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***Ihre Berührungen sind tödlich. Doch das Einzige, das sie retten kann, ist ein Kuss.*** Die 17-jährige Cora ist ein Monster. Seit sie im Meer von einer Qualle angegriffen wurde, wird ihre Haut immer dann giftig, wenn sie Angst hat. Nachdem sie in Notwehr einem Mann das Gesicht verätzt, wird sie im "Zoo der Monster" eingesperrt. Dort soll sie ihre Kräfte zur Schau stellen, um die Zoo-Besucher zu unterhalten. Alles, woran Cora denken kann, ist Flucht. Doch ausgerechnet der für seine Gnadenlosigkeit bekannte Wärter Grayson erwischt sie bei dem Versuch. Zu Coras Verwunderung bestraft er sie nicht. Sieht er in ihr mehr als ein abscheuliches Monster? Aber wie soll sie ihm beweisen, dass sie harmlos ist, wenn sie ihm mit jeder Berührung Schmerzen bereitet? Cora muss lernen, ihre Angst zu überwinden, denn am Ende kann nur ein Kuss sie befreien.
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Seitenzahl: 348
Roman
Digitale Originalausgabe
Impressum
Ein Imprint der Arena Verlag GmbH Digitale Originalausgabe © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2019 Covergestaltung: Rica Aitzetmüller, unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock Alle Rechte vorbehalten E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2019 ISBN: 978-3-401-84034-5 www.arena-verlag.dewww.arena-digitales.deFolge uns!www.facebook.com/digitalesarenawww.instagram.com/arena_digitaleswww.twitter.com/arenaverlagwww.pinterest.com/arenaverlag
Für meinen Freund, der mich glauben lässt, alles schaffen zu können.
Kapitel 1
Angespannt trommelte ich mit den Fingern auf den Verkaufstresen. Die Kassiererin ließ sich davon nicht beirren und schlug in aller Seelenruhe den Kilopreis der Äpfel nach, die ich für Moms berühmten Apfelkuchen kaufen sollte.
Ich hörte die Glocken vom Kirchturm nicht weit von hier. Sie schlugen sechs Mal. Bestimmt fragten sich meine Eltern, wo ich so lange blieb. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche. Wie erwartet war da eine neue Nachricht.
Cora, Schatz. Heute gibt es dein Lieblingsessen. Komm bald nach Hause. Kuss, Mom.
Sie unterschrieb ihre Nachrichten immer, dabei waren sie und Dad die Einzigen, die meine Nummer hatten.
Mein Magen knurrte. Das Mittagessen hatte ich heute ausgelassen, um mich ein wenig in der Stadt umzusehen, deren Namen ich mir noch nicht einmal gemerkt hatte. Erst vor ein paar Tagen waren wir in diesem Kaff in North Carolina angekommen. Das war bereits der siebte Umzug in diesem Jahr.
Ich steckte das Handy zurück in meine Hosentasche. Die Verkäuferin klebte immer noch an der Preisliste. Wie lange konnte es dauern, darauf die richtige Apfelsorte zu finden?
Langsam wandelte sich meine Ungeduld in Ärger und mir wurde heiß. Meine Haut schien zu glühen. Schützend zog ich die Ärmel meiner Jacke über die Hände.
Ich atmete tief durch, so wie Mom es mit mir geübt hatte. Ich musste ruhig bleiben. Solche Kleinigkeiten durften mich nicht auf die Palme bringen. Nicht, wenn ich keinen weiteren überstürzten Umzug riskieren wollte.
Ich spürte einen Luftzug hinter mir und drehte mich um.
Ein Mann in dunkelgrauer Uniform betrat den kleinen Supermarkt. Er hatte hohe Wangenknochen und schmale Augen.
Sofort jagte mein Puls in die Höhe. Schnell wandte ich den Blick ab. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Mann zwischen den Regalreihen verschwand.
Diese Uniform! Ich erkannte das Abzeichen darauf ganz deutlich: ein auf dem Kopf stehendes Dreieck, in dem die Buchstaben Z und M eingeprägt waren.
