Das Geheimnis der Flammen - Nina Hirschlehner - E-Book

Das Geheimnis der Flammen E-Book

Nina Hirschlehner

4,8

Beschreibung

Jede Nacht das Gleiche: Die Stadt vor übernatürlichen Angriffen schützen und dafür sorgen, dass niemand etwas davon bemerkt. Für die fünfzehnjährige Elisa ist das der Alltag, auch wenn sie sich oft wünscht, diese Aufgabe nicht alleine erfüllen zu müssen. Wie es das Schicksal so will, findet sie tatsächlich Gleichgesinnte im Kreis der Zehn. Eigentlich sollte ihr Leben von nun an um einiges leichter werden, wenn da nicht Alexander wäre ...

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Für meine Mama, die mich immer unterstützt und an mich glaubt.

Danksagung

Zu Beginn möchte ich Simone Huber danken, die immer als Testleser für mich herhalten muss. Ich kann dir für deine Hilfe gar nicht genug danken!

Außerdem danke ich allen, die sich freiwillig als Beta-Leser gemeldet haben: meinen Cousinen Christine und Sophie, Jules, Isabella, Helene, Helena und Franziska.

Vor allem möchte ich aber meiner Familie danken, die immer mit vollem Einsatz hinter mir steht.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

MATHEMATIK UND DAS WAHRE LEBEN

ABSCHIEDSSCHMERZ

EIN LEBEN LANG ALLEINE

NEUES JAHR, NEUES GLÜCK

OBSERVATION

EINE RUHIGE MINUTE

ZWISCHEN ALBTRAUM UND ALLTAG

DAS GEHEIMNIS

DER KREIS

TAUSEND FRAGEN

DIE NEBELWELT

JACK

ROT WIE FEUER

BLITZLICHTGEWITTER

SCHOKO-COOKIES

DER WOLF IM SCHAFSMANTEL

DIE WAHRHEIT

BIS DER TAG ANBRICHT

EIN GESTÄNDNIS

LANGE NICHT GESEHEN

INTERESSENSKONFLIKT

SCHULDGEFÜHLE

NIEMALS ALLEINE

FALSCHE FÄHRTE

HINTERHALT

DIGITALES ZEITALTER

AUS UND VORBEI

ZWISCHEN DEN FRONTEN

DIE FEUERREISE

VERKAUFT

EIN PERFEKTER WURF

REGEN IM WUNDERLAND

GEHSTEIG ODER STRAßE

SCHWERE ENTSCHEIDUNG

METEORITENSTAUB

NEUIGKEITEN

DER ANKER

DIE VERGESSENE STADT

GESCHWISTERLIEBE

DIE SCHATTEN DER MACHT

EPILOG

DER KREIS (AUSZUG)

PROLOG

SECHS JAHRE ZUVOR.

Das Getümmel in den oberen Stockwerken unseres Hauses ließ langsam nach und zum ersten Mal seit gefühlten Stunden wagte ich es, die Hände von meinen Ohren zu nehmen. Ich stellte fest, dass die Schreie und das Tosen verstummt waren.

Vorsichtig kletterte ich unter der Couch hervor, unter der ich mich verkrochen hatte, als die Tür zu unserem Haus eingetreten worden und fremde Wesen eingedrungen waren. Mein Bruder hatte mich hinunter in unseren Keller gebracht und, nachdem er mich hier alleine zurückgelassen hatte, die Tür hinter sich verschlossen. Wie wild hatte ich dagegen gehämmert und gerufen, er solle mich nicht alleine lassen, doch er hatte nicht auf mich gehört.

Nun, wo alles vorbei zu sein schien, wartete ich darauf, dass Oliver zurückkam und mich hier rausholte, doch er kam nicht. Eine Weile lang saß ich reglos mit auf dem Schoß gefalteten Händen auf der Couch und wartete. Vielleicht will er zuvor noch die Überreste des Kampfes beseitigen, sagte ich mir. Er hatte immer versucht, diesen Teil unseres Lebens so weit wie möglich von mir fernzuhalten, bestimmt war das auch jetzt der Fall. Aber egal, wie oft ich versuchte, mir das einzureden, die Spannung fiel doch nicht von mir ab. Zwar schlug mein Herz mittlerweile wieder in regelmäßigen Abständen, und auch das beklemmende Gefühl der Angst in meiner Brust hatte sich wie Nebel früh am Morgen gelichtet, doch trotzdem spürte ich, dass etwas nicht stimmte.

Erst da fiel mir ein, dass hier drin ein Zweitschlüssel versteckt war. Er befand sich unter dem Bücherregal, für den Fall, dass Oliver und ich uns wieder einmal gegenseitig einschlossen und dann aufeinander vergaßen. Schnell suchte ich den Schlüssel und öffnete dann vorsichtig, um keine unnötigen Geräusche zu erzeugen, die Tür.

Es war völlig still im Haus, ich konnte nur noch das leise Ticken der Küchenuhr hören, was mir im Moment allerdings so laut wie Feuerwerksraketen vorkam. Oben angekommen sah ich mich um: Alles sah aus wie sonst, was meine Hoffnung, mein Bruder hätte nur auf mich vergessen, um das Chaos zu beseitigen, bestärkte.

Ich rief seinen Namen, doch ich bekam keine Antwort. Im gesamten Haus war niemand vorzufinden und nichts deutete auch nur mehr im Geringsten auf einen Kampf hin. Erst, als ich Olivers Zimmer betrat, um dort nach ihm zu suchen, entdeckte ich etwas, das mir bewies, mir das alles nicht nur eingebildet zu haben: Die Wand, die gegenüber der Tür lag, war merkwürdig schwarz verfärbt. Es sah aus, als wäre sie verbrannt worden, doch ich konnte sonst nirgendwo Anzeichen für ein Feuer finden.

Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass inmitten des schwarzen Fleckes etwas schimmerte, das aussah wie Öl. Vorsichtig näherte ich mich der Wand und legte meinen Kopf schief, um das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es machte den Anschein, als wären Buchstaben mit Öl an die Wand gemalt worden, allerdings konnte ich nicht entziffern, was da stehen sollte.

Auch nach diesem Fund suchte ich weiter nach meinem Bruder – erfolglos.

1.

MATHEMATIK UND DAS WAHRE LEBEN

JULI.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermissen werde.« Karla sah mich mit einem wehmütigen Blick an. Ihre langen, dunklen Haare hatte sie mithilfe eines Bandes, welches die gleiche fliederne Farbe wie ihr Kleid hatte, zu einem Fischgrätenzopf zusammengebunden. Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte sie mich eingehend, als würde mich das dazu bringen, meine Meinung zu ändern. »Ich meine, die Schule wird nicht das Gleiche sein ohne dich.« Ihre Stimme bebte, als würde sie jeden Moment anfangen, zu heulen, doch dann änderte sich ihre Stimmung mit einem Schlag und sie funkelte mich aus ihren olivgrünen Augen verärgert an. »Wie kannst du es wagen, die Schule zu wechseln und mich hier alleine zu lassen?«

Ich seufzte tief und ließ mich in meinem Sessel zurücksinken, während alle anderen bereits damit beschäftigt waren, ihre Stühle und Tische aus dem Klassenzimmer zu tragen und am Gang zu stapeln. Für sie konnte es nicht schnell genug gehen, der Sommer rief und sie wollten seinem Ruf folgen. Genauso wie ich, nur dass meine beste Freundin das nicht zu interessieren schien. Seit Monaten versuchte sie, mich davon zu überzeugen, zu bleiben. Dass das bereits viel zu spät und ich bereits auf einer anderen Schule angemeldet war, schien ihr herzlich egal zu sein. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihren Vortrag nur stumm über mich ergehen zu lassen und einfach nichts dazu zu sagen, immerhin hatte ich schon viel zu viel Zeit damit verschwendet, ihr zu erklären zu versuchen, was meine genauen Beweggründe waren. Sie kannte sie vermutlich bereits in und auswendig, trotzdem hatte ich das Gefühl, sie wollte mich einfach nicht verstehen.

»Du bist doch nicht alleine, es sei denn, du gehst davon aus, dass die anderen zwanzig Schüler aus dieser Klasse über die Ferien auf seltsame Weise spurlos verschwinden«, gab ich zu bedenken, da das meiner Erfahrung nach in dieser Stadt nicht gerade unwahrscheinlich war. Doch außer einem erbosten Blick erntete ich für diese Bemerkung rein gar nichts. Also atmete ich noch einmal tief durch und versuchte dann, etwas diplomatischer an die Sache ranzugehen: »Ich bin doch nicht die Einzige, die geht. Es sind noch mindestens fünf andere, die beschlossen haben, die Schule zu wechseln.«

»Das kann man doch gar nicht vergleichen, Liz«, erwiderte sie mir mit einem bitteren Unterton in der Stimme und ging vor mir im Klassenzimmer auf und ab. Mittlerweile hatte sich dieses komplett geleert, sogar der Lehrer war bereits auf und davon, nur Karla, ich und der Stuhl, auf dem ich saß, waren noch übrig geblieben. Langsam fragte ich mich allerdings, warum ich mir Karlas Drama überhaupt antat. Ich hätte einfach gemeinsam mit allen anderen Schülern verschwinden sollen, als ich die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Stattdessen beobachtete ich nun Karla, wie sie ihre Runden drehte, und fächerte mir dabei mit meinem Zeugnis, welches der Lehrer vorhin noch ausgeteilt hatte, Luft zu. Ich hatte das Gefühl, dass heute der heißeste Tag des Jahrhunderts war. Es gab nichts, das ich lieber getan hätte, als nur nach Hause zu gehen und den lieben, langen Tag im kühlen Wasser zu verbringen.

