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Finanzielle Unabhängigkeit, musikalische Begabung und ein abgeschlossenes Philosophiestudium sind sicher nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um ein erfülltes Leben zu führen. Der turnschuhtragende Software-Millionär Thomas Flint hat all dies und mehr, ist aber trotzdem auf der Suche. Er bewohnt mit seinem Butler, dem Engländer Oliver Wilkins, eine luxuriöse Villa im Niemandsland zwischen Ladenburg und Heidelberg und weiß nicht so recht, was er mit sich anfangen soll. Schließlich kommt Wilkins auf die rettende Idee und schlägt seinem Dienstherrn vor, eine Karriere als Privatermittler zu starten. Thomas ist begeistert und schlägt alle Warnungen seiner besten Freundin, der Pianistin Anna Vadini, in den Wind. Er muss auch nicht lange auf seinen ersten Fall warten. Der Philosophieprofessor Rudolf Spengler, mit dem Thomas sich während des Studiums angefreundet hat, verliert seine Frau, die bei einem Treffen mit ihrem Liebhaber brutal ermordet wird. Der Millionär und der Butler ermitteln gemeinsam, folgen aber einer falschen Spur. Sie merken viel zu spät, in welcher Gefahr sie sich befinden. Ihr Widersacher verfolgt eine tödliche Theorie, in deren Zentrum seit Jahren ein einziger Mensch steht, ohne etwas davon zu ahnen.
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Seitenzahl: 644
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Das Geheimnis der englischen Schönheit
Widmung
Motto
Prolog
Januar 2010
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Februar 2008
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Juni 1999
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
April 2008
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Februar 2010
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Epilog
Danksagung zur 1. Auflage (exklusiv als E-Book erschienen)
Notiz zur 2. Auflage (als E-Book und gedrucktes Buch erschienen)
Autor
Impressum
Das Geheimnis der englischen Schönheit
Roman
© Hendrik Achenbach 2015
2. E-Book-Auflage, September 2016
Der Inhalt dieses Buches und seine Figuren sind erfunden. Eine Ausnahme bilden Personen der Zeitgeschichte. Deren Handlungen und Gedanken sind aber ebenfalls Fiktion und meine Erfindung.
Umschlagfoto: Red-Haired Girl © Svetlanamiku | Fotolia
Für meine Eltern
Wie oft sind Menschen, schon des Todes Raub,
noch fröhlich worden! Ihre Wärter nennen's
den letzten Lebensblitz.
Romeo und Julia, fünfter Aufzug, dritte Szene
19. November 1999
Der Mann, der sich René nannte, wollte sein Gesicht nicht zeigen. "Du würdest erschrecken", hatte er gesagt, als sie sich an diesem Abend in einer dunklen Ecke auf dem Campus trafen. Nun gingen sie schon über eine Stunde langsam in den verlassenen Gängen der Universität auf und ab. René hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und mied das Licht.
"Warum wolltest du mich gerade hier zum ersten Mal treffen?", fragte Rudolf. "Bei den Naturwissenschaftlern? Hätten wir uns nicht in der philosophischen Fakultät eher zu Hause gefühlt?"
"Der Trübsal süße Milch, Philosophie", zitierte René leise und lachte heiser. "Das ist gut möglich", gab er dann zu. "Vielleicht sollten wir nachher dort auch noch vorbeigehen. Ich habe deinen Artikelentwurf auf der Reise gelesen und würde gerne etwas dazu sagen. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir uns hier treffen sollten, wo dein Vater damals den Unfall hatte."
Rudolf blieb überrascht und verunsichert stehen, aber René legte eine Hand auf seine Schulter und zog ihn weiter. "Rudolf", sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme, "du hast mir selbst neulich geschrieben, wie sehr dir unser Austausch geholfen hat, dich endlich auf die richtige Weise mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Heute hast du die Gelegenheit, damit abzuschließen. Glaub mir. Lass uns in das Labor gehen, in dem dein Vater sein Augenlicht verloren hat. Es gibt keine bessere Möglichkeit, sich davon zu lösen, als an den Ort des Geschehens zu gehen. Ich bin ja bei dir. Ich werde ab jetzt immer bei dir sein, wenn du ... wenn du das willst."
Rudolf nickte. Die beiden gingen weiter den dunklen Gang entlang. René wollte nicht, dass sein Begleiter die Deckenlampen einschaltete. Die grünen Hinweisleuchten, die den Weg zum Notausgang wiesen, spendeten gerade genug Licht, um den Weg zu finden.
Irgendwann sagte Rudolf mit zitternder Stimme: "René, ich wünsche mir natürlich nichts mehr, als dass du bei mir bleibst. Ich habe so sehr auf diesen Tag gewartet. Endlich kann ich mit dir sprechen. Endlich weiß ich, wie deine Stimme klingt. Und ich bin sicher, also, ich meine, äußere Dinge sind mir nicht so wichtig. Lass dir Zeit, aber du solltest wissen, dass du diese Kapuze jederzeit abziehen und ins Licht treten kannst."
René gab keine Antwort, aber seine Schultern begannen zu zucken und er fuhr sich mehrfach mit dem Handrücken über die Augen. Rudolf blieb stehen, drehte sich zur Seite und umarmte den anderen Mann. René erstarrte. Er machte einen Buckel und schien sich aus der Umarmung lösen zu wollen. Dann entspannten sich seine Glieder aber und er weinte leise an Rudolfs Schulter.
Nach einiger Zeit, als die Tränen versiegt zu sein schienen, drehte Rudolf vorsichtig den Kopf und suchte mit seinen Lippen das Gesicht des anderen. René trat aber schnell einen Schritt zurück und flüsterte: "Es tut mir leid. Ich bin noch nicht so weit."
"Nein, mir tut es leid", entgegnete Rudolf hastig. "Das hätte ich nicht tun dürfen. Wir machen jetzt alles so, wie du es willst. Komm, lass uns weitergehen. Wir müssen da entlang." Die beiden Männer setzten sich wieder in Bewegung.
"Wir sind gleich da", versicherte Rudolf seinem geheimnisvollen Brieffreund nach einer Weile. Noch niemals zuvor hatte er jemanden wie ihn getroffen. René interessierte sich brennend für seine Arbeit als Doktorand der Philosophie, war aber auch immer bereit, sich über persönliche Themen auszutauschen. In den letzten Monaten hatten die beiden sich zahllose E-Mails geschickt und während dieser Zeit war eine tiefe Zuneigung in Rudolf entstanden. Als René ihm schrieb, dass er bald nach Deutschland kommen werde und ein Treffen vorschlug, hätte er nicht glücklicher sein können. Er kannte zwar nicht einmal den Nachnamen seines Freundes, aber das störte ihn nicht. Er wollte einfach nur mit ihm zusammen sein, endlose Gespräche führen und vielleicht auch irgendwann ... Rudolf schüttelte den Gedanken ab. Er durfte nichts überstürzen. Wenn er René durch seine Ungeduld vergraulen würde, wäre das eine Katastrophe. So jemanden wie ihn würde er nicht noch einmal finden, und er war schon so lange allein.
Am Ende des Ganges tauchte die Tür zum großen Labor der Umweltchemiker auf. Sie schimmerte matt im grünen Schein der Notbeleuchtung.
"Da hinten ist es", sagte Rudolf. "Sag mal, René, ich kann kaum erwarten, was du zu meinem Artikel zu sagen hast. Was ist für dich der wichtigste Punkt?" Er schaute den anderen Mann erwartungsvoll von der Seite an, als sie vor der Labortür stehenblieben und er in seiner Tasche nach dem Generalschlüssel suchte.
René überlegte nicht lange und sagte: "Die Art und Weise, wie du die Existenz der Dinge mit der Funktionsweise eines komplexen Computersystems vergleichst, finde ich absolut überzeugend. Deine Schlussfolgerung, dass wir Menschen deswegen komplett unfrei sind und niemals selbstbestimmt handeln können, ist natürlich nicht neu, aber ich habe selten eine so umfassende und einleuchtende Begründung dafür gefunden."
"Das klingt ja vielversprechend", erwiderte Rudolf, während er die Labortür für René aufhielt. "Hast du also gar nichts an meinem Text auszusetzen?"
"Nein, das wäre das falsche Wort. Auszusetzen habe ich nichts. Allerdings gibt es zwei menschliche Handlungen, die du unbedingt in deine Argumentation aufnehmen musst, um zu zeigen, dass sie wasserdicht ist. Wenn man sich die Existenz eines Menschen, wie du schreibst, als Kombination von Speicherzellen in diesem 'Weltcomputer' vorstellen muss, solltest du auch erklären können, was passiert, wenn eine solche Kombination dafür sorgt, dass eine andere Kombination gelöscht wird. Oder, das ist der zweite Fall, wenn sie sich von selbst auflöst."
Rudolf blieb im Eingangsbereich des Labors stehen. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. "Moment", sagte er unsicher, "meinst du damit ... Mord und Selbstmord?"
"Genau", bestätigte René. "Mord und Selbstmord sind aus meiner Sicht die Handlungen, die der Idee der Selbstbestimmtheit am nächsten kommen. Auch wenn das letztendlich eine Illusion sein mag." Er schaltete das Licht ein und zog die Kapuze vom Kopf. Rudolf schaute ihn an und schreckte zurück. Wenig später begann er zu schreien. Er schrie und schrie und konnte gar nicht mehr aufhören. Seine Schreie hallten noch für einige lange Momente durch die dunklen Gänge der Trierer Universität, bevor sie mit einem Mal verstummten.
Januar 2010
Es war eindeutig ein Fehler gewesen, im Flughafen-Bistro einen Tee zu bestellen. Missbilligend betrachtete Oliver Wilkins die graubraune Flüssigkeit in der Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. Die fettreduzierte Milch aus der Portionspackung hatte das Ergebnis nur noch verschlimmert, und auch mit Unmengen von Zucker war das Gebräu nicht zu retten.
