griff wie im Traum nach seinem Klinke-Kabel, während er die drei diskutieren hörte. Er stöpselte sich ein und wagte ein paar vorsichtige Akkorde.

"Also gut", sagte Trev gerade, "Behind Blue Eyes. Auch schön. Das alte Townsend-Stück. Wer singt? Du? Kannst du den Text?"

Fabian nickte. Was für eine Frage!

"Gut", fuhr der große Mann fort, "ich spiele Rhythmus, ihr könnt alles machen, was ihr möchtet. Jonny zählt."

Und so kam es. Nach anfänglicher Unsicherheit war Fabian bald gut dabei und es gelangen ihm auch ein paar wirklich schöne Einlagen, über die er selbst staunte. Trevor spielte ihm zu und es war überhaupt nicht merkwürdig, dass ein auch körperlich so großer Musiker mit Kindern zusammen abrockte.

Dann war plötzlich Stille, sie standen da und sahen sich an. Fabian fühlte sich unsagbar zufrieden.

"Naaaa?", brach, wie immer, Jonny die Stille. "Hab ich`s nicht gesagt? Was meinst du, Trev?"

Aber noch bevor hier eine Antwort zu erwarten war, klang eine Frauenstimme in aufgeregter Tonlage zu ihnen hoch.

"Fabian! Also hier steckst du! Ich habe dich wie bescheuert gesucht, wollte schon die Polizei anrufen! Warum ist denn dein Handy aus? Was denkst du dir eigentlich dabei! Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Du kommst jetzt sofort nach Hause! Aber plötzlich!"

Fabian zog resigniert seinen Stecker aus dem Verstärker. Die ganze, wunderbare Situation zerplatzte wie eine Seifenblase.

"Meine Mutter", murmelte er und stieg von der Bühne. "Also, tschüß dann."

3. Kapitel: Ein Fremder im Wunderland

Am nächsten Morgen ergoss die Sonne ihre goldenen Strahlen über ein beschauliches kleines Dorf zwischen zwei sanft gerundeten Hügeln. Nichts deutete darauf hin, dass etwas sehr Entscheidendes für diese Welt passiert war und noch bedeutungsvollere Ereignisse sich anbahnten. Mühlheim sah aus wie immer: malerisch, romantisch und übersichtlich.

Man hätte eine wunderschöne Ansichtspostkarte eines Ferienorts daraus machen können, aber Mühlheim war kein Ferienort. Die waren alle an der Küste.

Der einzige Gasthof hatte leider nie Touristenschwärme gesehen. Schon eine etwas bessere Auslastung der sieben Zimmer würde den Inhabern gut gefallen haben. Deshalb freute sich die Wirtin auch ehrlich, als sie den Fremden an der Rezeption begrüßte. Er war hochgewachsen und sehr schmal. Seine Kleidung machte einen fremdartigen Eindruck. Der Mantel sah aus wie ein Trenchcoat, fast wie aus alten Agentenfilmen; wer trug so etwas noch?

Frau Palfinger zuckte die Schultern. Woher wollte sie wissen, was in der großen weiten Welt als Mode galt? Seit Jahren war sie nicht aus Mühlheim herausgekommen, eigentlich seit sie diesen Gasthof übernommen hatten.

"Machen Sie hier Urlaub? Es gibt ein paar sehr schöne Wanderwege, vom Galgenberg aus haben sie einen herrlichen Ausblick ins Land, das ist gar nicht weit, an der alten Mühle vorbei vielleicht eine halbe Stunde."

Sie bemerkte nicht, wie der Fremde bei den Worten "alte Mühle" etwas zusammenzuckte.

"Nein, ich bin im Dienst hier. Ich muss noch heute nach.. äh, Flensburg."

"Ist denn Flensburg überbucht? Haben Sie dort kein Hotel gefunden?"

"Nun, äh, es ist hier günstiger. Und mit der schönen Landschaft haben Sie schon recht. Ich werde sie nur leider kaum genießen können."