»Es interessiert mich aber nicht, was die anderen tun. Sie wissen genau, dass sie nicht gut genug sind, um diese Schule zu schaffen, nur deshalb nutzen sie die Chance, um zu wechseln.«

»Du redest Blödsinn«, unterbrach ich Karla, woraufhin sie stehen blieb und mich überrascht ansah. Es schien ihr nicht zu gefallen, dass ich ihren Monolog unterbrochen hatte, aber das war mir egal. Jemand musste ihr schließlich sagen, dass ihr engstirniges Elitedenken absoluter Müll war. Wenn es nach ihren Ansprüchen ginge, würden achtzig Prozent der Schüler Sonderschulen besuchen. Niemand war etwas Besseres, nur weil er gute Noten hatte, Karla sollte das eigentlich wissen. Sonst war sie auch nicht so abwertend und überheblich, doch der Gedanke an die Schule brachte sie jedes Mal wieder aus der Fassung. Vermutlich wäre es ihr das Liebste, wenn das hier auch noch eine Schule für überdurchschnittlich Begabte wäre und nur Einser-Kandidaten zuließe, doch was würde das bringen? Theoretisches Wissen war schön und gut, aber Schule sollte doch eine Vorbereitung auf das zukünftige Leben sein. »Es stimmt schon, manche haben sich diese Schule vielleicht einfacher vorgestellt, aber die Schule zu wechseln bedeutet nicht gleichzeitig, aufzugeben. Nicht jeder kann, so wie du, ständig nur Höchstleistungen erzielen.«

Karla räusperte sich und wandte den Blick von mir ab. »Aber was ist mit dir? Du könntest die letzten paar Jahre hier mit links hinter dich bringen.«

»Aber genau das ist es, was ich nicht will, Karla«, sagte ich. »Ich will die nächsten Jahre nicht hinter mich bringen und dann mit nichts dastehen. Außerdem habe ich dir schon tausendmal gesagt, warum ich die Schule wechseln möchte.«

Sie nickte stumm. Langsam schienen ihr die Argumente auszugehen, um mich zum Bleiben zu überreden, und das war mir auch äußerst recht so. Seufzend ließ sie sich vor mir auf den Boden sinken und sah mich an. »Ist dir auch so heiß wie mir?«

Ich nickte ebenfalls. Die heiße Luft machte mich müde und es fiel mir schwer, noch ein Wort hervorzubringen. Wenn ich nicht Angst gehabt hätte, hier vergessen und die Ferien über eingesperrt zu werden, hätte ich sofort und auf der Stelle ein Nickerchen gemacht. Auch Karla gähnte und streckte sich ausgiebig. Ich merkte, wie ihre Augenlieder schwer wurden und sie förmlich durch mich hindurchzusehen schien. Erst dann schreckte ich hoch und sprang von dem Sessel.

»Wir müssen hier weg«, stieß ich hervor und griff nach Karlas Hand, um sie vom Boden hochzuziehen, doch sie bewegte sich keinen Millimeter.

»Die werden uns hier schon nicht einschließen«, murmelte sie verschlafen. »Und selbst wenn, ist es mir egal, ich will einfach nur schlafen. Wenn nötig klettere ich später einfach aus dem Fenster.«

»Wir befinden uns im zweiten Stock«, gab ich zu bedenken. Auch wenn Karla unheimlich klug war, sie war bestimmt nicht in der Lage, sich einen sicheren Weg aus dem Gebäude zu suchen, dazu fehlte ihr einfach eine gesunde Portion Menschenverstand. Ich zerrte weiter an ihrem Arm, um sie zum Aufstehen zu bewegen. »Komm schon, Karla. Ich meine es ernst, wir müssen hier so schnell wie möglich weg.«

Ich warf einen Blick zur offenen Tür hinaus. Im gesamten Schulgebäude war es so still, dass man sogar eine Nadel hätte fallen hören können, was bedeuten musste, dass wir die einzigen noch Anwesenden waren. Auf der einen Seite beruhigte mich das etwas, doch auf der anderen Seite war das auch ein sehr, sehr schlechtes Zeichen.

Mein Blick wanderte zurück zu Karla, die bereits die Augen geschlossen hatte und auf dem Fußboden vor sich hindöste. Ich zögerte einen Moment, doch dann fluchte ich und lief zur Tür hinaus und die Treppen hinunter. Ich musste mich beeilen, so viel war mir klar – auch wenn ich nicht genau wusste, wo ich hinmusste. Ich merkte, wie die Temperatur mit jeder Stufe, die ich nahm, stieg. Ich war also auf der richtigen Spur.

Mein Weg führte mich ins Sekretariat, welches sich im Erdgeschoss des Gebäudes befand. Dort gab es einen Raum, in dem die Unterrichtsutensilien aufbewahrt wurden. Ich war mir nicht ganz sicher, wonach ich genau suchte – ich konnte wohl kaum davon ausgehen, irgendwo in der Schule Waffen oder Ähnliches zu finden. Schon öfters hatte ich mir überlegt, einiger meiner Favoriten hier im Gebäude zu verstecken – nur für den Fall –, hatte es mir dann aber anders überlegt, da ich davon ausgegangen war, sie nie brauchen zu werden. Im Nachhinein gesehen ziemlich leichtsinnig, dafür rügte ich mich selbst.

Planlos stand ich vor der Kammer und ließ meinen Blick über die zusammengerollten Landkarten, Overhead-Projektoren und Kreiden-Schachteln schweifen, bis er an einem überdimensionalen Geodreieck hängen blieb, mit dem unser Mathematiklehrer stets seine millimetergenauen Zeichnungen an die Tafel gemalt hatte. Dieses Ding war zwar nicht besonders gefährlich, aber immerhin bot es mir Schutz und angesichts der Tatsache, dass ich ansonsten rein gar nichts hatte, um mich zu verteidigen, war das gar nicht so schlecht.

Mit dem durchsichtigen Dreieck bewaffnet lief ich zurück in die Aula. Zwar war ich mir immer noch nicht sicher, wohin ich genau musste und was ich eigentlich suchte, doch ich folgte einfach der Hitzewelle. Schon nach wenigen Schritten bildeten sich Schweißperlen auf meiner Stirn und meine Haare klebten in meinem Nacken fest – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich auf dem richtigen Weg war.

Als ich die Tür öffnete, die zu dem Gang führte, in dem sich die Umkleidekabinen für den Turnunterricht befanden – den ich, nebenbei bemerkt, am allerwenigsten vermissen würde – verlangsamte ich mein Tempo und sah mich nach jedem Schritt um, um nicht überrascht werden zu können. Am Ende des Ganges schien die Sonne durch eine Glastür, die in den Schulhof führte, und brannte wie Feuer in meinen Augen. Nach kurzem Zögern entschied ich aber trotzdem, diesen Weg einzuschlagen und hinaus ins Freie zu gehen. Schon als ich die Tür öffnete, schlug mir eine Hitzewelle entgegen, die sich anfühlte, als hätte ich einen Backofen auf zweihundert Grad mit dem Gesicht vorausgeöffnet.

»Was zum-«, stieß ich hervor, brach den Satz aber schnell wieder ab, da mir einfiel, dass ich völlig alleine hier war und ich nicht unnötig die Aufmerksamkeit dessen auf mich ziehen wollte, das diese unerträgliche Hitze verursachte. Ich musste mir die Hand schützend vor die Augen halten, um im grellen Licht der Sonne überhaupt etwas erkennen zu können. Ich hatte nicht den Eindruck, hier auf jemanden oder etwas zu stoßen, aber was ich hier sehen konnte, war auch nur ein kleiner Teil des Hofes.

Ich biss mir auf die Lippe und machte widerwillig die ersten Schritte hinaus auf die metallene Rampe, die von der Tür zum Boden des Schulhofes führte. Dabei streifte mein Arm unabsichtlich das förmlich glühende Geländer und ich zuckte vor Schmerz entsetzt zusammen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Rampe unter der brennenden Hitze auch noch zu schmelzen begonnen hätte.