Seufzend schob Wilkins die Tasse zur Seite und schaute auf die Uhr. Der Flieger von Heathrow nach Frankfurt ging um 19.25 Uhr. Nun war es 18.15 Uhr. Er musste sich so langsam auf den Weg zum Flugsteig machen. Prüfend fasste er in die Innentasche seines Jacketts, das er unter einem langen schwarzen Mantel trug, und vergewisserte sich, dass Brieftasche und Bordkarte dort waren, wo sie hingehörten. Dann stand er auf - bezahlt hatte er schon früher - und machte sich auf den Weg. Die beiden riesigen Koffer, die er in den letzten Tagen gepackt hatte, mussten schon auf dem Weg in den Bauch des Flugzeugs sein.
Wilkins hatte sich vier Wochen Zeit genommen, nachdem die alte Mrs. Pritchard unglücklich zu Tode gekommen war. Er hätte ruhig auch noch viel länger auf dem Anwesen in Gerrards Cross, einem Dorf in Buckinghamshire, bleiben können. Mrs. Pritchards Erben waren nämlich erstens geschockt vom grausamen Tod der alten Lady und zweitens intensiv damit beschäftigt, sich über die Aufteilung des Erbes zu streiten. Deswegen hatte sich niemand um ihn gekümmert, und er hatte in Ruhe seine Sachen packen können. Darunter waren auch 250.000 Pfund Sterling, die seine Arbeitgeberin ihm in bar vermacht hatte. Die Erben wussten davon nichts, und das war auch gut so. Das Geld befand sich mittlerweile sicher auf einem Konto bei einer Bank in London. Wilkins besaß für alle Fälle ein Dokument, mit dem sich beweisen ließ, dass er das Geld nicht gestohlen hatte. Auf demselben Konto lagen zusätzliche 450.000 Pfund Sterling, die er in den letzten 25 Jahren angespart hatte, so dass er insgesamt über Rücklagen von fast einer Million Euro verfügte. Das war eine ganze Menge Geld, aber nicht genug für den Ruhestand. Deswegen hatte Wilkins sich entschlossen, seine Heimat England zu verlassen und eine gut bezahlte Stelle in Deutschland anzunehmen.
Als er seinen kleinen Handkoffer zum Flugsteig zog, dachte Oliver Wilkins an den Tag im November 1985, an dem er seine Ausbildung zum Butler erfolgreich beendet hatte. Der klangvolle Name seiner Londoner Ausbildungsstätte - Ivor Spencer International School for Butler Administrators/Personal Assistants and Estate Managers - machte sich gut in seinem Lebenslauf und das Trainingsprogramm hatte ihn für den Dienst in einem vornehmen Haushalt qualifiziert. Außerdem hatte es ihn seine letzten Ersparnisse gekostet. Mit 30 Jahren war er nicht mehr zu jung für eine solche Position, und da die Butler-Schule ihm ein ausgezeichnetes Zeugnis ausstellen konnte, hatte er schon nach wenigen Bewerbungen Glück.
Die verwitwete Mrs. Pritchard suchte einen neuen Butler, nachdem der vorherige Stelleninhaber an einem Herzinfarkt gestorben war. Als Wilkins an ihrer Tür klingelte, öffnete Mrs. Pritchards Schwiegersohn und begrüßte ihn mit übergroßer Herzlichkeit, denn nun konnte er seine Sachen und seine schlecht gelaunte Frau ins Auto packen, zurück nach London zu seiner Geliebten fahren und die Betreuung seiner Schwiegermutter wieder einem "Profi" (so drückte er sich aus) überlassen.
Mrs. Pritchard und ihr neuer Butler gewöhnten sich schnell aneinander. Zwischen den beiden entstand in den zweieinhalb Jahrzehnten, die sie zusammen in Gerrards Cross lebten, zwar nie so etwas wie Herzlichkeit. Sie waren aber sehr schnell miteinander vertraut, und Wilkins wusste die spitzfindigen Bemerkungen zu schätzen, mit denen Eliza Pritchard das Leben in Gerrards Cross, das Verhalten ihrer Tochter und des Schwachkopfes (so nannte sie ihren Schwiegersohn stets) oder die Neuigkeiten aus der Times kommentierte. Wilkins verzog zwar niemals eine Miene, stimmte der alten Dame aber immer zu, redete meistens nur, wenn er gefragt wurde und sorgte dafür, dass sie sich wohlfühlte.
Ihr plötzlicher Tod hatte ihn unangenehm überrascht. Obwohl Mrs. Pritchard schon über 90 Jahre alt gewesen war als sie starb, hatte eigentlich niemand mit ihrem Tod gerechnet. Sie stand jeden Morgen pünktlich um 8.00 Uhr auf, frühstückte mit gutem Appetit und machte dann einen langsamen Rundgang durch Hof und Garten, bei dem sie sich zwar auf eine Krücke stützen und immer wieder Pausen machen musste, aber trotzdem bei jedem Wetter alle Stationen abklapperte, bevor sie sich dann mit einer Tasse Tee ins Esszimmer setzte und die Zeitung las. Nach dem Mittagessen waren in den ersten Jahren häufig Freundinnen zu Besuch gekommen, die aber nach und nach gestorben waren und durch Kreuzworträtsel, Bücher oder den Fernseher ersetzt wurden.
Anfang Dezember fand Wilkins die alte Dame dann tot im Treppenhaus, als er vom Einkaufen zurückkam. Obwohl die Todesumstände höchst ungewöhnlich waren, konnte die Gerichtsmedizin sie anhand von Druckstellen und Abschürfungen auf dem Körper der alten Frau sehr genau bestimmen. Mrs. Pritchard war offenbar auf dem Weg ins Obergeschoss gewesen - vermutlich, um ihre Brille zu holen, die sie im Schlafzimmer vergessen hatte. Sie trug sie weder beim Frühstück noch beim Spazierengehen, brauchte sie aber zum Zeitunglesen. Auf der obersten Stufe musste sie dann entweder gestolpert sein oder einen Schwindelanfall gehabt haben, denn sie war nach hinten gekippt. Kratzspuren im Holz des Treppengeländers und Holzsplitter unter ihren Fingernägeln zeigten, wie sie darum gekämpft hatte, nicht rückwärts die Treppe hinunterzufallen.
Die Krücke, die unter ihrem rechten Arm klemmte, musste in Verbindung mit ihren heftigen Armbewegungen wie ein Hebel gewirkt haben, der sie über das niedrige Geländer beförderte. Als sie abstürzte und mit dem Rücken an der Außenseite des Geländers entlangrutschte, verfing sich ihr Büstenhalter, den sie auch mit 93 Jahren noch eisern trug und selbst schließen konnte, an einer der zahlreichen Metallverzierungen, rutschte über die schlaffen Brüste und schmalen Schultern nach oben, wobei die Knöpfe ihrer Bluse einer nach dem anderen abgesprengt wurden, und zog sich schließlich wie eine Schlinge um ihren Hals. Der Fortsatz der Treppenstufen, der über das Geländer hinausragte und der vorübergehende Widerstand der Blusenknöpfe hatten ihren Fall abgebremst, so dass die Büstenhalterschlinge das Genick nicht brach. Mrs. Pritchard war jedoch viel zu schwach, um sich am Geländer hochzuziehen, und so musste sie einige qualvolle Sekunden in ihrem eigenen Treppenhaus gehangen haben, bevor sie ohnmächtig wurde und erstickte.
Oliver Wilkins schüttelte den Kopf, um das Bild der aufgeknüpften Mrs. Pritchard loszuwerden, blieb stehen und warf einen Blick auf die nächste Fluginformationstafel: 17.01.2010, Flug LH919 nach Frankfurt, Abflug 19.25 Uhr, Status: Boarding, Gate 40. Nun war es nicht mehr weit. Die Sicherheitskontrollen hatte er bereits hinter sich gelassen und alle Fragen nach eventuellen Flüssigkeiten in seinem Handgepäck tapfer beantwortet. Er hatte in den letzten 25 Jahren kein Wasser oder sonstige Getränke aus Plastikflaschen zu sich genommen und würde nun auch nicht mehr damit anfangen. Aber das konnte das Flughafenpersonal ja nicht wissen.
Wilkins freute sich auf einen bequemen Flug in der Business Class und seine anschließende Zugreise durch Süddeutschland. Nürnberg, München, Augsburg und Stuttgart standen auf dem Programm. Das reichte für eine Woche. Wilkins war auch gar nicht besonders reiselustig, wollte sich aber trotzdem einige Museen und andere Sehenswürdigkeiten anschauen, bevor er seine neue Stelle antrat. Nach der Städtetour würde er noch für ein paar Tage irgendwo ausspannen. Heidelberg und Mannheim fehlten auf seiner Liste ganz bewusst, denn sein neuer Arbeitsplatz lag nicht weit davon entfernt. Hier würde er sicher noch das eine oder andere freie Wochenende verbringen können.
Als das Flugzeug abhob, zog Wilkins eine abgegriffene Ausgabe von A Study in Scarlet aus der Tasche und schlug eines seiner Lieblingskapitel auf. Er hatte die Romane und Kurzgeschichten mit Sherlock Holmes und Dr. Watson schon unzählige Male gelesen und nahm sie immer wieder gerne zur Hand. Sie waren das Modernste, was sich in seiner kleinen Bibliothek fand, denn an der Literatur seiner Zeit konnte er nicht viel finden. So beschränkte seine Lektüre sich auf die Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie auf Tageszeitungen aus England und Deutschland. Dank seiner deutschen Mutter, die in den fünfziger Jahren als junge Frau nach England ausgewandert war, sprach Wilkins hervorragend Deutsch. Bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren hatte er mindestens einmal in der Woche mit ihr telefoniert und die beiden hatten fast immer Deutsch miteinander gesprochen. Deswegen machte Wilkins sich keine großen Sorgen über die Verständigung mit seinem neuen Arbeitgeber - zumindest, was die Sprache anging.
So anstrengend hatte Werner Kaufmann sich das Leben als pensionierter Hundebesitzer nicht vorgestellt. Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn, zog mit aller Kraft an der Leine und brüllte: "Jetzt mach mal langsam, du Monster! Du treibst einem ja schon bei Minusgraden den Schweiß auf die Stirn."