Mom und Dad hatten mir immer wieder Bilder gezeigt, damit ich die Wärter des Zoos sofort erkannte, sollte ich mal einem begegnen. Bisher hatte ich es aber immer mit Suchern zu tun gehabt. Dieser Mann war nicht darauf spezialisiert, mich zu finden. Dennoch würde er ein Monster erkennen, wenn er eins direkt vor der Nase hatte. Ich hatte keine Ahnung, was einen Mitarbeiter des Zoos in diese Gegend verschlug. So viel ich wusste, gab es in diesem Bundesstaat noch keinen Zoo. Trotzdem war mir eines klar: Ich musste hier weg, so schnell es ging.
Schweiß trat mir auf die Stirn, aber ich wusste, dass es nicht nur das war, was aus meinen Poren kam. Unsichtbar. Aber dafür umso gefährlicher.
»Mir fällt gerade ein, dass ich mein Geld zu Hause vergessen habe«, murmelte ich der Kassiererin zu und hoffte, sie würde das leichte Zittern in meiner Stimme nicht bemerken.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie mich an.
»Ich komm einfach später nochmal«, sagte ich, nickte ihr zu und eilte gleichzeitig in Richtung Ausgang.
»Vorsicht!«, rief eine tiefe Stimme, doch da war es schon zu spät. Ungebremst stolperte ich gegen jemanden und taumelte zurück.
Meine Tasche rutschte von meiner Schulter und fiel zu Boden. Zwei starke Hände packten mich an den Armen, damit ich nicht stürzte. Noch nie zuvor war ich so froh über meine dicke Daunenjacke gewesen.
Als mein Blick die Uniform mit dem Gürtel streifte, an dem Handschellen baumelten, wurde mir übel.
»Tut mir leid«, murmelte ich und wollte mich nach meiner Tasche bücken. Doch der Wärter war schneller. Er griff danach und drückte sie mir in die Hand. Unsere Finger berührten sich und ich zuckte zurück, wobei die Tasche erneut zu Boden fiel.
Ich konnte zusehen, wie sich die Augen des Mannes weiteten. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
In der nächsten Sekunde rannte ich los.
»Stehenbleiben!«, hörte ich die warnende Stimme des Wärters hinter mir, als ich die Tür aufstieß und ins Freie stolperte.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Es war kalt, doch meine Haut glühte heiß vor Angst.
So schnell mich meine Beine trugen, rannte ich auf die nächste Seitengasse zu. Wo sollte ich mich verstecken? Ich kannte mich hier doch noch gar nicht aus. Mir blieb keine andere Wahl, als immer weiter zu laufen.
»Haltet sie auf! Sie ist ein Monster!« Die Stimme des Zoowärters hallte durch die Gasse, doch sie kam nicht näher. Wie viel Vorsprung ich wohl hatte? Jetzt bloß nicht umdrehen. Das würde mich nur wertvolle Zeit kosten.
Meine Lungen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment zerplatzen. Auch wenn Dad seit Jahren mit mir laufen ging, damit ich im Notfall vorbereitet war, fühlte sich der Druck in meiner Brust unerträglich an. Ich konnte kaum noch atmen. Und doch arbeiteten die Muskeln in meinen Beinen zuverlässig. Bis ich plötzlich zu Boden gerissen wurde.
Ich schlug auf den harten Asphalt. Jemand bohrte sein Knie in meinen Rücken. Meine Handflächen brannten. Ich wollte mich aufrappeln, doch es gelang mir nicht.
»Ich hab sie!«
Die Stimme eines anderen Mannes ertönte dicht an meinem Ohr. Angst und Verzweiflung trieben mir Tränen in die Augen, doch ich weigerte mich, aufzugeben.