Ich atmete tief durch und wischte mir mit meinem T-Shirt den Schweiß von der Stirn, damit er mir nicht in die Augen rinnen und mir die Sicht verschleiern konnte. Ich erinnerte mich an Karla, die in unserem Klassenzimmer lag und schlief, alleine und ohne Schutz, und gab mir selbst einen Stoß, um nicht zu viel Zeit zu vertrödeln, auch wenn selbst die kleinste Bewegung bei dieser Hitze größte Anstrengung verursachte.

Ich ging um das Gebäude herum, bis ich zu dem kleinen Teich kam, der hinter der Schule lag. Eigentlich handelte es sich bei dem Gewässer mehr um einen Tümpel, als um einen Teich. Er war völlig mit Seerosen und anderen Pflanzen zugewachsen, so dass man das schmutzige, braune Wasser darunter nicht einmal sehen konnte. Ein hölzerner Steg führte bis in die Mitte des Teiches, zumindest hatte ich das Bild so in Erinnerung, denn als ich mich dem Biotop näherte, blieb ich abrupt stehen. Mein Blick war auf die Wasseroberfläche geheftet. Ich hatte erwartet, viel weniger Wasser in dem Erdloch vorzufinden, da unter den sengenden Strahlen der Sonne alles verdunstet war, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, ich hatte noch nie so viel Wasser darin gesehen.

Ich habe also gefunden, was ich gesucht habe, dachte ich und näherte mich langsam. Als ich den Steg betrat, der unter meinem Gewicht knirschte, als würde er jeden Moment einbrechen, begann die Wasseroberfläche, Wellen zu schlagen, als wären Tropfen darauf gefallen. Regen?

Mein Blick wanderte hoch zum Himmel, wo nun langsam Wolken aufzogen. Noch bevor ich merkte, dass ich mich mal wieder zu leicht ablenken hatte lassen, fühlte ich, dass die Hitze mit einem Schlag verschwunden war und ich mich plötzlich im Schatten befand. Schlagartig richtete ich meinen Blick wieder auf den Tümpel, der inzwischen nicht mehr so ruhig und idyllisch dalag: In der Mitte des Wassers hatte sich etwas Großes, Dunkles aufgebaut, es dauerte allerdings einen Moment, bis ich Genaueres ausnehmen konnte, da sich meine Augen erst an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen mussten. Als ich endlich erkannte, was sich da vor mir befand, weiteten sich meine Augen unwillkürlich und ich machte vor Schreck einen Schritt zurück, wobei ich fast das Geodreieck, welches mir im Moment einfach nur lächerlich und unnütz vorkam, fallen gelassen hätte. Schnell festigte ich meinen Griff darum und hielt es schützend vor meinen Körper, während ich das aalglatte, schlangenartige Ungetüm genauer betrachtete. Eine Schlange, warum musste es ausgerechnet eine Schlange sein?

Ich schüttelte den Kopf. Das ist keine Schlange, sagte ich mir. Keine Schlange, zumindest keine, die hier in dieser Gegend beheimatet war, konnte sich auf eine Höhe von drei Metern aufrichten, und sie hatten auch keine Hörner auf dem Schädel. Außerdem wirkte dieses Ding viel zu plump und ungeschickt für eine Schlange, bei diesem Gedanken kehrte der Mut in meinen Körper zurück und ich straffte den Rücken.

»Du bist also für dieses verrückte Wetter verantwortlich«, sagte ich zu dem Ungeheuer, dessen rot glühende Augen mich interessiert musterten. »Wie soll ich dich nennen? Du musst wissen, dass ich gerne über meine Triumphe Buch führe. Es gibt ja Jäger, die sich die Schädelknochen ihrer Opfer zuhause aufhängen, ich bin da anders. Da von euch Ungetümen nicht viel überbleibt, wenn ich euch erst einmal erledigt habe, musste ich einen anderen Weg finden, um keinen von euch zu vergessen.« Es war überraschend, wie unterschiedlich diese Monster waren: Manche sahen mich nur mit leeren, ausdruckslosen Augen an, doch bei diesem hier hatte ich wirklich das Gefühl, es würde mich verstehen. Was allerdings nichts an der Tatsache änderte, dass es vernichtet werden musste, bevor es noch jemandem ein Leid antat. »Du scheinst mir sehr klug zu sein, wie wäre es mit Falk? Als Namen, meine ich. Du weißt schon, wie der Falke, Falken sind klug. Andererseits fressen sie auch Schlangen, aber du bist ja keine Schlange, nicht wahr?«

Das Monster beugte sich weiter zu mir herab, wobei ich noch einen Schritt zurückmachte. Nicht, weil ich Angst hatte. In meinem Leben hatte ich bereits genug solche Monster getroffen und – zumindest bis jetzt – hatten sie immer den Kürzeren gezogen. Mein Problem war nur, dass mir der Anblick eine Gänsehaut verursachte: die glatte Haut, auf der sich keine einzige Schuppe befand. Die lange, dünne, gespaltene Zunge, die ständig aus dem Maul hervorglitt, als wollte sie mir damit zuwinken, und die rot glühenden Augen, die aussahen, als würde sich dahinter ein loderndes Feuer befinden.

»Gefällt dir der Name?« Mit dem nächsten Schritt, den ich zurückmachte, trat ich aus dem Schatten der Kreatur heraus und wurde völlig unerwartet wieder von der Sonne geblendet. Gerade noch rechtzeitig erkannte ich, wie der Kopf des Monsters auf mich zu geschnellt kam, und riss das Dreieck in die Höhe, um es ihm mit beiden Händen entgegenzuhalten. Der Schädel des Ungeheuers traf mit solcher Wucht gegen das dünne Plastik, dass es mich von den Beinen riss und das Lineal in meinen Händen in zwei Teile zersplitterte. Schnell rappelte ich mich auf, um für den nächsten Angriff besser gewappnet zu sein.

Falk öffnete den Mund und zischte mich an, wobei mir etwas auffiel, das mir sehr gelegen kam. Ich spürte, wie sich die Anspannung langsam aus meinem Körper verflüchtigte. Er hatte keine Zähne, welches ernstzunehmende Monster hatte bitte keine Zähne? Gut, er konnte mich zwar immer noch mit den Hörnern auf seinem Kopf aufspießen, mit seinem endloslang scheinenden Körper erdrücken oder einfach verschlucken, doch meine größte Sorge schien wie weggeblasen. Erleichtert atmete ich tief durch, als auch schon der nächste Angriff erfolgte. Schnell ließ ich mich zur Seite fallen, wobei ich mit der zerbärsten Seite des Geodreiecks nach Falk ausholte und es tatsächlich schaffte, einen Schnitt in seine glatte Hautoberfläche zu machen, aus der sofort eine dunkle, pechartige Flüssigkeit sickerte.

»Wer hätte gedacht, dass Mathematik mir im wirklichen Leben mal nützen würde?«, murmelte ich, während ich mich wieder vom Boden aufhievte, jedoch nicht ohne das Monster dabei aus den Augen zu lassen, welches den Schnitt direkt hinter seinem Schädelknochen nicht einmal zu bemerken schien. Unwillkürlich wünschte ich, so einfach programmiert zu sein, wie diese Wesen: Einfach nur Unheil stiften und töten, kein Schmerz, kein Problem. Wenn doch nur alles so einfach wäre, dachte ich und richtete mich auf. Leider war ich etwas anders als Falk – meine Schulter schmerzte vom Aufprall auf dem Boden und die Haut an meinem Ellbogen war aufgeschürft. Mit der Zeit hatte ich gelernt, diese kleinen Wehwehchen während des Kampfes auszublenden, trotzdem wäre ich für einen etwas robusteren Körper sehr dankbar.

Ich betrachtete Falk eine Weile lang und er betrachtete auch mich, allerdings blieb er dabei völlig starr, als wäre er aus Stein. Es machte nicht den Anschein, als würde er so schnell noch einmal angreifen.

»Was ist denn los, Falk?«, fragte ich ihn überrascht. »War das schon alles?«

Eine Sekunde lang dachte ich, ein Lächeln über das Gesicht – wenn man das so nennen konnte – des Ungeheuers huschen zu sehen und noch bevor ich mich fragen konnte, was das sollte, spürte ich einen Schlag von hinten. Falk hatte seinen langen Körper um mich geschlungen, und noch bevor ich reagieren oder auch nur schreien konnte, zog er mich damit zurück in den Teich.

Das Wasser war viel kälter, als ich es erwartet hatte, und einen Moment lang fühlte ich Stiche auf meiner Haut, als hätte ich mich ohne Winterbekleidung in frischen Schnee gelegt, dann erst wurde mir klar, dass ich nicht atmen konnte, und das Gefühl der Kälte machte der Panik Platz.