"Werner!", schimpfte seine Frau Dorothea. "Er ist eben noch jung und weiß es nicht besser. Halt ihn schön an der kurzen Leine, das wird schon." Sie verlor kein Wort darüber, wessen Idee es gewesen war, den Hund anzuschaffen. Dazu kannte sie ihren Mann zu gut. Diese Diskussion würde nichts bringen.
Als die Kaufmanns vor zwei Monaten fast gleichzeitig in den Ruhestand gegangen und aus der Mannheimer Innenstadt an den nördlichen Stadtrand von Ladenburg gezogen waren, hatte Werner sich endlich den Traum von einem eigenen Hund erfüllen können. Das kinderlose Ehepaar hatte niemals die Zeit für ein Haustier gehabt. Beide waren immer berufstätig gewesen und wollten keinen Hund, der den ganzen Tag in der Wohnung herumsitzt, in der Mittagspause schnell an die nächste Laterne gezerrt wird, um zu pinkeln, und ansonsten vor lauter Einsamkeit irgendwann neurotisch wird.
Dorothea Kaufmann hatte bei der Auswahl des Hundes versucht, ihren Mann davon zu überzeugen, dass ein Cockerspaniel oder ein Dackel die richtige Größe für einen Pensionärshund hätten, doch es war nichts zu machen: Werner Kaufmann schilderte ihr mit leuchtenden Augen die charakterlichen Vorzüge seiner heiß geliebten Berner Sennenhunde, und auch die Aussicht, ein oder zwei Mal täglich einen Haufen beträchtlichen Ausmaßes beseitigen zu müssen, konnte ihn nicht schrecken.
"Wir leben doch jetzt auf dem Land, Dorothea", hatte er gesagt, als sie ihn auf dieses Thema ansprach. "Da verschwindet so ein Hund beim abendlichen Spaziergang mal kurz hinter dem nächsten Busch und die Sache ist geritzt."
Der abendliche Spaziergang mit Bruno, so der Name des "Monsters", wurde schnell zur Routine. Die Kaufmanns gingen immer in der gleichen Gegend spazieren. In den Feldern zwischen Ladenburg und der L597 hatten sie sich einen Rundweg ausgesucht, auf dem sie sich nur so weit von der Stadt entfernten, dass sie die Lichter in den Fenstern noch sehen konnten.
Auch an diesem Abend, als Werner Kaufmann über Brunos ungezügeltes Tempo schimpfte und seine Frau den Hund in Schutz nahm, drehten die beiden ihre gewohnte Runde. Alles schien wie sonst, doch an diesem Abend passierte etwas Unerwartetes. Ohne erkennbaren Grund reckte Bruno plötzlich die Nase in die Luft, nahm Witterung auf, riss seinem Herrchen mit einer ruckartigen Bewegung seiner kräftigen Nackenmuskeln die Leine aus der Hand und verschwand mit hoher Geschwindigkeit in der Dunkelheit.
"Oh Werner!", rief Dorothea Kaufmann, "warum hast du dir die Leine denn nicht um die Hüfte geschlungen? Ich habe es dir schon ein paar Mal gesagt. Jetzt können wir sehen, wie wir ihn wiederfinden. Hoffen wir, dass er keinem Jäger vor die Flinte läuft."
"Das hätte auch nichts genützt", knurrte ihr Mann. "Er hätte mich glatt mitgeschleift. Vermutlich hat er irgendein Viech gewittert. Also los, suchen wir ihn. Es nützt ja nichts."
Eine halbe Stunde später, als die beiden vom vielen "Bruno!"-Rufen schon ganz heiser waren, gab das Tier endlich Antwort. Die Kaufmanns hatten sich auf ihrer Suche schon viel weiter vom Ladenburger Stadtrand entfernt als sonst. Sie mussten auf dem unbefestigten Wirtschaftsweg aufpassen, dass sie nicht stolperten oder umknickten. Auf ihrer linken Seite verloren sich die Wiesen und Felder in der Dunkelheit, während sich zu ihrer Rechten eine mindestens drei Meter hohe, undurchdringliche Hecke entlang zog, die mehrere hundert Meter lang zu sein schien.
"Ich glaube, da hinten hört die Hecke auf", sagte Dorothea Kaufmann. "Und aus dieser Richtung kam auch das Bellen. Bruuuuunoooo!" Wieder antwortete der Rüde mit einem kurzen Laut.
Nach einigen Metern sahen die Spaziergänger, dass die Hecke nicht aufhörte, sondern lediglich um 90 Grad nach rechts abknickte. Als die beiden die Ecke erreicht hatten und atemlos abbogen, trauten sie ihren Augen nicht. Etwa 50 Meter von ihnen entfernt war ein riesiges schmiedeeisernes Tor in die Hecke eingelassen. Ein silberner Geländewagen stand mit eingeschalteten Scheinwerfern zwischen den geöffneten Torflügeln. Im Lichtkegel lag Bruno, der ein Bündel zwischen seinen Vorderpfoten beschnüffelte und ableckte. Vor ihm hockte ein dunkel gekleideter Mann und schien auf ihn einzureden.
Die Kaufmanns standen für einen Moment unbeweglich da und versuchten zu begreifen, was vor sich ging. Dann setzten sie sich fast gleichzeitig in Bewegung und kamen atemlos am Tor an. Bruno lag auf dem Bauch und knabberte liebevoll an einem Wildkaninchen, das mit eigentümlich verdrehtem Kopf zwischen seinen pelzigen Vorderpfoten lag. Es war aber kein Blut zu sehen. Offenbar hatte der riesige Rüde auf seiner ersten Jagd mehr Glück als Verstand gehabt und wusste nun nicht so recht, ob er seine Beute fressen oder mit nach Hause nehmen sollte.
"Bruno, was machst du denn nur wieder!", rief Werner Kaufmann. Eigentlich hätte er die Leine, die nun schmutzig und nass war, weil Bruno sie hinter sich her geschleift hatte, gleich vom Boden aufheben und in die Hand nehmen müssen, doch er hielt Abstand und schaute den fremden Mann fragend an. Seine Frau stellte sich neben ihn, schob ihre Hand in seine und sagte: "Entschuldigen Sie bitte, er ist uns einfach weggelaufen. Wir haben ihn noch nicht so lange. Ich hoffe ... ich meine ... war das ihr Kaninchen? Es tut uns so leid."
Der Fremde, der die ganze Zeit vor Bruno gehockt und ihm den Kopf gekrault hatte, lachte. Sein Lachen klang selbstsicher, aber nicht herablassend. Die ganze Angelegenheit schien ihm großen Spaß zu machen.
"Machen Sie sich da mal keine Sorgen", sagte er, als er sich aufrichtete und auf die Kaufmanns zuging. "Es ist zugegebenermaßen kein guter Tag für dieses Kaninchen, und seine Brüder, Schwestern, Tanten, Onkeln, Neffen und Nichten, die zu Tausenden hier leben, werden es sicher furchtbar vermissen. Trotzdem wird sie das nicht davon abhalten, Löcher unter meinen Zaun zu graben. Ich denke, es war so langsam Zeit, dass hier mal jemand durchgreift. Ich bin Bruno wirklich dankbar. Sie können ihn gerne öfters hier laufen lassen. Er muss nur noch lernen, dass meine Torausfahrt nicht der beste Platz ist, um an der Beute herumzuknabbern. - Aber entschuldigen Sie, ich bin wieder sehr unhöflich: Mein Name ist Thomas Flint und ich wohne hier."
Werner und Dorothea Kaufmann wussten für einen Moment nicht, was sie sagen sollten. Sie waren es nicht gewohnt, dass jemand auf eine einfache Frage gleich mit einer kleinen Ansprache antwortete, aber als sie sich gefasst und ebenfalls vorgestellt hatten, mussten sie auch lachen.
"Da sind wir aber froh, dass es auf ein Kaninchen mehr oder weniger nicht ankommt", rief Werner und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. "Ich glaube aber nicht, dass wir öfters hier vorbeikommen. Eigentlich gehen wir abends nur eine kleine Runde am Stadtrand, aber heute hat Bruno uns ganz schön weit raus gelockt."
"Wohnen Sie in Ladenburg?", fragte Thomas.
"Ja, aber erst seit kurzem. Wir sind noch dabei, die Spazierwege hier zu erkunden", erwiderte Dorothea Kaufmann.
"Ladenburg ist wirklich sehr schön", bemerkte Thomas. "Als ich vor zwei Jahren umgezogen bin, habe ich ernsthaft überlegt, ob ich mir ein Haus in der Innenstadt kaufen soll. Ich wollte dann aber doch ein bisschen mehr Platz und vor allem Ruhe haben. Trotzdem finde ich es super, dass ich in fünf Minuten in die Stadt fahren und auf dem Marktplatz einen Kaffee trinken kann. Ladenburg ist wirklich klasse."
Das Gespräch stockte für einen Moment, während die Kaufmanns einen Blick auf das Anwesen warfen. In der Mitte einer Gartenanlage, die einige tausend Quadratmeter groß sein musste, stand eine Villa, die ebenfalls riesig war. Das Grundstück war gut beleuchtet, und die beiden konnten sehen, dass das Gebäude alles hatte, was eine richtige Villa haben muss: An der Seite einen runden Turm mit spitzem Dach und Fenstern, drei Garagen, vor dem Eingang zwei dicke runde Säulen, eine riesige Veranda, eine ausladende, hölzerne Eingangstür und vor dem Haus eine große, runde Fläche aus weißem Kies, in deren Mitte ein Springbrunnen stand. Es musste wunderschön aussehen, wenn er im Sommer eingeschaltet war. Aber auch ohne den Brunnen strahlte das Grundstück, auf dem sich ein weiteres Gebäude befand, das wie ein kleines Wohnhaus aussah, eine Eleganz aus, die sicher einige Millionen Euro gekostet hatte.
Respektvoll wartete Thomas Flint einen Moment, während die Kaufmanns sein Zuhause bewunderten. Schließlich räusperte er sich und sagte: "Es war wirklich nett, Sie kennenzulernen. Leider muss ich ein bisschen auf die Uhr schauen, denn ich habe Konzertkarten. Eine Freundin von mir spielt in der Alten Feuerwache. In Mannheim, meine ich."