»Bitte«, flehte ich, doch der Mann ließ nicht locker. »Ich habe nichts getan! Ich bin kein Monster!«
»Das wird der Zoo entscheiden.«
Ich spürte, wie er sein Gewicht verlagerte. Nun lag er fast auf mir, presste mich gegen den Boden, damit ich keine Chance hatte, zu entkommen. Sein warmer Atem strich über meinen Nacken.
Meine Gedanken rasten. Was sollte ich tun? Es gab nur eine Möglichkeit. Ich konnte nicht liegenbleiben und darauf warten, dass mich der Wärter abführte.
Mit dem linken Arm drückte ich mich ein Stück vom Boden weg und griff dann mit dem anderen über meine Schulter – dorthin, wo ich das Gesicht des Mannes vermutete. So fest ich konnte presste ich meine Handfläche auf seine Haut.
Ein markerschütternder Schrei ertönte, der mich selbst zusammenfahren ließ. Das Gewicht auf meinem Rücken verschwand. Hastig rappelte ich mich auf und warf einen Blick auf den Mann, der am Boden kniete und mit beiden Händen sein Gesicht betastete. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich ihm.
In der Dunkelheit erkannte ich nicht viel, doch ich konnte mir die Verätzungen gut vorstellen. Er würde meinen Handabdruck auf seinem Gesicht tragen. Seine Bestätigung dafür, dass ich wirklich ein Monster war. Eine bösartige Kreatur, die eingesperrt werden musste. Um die Menschen vor mir zu beschützen.
»Es tut mir leid«, presste ich atemlos hervor, doch mir blieb keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Schon bald würden die Mitarbeiter des Zoos hier eintreffen.
Ich wandte mich ab und rannte weiter.
Kapitel 2
Mein Herz raste, als endlich mein Zuhause in Sicht kam. Zum Glück hatte ich mich nicht auch noch verlaufen.
Ich wollte die Haustür aufstoßen, doch sie war verschlossen. Meine Eltern waren in den letzten Jahren vorsichtig geworden.
»Mom! Dad!« Hilflos hämmerte ich gegen die Tür. Ich hatte nichts bei mir. Nicht einmal mein Handy; das lag in meiner Handtasche auf dem Fußboden des Ladens. Genauso wie meine Schlüssel, mein Geld – und mein Ausweis. Es würde nicht lange dauern, bis der Zoo mich ausfindig gemacht hatte. »Ich bin es, macht die Tür auf!«
Endlich erblickte ich Licht in den Fenstern. Nervös sah ich mich hinter mir auf der Straße um. Kein Blaulicht. Ob mir der Zoo schon auf den Fersen war?
»Endlich.« Ich stürmte an meiner Mom vorbei ins Haus. Es roch nach Essen. Wieder knurrte mein Magen, doch dafür war keine Zeit. »Wir müssen verschwinden. Sie haben mich gefunden.«
Ich war völlig außer Atem
»Ich hole die Notfall-Taschen«, ertönte die Stimme meines Vaters hinter mir, woraufhin ich mich zu ihm umdrehte. Er hatte wieder diesen wütend-besorgten Gesichtsausdruck.
Meine Eltern hassten diese überstürzten Umzüge genauso sehr wie ich. Es gab nur einen einzigen Unterschied: Sie wurden nicht gejagt.
»Ich kann dieses Mal auch allein gehen.« Die beiden konnten schließlich nichts für meine Fähigkeiten. Es war nicht fair, dass sie meinetwegen ein Leben auf der Flucht führen mussten. »Ihr habt schon so viel für mich getan. Wir sind gerade erst in dieser Stadt angekommen. Ich kann euch das nicht schon wieder antun. Der Zoo sucht nach mir, nicht nach euch.«
»Wir stecken da alle drin.« Meine Mom klang streng. Doch auf ihrem Gesicht herrschte Angst. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug ihren Lieblingsjogginganzug. Offensichtlich hatte sie sich auf einen ruhigen Abend gefreut.
Hilflos sah ich den beiden hinterher, als sie eilig im Schlafzimmer verschwanden.