Ich öffnete die Augen, sah aber nichts außer einer braunen Drecksuppe, die in meinen Augen brannte. Mit aller Kraft versuchte ich, mich aus der Umklammerung des glatten Körpers zu befreien, und bohrte dabei meine Fingernägel so tief wie möglich in die Haut des Ungeheuers, auch wenn ihm das nicht gerade viel auszumachen schien. Zu meinem Pech hatte ich bei dem Sturz ins Wasser auch noch das Lineal fallen lassen, also konnte ich das Ungetüm auch nicht einfach in zwei Hälften schneiden.

Gerade, als ich dachte, die Luft nicht eine Sekunde länger anhalten zu können, wurde ich wieder aus dem Wasser hinaus in die Höhe gerissen und auf den harten Boden geschleudert. Vor Schmerzen stöhnte ich auf und drehte mich auf den Rücken. Als ich die Augen öffnete, blickte ich direkt in das Schlangengesicht. Falk war knapp über mich gebeugt und sah mich ruhig an, als würde er auf meinen nächsten Zug warten.

Ich ließ meine Hände über das von der Sonne aufgeheizte Gras wandern, auf der Suche nach irgendetwas, das mir helfen konnte, doch ich fand nichts. Das schien auch das Ungeheuer zu bemerken: Es zog seinen Kopf zurück, um Schwung für einen Angriff zu nehmen. Im letzten Moment konnte ich mich noch zur Seite rollen und zusehen, wie sich sein Schädel in den Schmutz bohrte, was mir ein kleines Lachen entlockte. Allerdings bereute ich das sofort, da dabei meine Rippen unangenehm schmerzten.

Ich nutzte die Zeit, die Falk brauchte, um seinen Kopf zu schütteln und nach mir zu suchen, um zu der zweiten, noch von Monsterblut unbefleckten Hälfte des Geodreiecks zu laufen und mich dann damit auf das Ungeheuer zu stürzen. Ich schwang mich auf seinen Rücken und stach ihm das spitzeste Ende mit aller Kraft in das Fleisch.

Dieses Mal blieb der Schmerz von Falk offenbar nicht unbemerkt – er wand sich und versuchte, mich abzuschütteln, doch ich stach noch ein weiteres Mal zu und auch, als er den Teil seines Körpers, auf dem ich saß, anhob ich von ihm rutschte, ließ ich das Geodreieck nicht los. Es steckte tief in Falks Fleisch, doch es gab nach. Durch mein Gewicht wurde es nach unten gezogen und schnitt damit eine tiefe Furche in seine Haut. Als Falk begann, sich wilder zu winden, ließ ich das Lineal doch noch los und landete mehr oder weniger sanft auf dem Boden. Ich merkte, wie das Ungeheuer verzweifelt versuchte, den Plastiksplitter aus seiner Haut zu bekommen, es jedoch nicht schaffte. Ja, dachte ich, jetzt wäre es praktisch, Hände zu haben. Eine Sekunde lang beobachtete ich noch seine verzweifelten Befreiungsversuche, doch dann beschloss ich, dem Ganzen ein Ende zu setzen.

2.

ABSCHIEDSSCHMERZ.

Noch in dem Moment, als ich das Geodreieck in Falks Körper bohrte, gab er einen ohrenbetäubenden, animalischen Schrei von sich und löste sich dann langsam in schwarze, nach Schwefel stinkende Nebelschwaden auf. Der Gestank war so intensiv, dass ich mir die Hand vor das Gesicht halten musste, um überhaupt noch atmen zu können. Erst als sich der Rauch lichtete, verschwand auch langsam der Geruch wieder.

Schwer atmend ließ ich das gestohlene, kaputte Geodreieck fallen und hätte mich am liebsten daneben auf den Boden sinken lassen, da meine Beine vor Aufregung weich waren und mein gesamter Körper zitterte. Langsam kehrte auch der Schmerz in meine Glieder zurück, den ich während des Kampfes ausgeblendet hatte.

Mein Blick wanderte an mir herab, um zu überprüfen, ob ich mich verletzt hatte, da manchmal der Schock den Schmerz einfach verschwinden ließ und er erst viel später zuschlug, dann aber dafür gewaltig. Zum Glück konnte ich außer ein paar Schürfwunden und einer blutenden Wunde an meinem linken Oberarm nichts entdecken. Meine Haut war zwar völlig beschmutzt und mit Erde und schwarzem, dickflüssigem Blut verschmiert, aber es handelte sich dabei nicht um meines.

»Falk.« Ich sprach den Namen noch einmal langsam aus und ließ den Klang durch meinen Kopf hallen. Falk, wie der Falke. Er war klug gewesen, kein Zweifel. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich keinen Triumph nach der Beseitigung eines Monsters. Vielleicht, weil Falk kein richtiges Monster gewesen war. Er hatte mir zugehört und verstanden, was ich gesagt hatte, so etwas hatte ich bisher noch nie erlebt. Mit einem Mal fühlte ich etwas in mir – ein Gefühl, das mir völlig neu war. Was, wenn er niemandem geschadet hätte? Vielleicht waren ja gar nicht alle Monster schlecht und gefährlich ...

Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen Blick auf die Stelle sinken, an der Falk vorhin noch um sein Leben gekämpft hatte. »Du warst zwar gut, aber nicht gut genug.«

Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich etwas Kaltes auf meiner Haut fühlte. Erschrocken wirbelte ich herum und sah mich um, doch erst als ich niemanden entdecken konnte, wurde mir klar, was ich gefühlt hatte: Ich hob den Kopf und betrachtete den Himmel, wo die Sonne mittlerweile von tiefgrauen, bedrohlich wirkenden Wolken verdeckt wurde. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass es abgekühlt hatte und der Wind die mächtigen Bäume um mich herum sich wie Gummi biegen ließ, so versunken war ich in meinen Gedanken gewesen. Immer mehr Regentropfen fielen vom Himmel und wuschen das Blut und den Schmutz von meiner Haut, was mir überaus recht war, denn wie sollte ich Karla erklären, wie ich aussah? Ich konnte mir eine noch so gute Lüge einfallen lassen, sie würde mir doch nicht glauben.

Ich wartete noch ab, bis der Regen wie aus Eimern auf mich herabprasselte, um eine Erklärung dafür zu haben, weshalb ich von oben bis unten durchnässt war, dann erst sammelte ich die zerbrochenen Teile des Geodreiecks ein und warf sie in den Teich, wo sie rasch untergingen und hoffentlich nie gefunden werden würden.

Als ich im Klassenzimmer ankam, lag Karla immer noch auf dem Boden und schlief. Ich kniete mich daneben und rüttelte sie vorsichtig an den Schultern. »Karla«, sagte ich laut genug, damit sie mich hören konnte, sich aber nicht erschreckte. »Karla, komm mit. Wir müssen gehen, bevor der Sturm stärker wird.«

Völlig verschlafen öffnete sie die Augen und blinzelte mich verwirrt an. »Was für ein Sturm und ... und was ist denn mit dir passiert?« Einen Moment lang hielt ich erschrocken die Luft an. Ich hatte mich nicht in den Spiegel gesehen, bevor ich zu ihr gekommen war. Hatte der Kampf doch irgendwelche Spuren hinterlassen? Gerade wollte ich mein Gesicht abtasten, als Karla sich aufsetzte und hinzufügte: »Du bist ja klatschnass.«

Erleichtert atmete ich tief durch, während sie sich offensichtlich irritiert im Klassenzimmer umsah. Konnte sie sich nicht daran erinnern, was passiert war? Ich hoffte nur, dass sie mir jetzt nicht noch einmal einen Vortrag über meinen Schulwechsel halten wollte, das würde ich im Moment rein nervlich absolut nicht aushalten. Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, beeilte ich mich, ihr zuvorzukommen: »Es hat mittlerweile angefangen, zu regnen. Immerhin ist es jetzt nicht mehr so heiß, nicht wahr?«

Karla nickte immer noch etwas verwirrt und richtete ihren Blick dann wieder auf mich. »Wieso hast du mich denn nicht aufgeweckt, bevor es angefangen hat, zu regnen?«

Ihr Ton wirkte schon fast vorwurfsvoll. Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust und schnaubte. »Glaubst du wirklich, das hätte ich nicht versucht? Du hast geschlafen wie ein Stein und geschnarcht hast du auch noch, so laut, dass ich es hier drin nicht mehr ausgehalten habe und rausgegangen bin.«

»In den Regen.«

»Und selbst da habe ich dich noch schnarchen gehört«, fügte ich hinzu. Es überraschte mich, wie leicht es mir fiel, meiner besten Freundin ins Gesicht zu lügen, und ich schämte mich dafür. Doch sie durfte auf gar keinen Fall erfahren, womit ich mir meine Freizeit vertrieb – niemals. Diese Jagd, die Jagd auf Monster, sie musste unter allen Umständen mein Geheimnis bleiben. Ich würde nur jeden, dem ich davon erzählte, in Gefahr bringen. Ich wurde als Jägerin erzogen und ich wusste, wie ich mich verteidigen und die Stadt beschützen konnte, doch die anderen wussten es nicht. Es war sicherer für meine Freunde, in Unwissenheit zu leben.