"Kennen wir", sagte Werner Kaufmann. "Ich habe ganz in der Nähe gearbeitet, bei -"
"Werner, lass uns aufbrechen", unterbrach ihn seine Frau. "Herr Flint muss los und wir haben noch einen langen Weg nach Hause. Wenn wir ihn überhaupt auf Anhieb finden."
"Kein Problem", sagte Flint. "Wenn wir es in den nächsten Minuten schaffen, ihren Bruno aus meiner Einfahrt zu bewegen, schaffe ich das locker. Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen, bevor sie kamen, aber er scheint sich hier sehr wohl zu fühlen."
Als Werner Kaufmann den Hund an der Leine aus der Einfahrt zerrte und seine Frau sich von Thomas Flint verabschieden wollte, sagte dieser plötzlich: "Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Bevor Sie sich hier in der Dunkelheit und Kälte noch verlaufen, fahre ich sie schnell in Ladenburg vorbei."
Die Kaufmanns begannen gleichzeitig aus Höflichkeit zu protestieren, doch Flint wiegelte ab: "Das ist gar kein riesiger Umweg. Ich muss ja ohnehin irgendwo auf die Straße nach Mannheim kommen, wenn ich nicht durch die Felder fahren will. Also auf geht's: Bruno darf hinten rein springen, und das Kaninchen kann natürlich auch mit."
Zehn Minuten später, als sich die Lichter des schwarzen Geländewagens schnell entfernten und der Wagen am Ende der Luisenstraße links abbog, sagte Werner Kaufmann zu seiner Frau: "Ein netter Mensch. Scheint ja ordentlich Geld zu haben, ist aber offenbar trotzdem ganz normal geblieben."
Dorothea Kaufmann sagte nichts. Sie schien dem Wagen immer noch hinterher zu blicken, obwohl er längst verschwunden war.
"Dorothea?", sagte ihr Mann. "Ist etwas?"
"Ach, mir ist gerade nur eingefallen, woher ich Herrn Flint kenne. Eigentlich ist er ziemlich bekannt", erwiderte sie.
"Wirklich?"
"Ja, in der RNZ war neulich eine halbe Seite mit einem Portrait von ihm. Er hat bei einer Firma hier in der Gegend gearbeitet, irgendwas mit Computern. Irgendwann ist er mit einer riesigen Abfindung ausgestiegen und lebt jetzt von seinem Vermögen. Vermutlich reichen ihm die Zinsen schon zum Leben. Er ist aber ziemlich großzügig, spendet viel für wohltätige Zwecke und Sportvereine und so."
"Hmm", machte Werner Kaufmann. "In der Zeitung steht er aber nicht ständig, oder? Ab und zu lese ich sie ja auch mal."
"Nein, er lebt wohl eher zurückgezogen. Wie aufregend, Werner, wir sind gerade mit einem echten Multimillionär gefahren!"
"Na, das Auto sah von innen auch ganz danach aus. Aber was soll's, kaufen können wir uns davon auch nichts. Müssen wir aber ja auch nicht!"
"Nein, das müssen wir nicht. Aber es ist doch schön, wenn jemand so reich und trotzdem nett ist."
Thomas Flint drückte einen Knopf am Lenkrad, sagte laut und deutlich "Anruf, Anna Vadini" und wartete. Aus den Lautsprechern hörte man das leise Tuten des Rufzeichens, dann ein Knacken und schließlich eine Frauenstimme:
"Pronto!"
"Ich bin's, Thomas."
"Caro, wo bleibst du denn?", rief die Frauenstimme. "Ich muss in 15 Minuten auf die Bühne!"
"Bin gleich da!", antwortete Thomas. "Ein riesiger Hund hat mich aufgehalten."
"Was redest du da? Oh Thomas, wenn ich dich nicht so lieben würde, müsste ich dir böse sein! Du bist der einzige Mann, bei dem ich so kurz vor einem Konzert noch ans Telefon gehe. Ich hoffe, du weißt es zu schätzen!"
"Natürlich tue ich das. Ganz ehrlich", sagte Thomas und lächelte. "Gib mir noch fünf Minuten, okay? Ich kann unmöglich den Anfang verpassen. Und halt mir einen Platz frei, ja? Erste Reihe, ich will dir zujubeln."
"OK, Caro, aber beeil dich! Ciao ciao."
Es klickte in den Lautsprechern. Flint nahm mit einer Hand eine CD aus der Hülle und legte sie ein. Es war Anna Vadinis erstes Album, das es in seinen Augen mehr als verdient hatte, ein großer Erfolg zu werden. Er mochte die Musik nicht nur, weil er mit Anna befreundet war und außerdem die CD-Produktion mit 10.000 Euro unterstützt hatte. Das Anna Vadini Trio bestand aus Klavier, Bass und Schlagzeug und war wirklich gut. Die drei spielten Jazz, den man auch hören und genießen konnte, wenn man sonst mit dieser Art von Musik nicht viel anfangen konnte. Anna hatte zwar eigentlich klassisches Klavier studiert und ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, war aber trotzdem schon seit Jahren in der Mannheimer Jazz-Szene aktiv und konzentrierte sich mittlerweile auf diese Art von Musik.
An diesem Abend fand das Release-Konzert statt, bei dem die CD der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte. Als "Location" - so nannten die Jazz-Musiker ihre Auftrittsorte - hatte Annas Plattenfirma die Alte Feuerwache ausgesucht. Das Gebäude in der Nähe der Mannheimer Neckarpromenade hatte bis Mitte der siebziger Jahre tatsächlich als Feuerwache gedient, bevor es 1981 zu einem der wichtigsten Kulturzentren der Region wurde.
Thomas Flint war seit einigen Jahren als Zuhörer Dauergast in der Feuerwache und bei anderen kulturellen Events in Mannheim und Heidelberg. Einige Eingeweihte wussten auch, dass er schon einige Male eingesprungen war, wenn eine Veranstaltungsreihe an einer wackeligen Finanzierung zu scheitern drohte. Darauf verlassen konnte man sich aber nicht: Er stellte nur dann einen Scheck aus, wenn er an einem Konzept interessiert war und an seinen Erfolg glaubte. An diesem Abend war er aber fast so aufgeregt wie die Künstlerin selbst und wünschte Anna von Herzen einen vollbesetzten Saal. Nach einigem Hin und Her hatte Anna sich gemeinsam mit ihrer Plattenfirma entschieden, den großen Saal im Erdgeschoss der Feuerwache zu benutzen. Im Obergeschoss gab es auch einen kleineren Raum für Konzerte, die erfahrungsgemäß keine Menschenmassen anzogen oder ganz bewusst einen kleinen Kreis von Zuhörern anstrebten. Den großen Saal zu füllen hatten schon viele Künstler versucht, aber es war nicht einfach.
Ganz schön was los in meinem Freundeskreis, dachte Thomas, während das Scheinwerferlicht seines Wagens sich durchs Halbdunkel der Seckenheimer Landstraße fraß. Heute der Start für Annas CD und morgen gleich noch eine Premiere - Rudolf im Fernsehen. Ich bin wirklich gespannt, wie er sich schlägt. Aber wenn er den Auftritt nur halb so entspannt hinkriegt wie seine Seminare an der Uni, sollte das Ganze auch auf RTL gut funktionieren.
Thomas fuhr sich mit der Hand durch seine weißblonden Strubbelhaare und seufzte. Ich kann nur hoffen, dachte er, dass die Situation zwischen Rudolf und Jenny geklärt ist. Wie ich Rudolf kenne, würde er es unter allen Umständen schaffen, in die Kameras zu strahlen. Selbst wenn er sich innerlich gerade mit der Frage beschäftigt, ob seine Frau ihn noch liebt. Das hat sich neulich gar nicht gut angehört. Ich würde den beiden auch wirklich gerne helfen, aber von Jenny sollte ich mich im Moment wohl besser fernhalten. Bloß keine Problemgespräche zu zweit mehr.
Thomas schüttelte den Kopf, als er daran dachte, wie er Jenny an einem düsteren Nachmittag im November in der Heidelberger Innenstadt getroffen hatte. Über zwei Monate war das jetzt schon her und seitdem hatten sie kaum miteinander gesprochen. Jenny war ihm damals um den Hals gefallen, wie man ganz normalen Freunden um den Hals fällt, die man eine Zeit lang nicht gesehen hat, doch schon diese erste Umarmung fiel ein bisschen zu lang aus. Thomas musste sich zwingen, locker zu bleiben und keinen Buckel zu machen. Er klopfte Jenny drei Mal kurz hintereinander auf den Rücken und löste sich dann vorsichtig von ihr.
"Hey, alles klar mit dir?" Diese Frage war sein erster Fehler gewesen.
"Hmm", sagte Jenny. "Geht so. Hast du Zeit für einen Kaffee?" Sie lächelte ihn melancholisch und mit glänzenden Augen an.
"Klar, warum nicht? Lass uns ins Schmidts gehen."
Es wurde bereits dunkel. Die Straßenbeleuchtung an der Heiliggeistkirche spiegelte sich im feuchten Pflaster, als Thomas und Jenny das Lokal erreichten. Sie hatte sich bei ihm eingehakt. Er hatte es geschehen lassen, fühlte sich aber unwohl dabei. Schließlich war es ihm zwei Jahre zuvor nur unter Aufbietung aller Kräfte gelungen, Jenny, die Frau seines besten Freundes Rudolf, nicht mehr zu lieben, obwohl sie sich oft trafen. Thomas konnte und wollte es sich nicht leisten, seine alten Gefühle für Jenny wieder aufleben zu lassen.
Als sie einen Platz an einem der Rundbogenfenster gefunden hatten, an denen man sein Getränk auf der breiten Fensterbank abstellen und die Füße an die Heizung halten konnte, sagte Thomas: "Bestellst du mir einen normalen Kaffee und ein Wasser? Ich muss kurz Hände waschen gehen."