So knapp wie heute war es noch nie gewesen. Vor einem Jahr hatten wir uns auf der Durchreise in Oregon befunden. Ich war noch zur Highschool gegangen. Ein Junge hatte mich dermaßen auf die Palme gebracht, dass ich ihm reflexartig eine Ohrfeige verpasst hatte. Und damit eine ziemlich hässliche Verätzung auf der rechten Backe.
Damals waren wir ebenso hektisch aufgebrochen wie heute.
Mom und Dad hatten den Kontakt zu all ihren Freunden aufgegeben, nur um mich zu schützen. Wenn ich daran dachte, wie viel Geld und Nerven diese ganzen Umzüge gekostet hatten, wurde mir übel.
Wir hatten gehofft, endlich einen Ort gefunden zu haben, an dem wir länger bleiben könnten. Es gab nicht mehr viele Bundesstaaten in Amerika, in denen noch kein Zoo gebaut wurde. Und scheinbar war es auch hier nicht mehr sicher. Vielleicht hatte der Wärter eine Baustelle besichtigt. Ich schluckte.
Vorsichtig näherte ich mich dem Fenster. Keine Autos und keine Lichter. Lauerten sie dort draußen auf uns? Würden wir ihnen direkt in die Arme laufen? Aber was blieb uns anderes übrig? Sich hier verstecken war keine Option.
»Kommst du?«
Erschrocken fuhr ich zusammen, als Mom wieder im Zimmer stand. Ihr ernster Blick lag auf mir. Links und rechts trug sie je eine prallgefüllte Reisetasche. Unser wichtigstes Zeug passte in vier davon und war immer griffbereit für Momente wie diesen. »Lass uns gehen.«
»Ich sehe nach, ob die Luft rein ist.« Dad war ebenfalls mit zwei Reisetaschen bepackt und marschierte an mir vorbei hinaus. Ein Windstoß drang ins Haus und obwohl ich immer noch meine Jacke trug, wurde mir kalt.
Dad sah sich auf der Straße um, danach gab er mir ein Zeichen. Schnell eilte ich zu ihm, während Mom hinter mir die Tür abschloss. Als würden wir noch einmal wiederkommen. Das Auto blinkte, als Dad es öffnete. Im selben Moment ertönte eine markerschütternde Sirene.
Ich fuhr zusammen und presste die Hände auf die Ohren. Dad rief mir etwas zu, doch ich verstand ihn nicht. Blaue Lichter erhellten die Nacht.
Dad reagierte schneller als ich. Er ließ die Taschen fallen, packte mich am Arm und wollte mich mit sich ziehen. Doch es war zu spät. Autos blockierten die Straße vor unserem Haus und aus allen Richtungen schienen Gestalten zu kommen. Wir waren umzingelt.
»Hände hoch!« Die Stimme klang blechern, sie kam aus einem Lautsprecher. Lichter blendeten mich. Nur schemenhaft nahm ich die Leute wahr, die sich uns näherten. »Hier spricht das Sicherheitskommando des Zoos der Monster. Wir sind bewaffnet und werden schießen, sollte jemand die Flucht ergreifen.«
Mein Herz schlug so heftig, dass ich Angst hatte, meine Rippen würden unter dem Druck brechen. Dad hielt meinen Arm immer noch fest umklammert.
»Cora Adams.« Mein gesamter Körper schlotterte, als der Mann mit dem Megafon meinen Namen aussprach. »Sie sind festgenommen.«
»Nein!«
Ich schloss die Augen, als ich die Panik in der Stimme meiner Mutter hörte. Seit Jahren taten meine Eltern alles, damit das hier nicht passierte. Vermutlich war es dumm gewesen zu glauben, ich könnte vor meinem Schicksal weglaufen.
Hilfesuchend wandte ich mich an meinen Dad, obwohl ich genau wusste, dass er nichts tun konnte. Allein durch unseren Fluchtversuch hatten die beiden sich strafbar gemacht. Sie hatten die Arbeit des Zoos behindert. Ich wollte nicht, dass sie sich noch mehr Ärger einhandelten.