»Ich schnarche gar nicht«, meinte Karla dann, doch ihre Stimme klang nicht so überzeugt, wie sie es wohl gerne gehabt hätte. Sie wirkte verunsichert, da sie es selbst nicht genau wusste, das sah man ihr eindeutig an.

Um davon abzulenken, stand Karla auf und machte sich auf den Weg zu der Fensterfront auf der anderen Seite der Klasse. Die Regentropfen, die mit Wucht gegen die Scheiben prallten, verursachten ein lautes Dröhnen, welches mir, zugegebenermaßen, ein leichtes Unwohlsein verschuf. Ich hatte das Gefühl, die Fensterscheiben könnten jeden Moment zerbersten und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich auch alle Fenster zuhause geschlossen hatte. Ich hatte keine Lust, zurückzukommen und dann alles unter Wasser vorzufinden. Es würde ewig dauern, alles wieder trocken zu bringen.

Irgendwo in der Ferne erhellte ein Blitz den Himmel und ich hielt den Atem an, während ich langsam die Sekunden zählte, bis der Donner zu hören war. Eins ... zwei ... drei ... und da war er auch schon.

»Ich will da nicht raus«, sagte Karla und riss mich damit aus den Gedanken. Sie hatte sich zu mir umgedreht und sich mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt. »Wir sollten warten, bis das Unwetter vorbei ist.«

Ich nickte und stellte mit einem Mal fest, dass ein Schauer durch meinen Körper jagte. Hier drin war es doch um einiges kühler, als erwartet, und meine nassen Sachen klebten an mir wie eine zweite Haut. »Ja, lass uns unten warten«, schlug ich vor, während ich meine Tasche vom Boden aufhob, die immer noch am selben Fleck neben meinem Sessel lag wie vorhin. »Mir ist kalt und unten gibt es wenigstens einen Kaffeeautomaten.«

»Kein Wunder, dass dir kalt ist, wenn du draußen im Regen rumläufst«, stichelte Karla, als wir die Treppen hinunterstiegen, die zum Erdgeschoss führten.

»Muss ich dich wirklich daran erinnern, warum ich rausgegangen bin?«, erwiderte ich ihr ruhig. Ich drückte die Tür zum Eingangsbereich der Schule auf, hinter der sich eine weitere Treppe befand, die zum Ausgang führte. Vor den Glastüren, die ins Freie führten, stand ein einsamer kleiner Kaffeeautomat, der nur darauf wartete, mein Geld zu nehmen und mir einen Kakao zuzubereiten.

»Du hättest auch gehen können«, gab Karla zu bedenken, die sich, während ich noch auf mein Heißgetränk wartete, auf die Stufen sinken ließ und mich beobachtete.

»Ach, was.« Ich lächelte sie an und nahm den Becher aus dem Automaten. »Ich konnte dich doch hier nicht alleine lassen. Am Ende hätten sie dich noch die ganzen Ferien über hier eingeschlossen.«

Karla straffte den Rücken und sah mich entsetzt an. Glaubte sie wirklich, hier eingeschlossen zu sein? Ich verdrehte die Augen, als ich gerade einen Schluck von meinem Kakao nahm, und lehnte mich gegen die Glastür, die daraufhin nachgab und sich nach außen hin öffnete. Obwohl sich vor der Schule noch ein Dachvorsprung befand, spürte ich sofort die kalten Regentropfen auf meiner Haut und machte schnell einen Schritt vorwärts, wieder in das warme Gebäude hinein. Lautlos fiel die Tür hinter mir ins Schloss.

»Siehst du?«, sagte ich dann und setzte mich neben meine Freundin auf eine der kalten, harten Stufen. »Kein Grund zur Panik.«

Sie schien tatsächlich erleichtert darüber, nicht hier eingeschlossen zu sein. Natürlich, es war keine sonderlich verlockende Vorstellung, fast zwei Monate lang hier drin gefangen zu sein. Wobei mir diese Abgeschiedenheit eine willkommene Abwechslung von den Monstern gewesen wäre, die ständig die Stadt belagerten. Von Tag zu Tag fragte ich mich, was sie hier machten und weshalb sie gerade hier, in dieser Stadt waren. Es gab hier doch nichts Besonderes, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was sie dazu brachte, in Scharen hier einzufallen. Warum suchten sie sich nicht eine coole Stadt wie London oder Paris oder Rom aus? Nur wer würde sich dann um sie kümmern? Ob es auch noch andere Leute wie mich gab? Andere Jäger? Diese Frage beschäftigte mich schon seit Jahren, seit dem Tod meiner Familie. Mit einem Mal fühlte ich eine unangenehme Wut im Bauch. Wie hatten sie mich einfach so alleine lassen können, ohne mir mein eigenes Leben, meine Existenz zu erklären? Ich meine, woher kamen diese Monster? Was wollten sie? Und warum musste gerade ich mich mit ihnen herumschlagen?

»Elisa?« Beinahe hätte ich nicht einmal bemerkt, dass Karla mit mir gesprochen hatte, so sehr war ich in meine Gedanken vertieft gewesen. Ihre Stimme klang Meilen weit entfernt, als befände sie sich am anderen Ende der Welt und würde von dort aus zu mir sprechen. Mein Blick wanderte zu ihr und ich merkte, dass sie mich etwas verwirrt musterte. Hatte sie meinen Namen etwa schon öfters ausgesprochen und ich hatte sie nur nicht gehört? Zumindest sah sie so aus.

Ich räusperte mich kurz und sagte dann: »Ja?«

»Kann ich dich etwas fragen?« Die Verwirrung war aus ihrem Gesicht verschwunden, dafür klang sie mit einem Mal etwas kleinlaut, was ich normalerweise gar nicht von ihr gewöhnt war.

»Ja. Ja, klar. Was denn?«

Sie deutete auf die Hand, mit der ich den Becher aus dem Automaten hielt. Immer noch dampfte der Kakao darin und zauberte kleine, weiße Rauchschwaden in die Luft, die mich stark an Falks Verschwinden vorhin erinnerten.

»Das Tattoo«, sagte sie dann und berührte mit ihren Fingern vorsichtig die Haut an der Innenseite meines Unterarmes, an der Stelle, wo mit schwarzer Farbe ein schlichter Anker unter meine Haut gestochen war. »Wir kennen uns jetzt schon seit-« Sie dachte kurz nach. »Acht Jahren und du hattest diese Tätowierung schon, bevor ich dich kennengelernt habe. Sag nicht, du hast dich schon im Kindergarten tätowieren lassen.«

Ich ließ meinen Blick auf das Tattoo sinken. Bisher hatte ich immer das Glück gehabt, nicht danach gefragt worden zu sein. Vermutlich hatten die meisten es für eine banale Zeichnung gehalten, doch das war es nicht und Karla als meine beste Freundin wusste das.

»Ich meine, es scheint mit dir mitzuwachsen«, fügte sie dann hinzu.

»Ja«, sagte ich und bemühte mich dabei, meine Stimmeso neutral wie möglich klingen zu lassen. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. »Das ist so ein Ding von meiner Familie, jeder bekommt dieses Tattoo ... Hat es bekommen.«

»Deiner richtigen Familie oder deiner Pflegeeltern?«

Karla wusste einfach zu viel über mich. Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich eine Weile bei einer Pflegefamilie gelebt, doch da ich ohnehin jede Nacht unterwegs war, und mich sehr gut um mich selbst kümmern konnte, habe ich entschlossen, lieber alleine zu leben, um meine Pflegeeltern nicht mit in die Sache hineinzuziehen. Im Gegensatz zu mir hätten sie sich nicht gegen einen Monsterangriff nicht wehren können. Ich hatte nicht gewollt, dass sie auch noch starben ... »Meine echte Familie.«

»Oh.« Ich merkte, wie ihre Wangen sich rot färbten. »Es tut mir leid, Liz. Ich wusste ja nicht, dass-«

»Schon gut«, wehrte ich ab. »Woher denn auch? Ich hab es dir ja nie gesagt. Ich fand es ja auch immer etwas merkwürdig. Ich meine, wer lässt sein Kind tätowieren? Aber ich muss sagen, ich kann mich gar nicht daran erinnern. Es hat also nicht wehgetan oder so …«

»Und ... was bedeutet es?«, fragte sie etwas zögerlich. »Ich meine, wenn es jeder in deiner Familie bekommt, dann muss es doch eine besondere Bedeutung haben.«

»Ich weiß es nicht genau«, gab ich ungern zu. »Ich weiß nur, dass der Anker für Hoffnung steht.« Wieder zuckte ich mit den Schultern.

Eine Weile lang herrschte Stille zwischen uns. Ich wusste nicht, was ich dem noch hinzufügen sollte, und auch Karla schienen die Fragen ausgegangen sein. Stumm saßen wir nebeneinander und warteten darauf, dass der Regen nachließ, der immer noch wie kleine Steine gegen die Scheiben donnerte.