Als er von der Toilette zurückkehrte, blieb er einige Meter vom Fenster entfernt stehen und schaute Jenny an. Sie trug einen dünnen grauen Pullover über einer hellblauen Bluse und einen tiefroten Schal, den sie in der Wärme des Lokals etwas gelockert hatte. Ihre glatten, rotblonden Haare hatte sie hinter die Ohren geklemmt und den Kopf über die Fensterbank gebeugt. Vor ihr lag ein Smartphone, auf dem sie eifrig herumwischte und -tippte. Als Thomas schließlich näher trat, lächelte sie ihn fast entschuldigend an, drückte einen Knopf an der Oberseite des Telefons und der Bildschirm erlosch.
Eine Zeit lang saßen die beiden schweigend auf ihren Hockern und nippten an ihren Kaffeetassen. Thomas hatte einen Arm auf die Fensterbank gestützt und schaute Jenny aufmerksam an. Sie hatte bisher nicht viel gesagt, sondern immer wieder mit den Achseln gezuckt, ihre Tasse unaufhörlich in den Händen gedreht und einen vergeblichen Anlauf nach dem anderen gestartet.
"Jetzt sag schon was los ist", meinte Thomas schließlich, obwohl er wusste, dass Sorgengespräche der beste Weg waren, sich ineinander zu verlieben. Er fügte sogar noch hinzu: "Du weißt, dass ich alles für dich tun würde." In dem Moment, als er dies sagte, spürte er, dass er einen Fehler gemacht und eine Grenze überschritten hatte.
"Genau das ist Teil des Problems", sagte Jenny leise. "Genau das. Du würdest alles für mich tun. Thomas, ich habe mich damals ganz bewusst für Rudolf entschieden und gegen dich. Ich wusste, dass ich dir viel bedeutete, aber ich habe ihn geliebt. Ich sage nicht, dass ich ihn nicht mehr liebe und ich will ihn auf keinen Fall verletzen, aber manchmal weiß ich nicht, ob es die richtige Entscheidung war, meinen Professor zu heiraten." Jenny zögerte, nahm einen Schluck Cappuccino, schaute Thomas für einen Moment lang schweigend an und sprach dann mit noch leiserer Stimme weiter: "Weißt du, Thomas, vieles von dem, was mich an Rudolf fasziniert hat, lag, sagen wir mal, im intellektuellen Bereich. Philosophie kann sehr anziehend, sehr sexy sein, aber das heißt noch lange nicht, dass Philosophen auch sexy sind. Obwohl Rudolf es durchaus sein könnte und aus der Ferne sicher auch auf viele so wirkt. Mein Problem ist eigentlich sehr profan, Thomas, aber jetzt habe ich schon so viel gesagt, dass ich einfach weitermache. Rudolf schläft zwar ab und zu mit mir, aber er gibt mir nicht das, wonach ich mich sehne. Es gibt Dinge, die ich tun möchte, die mit ihm einfach undenkbar sind. Er ist zu alt. Oder zu gebildet. Oder einfach zu sehr so, wie er nun mal ist. - Keine Ahnung. Ich glaube, ich rede gerade ganz großen Müll."
Jenny stützte das Gesicht in beide Hände und begann zu weinen. Thomas saß einen Moment unschlüssig neben ihr, stand dann auf, rückte seinen Hocker näher an ihren und legte tröstend eine Hand auf ihre Schulter. Kaum hatte er sie berührt, warf Jenny sich in seine Arme. Er spürte ihre Tränen und ihren heißen Atem an seinem Hals. Ihr Haar duftete herb und kitzelte ihn am Kinn. Sein Herz klopfte schnell und er spürte unwillig, dass Jennys Nähe ihn erregte. Er versuchte, vorsichtig ein wenig von ihr abzurücken, damit sie es nicht merkte, als sie unvermittelt die Hände zwischen seine Beine legte. Er zuckte zusammen.
"Lass uns gehen, Thomas", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Ins Marriott. Wir nehmen uns ein Zimmer."
Für einen kurzen Moment hatte Thomas die Bilder vor Augen, die entstehen würden, wenn er Jenny nachgeben und mit ihr ins Hotel gehen würde. Jedes Bild war nur für Sekundenbruchteile zu sehen. Sie standen vor dem riesigen Doppelbett und küssten sich. Blitz! Jenny in Jeans und schwarzem BH, eine Hand auf den flachen Bauch gelegt, die andere einladend ausgestreckt. Blitz! Sie lagen im Bett, er küsste ihren Bauch, ihre Oberschenkel. Blitz! Dann standen sie wieder vor dem Bett und er knöpfte ihre Bluse auf, unter der sie nackt war. Es gab keine logische Abfolge, keine Chronologie, sondern nur die Bilder, die er vor zwei Jahren schon einmal aus seinem Kopf verbannt hatte. Nun waren sie plötzlich wieder da.
Thomas senkte den Kopf. Jenny blickte zu ihm auf und öffnete ihre Lippen ganz leicht, ganz einladend. Fast berührten sich ihre Münder schon, da hielt Thomas inne, schüttelte den Kopf, zog sich ganz langsam zurück, schob Jenny vorsichtig zurück auf ihren Hocker und stellte den Abstand wieder her, der zwischen ihn und sie gehörte. Er ließ seinen Arm locker um Jennys Schultern liegen, spürte ihre nächste Tränenwelle kommen und schaute zum Fenster, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Die Scheiben reflektierten im goldenen Kerzenlicht das Geschehen im Lokal. Thomas' Blick fiel auf eine unbewegliche Figur, die genau hinter ihm und Jenny stehen musste. Die Umrisse kamen ihm bekannt vor.
"Hallo ihr beiden, ihr habt es euch ja gemütlich gemacht", sagte Rudolf. Thomas fuhr herum und schaute ihn an. Wie lange hatte Rudolf sie schon beobachtet? Es war ja eigentlich noch nichts passiert, aber er wusste trotzdem nicht, wie er seinem Freund die Situation erklären sollte.
"Was für ein Zufall", sagte er vorsichtig. "Aber gut, dass du kommst. Ich habe mich an deiner Stelle ein bisschen um deine Frau gekümmert, aber es ist sicher besser, wenn du jetzt das Trösten übernimmst."
Rudolf schmunzelte. "Wir müssen mal bei einer Flasche Rotwein darüber diskutieren, ob es so etwas wie Zufall wirklich gibt, mein Lieber. In diesem Fall habe ich ihm zumindest ein bisschen nachgeholfen. Du weißt doch, ich bin seit einiger Zeit wieder auf dem Stand der Technik." Er zog ein Smartphone aus der Tasche, entsperrte den Bildschirm mit einer Daumenbewegung und zeigte Thomas den Facebook-Eintrag, den er sich zuletzt angeschaut hatte:
Jenny Spengler war hier: Schmidts Heidelberg
"Eine praktische Sache, wenn man Sehnsucht nach seiner Frau hat", sagte Rudolf. "Aber warum gibt es Grund zum Trösten?"
In diesem Moment sprang Jenny auf und fiel Rudolf um den Hals. "Lass uns nach Hause gehen, Schatz, okay? Wir können dort reden. Eigentlich ist auch alles in Ordnung - nur so eine Frauengeschichte, und Thomas kann gut zuhören, auch wenn man Unsinn redet."
Rudolf schaute Thomas über Jennys Schulter hinweg fragend an. Offenbar war er wirklich gerade erst gekommen und hatte nichts gemerkt. Thomas zuckte mit den Achseln, zögerte einen Moment und sagte dann: "Wisst ihr was, ich muss auch so langsam weiter. Warum geht ihr nicht schon mal los? Ich bezahle nur noch schnell den Kaffee und fahre dann auch nach Hause. Wir telefonieren ..."
Ein Schlagzeugsolo auf der Anna-Vadini-CD riss Thomas Flint aus seinen Erinnerungen. Er drehte die Musik leiser, fuhr durch die Brückenstraße, überquerte den schwarzglitzernden Neckar und bog rechts ab ins Parkhaus. Normalerweise war es hier wenige Minuten vor Veranstaltungsbeginn unmöglich, einen der Plätze zu bekommen, die für die Besucher der Feuerwache reserviert waren. Flint hatte deswegen einen Dauerparkplatz im Erdgeschoss gemietet, auf dem er nun seinen Wagen abstellte und zum Ausgang rannte. Fünf Minuten nach neun. Fast pünktlich. Er nahm den Seiteneingang und betrat den großen Saal. Die Besucher saßen schon auf ihren Plätzen. Flint machte noch einen kurzen Abstecher zur Theke, holte sich eine große Rieslingschorle und ging dann langsam in Richtung Bühne. Auf seinem Lieblingsplatz vorne rechts saß niemand, aber als er näher kam, sah Thomas, dass der Platz mit einem orangefarbenen Blazer freigehalten wurde. Er wollte gerade zurück nach hinten gehen, als sich der Vorhang teilte und Anna zum Mikrofon ging. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er bleiben solle, und als der erste, zögerliche Applaus verebbt war, sagte sie: "So, nachdem mein Freund Thomas es auch endlich geschafft hat und sogar noch ein Glas Wein abbekommen hat, können wir anfangen." Sie grinste breit und rief: "Gibst du mir meine Jacke, Caro?"
Das Publikum klatschte und lachte, als Flint den Blazer auf die Bühne reichte und sich auf seinen Platz setzte. Dann klatschte Anna Vadini einmal scharf in die Hände und breitete die Arme aus. Es wurde dunkel im Saal und Ruhe kehrte ein. Die Bühne lag in warmem Dämmerlicht. Anna ging zum Flügel, wartete, bis der Bassist und der Schlagzeuger ihre Plätze eingenommen hatten und begann zu spielen. Thomas schloss die Augen und ließ sich von den weichen Jazzakkorden einhüllen. Er war mittlerweile ein sehr anständiger Hobbypianist, wusste aber genau, dass er niemals so wie Anna Vadini würde spielen können, auch wenn er fast täglich am Klavier saß und Anna ein Jahr lang überall hin verfolgt hatte, um seine tägliche Unterrichtsstunde zu nehmen. Darum ging es aber auch gar nicht. Er hatte in den letzten Jahren nicht nur anständig Klavierspielen gelernt, sondern viele Wissenslücken gefüllt, die ihn störten und war nun an dem Punkt angekommen, den er vor vier Jahren, nach seinem Ausstieg bei Funner, ins Auge gefasst hatte. Es war ihm gelungen, die Zeit, die ihm nach dem Abitur fehlte, weil er sich gleich ins Arbeitsleben gestürzt hatte, in gewisser Weise zurückzugewinnen. Mit diesem Ergebnis war er zufrieden.