Tränen füllten meine Augen. Ich wollte Dad und auch Mom zum Abschied umarmen, doch dazu hatte ich zu viel Angst. Was, wenn mein Gift so stark wurde, dass es durch die Jacke drang und ich sie verletzte?
»Sei stark.« Dad lockerte seinen Griff und drückte sanft meinen Arm. Die Angst in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. »Wir werden eine Lösung finden.«
Ich nickte, auch wenn ich ihm kein Wort glaubte.
Trotz der grellen Lichter sah ich, wie jemand auf uns zu kam. Ich erkannte ein gezücktes Gewehr und die Umrisse eines kräftigen Mannes.
Hastig drehte ich mich zu meiner Mom um. Ich konnte nicht gehen, ohne mich von ihr zu verabschieden. Sie stand wie gebannt vor der Haustür.
»Hab keine Angst!«, rief ich ihr zu. Ich wusste nicht so recht, warum ausgerechnet ich sie zu trösten versuchte. »Mir wird schon nichts passieren.«
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und fuhr herum. Den Wärter erkannte ich sofort wieder. Er ließ sein Gewehr sinken und griff nach den Handschellen an seinem Gürtel. Seine harten Gesichtszüge wirkten noch grimmiger als zuvor im Supermarkt.
»Hände!« Widerwillig streckte ich sie ihm entgegen. Meine Arme zitterten so stark, dass er sichtlich Mühe hatte, mir die Handschellen anzulegen. Wie betäubt starrte ich den Wärter an. Er trug nun Handschuhe. Vermutlich hatten sie den verletzten Mann in der Gasse gefunden und eins und eins zusammengezählt.
Die Handschellen saßen fest auf meiner überhitzten Haut. Der Mann machte einen Schritt zur Seite und bedeutete mir, mich in Bewegung zu setzen.
Noch einmal sah ich mich nach meinen Eltern um.
»Das wird Konsequenzen haben«, erklärte der Wärter. »Es verstößt gegen das Gesetz, Monster bei sich zu beherbergen.«
»Sie ist unsere Tochter«, protestierte Dad. Ich wünschte, er würde einfach still sein. Womöglich würden sie dann mit einem Bußgeld davonkommen.
»Schon gut.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ihr könnt mich ja mal im Zoo besuchen.« Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Als wäre der Zoo ein Ferienlager und meine Eltern könnten jederzeit rein- und rausspazieren.
Schnell wandte ich den beiden den Rücken zu. Ich wollte stark sein, und das konnte ich nicht, wenn ich Mom weinen sah.
Ich folgte den Wärtern zu einem Sprinter, dessen Hintertüren geöffnet waren. Zwei Männer hievten mich auf die Ladefläche.
Noch einmal tauchte der Mann mit den schmalen Augen vor dem Auto auf. Die Verachtung in seinem Blick war kaum zu übersehen. Für ihn war ich kein Mensch, sondern ein Monster, das weggesperrt werden musste. Sein Job war es, die Öffentlichkeit zu schützen. Sein Auftraggeber war der Zoo der Monster.
Ich holte Luft, um ihm zu erklären, dass ich nicht vorhatte, jemanden zu verletzen. Doch in diesem Moment flogen die Türen zu und ich saß im Dunkeln.
Kapitel 3
Rüttelnd setzte sich der Wagen in Bewegung, während ich betete, endlich aufzuwachen. Das musste ein Traum sein. Ein Albtraum, wie ich ihn schon so oft erlebt hatte. Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir passieren würde. Oder mit meinen Eltern. Sie durften nicht meinetwegen bestraft werden! Dieser Gedanke war fast noch schlimmer als das Wissen, eine Gefangene zu sein.
Ich hatte schon viel über den Zoo der Monster gehört, aber noch nie einen der Parks besucht. Das Risiko, enttarnt zu werden, war zu groß gewesen. Zwar sah man mir meine Anomalie nicht an, aber sie war deutlich zu spüren, wenn ich Angst hatte, nervös wurde, oder mich ärgerte.