»Es tut mir leid wegen vorhin«, sagte sie plötzlich und riss damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hob den Blick und sah mich mit ihren olivfarbenen Augen entschuldigend an.

»Was?«, fragte ich sie. »Dass du nicht leise schlafen kannst wie jeder andere auch?«

Ihre Augen verdunkelten sich und sie verpasste mir einen Schlag gegen den Oberarm. Ich biss fest die Zähne aufeinander, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Ich hatte schon fast vergessen, dass sich an dieser Stelle unter meinem Oberteil die Wunde befand, die das Ungeheuer mir vorhin hinten am Teich zugefügt hatte. Karla schien davon jedoch nichts zu bemerken, denn sie fuhr ungerührt fort: »Nein. Ich meine, dass ich so gemein war, wegen deines Schulwechsels. Ich hab das nicht so gemeint. Ich weiß ja, dass du deine Gründe hast, die Schule zu wechseln, so wie die anderen auch. Aber die Sache ist-« Sie machte eine Pause und presste ihre Lippen aufeinander. »Ich werde dich so schrecklich vermissen.«

»Ich werde dich doch auch vermissen«, versicherte ich ihr. »Glaubst du wirklich, es macht mir Spaß, alle meine Freunde zurückzulassen, und auf eine Schule zu wechseln, wo ich rein gar niemanden kenne?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber es muss sein. Ich weiß, was ich will, und diese Schule kann mir das einfach nicht ermöglichen.«

Karlas Blick wanderte zu Boden. »Ich weiß das. Ja, und ich verstehe es auch, wirklich. Es ist nur, ich kann mir nicht vorstellen, dich nicht mehr jeden Tag zu sehen. Ich habe schon jetzt das Gefühl, als wärst du nicht mehr hier.«

»Aber das bin ich«, beeilte ich mich, ihr zu versichern. »Und wer sagt, dass wir uns deshalb nicht mehr regelmäßig sehen können? Gut, vielleicht nicht täglich, aber das ist doch immer so in den Ferien.« Als Karlas Blick immer noch auf den Boden gerichtet war und sie nichts sagte, fügte ich hinzu: »Ach, Karla, du darfst nicht immer alles so negativ sehen. Du tust gerade so, als wäre das Leben jetzt vorbei, aber das ist es doch gar nicht. Wir werden doch immer beste Freundinnen bleiben.«

Sie hob den Kopf und sah zur Tür hinaus. »Es hat aufgehört zu regnen«, bemerkte sie dann matt, bevor sie sich wieder an mich wandte und seufzte. »Ich weiß das alles, aber-«

»Nichts aber«, unterbrach ich sie und stand auf, um den leeren Plastikbecher in den Müll zu werfen. »Denk positiv! Wir sehen uns doch schon heute Nacht.«

Mit einem Mal richtete Karla sich auf und sah mich überrascht an. »Ich dachte, du willst nicht kommen?«

Eigentlich hatte sie recht. Ich hatte kein Interesse an dem Fest, das heute Nacht in der Stadt stattfand. Für mich war das immer viel zu viel Wirbel um nichts: Unmengen von Leuten, schlechtes Essen und meistens auch noch schlechtes Wetter. Aber was sollte das schon? Wenn es Karla glücklich machte, würde ich kommen.

3.

EIN LEBEN LANG ALLEINE.

Zuhause angekommen stellte ich erleichtertfest, dass ich alle Fenster geschlossen hatte und das Innere des Hauses noch wundervoll trocken war.

Völlig erschöpft ließ ich meine Tasche im Eingangsbereich fallen und machte mich erst einmal auf den Weg ins Bad, um mich gründlich zu duschen. Obwohl der Regen so gut wie alles von meiner Haut gewaschen hatte, verfärbte sich das Wasser am Boden der Dusche immer noch in einem merkwürdigen, bräunlichen Farbton, von dem ich nicht zu sagen vermochte, woher er stammte. War es Erde? Blut? Oder vielleicht das schmutzige Wasser des Teiches? Ich wusste nicht, woher die Farbe gekommen war, und es hatte auch keinen Sinn, darüber nachzudenken. Hauptsache, sie war weg.

In ein Handtuch gehüllt, eilte ich zurück in mein Zimmer, um mir etwas zum Anziehen für heute Abend herauszusuchen. Wenn ich schon auf dieses bescheuerte Fest gehen musste, dann wollte ich wenigstens gut aussehen. Mein Problem war nur, dass sich in meinem Kleiderschrank hauptsächlich praktische Kleidung befand, in der ich – für den Fall der Fälle – schnell laufen, springen und, was noch wichtiger war, gut kämpfen konnte. Dafür eigneten sich Prinzessinnenkleidchen leider nicht so gut.

Resigniert ließ ich mich auf mein Bett fallen und betrachtete weiter den Inhalt des Kastens. Karla hatte dieses Problem nicht: Sie war das komplette Gegenteil von mir – ihr Schrank war geradezu überfüllt mit Kleidern. Wenn sie nicht gute zehn Zentimeter größer wäre als ich, hätte ich sie bestimmt gefragt, ob sie mir nicht etwas borgen konnte. Leider musste ich mich mit dem zufriedengeben, was mein eigenes Repertoire hergab: ein einziges, schwarzes Kleid. Das ist besser als gar nichts, sagte ich mir immer wieder, damit ich mich nicht frustriert in meinem Zimmer einschloss und das Fest spritze.

Um mich abzulenken, zog ich das kleine Notizbuch hervor, das ich unter meinem Kopfkissen versteckt hatte, und öffnete es an der Stelle, in der mein Kugelschreiber steckte. Auf der linken Seite des Buches befand sich eine Zeichnung von dem Monster, das ich vor paar Tagen bekämpft hatte. Es handelte sich dabei um eine Art Minotaurus mit spitzen Hörnern, scharfen Zähnen und gewaltigen Hufen, von denen ich immer noch blaue Flecken hatte. Mit einem Schaudern erinnerte ich mich an seinen fauligen Atem und die Kampflust in seinen Augen. Er hatte nur eines im Sinn gehabt: töten, weshalb ich ihm den Namen Efferitas verlieh – das lateinische Wort für Wildheit. Unter der Zeichnung befanden sich eine kleine Charakterisierung und Aufzeichnungen über den Verlauf des Kampfes, so beschrieb ich jedes einzelne der Monster, gegen das ich antreten musste. Die genaue Dokumentation sollte mir dabei helfen, mich selbst zu verbessern.

Nun malte ich eine kleine Skizze von Falk auf die rechte Seite des Buches. Sein langer schlangenhafter Körper, die Hörner, die aus seiner Stirn ragten, das Maul ohne Zähne und seine klugen Augen. Ich beschrieb seinen Charakter als aufmerksam, interessiert und fast menschlich.

Mit dem Stift auf dem Papier ruhend, dachte ich einen Moment lang nach. Ich wusste nicht, was es war, das mich so an dem Schlangenwesen faszinierte. Vielleicht war es die Tatsache, dass er nicht so aggressiv gekämpft hatte wie manch andere Ungeheuer. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Falk mich aus dem Wasser gezogen hatte, bevor er zu seinem letzten Stoß ansetzte. Es war mir nicht möglich gewesen, mich zur Wehr zu setzen und das hatte er gemerkt. Aber warum hatte er mich dann rausgezogen und mir sogar noch die Möglichkeit gegeben, mich zu verteidigen? Er hätte mich auch einfach ertrinken lassen können. Im Nachhinein gesehen erschien mir das Ganze eher wie ein Übungskampf, die ich früher öfter mit meinem Bruder ausgetragen hatte: Dabei war es stets ums Eingemachte gegangen, jedoch ohne den anderen zu töten.

Erschrocken hielt ich die Luft an. Hatte Falk mich gar nicht töten wollen? Hatte er auf eine merkwürdige, verdrehte Art versucht, mit mir zu spielen? Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog. Jahrelang war es meine einzige Aufgabe gewesen, Monster zu töten, ohne darüber nachzudenken. Am Anfang wurde ich einfach von ihnen attackiert und ich hatte mich verteidigt, doch irgendwann waren die ständigen Kämpfe zu einer Art Gewohnheit geworden. Konnte es sein, dass gar nicht alle dieser Monster blutrünstige Tötungsmaschinen waren? Oder war nur Falk die Ausnahme? So oder so, ich hatte ihn getötet und damit war die Sache erledigt.

Ich schloss das Buch, um diesen Gedanken von mir zu schieben, und versteckte es wieder unter meinem Kopfkissen. Keine Ahnung, warum ich das tat, immerhin war niemand hier, der es zufällig hätte finden können.