Gerade deswegen fragte er sich in letzter Zeit aber immer häufiger, welchen Weg er nun einschlagen sollte. Zwei Jahre an der Uni waren genug für ihn. Eine Rückkehr in die IT-Branche kam aber vorerst nicht in Frage. Wie sollte es also weitergehen? Seine beste Freundin hatte Erfolg als Musikerin. Sein bester Freund wurde langsam, aber sicher zum Lieblingsphilosophen der Nation. Und er selbst? Was hielt die Zukunft für Thomas Flint bereit? Er hatte nicht die leiseste Ahnung.
Nicht übel, der Auftritt, dachte Jenny Spengler, als sie den Fernseher ausschaltete. Rudolf ist bestimmt schrecklich enttäuscht, dass ich nicht mitgefahren bin.
"Ist der Schrott endlich vorbei?", rief Ben Filsinger aus dem Gästezimmer am anderen Ende des Flurs. "Dann können wir ja weitermachen."
"Das war kein Schrott", sagte Jenny zögernd, "und immerhin ist er mein Mann. Also hör auf damit, ja?"
"Ja, ja, ist ja gut. Aber jetzt kommt her. Wenn ich schon mal die Möglichkeit habe, dich hier zu besuchen, weil dein Alter im Fernsehen auftritt, will ich auch etwas von dir haben."
"Ben, hör bitte auf, so über ihn zu reden!" Jenny ging ins Gästezimmer und warf sich neben Ben auf das Doppelbett. Er lag auf dem Rücken, hatte nur eine Unterhose an, und spielte mit seinem iPhone. Als Jenny neben ihm landete, warf er das Telefon in den Sessel, der neben der Tür stand, rollte sich auf die Seite und gab Jenny einen Kuss auf den Mund, den sie ein wenig unwillig erwiderte.
Etwa eine Stunde vorher war Ben beleidigt im Gästezimmer geblieben, als Jenny ankündigte, dass sie nun eine Stunde fernsehen wollte. "Ich habe es ihm versprochen, und er fragt mich sicher, wie ich den Auftritt fand", hatte sie zur Begründung gesagt, und natürlich waren auch Gewissensbisse im Spiel. Das Verhältnis mit Ben hatte schon vor einigen Wochen begonnen, aber in ihre Wohnung hatte sie ihn bisher noch nie gelassen. Erstens hatte sie viel zu große Angst, dass Rudolf plötzlich auftauchen konnte und zweitens sah sie darin die ultimative Form des Betrugs. Ben versuchte aber schon länger, sie zu überreden, ihn in ihre Wohnung zu lassen - die Vorstellung, dort mit Jenny Sex zu haben, schien ihm einen besonderen Kick zu geben. Und da Rudolf an diesem Abend in einer Live-Sendung auftrat, zog das Argument, ihr Mann könne jederzeit auftauchen, in diesem Fall nicht. Ben war schon am frühen Abend aufgetaucht, hatte Jenny, ohne groß mit ihr zu reden, gleich ins Gästezimmer gedrängt und ihre Bluse aufgeknöpft. Mit Ben zu schlafen war auch nach zwei Monaten immer noch eine Erfahrung, die Jenny zitternd und atemlos zurückließ. Er war einfach unglaublich, auch wenn er sonst eigentlich gar nicht zu ihr passte.
Trotzdem hatte sie sich irgendwann von ihm gelöst und sich angezogen, weil sie die Daniel-Braun-Show auf RTL sehen wollte, in der Rudolf auftrat. Da konnte Ben sich beschweren, so viel er wollte. Diese Sendung durfte sie nicht verpassen. Pünktlich um 20.15 Uhr saß sie auf dem Sofa und schaltete den Fernseher ein.
Als die Titelmelodie verklungen war, trat der Moderator unter anhaltendem Beifall lächelnd auf die Bühne. Irgendwann hob er die Arme, der Applaus ebbte ab und die Sendung begann.
"Das Volk der Dichter und Denker!", rief Daniel Braun. "So hat man uns Deutsche immer wieder genannt, und ums Denken soll es heute in besonderer Weise gehen. Herzlich willkommen hier im RTL-Fernsehstudio in Köln und allen Zuschauern zu Hause!"
Daniel Braun wartete eine weitere Runde Applaus ab, bevor er fortfuhr: "Weihnachten ist noch gar nicht so lange her, und ich bin sicher, dass viele von Ihnen unter dem Weihnachtsbaum ein Buch gefunden haben, das seit einigen Monaten einen Verkaufsrekord nach dem anderen bricht. Ein Buch, das unglaublich erfolgreich ist, obwohl es darin um ein Thema geht, das uns eine Zeit lang abhandengekommen zu sein schien. Ich spreche von der Philosophie. Über dieses Thema will ich heute mit einem Gast sprechen, auf den ich mich ganz besonders freue. Bitte begrüßen Sie mit mir Herrn Prof. Dr. Rudolf L. Spengler!"
Aus dem Hintergrund trat ein großer, gutaussehender Mann auf die Bühne. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und ein dunkelgraues Cord-Sakko, das gut zu seinen langen grauen Locken passte. Seine Brillengläser blitzten im Scheinwerferlicht, als er auf Daniel Braun zuging.
"Herr Professor Spengler, seien Sie herzlich willkommen", sagte Braun, schüttelte seinem Gast die Hand und lud ihn mit einer Handbewegung ein, in einem der beiden Sessel auf der Bühne Platz zu nehmen. Der Moderator wollte gerade seine erste Frage stellen, als Spengler die Hand hob, lächelte und sagte: "Wenn Sie erlauben: Ich freue mich unheimlich, dass ich heute hier sein darf. Was wir aber nicht brauchen, sind die ganzen Titel. Den 'Professor' und den 'Doktor' habe ich am Freitag in der Uni gelassen. Sonst denken die Zuschauer doch wieder an Tafelkreide und Bibliotheken mit Schweigepflicht, und das ist ja der Eindruck, den ich vermeiden will. Philosophie ist nämlich das spannendste Thema überhaupt!"
"Das scheint tatsächlich so zu sein", erwiderte Braun, der sich von Spenglers kleiner Eröffnungsansprache unbeeindruckt zeigte. "Zumindest kaufen die Menschen im ganzen Land ihr Buch schneller, als es gedruckt werden kann. Ich möchte heute Abend herausfinden, ob der ganze Hype - entschuldigen Sie den negativ klingenden Begriff - wirklich gerechtfertigt ist."
Auf einem kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln lagen einige Exemplare eines Buches, das etwa 300 Seiten stark war und in einem bunt glänzenden Schutzumschlag daherkam. Daniel Braun nahm eines der Bücher in die Hand, hielt es kurz in die Kamera und sagte dann: "Das Buch heißt 'Der verlorene Schatz', ist im letzten Herbst erschienen und geht jetzt schon in der dritten Auflage über die Ladentische. Herr Spengler: Erzählen Sie uns, worum es in Ihrem Buch geht! Bücher über Philosophie gibt es viele, aber gekauft werden sie vor allem von Bibliotheken, Akademikern und Menschen, die sich auch auf Partys am liebsten über Artikel aus dem Feuilleton der ZEIT unterhalten. Bei ihrem Buch ist das ein bisschen anders - sie scheinen wirklich den Nerv der Zeit getroffen zu haben, denn die Begeisterung für das Buch ist allgegenwärtig."
Spengler nickte. "Eigentlich zieht sich dieser Nerv, den ich da offenbar getroffen habe, durch die Jahrhunderte, durch alle Existenzen und Zeitalter, und war wohl in den letzten Jahren nur ein wenig taub geworden. Von einer Einführung in die Philosophie - nichts anderes ist mein Buch - kann jeder Mensch, egal womit er sich beschäftigt, profitieren."
"'Einführung in die Philosophie'", erwiderte Braun, "das klingt nach Uni, nach Hörsaal, nach Grundstudium. Soll ich Sie lieber doch wieder 'Herr Professor' nennen?"
Spengler lachte gutmütig, und auch durchs Publikum lief eine Welle der Heiterkeit. "Verdient hätte ich es, mein Lieber, verdient hätte ich es!", rief er. "Sie haben vollkommen Recht, den Begriff sollte ich vermeiden. Worum es hier geht, ist doch folgendes: Viele grundlegende philosophische Fragestellungen, mit denen ich natürlich auch meine Studenten konfrontiere, haben einen ganz eigenen Wert, der sie für jeden interessant macht - ob er nun Philosophie studiert, Häuser baut, Straßen fegt oder Fernsehshows moderiert. Ich nenne diesen Wert 'zweckfrei', weil ich den Menschen das Philosophieren im ursprünglichen Wortsinne beibringen möchte. Ich möchte sie zu Liebhabern der Weisheit machen."
"Aber was heißt das ganz konkret? Können wir über ein konkretes Kapitel aus ihrem Buch sprechen? Wenn ich es richtig verstanden habe - ich bin ja nur ein Fernsehmoderator -, kann man die Kapitel unabhängig voneinander lesen, weil jedes ein abgeschlossenes Thema beschreibt."
Spengler griff zum Wasserglas, trank einen Schluck, räusperte sich und sagte dann: "Sind Sie bereit für ein Experiment, das nicht auf Ihren Moderationskärtchen vorgesehen ist?"
Braun schluckte, lächelte dann schnell und sagte: "Für die Philosophie tun wir doch alles. Natürlich im Rahmen der vorgesehenen Sendezeit!"
"Perfekt", sagte Rudolf Spengler, "dann brauchen wir einen Freiwilligen aus dem Publikum für ein kurzes Gespräch hier auf der Bühne."
Im Fernsehstudio wurde es plötzlich sehr still. Die Zuschauerinnen und Zuschauer schauten unter sich oder stießen ihre Sitznachbarn aufmunternd mit dem Ellenbogen an.