Mein Wissen über den Zoo beschränkte sich auf Erzählungen und die Werbespots, die die Parks als Familienparadies verkauften. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Leute wie ich wurden aus ihren Leben gerissen, um die Öffentlichkeit zu schützen und gleichzeitig Unterhaltung zu bieten. Ich fühlte mich wie ein exotisches Tier auf dem Weg ins Gehege.
Zitternd lehnte ich mich gegen eine Seitenwand des Sprinters, um nicht zu sehr durchgeschüttelt zu werden. Ohne es zu wollen, musste ich an all die Dinge denken, die mir genommen wurden. Angefangen bei meinem Zuhause und meinen Eltern. Seit meiner Verwandlung hatte ich nie mehr ich selbst sein können. Aus Angst, jemanden zu verletzen, hatte ich jeglichen Kontakt zu Freunden und Verwandten abgebrochen. Genauso wie meine Eltern.
Ich hatte keine Freunde, keine Arbeit, gar nichts. Mein Leben fühlte sich an, als hätte ich die ganze Zeit über nur auf diesen Moment gewartet.
Ich starrte auf die Handschellen. Alles verschwamm, Tränen standen in meinen Augen. Das war nicht richtig. Ich hatte nie jemandem wehtun wollen. Bis auf dem Mann vorhin, aber das war Notwehr gewesen. Ich hatte versucht, mein Leben zu retten – erfolglos.
In mir tobte es. Meine Haut glühte, auch wenn man es nicht sehen konnte. Lange betrachtete ich meine Hände: schmale Finger, dunkelblau lackierte Nägel. Nichts daran machte einen giftigen Eindruck. Und doch spürte ich die Gefahr, die daran haftete.
Ich wurde unruhig. Die Angst, die mich gelähmt hatte, war verschwunden. Stattdessen spürte ich einen plötzlichen Fluchtinstinkt. Ich richtete mich auf und sah mich um. Nichts als eine nackte Ladefläche. Doch damit gab ich mich nicht zufrieden.
Ich tastete die Türen ab, konnte aber keinen Öffner finden. Fluchend ging ich nach vorne. Die Wand musste an die Fahrerkabine angrenzen. Zwar waren die Mitarbeiter des Zoos bewaffnet, aber im Moment war mir das egal. Alles war besser, als weggesperrt zu werden wie ein Tier.
»Hallo?« Mit beiden Händen hämmerte ich gegen die Trennwand. Eine Flucht auf dem Weg zum Zoo war meine einzige Hoffnung. Wenn der Wagen stehenblieb und jemand die Türen öffnete, musste ich auf der Stelle reagieren. Ich musste die Männer verätzen und dann schneller rennen als je zuvor. Das war meine einzige Chance. »Können wir einen Moment stehenbleiben? Mir geht es nicht gut! Hallo?«
Keine Antwort. Wieder schlug ich gegen die Wand. Es war ganz bestimmt nicht mein Schicksal, hinter Gittern zu sitzen und Kunststücke für Leute aufzuführen, die mich für ein Monster hielten.
Als meine Arme zu schmerzen begannen, ließ ich sie langsam sinken. Es hatte ja doch keinen Sinn. Diese Männer würden nicht Halt machen. Sie würden mir nicht die Möglichkeit zur Flucht verschaffen. Warum sollten sie auch? Es war ihnen egal, was mir passierte. Hauptsache, sie erledigten ihren Job.
Kraftlos sank ich gegen die Wand. Heiße Tränen liefen über meine Wangen. Mit einem Mal bahnte sich ein hysterischer Anfall an. Ich konnte kaum noch atmen, meine Lungen schienen zu blockieren.
Ich wollte das alles nicht! Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Ich hatte nie darum gebeten, irgendwelche bescheuerten Kräfte zu bekommen. Sie konnten mich nicht für etwas bestrafen, das nicht in meiner Macht lag!