Mit einem tiefen Seufzen ließ ich den Blick durch mein Zimmer streifen. Die Wände waren voll von Fotos und Erinnerungsstücken, die dafür gedacht waren, mich aufzuheitern, wenn die Einsamkeit wieder einmal zuschlug – so wie jetzt gerade. Nur leider waren die Bilder von Freunden und Familie, Zeichnungen, Postkarten und Briefe nicht immer genug, um mich besser zu fühlen. Ich ging an der Wand entlang und betrachtete die Papierfetzen, die daran hingen. Einer davon stach mir jedes Mal ganz besonders ins Auge: Es handelte sich dabei um eine krakelige Zeichnung, die mit Kugelschreiber auf ein Stück liniertes Papier gezaubert worden war. Sie stellte ein, zugegebenermaßen, nicht mit Sicherheit identifizierbares Tier dar, welches für mich eher wie ein Bär mit Schweinsnase und langem Schwanz aussah. Allerdings war mit großen, ebenfalls krakeligen Buchstaben das Wort Affe darübergeschrieben, um auch ja keine Zweifel aufkommen zu lassen. Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, als ich die Zeichnung bekommen hatte. Mein Bruder hatte sie mir geschenkt, allerdings war er zu diesem Zeitpunkt kein kleines Kind mehr gewesen, wie die wackelige Linienführung vermuten lassen könnte. Wenn ich mich nicht irrte, war er damals vierzehn Jahre alt gewesen, also etwas jünger als ich jetzt. Normalerweise brachte mich diese Zeichnung immer zum Schmunzeln, doch nicht heute. Sie erinnerte mich nur daran, dass er eben kein Künstler, sondern ein Krieger gewesen war, und dass diese Tatsache auch seinen Tod bedeutet hatte. Ein Künstler wäre nicht in einem Kampf um Leben und Tod gestorben.

Ich ließ meine Finger über das Papier gleiten und versuchte dabei, die Zweifel, die mir seit Falks Tod ständig unterkamen, beiseitezuschieben. Automatisch zog ich die Hand zurück und mahnte mich selbst: Es ist meine Aufgabe. Meine Eltern und auch mein Bruder erwarteten, dass ich ihre Arbeit fortsetzte und die Stadt beschützte, auch wenn das nicht immer leicht war. Ohne mich würde hier das reinste Chaos herrschen, das musste ich mir immer wieder vor Augen führen. Viel zu oft hatte ich schon darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn ich mich einfach einmal ein paar Tage zurücklehnen und die Füße hochlegen würde. Ich könnte die Leute ihrem Schicksal überlassen, nur für ein paar Stunden. Was würde wohl passieren? Würden Menschen sterben? Zumindest wüssten sie dann, was sich hier ständig rumtrieb, und müssten sich selbst etwas einfallen lassen.

In diesem Moment ertönte ein Piepsen und ich fuhr erschrocken herum. Der Detektor, den ich heute Morgen zuhause vergessen hatte, leuchtete rot. Es handelte sich dabei um ein metallenes Kästchen, in dessen Mitte sich eine kleine Glühbirne befand. Sie verriet mir immer, wenn sich ein Monster in der Nähe befand, und half mir, es aufzuspüren.

»Nein, bitte nicht«, stöhnte ich und ließ mich völlig erschöpft auf das Bett fallen. Das konnte doch nicht wahr sein, gleich zwei an einem Tag. Ich streckte die Hand nach dem Detektor aus, wobei ein Stich durch meinen Arm ging, den ich allerdings ignorierte. Wenn ich erst einmal anfing, auf jeden noch so kleinen Schmerz einzugehen, war das der Anfang vom Ende.

Ich überlegte kurz, ob ich das Piepsen und Leuchten des Geräts einfach ignorieren sollte oder ob es klüger war, Karla für heute abzusagen, doch dann beschloss ich, dass keine der beiden Möglichkeiten ideal war. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es bereits nach sieben Uhr sein musste, da die Sonne langsam begann, am Horizont zu verschwinden. Um acht Uhr war ich mit Karla und den anderen in der Stadt verabredet. Nie und nimmer konnte ich gegen ein Ungeheuer kämpfen und pünktlich zu dem Fest erscheinen, aber was blieb mir für eine andere Wahl? Ich musste es versuchen.

Das Umziehen dauerte nicht lange und dank des Detektors hatte ich auch den Ort, an dem sich das Monster befand, schnell gefunden. Inzwischen war es finster geworden und ich streifte alleine durch die verlassenen Straßen. Das Leuchten der metallenen Kiste in meiner Hand verriet mir, dass das Monster hierher unterwegs war, was bedeutete, dass ich noch Zeit hatte. Darum beschloss ich, zuerst Karla zu suchen und ihr zu beweisen, dass ich auch wirklich gekommen war. Doch das war gar nicht so einfach: Auf dem Hauptplatz angekommen, musste ich feststellen, dass dieser überfüllt mit Menschen war. Mit so einem Andrang hätte ich nie im Leben gerechnet, besonders, da das Fest von Jahr zu Jahr bescheidener ausfiel.

Ich sah mich um, auf der Suche nach Karla oder sonst irgendjemanden, den ich kannte, doch es war schwer, zwischen den drängelnden Massen etwas zu erkennen. Trotzdem fasste ich mir ein Herz und drang tiefer in die Menschenmenge ein, in der Hoffnung, jemandem über den Weg zu laufen, der mir nicht vollkommen fremd war. Ungeduldig bahnte ich mir einen Weg in Richtung Mitte des Platzes, dorthin, wo sich auch die Bühne befand, auf der eine völlig unbekannte Band Lieder zum Besten gab.

Als ich nach einer Weile immer noch niemanden entdeckt hatte, blieb ich erst einmal planlos stehen, um mich besser umsehen zu können. Es war bereits nach acht, wo steckte Karla nur? Ich merkte, dass das Piepsen meines Detektors immer ungeduldiger wurde, langsam blieb mir keine Zeit mehr, um meine Freundin zu finden.

Ich hob den Blick wieder, um weiterzusuchen, als ich merkte, dass ich beobachtet wurde. Ich wandte mich um, wobei mein Blick auf einen Jungen auf der anderen Seite des Hauptplatzes fiel. Er sah mich an, so viel war sicher, doch ich konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen. Ein weiteres Mal ertönte das Piepen des Detektors und riss meine Aufmerksamkeit auf sich. Verärgert drückte ich ein paar der Knöpfe, um ihn zum Schweigen zu bringen, und hob dann den Blick wieder, doch der Junge war verschwunden. Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich mir ihn oder seinen durchdringenden Blick nur eingebildet hatte, doch es blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken und auch nicht, um weiter nach Karla zu suchen. Dass der Detektor keine Ruhe gab, war kein gutes Zeichen. Ich musste mich beeilen, bevor noch etwas passierte. Später war immer noch genug Zeit, um mich auf die Suche nach den anderen zu machen, wenn sie dann mittlerweile aufgetaucht waren.

Noch einmal sah ich mich um, doch dann eilte ich los, um nicht zu spät zu kommen. Auch dieses Mal war es keine einfache Aufgabe, mir meinen Weg durch die Massen zu bahnen, doch es gelang mir und schon bald stand ich wieder in einer der unzähligen, abgelegenen Seitengassen der Stadt.

»Na, wo hast du dich versteckt?« Obwohl ich mich bemühte, nicht zu laut zu sprechen, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, hallte meine Stimme aus der dunklen, leeren Sackgasse zurück. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gewettet, alleine zu sein. Nur leider wusste ich es besser und mir war klar, dass sich etwas hinter diesen Schatten vor mir verbarg.

Die nahestehende Laterne hinter mir warf einen leichten Schein, der meinen Schatten wie einen Riesen auf den schmuddeligen, uneben gepflasterten Boden zeichnete. Man hätte meinen können, ich wäre drei Meter zwanzig groß, anstatt nur der Hälfte. An meinem Schatten merkte ich, dass sich einige Strähnen aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatten, vermutlich, als ich hierher gelaufen war.

»Ich weiß, dass du hier irgendwo bist«, sagte ich noch einmal, während ich das Haargummi löste und meine Haare erneut zusammenband. Ich ließ mir Zeit, da ich ohnehin auf eine Antwort wartete, die nicht und nicht kommen wollte. »Ich werde dir nichts tun«, versicherte ich, wobei ich meine Stimme so beruhigend wie möglich klingen ließ.

Ich hielt den Atem an, um besser hören zu können, doch alles, was ich wahrnahm, war das entfernte Spielen von Musik, was mich wieder an das Fest im Zentrum der Stadt erinnerte, auf dem ich mit Karla und den anderen verabredet war. Natürlich wäre ich viel lieber dort geblieben, als hier vergeblich alleine in der Finsternis zu warten.

»Ich zähle jetzt bis drei.« Während ich einen Schritt weiter in die Gasse hinein machte, hielt ich meine Hand griffbereit an meinem Gürtel, nur für den Fall der Fälle. Als sich immer noch nichts rührte, begann ich langsam zu zählen. »Eins ... zwei ...«

Gerade, als ich Luft holte, um die dritte, letzte Zahl auszusprechen, ertönte eine Art leises Wimmern aus den Schatten, welches mir ein ungewolltes, triumphierendes Lächeln auf die Lippen zauberte. »Das dachte ich mir bereits«, sagte ich und bewegte mich vorwärts, tiefer in die Dunkelheit hinein.