"Keine Angst, meine Damen und Herren, es handelt sich nicht um eine Prüfung", fuhr Spengler fort und erntete einige zögerliche Lacher. Braun stand auf, stieg von der drei Stufen hohen Bühne herab und stellte sich vor das Publikum. Die Bildregie hatte sich schnell auf unerwartete Situation eingestellt und eine Kamera zeigte, wie er vor der ersten Reihe auf und ab lief.
"Gibt es jemanden, der sich traut?", fragte er spielerisch. Dann drehte er sich um und sagte: "Ansonsten können wir uns auch weiter unterhalten, Herr Spengler. Ich meine, wo ich zufällig hier bin ..."
"Machen wir gleich, Herr Braun, machen wir gleich", rief Spengler. "Aber das Ganze soll doch echt wirken, oder?"
In diesem Moment stand eine Zuschauerin in der dritten Reihe auf und hob die Hand. Braun machte ein paar schnelle Schritte in ihre Richtung und rief: "Es sieht so aus, als ob doch jemand den Mut hat!" Dann hielt er ihr das Mikrofon hin.
Die Zuschauerin sagte mit nicht ganz fester Stimme: "Also, meine Herren, ich habe keine Ahnung von Philosophie, aber bevor wir morgen früh noch hier sitzen, opfere ich mich."
Unter tosendem Applaus ging sie zusammen mit Daniel Braun auf die Bühne, wo eilig ein dritter Sessel bereitgestellt worden war. Sie schüttelte Rudolf Spengler, der ihr zwei Schritte entgegenkam, die Hand und setzte sich.
"Wie heißen Sie und woher kommen Sie?", fragte Braun.
"Mein Name ist Christine Weiler und ich wohne hier in Köln."
"Herzlich willkommen, Frau Weiler", fuhr der Moderator fort. "Verraten Sie uns noch, was Sie beruflich machen, und dann übergebe ich Sie an meinen Gast und bin selbst gespannt, was in meiner Sendung passieren wird."
Weiler lachte und sagte: "Ich arbeite bei einer Versicherung, als Sachbearbeiterin." Dann schaute Sie Rudolf Spengler fragend an.
"Frau Weiler, ich finde es klasse, dass Sie mutig sind und diesen kleinen Spaß mitmachen", sagte Spengler und lächelte. "Sagen Sie mir: Wo sind Sie und was machen Sie gerade?"
Christine Weiler sagte ohne zu zögern: "Ich sitze in einem Fernsehstudio und beantworte Ihre Fragen."
"Gut. Woher wissen Sie, dass dies gerade wirklich passiert? Könnte es nicht auch ein Traum oder eine Vorstellung sein?"
"Theoretisch ja, praktisch nein, würde ich sagen. Die ganze Sache ist zwar verrückt genug, denn ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, hier auf der Bühne zu sitzen, aber es fühlt sich einfach zu real an. Träume sind anders. Ich hatte gerade letzte Nacht einen Traum, an den ich mich noch erinnere, und das war anders."
"Träume sind anders. Gut." Spengler beugte sich leicht nach vorne, legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und fuhr nach einer kurzen Pause fort: "Dann lassen Sie mich anders fragen: Woher können Sie wissen, dass Sie letzte Nacht wirklich einen Traum gehabt haben? Woher wissen Sie, dass das, was Sie gerade erleben, wirklich stattfindet?"
"Na, an den Traum kann ich mich erinnern, und das, was ich gerade erlebe, kann ich sehen und hören", antwortete Christine Weiler. "Vielleicht kann ich es auch fühlen. Zum Beispiel ist es hier viel zu warm. Das fühle ich".
"Aber könnte es nicht auch sein, dass all diese Eindrücke - Sie spüren die Wärme der Scheinwerfer, Sie hören meine Stimme, Sie sehen die Zuschauer im Publikum - nur innerhalb Ihres Bewusstseins existieren?"
"Ich weiß nicht." Weiler überlegte. "Wenn das so wäre, und es wäre kein Traum, wo wäre ich denn dann? Schwerelos im All oder so?"
"Ausgezeichnet!", rief Spengler. "Genau das ist der Punkt! Selbst der intelligenteste Physiker, der schlauste Mathematiker oder der genialste Philosoph können nicht beweisen, dass außerhalb Ihres Bewusstseins eine greifbare Realität existiert. Selbst das All, von dem Sie schon so großzügig gesprochen haben, können wir problemlos in ihr Bewusstsein verlagern und behaupten, dass der Mond, die Sterne, das ganze Sonnensystem und alle Bücher, die jemals darüber geschrieben wurden, nur innerhalb ihres Bewusstseins vorkommen. In letzter Konsequenz hieße das: Es gibt nichts außerhalb Ihrer Vorstellung! Sie haben mich eben erschaffen, indem Sie mich erdacht haben, und dem armen Herrn Braun hier geht es leider auch nicht anders."
Eine Welle von Gelächter lief durchs Publikum. "Na, für die, die da gerade lachen, gilt das aber auch, oder?", fragte Christine Weiler. Weitere, vereinzelte Lacher waren zu hören, doch immer mehr Zuschauer im Saal verfolgten das Gespräch auf der Bühne mit nachdenklichen Blicken.
"So ist es." Spengler nickte und schaute ernst in die Runde.
"Aber was folgt daraus?", warf Daniel Braun ein. "Eigentlich die totale Beliebigkeit, oder?" Im Publikum herrschte jetzt aufmerksame Stille. "Dann wäre es zum Beispiel egal, wenn unser Gast jetzt aufstehen und Ihnen eine Ohrfeige geben würde. Nicht, dass ich Sie auf Ideen bringen will, Frau Weiler, aber sowohl die Tat selbst als auch die Maßstäbe, an denen wir Sie messen - nennen wir es hochtrabend 'Ethik' oder von mir aus auch einfach 'Anstand' - würden ja in Wahrheit auch nicht existieren, oder?"
Spengler erwiderte: "Genau. Ich sehe, ich bin in der richtigen Sendung. Sie haben das Zeug zum Philosophen, mein lieber Herr Braun. Aber das ist es ja gerade! Merken Sie etwas? Jeder von uns hat das Zeug zum Philosophen, und war die Diskussion, die wir gerade hatten, nicht spannend? Fragen sich im Moment nicht Hunderte von Menschen hier im Studio und vielleicht Tausende vor den Fernsehgeräten, ob es eine Realität außerhalb ihres Bewusstseins gibt?"
Daniel Braun nickte.
"Das Thema, das wir hier diskutiert haben", fuhr Spengler fort, "hat unter den Berufsphilosophen einen Namen. Es heißt 'Solipsismus' oder, wenn man es noch ein wenig weiter treibt, auch 'Skeptizismus'. Klingt fürchterlich langweilig, nicht wahr? Und nun schauen Sie sich an, wie spannend so ein Thema sein kann. Genau das ist der Effekt meines Buches. Genau das ist der 'verlorene Schatz'! Die Menschen, die es lesen, beginnen über verschiedenste Fragestellungen nachzudenken - genau in derselben Weise, wie wir das eben getan haben. Es ist vollkommen egal, zu welchen Schlussfolgerungen sie dabei kommen (von einer Ohrfeige für mich mal abgesehen). Wichtig ist der Wert des philosophischen Denkens an sich! Er macht uns zu erhabenen Lebewesen, zu Kreaturen, die - daran glaube ich fest, bis mir jemand das Gegenteil beweist - im Gegensatz zu einer Ameise, einem Dackel oder einem Schimpansen in der Lage sind, Gedanken zu entwickeln, die bedeutsam sind."
"Was wären denn weitere Themen in Ihrem Buch?", fragte Christine Weiler. "Können Sie noch ein Beispiel geben? Oh, sorry", sagte sie dann schnell und machte eine entschuldigende Handbewegung in Daniel Brauns Richtung, "eigentlich sind Sie ja der, äh ..."
"Moderator?", beendete Braun den Satz. "Ja, das habe ich auch gedacht. Ich darf nächste Woche sicher wieder moderieren, aber ich muss zugeben, die Philosophie hat mich jetzt auch gepackt. Machen Sie ruhig weiter." Das Publikum klatschte begeistert.
Spengler nickte anerkennend und sagte: "Natürlich gibt es weitere Beispiele, auch wenn wir sicher keine Zeit für weitere Detaildiskussionen haben. Lassen Sie mich ein paar nennen." Er überlegte kurz und sagte dann: "Erstes Beispiel: Wenn ich zu Ihnen, Frau Weiler, sage, dass mein neues Buch neben Ihnen auf dem Tisch liegt, dann wissen Sie genau, was ich meine. Es ist ganz egal, um was für eine Art von Tisch es sich handelt - in diesem Fall ist es ein kleiner Beistelltisch -, denn gewisse grundsätzliche Merkmale zeichnen jeden Tisch aus. Er hat ein Trägerelement - zum Beispiel Beine, Füße oder eine Säule in der Mitte - und darüber eine ebene, harte Fläche, die parallel zum Boden verläuft, so dass man auf ihr etwas ablegen kann. Das ist die allgemein akzeptierte Bedeutung des Wortes 'Tisch', und wenn wir hier einen Dolmetscher für Gäste hätten, die kein Deutsch, aber Englisch können, würde er im richtigen Zusammenhang mit "table" genau dieselbe Bedeutung in den Köpfen seiner Zuhörer erzeugen können. Ich sage 'im richtigen Zusammenhang', weil ein Mathematiker vielleicht eher an eine Tabelle denken würde, wenn er zusammenhanglos mit dem Wort 'table' konfrontiert würde, also mit den Buchstaben t-a-b-l-e auf Papier oder einem Bildschirm oder auch mit den Lauten, die wir erzeugen, wenn wir das Wort aussprechen. Da wird es schon spannend."
Das Publikum schien Spenglers Begeisterung an dieser Stelle nicht mehr uneingeschränkt zu teilen. Die Zuschauer schüttelten vereinzelt mit dem Kopf oder begannen, leise mit ihren Sitznachbarn zu diskutieren. Auch Christine Weiler setzte einen skeptischen Gesichtsausdruck auf.