Der Mann war eindeutig nicht von hier oder aus der näheren Umgebung. So sprach man hier nicht. Auch wenn sie die längste Zeit ihres Lebens in Bayern verbracht hatte, soviel konnte sie sagen. Er war mindestens genau so weit von seiner Heimat entfernt wie sie selbst.

"Bitte schön, hier ist ihr Schlüssel. Zimmer 4, das ist oben im zweiten Stock. Es hat einen sehr schönen Ausblick über das Dorf. Sie können sogar den Königssee sehen. Er heißt so, weil dort vor langer Zeit einmal ein König gebadet haben soll. Sie wissen schon, er kam mit seinem Tross die heiße, staubige Landstraße entlanggezogen ... klingt doch sehr wahrscheinlich, oder? Aber fragen Sie mich bloß nicht, welcher König!" Sie lachte leise vor sich hin.

"Danke", sagte der Fremde, der sich als Dr. Schliffzinger eintrug.

"Sagen Sie, wie kommt man am besten nach Flensburg?"

"Mit dem Bus natürlich!" Frau Palfinger schaute den Fremden jetzt doch etwas misstrauisch an. "Wie sind Sie denn hierher gekommen?"

"Ja, auch mit dem Bus. Ich dachte nur ... wissen Sie die Abfahrtszeiten?"

Das ist ja ein komischer Kauz, dachte die Wirtin. Laut aber sagte sie: "Einmal in der Stunde. Er hält ein Haus weiter, an der großen Wiese. Immer so um viertel nach."

"Viertel nach ...?"

"Ja, naja, neun Uhr fünfzehn, zehn Uhr fünfzehn und so weiter ..."

"Ach so, äh, danke. Ich gehe dann erst einmal auf mein Zimmer."

"Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie im Voraus bezahlen?" Frau Palfinger fühlte ein kleines, warnendes Drücken in der Magengrube. Es hatte früher immer gut getan, dem nachzugegeben.

"Nein, kein Problem, wirklich nicht. Ich möchte zwei Wochen bleiben. Wieviel ist das?" Er zückte eine Geldbörse, die aus sehr verschrumpeltem Leder gemacht zu sein schien. Für Sekunden-bruchteile sah sie eine sehr merkwürdige dunkelrote Einprägung.

"Vierzehn Tage, das sind, Moment, vierhundertneunzig. Eigentlich ist ja Saison, aber wenn sie so lange bleiben, kann ich ihnen auch den Ferien-Spartarif geben."

"Vielen Dank. Hier, bitteschön." Er zog fünf nagelneue Einhundert-Euro-Scheine aus seinem Schrumpel-Portemonnaie.

Frau Palfinger betrachtete sie misstrauisch, hielt sie gegen das Licht, murmelte etwas in sich hinein. Kein Zweifel, die Scheine waren echt. Komischer Gast. Aber, was ging es sie an. Immerhin konnte er zahlen.

"Bitteschön, zehn zurück. Quittung?"

"Nein danke." Der Fremde nahm das Rückgeld und steckte es achtlos ein. "Ich weiß ja, dass ich bezahlt habe."

Damit nahm er sein kleines, schwarzes Köfferchen mit der auffälligen Metallumrandung und strebte der Treppe zu.

Frau Palfinger starrte ihm hinterher, schüttelte den Kopf, blinzelte und musterte wieder die Geldscheine. Sie waren echt, da war sie sich ganz sicher. Aber die Farbe ... naja, das konnte täuschen.

Die auffliegende Haustür unterbrach ihre Gedanken. "Rosie? Hilfst du mal ausladen? Ich hab keine Ahnung, wo die Jungs wieder stecken!"

Peter Palfinger war früh im Großmarkt gewesen und hatte für die Woche eingekauft. Die Wirtin vergaß, was sie eben noch denken wollte, kam hinter dem kleinen Tresen hervor und ging mit ihrem Mann hinaus zum Auto.