Mit jedem Schritt, den ich tat, wurde das Wimmern lauter. Es änderte sich, verzerrte sich, als ob es von einer kaputten Schallplatte stammen würde, und dann wurde es deutlicher: Es war ein leises Miauen. Abrupt blieb ich stehen. Eine Katze also, dachte ich und verzog dabei das Gesicht. Das konnte doch nicht sein, hatte ich mich geirrt? Ich schüttelte den Kopf, mein Instinkt täuschte mich nie, hier musste sich noch etwas anderes verstecken. Es konnte nicht sein, dass ich nur wegen einer harmlosen Katze quer durch die Stadt eilen hatte müssen und deshalb das beliebteste Fest des Jahres verpasste. Gerade, als ich das dachte, spürte ich eine Bewegung hinter mir und wirbelte herum. Fast hätte ich lachen müssen, als ich die Kreatur vor mir sah, die mindestens einen Meter größer war als ich und mich aus feuerrot glühenden Augen musterte. Die Ähnlichkeit mit einer zahmen Hauskatze war verblüffend. Nun, zumindest war ich nicht umsonst hier.

»Hier bist du also«, stellte ich fest und führte meine Hand wieder zu meinem Gürtel. Es dauerte eine Sekunde, bis ich mich für eines der Messer entschieden hatte, die ich unter meiner Lederjacke versteckt hielt, doch ich wollte mir ganz sicher sein, die richtige Wahl zu treffen. »Deinetwegen muss ich hier mitten in der Nacht in verlassenen Gassen rumstreifen, während alle anderen sich amüsieren. Meine Freundinnen werden mich hassen, weil ich sie schon wieder versetze und du bist schuld.«

Das Ungeheuer mit den kobraartigen, spitzen Zähnen und den Krallen an den – nebenbei bemerkt – samtweich wirkenden Pfoten knurrte mich verständnislos an und ging in die Hocke, um sich für den Angriff bereit zu machen.

Ich seufzte. Es war wirklich jede Nacht dasselbe Theater. Warum musste ich es sein? Warum konnte sich nicht irgendjemand anderes um die Monster kümmern, die aus heiterem Himmel beschlossen, die Stadt, in der ich lebte, anzugreifen? Langsam wurde es nämlich lästig, ständig aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Die gefletschten Zähne des Ungeheuers funkelten im Licht der entfernten Straßenlaterne und ich erinnerte mich wieder an Falk, das zahnlose Schlangenmonster. Eine Sekunde lang zögerte ich und hätte beinahe das Messer sinken lassen, fing mich dann aber wieder und festigte den Griff. Dieses Ungeheuer wollte nicht spielen, außer vielleicht mit ein paar abgetrennten Köpfen, doch dazu würde es nicht kommen, dafür würde ich schon sorgen.

Ich hob die Klinge, als ich merkte, dass sich das Ungetüm zum Sprung bereit machte. »Gib dir wenigstens Mühe«, bat ich es. »Ich will heute auch meinen Spaß haben.«

4.

NEUES JAHR, NEUES GLÜCK.

SEPTEMBER.

Ich öffnete langsam die Augen, als das sanfte Klingeln meines Weckers zum ersten Mal seit ungefähr zwei Monaten wieder ertönte. Es war Montag, genau genommen, der erste Montag des neuen Schuljahres. Sofort hatte ich wieder dieses altbekannte Ichwill-nicht-aufstehen-Gefühl in mir, welches mich wie jedes Jahr zu Beginn des ersten Schultags begrüßte. Doch dieses Gefühl verstärkte sich sofort, als mir klar wurde, was mir heute bevorstand. Dieses Schuljahr war kein gewöhnliches Jahr, das hätte ich beinahe vergessen. Heute war mein erster Tag in meiner neuen Schule, darum wäre ich auch am liebsten liegen geblieben und hätte mich unter meiner Bettdecke verkrochen. Leider durfte ich das nicht, es machte keinen guten Eindruck, schon am allerersten Tag zu fehlen. Also quälte ich mich trotz meiner inneren Proteste doch noch aus den Laken.

Einen Moment lang blieb ich noch auf der Bettkante sitzen und atmete tief durch, um den Schmerz zu unterdrücken, der mir bei jeder Bewegung durch die Glieder fuhr. Dann beschloss ich, die empörten Schreie meines Körpers zu ignorieren und mich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen. Obwohl es bereits Anfang September war, war die Luft noch immer angenehm warm und so entschied ich mich kurzerhand für eine lange Hose und ein einfaches T-Shirt. Nichts Außergewöhnliches, aber ich wollte auch nicht unnötig aus der grauen Masse hervorstechen. Schon seit Wochen fürchtete ich mich vor diesem einen Tag. Das Wissen, auf eine neue Schule zu wechseln, wo ich niemanden kannte, hatte mir die gesamten Ferien verdorben. Der einzige Trost war, dass es den anderen, meinen neuen Mitschülerinnen und Mitschülern, dabei ganz ähnlich ging.

Als ich fertig umgezogen war, lief ich hinunter in den Eingangsbereich. Meine Tasche hatte ich schon am Vortag gepackt, um auch ja keine Zeit zu verlieren und womöglich deshalb noch zu spät zu kommen. Kurz bevor ich das Haus verließ, blieb ich noch einmal vor einem Spiegel stehen und betrachtete mein Spiegelbild, wobei ich mir meine braunen Haare hinter die Ohren strich. Ich sah müde aus, unter meinen hellblauen Augen befanden sich tiefe Ringe –kein Wunder, immerhin hatte ich es schon seit Tagen nicht mehr vor Mitternacht ins Bett geschafft. Wieder schmeckte ich dieses bittere Gefühl der Ungerechtigkeit in mir, als ich mich fragte: »Warum ich und nicht jemand anders?« Doch es hatte auch keinen Sinn, deshalb Trübsal zu blasen. Es war eben so, wie es war, und ich konnte nichts daran ändern.

Noch einmal sagte ich laut »Du schaffst das, Liz« zu mir selbst, bevor ich mich immer noch etwas widerwillig auf den Weg machte. Es war noch so früh, dass kaum jemand auf den Straßen unterwegs war, als ich das Haus verließ, und die Sonne gerade erst hinter den Wäldern aus dem Nebel brach. Ich brachte den Weg zu Fuß hinter mich, da ich weder ein Fortbewegungsmittel besaß, noch Geld für den Bus ausgeben wollte. Außerdem hatte ich dabei Zeit für mich, ohne mich mit anderen Menschen herumschlagen zu müssen. Der Morgen war eindeutig meine Lieblingstageszeit.

Erst als ich den durch ein Tor begrenzten Eingang zur Stadt betrat, kreuzten Passanten meinen Weg. Es waren nur einige wenige, die schon so früh auf den Beinen waren, die meisten verschwanden auch relativ schnell wieder in Bäckereien oder Tabakläden und schienen mich dabei nicht einmal wahrzunehmen, was mir ganz recht war. Gedankenversunken marschierte ich über den uneben gepflasterten Boden der Stadt, wobei ich meinen Blick über die Auslagen schweifen ließ, ohne dabei etwas genauer zu betrachten.

Mein Weg führte mich einen kleinen Hügel hinauf, der aus der Stadtmitte hinausführte. Auch dort befanden sich links und rechts noch weitere Geschäfte, deren Auslagen ich betrachten konnte, damit mir auf dem Weg zur Schule nicht langweilig wurde. Ich war schon fast oben angekommen, als ich plötzlich außer mir selbst noch eine andere Reflexion in der Schaufensterscheibe entdeckte und meinen Blick schlagartig nach vorne richtete. Sofort fragte ich mich verärgert, warum der Detektor in meiner Tasche nicht Alarm geschlagen hatte – vor meinem inneren Auge hatte ich schon ein gewaltiges, geflügeltes Monster vom Himmel schweben sehen und mich für einen Kampf bereit gemacht, doch da hatte mir meine Fantasie wohl einen Streich gespielt. Bei der Reflexion im Schaufenster handelte es sich lediglich um eine Gruppe Jugendlicher, die mir entgegen kam. Zum Glück schienen sie mich nicht einmal bemerkt zu haben und ich versuchte, einen gelasseneren Gesichtsausdruck aufzusetzen und mich selbst zu beruhigen. Es ist alles in Ordnung, Elisa, sagte ich mir und ließ meinen Blick über die Gruppe schweifen. Es waren vier Jungen und ein Mädchen, die mir den Berg hinab entgegen kamen. Im Gegensatz zu der gähnenden Leere, durch die mein Weg mich bis jetzt geführt hatte, wirkte diese Gruppe geradezu ungewöhnlich groß.