"Warten Sie", sagte Spengler schnell. "Es kommt noch besser: Wie ist es zum Beispiel möglich, dass Wörter auch eine Bedeutung haben können, die man nicht nachvollziehen kann, indem man auf einen Gegenstand verweist oder etwas auf ein Blatt Papier malt? Wie können wir dasselbe meinen, wenn wir uns über unser 'Bewusstsein' unterhalten und mit einem Engländer über den Begriff 'consciousness'? Es sind völlig andere Buchstaben und völlig andere Laute, und doch teilen sie sich eine Bedeutung."
Christine Weiler zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, ich weiß so ungefähr, was Sie meinen, aber das erste Thema, über das wir gesprochen haben, fand ich einfacher zu verstehen."
"Okay, kein Problem", lenkte Spengler ein, "schauen wir uns einfach noch ein Beispiel an." Der Moderator schaute demonstrativ auf die Uhr, doch Rudolf Spengler fuhr unbeirrt fort: "Ich denke, wir drei sind uns einig, dass es hier auf der Bühne, im Scheinwerferlicht, sehr warm ist. Woher wissen Sie, Herr Braun, dass ich die Wärme genauso empfinde wie Sie? Ist es nicht auch möglich, dass ich bei großer Wärme genau das Hautgefühl habe, das Sie bei 10 Grad minus haben? Oder das ich gar kein Gefühl auf der Haut habe, sondern ein aromatisches Empfinden, das Sie eher mit dem Sinnesorgan der Nase in Verbindung bringen würden? Sie können ja immer nur ihre eigenen Empfindungen wahrnehmen, selbst wenn Sie in exakt der gleichen Lage sind wie ich. Es ist also durchaus möglich, dass Sie bei großer Wärme einen Sinneseindruck empfinden, den ich mit 'Geruch von frisch gemahlenem Kaffee' beschreiben würde. Umgekehrt könnte es sein, dass ich den Duft des Kaffeemehls auf eine Art und Weise wahrnehme, den Sie eher mit dem Begriff 'spüren' bezeichnen würden. Wir können es nicht wissen, denn wir sind Gefangene unserer eigenen Sinneswahrnehmungen. Dasselbe gilt für optische Eindrücke, das Empfinden von Hell und Dunkel etwa und für Farben. Wir glauben, uns in allen diesen Bereichen auf ein gemeinsames Verständnis geeinigt zu haben, aber wir können unsere Empfindungen in Wahrheit nicht vergleichen. Wir sind Gefangene unserer eigenen Wahrnehmung."
Spengler schaute Christine Spengler an und erntete ein zustimmendes Kopfnicken. "Ich glaube, das Buch kaufe ich mir", sagte sie und lachte erfreut, als Spengler ihr ein Exemplar in die Hand drückte.
"Das haben Sie sich mehr als verdient", meinte er, und fuhr fort: "Lesen Sie unbedingt auch das fünfte Kapitel. Darin geht es um die Frage, wie wir eigentlich -"
"Es tut mir so leid, es tut mir so leid", sagte Daniel Braun. "Ich hätte gerade gute Lust, meinen Job als Moderator an den Nagel zu hängen und bei Ihnen in Mannheim Philosophie zu studieren. Ganz ehrlich! Was Sie sagen, Herr Spengler, ist faszinierend. Trotzdem ist es meine Aufgabe, Sie zu unterbrechen, denn unsere Zeit ist leider schon um. Hinter der Bühne wartet mein nächster Gast."
Rudolf Spengler nickte und lächelte. Er war sichtlich zufrieden mit seinem Auftritt.
"Danke Rudolf Spengler und ganz herzlichen Dank auch an Sie, Frau Weiler! Ich glaube, wir alle haben gerade einen besonderen Moment erlebt. Meine Damen und Herren, lesen Sie das Buch, lesen Sie 'Der verlorene Schatz', und wenn das nicht reicht, fahren wir alle zusammen nach Mannheim und setzen uns zu Professor Spengler in den Hörsaal."
Daniel Braun stand auf und verabschiedete seine beiden Gäste mit Handschlag. Dann drehte er sich zur Kamera und sagte den nächsten Gast an, bevor die Sendung durch einen Werbeblock unterbrochen wurde.
Jenny zog vorsichtig eine Wolldecke über ihre nackten Schultern. Ben lag auf der Seite, hatte einen Arm um ihre Hüfte gelegt und atmete gleichmäßig mit geschlossenen Augen. Nach der Sendung hatten sie noch einmal miteinander geschlafen. Nun wollte sie gerne ins Bad zu gehen und sich waschen, blieb aber still liegen, um ihn nicht zu wecken. Ihr Bedürfnis, ungestört nachzudenken, war nämlich noch viel dringender.
Sie ließ sich den Auftritt ihres Mannes noch einmal durch den Kopf gehen. Es war faszinierend, wie er ein Millionenpublikum scheinbar mühelos in einen Haufen Philosophiestudenten verwandelt hatte. Obwohl es eigentlich noch gar nicht so lange her war, schien eine halbe Ewigkeit vergangen zu sein, dass sie selbst in Rudolfs Hörsaal gesessen und mit Thomas Flint und Jonas Wagner leidenschaftliche philosophische Diskussionen geführt hatte. Noch während des Einführungsseminars hatte sie sich in Rudolf verliebt und sehr schnell seinem Drängen nachgegeben, ihn zu heiraten. Normalerweise hätte sie sich viel mehr Zeit damit gelassen, doch irgendwie erschien ihr die Hochzeit damals als die finale, endgültige Bestätigung, dass es richtig war, bei Rudolf zu bleiben und nicht mehr darüber nachzudenken, wie alles gekommen wäre, wenn sie früher herausgefunden hätte, wer Thomas Flint wirklich war.
Im ersten Jahr ihrer Ehe mit Rudolf war Jenny mehr oder weniger glücklich gewesen, auch wenn es mit einem Schock begonnen hatte. Er dachte damals nicht daran, die Beziehung mit seiner Studentin zu verheimlichen. Schnell zu heiraten war ihm wichtig, um das Verhältnis 'für die Spießer an der Uni', wie er gerne sagte, zu legitimieren. Mit dem Beginn ihrer Liebesbeziehung hatte er aber sofort aufgehört, Jenny als Studentin zu behandeln und sie gebeten, ihr Philosophiestudium bei seinen Kollegen fortzusetzen und nicht mehr in seine Veranstaltungen zu kommen, um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen. Er kümmerte sich zwar darum, dass ihr durch diese Einschränkung keine Nachteile entstanden, doch Jenny war eine Zeit lang sehr deprimiert. Sie verbarg ihre Enttäuschung aber und irgendwann gelang es ihr, sich auf die angenehmen Seiten ihres neuen Lebens zu konzentrieren. Rudolf war wirklich sehr wohlhabend. Jenny konnte ihre Stelle im Krankenhaus kündigen und sich ganz auf ihr Studium konzentrieren. Sein Appartement in Heidelberg war im Vergleich mit ihrer kleinen Ein-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung geradezu luxuriös und groß genug für beide. Jenny fiel es zwar schwer, aus Mannheim wegzugehen, doch sie kam Rudolfs Wunsch nach, schon vor der Hochzeit zu ihm zu ziehen.
Die Flitterwochen in Griechenland waren traumhaft. Jenny hatte seit Jahren weder Geld noch Zeit für einen Urlaub übrig gehabt, und die Ferienreisen, die sie bisher kannte, waren kein Vergleich mit dem Aufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel, den Rudolf gebucht hatte. Sie unternahmen interessante Ausflüge, lagen aber auch viel in der Sonne und genossen fantastische Mahlzeiten und teure Weine. Nach ein paar Tagen sah Rudolf umwerfend aus. Schlank war er sowieso, aber die Kombination aus dunklen, schon grau werdenden Locken und braungebrannter Haut war wirklich sexy. Jenny konnte nicht genug von ihm bekommen und sie schliefen fast jeden Tag miteinander.
Als sich bei der Rückkehr nach Deutschland herausstellte, dass Thomas trotz seiner unerfüllten Liebe zu Jenny alles dafür tun wollte, die Freundschaft mit Rudolf - und damit auch mit Jenny - aufrecht zu erhalten, hätte sie nicht glücklicher sein können. Rudolf teilte Thomas' Vorliebe für Jazz und die beiden waren abends immer mal wieder alleine unterwegs. Jenny mochte andere Musik und ging nur dann mit, wenn es Rudolf wichtig war, dass sie einen bestimmten Künstler auch kennenlernte und er ihr versicherte, dass die Musik nicht zu 'abgehoben' sein würde. Thomas besuchte die Spenglers aber mindestens einmal in der Woche in ihrer Wohnung, brachte eine Flasche Wein mit und blieb zum Abendessen. Er ließ sich mit keinem Wort, keiner Bewegung und keinem noch so verstohlenen Blick anmerken, dass er Jenny einmal geliebt hatte, sondern behandelte sie als gute Freundin.
Selbst nach dem Zwischenfall im Schmidts - zu diesem Zeitpunkt war Jenny überhaupt nicht mehr glücklich - hatte Thomas den Kontakt nicht abgebrochen, obwohl damit eigentlich zu rechnen gewesen war. Schließlich hatte sie ihn unverhohlen dazu aufgefordert, ein Verhältnis mit ihr anzufangen. Er erwähnte das Vorkommnis jedoch nie. Es war aber offensichtlich, dass er sorgfältig darauf achtete, nicht mit ihr alleine zu sein. Früher hatte er immer mal wieder spontan bei den Spenglers geklingelt, wenn er ohnehin in Heidelberg unterwegs war und kein Problem damit gehabt, die Wohnung zu betreten, wenn Jenny alleine zu Hause war. Nun rief er stets von unterwegs aus an, und wenn Jenny ihm sagte, dass Rudolf nicht zu Hause sei, fuhr er weiter. Ab und zu hatte sie mit dem Gedanken gespielt, zu lügen, damit er sie besuchte. Sie wollte Thomas aber nicht in Schwierigkeiten bringen, obwohl sie sich nach ihm sehnte. Denn anderthalb Jahre nach ihrer Hochzeit mit Rudolf war Jenny zutiefst unglücklich.
Schon während der Flitterwochen war sie es gewesen, die nicht genug von ihm