Ein Ruck ging durch den Sprinter, der mich gegen die kalte Blechwand drückte und nach Luft schnappen ließ. Wir hielten an.
Wie lange wir wohl unterwegs gewesen waren? Mein Zeitgefühl hatte ich längst verloren.
Schnell wischte ich über mein Gesicht. Ich wollte nicht, dass diese Leute mich weinen sahen. Sie sollten nicht glauben, ich wäre schwach.
Also versuchte ich, die Angst zur Seite zu schieben und mich voll und ganz auf die Wut in meinem Bauch zu konzentrieren.
Die Türen öffneten sich und ich blinzelte gegen ein grelles Licht, das in den Augen schmerzte.
»Aussteigen!«
Ich zuckte zusammen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich zu einer Bewegung durchringen konnte. Vorsichtig und vor allem so langsam wie möglich, wankte ich auf der Ladefläche nach vorne. Ich musste mich orientieren, doch die Lichter machten mir das schwer. Ich sah lediglich die Umrisse der Männer, die da draußen auf mich warteten. Erst als ich an den Türen angekommen war, erkannte ich hohe Mauern, Wachtürme und Scheinwerfer.
Ein schmerzhaftes Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Es war zu spät. Ich hatte meine Chance zur Flucht verpasst.
Jemand packte mich unsanft am Oberarm und zerrte mich aus dem Wagen. Es war kälter als zu Hause. Mein hektischer Atem bildete kleine Wölkchen.
Angespannt sah ich mich um.
Mit einem lauten Knall, der mich zusammenfahren ließ, schloss der Fahrer die Türen des Kleintransporters, danach setzte sich der Wagen in Bewegung. Einen Moment lang sah ich ihm nach, doch in der nächsten Sekunde zog wieder jemand an meinem Arm.
Mein Blick wanderte zu dem Mann, der mich festhielt. Es war der Wärter von vorhin. Er sah mich nicht an, sondern zerrte mich nur unsanft mit sich. Ich versuchte, mich zu wehren, aber er war zu stark. Dicke Lederhandschuhe schützten seine Haut vor Verätzungen.
Staub wirbelte unter meinen Stiefeln auf, als wir quer über das Gelände liefen. Schotter bedeckte den Boden. In der Ferne leuchtete das Riesenrad, das ich aus der Werbung des Zoos kannte.
Hektisch sah ich mich um: bunte Häuser, Wegweiser und jede Menge Pflanzen. Alles war ruhig. Doch diese friedliche Stille war nichts weiter als Show. Davon war ich überzeugt.
Der Mann führte mich zu einem kleinen Haus, aus dessen Kamin dicke Rauchschwaden aufstiegen. Die Tür quietschte, als er sie öffnete und wir ins Innere traten.
Mein Herz schlug mit jeder Sekunde schneller und ich zitterte unkontrolliert. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was auf mich zukam. Aber ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Ich war bereit, zu treten, zu schreien und zu laufen. Als ob ich auch nur den Hauch einer Chance hätte.
»Hast du etwas Neues für mich?« Eine starke Stimme drang zu uns vor. Sie gehörte zu einem Mann, so viel war sicher. Ich konnte jedoch niemanden entdecken. Es dauerte einen Moment, bis ich einen Schatten erkannte. Der Fremde ging zum offenen Kamin auf der anderen Seite des Zimmers. Nun wurden seine Umrisse von den Flammen deutlich hervorgehoben. Er war groß und hager – ganz im Gegensatz zu dem Wärter, der mich hierhergebracht hatte. Der war kräftig und muskulös. Trotzdem merkte ich, wie er sich versteifte. Sein Griff um meinen Arm lockerte sich und er straffte den Rücken.
»Ich bin zufällig auf dieses Monster gestoßen«, erklärte er.
Kurz zog ich in Erwägung, einen Fluchtversuch zu starten. Doch diesen Gedanken verwarf ich schnell wieder. Ich war umzingelt. Ich würde meine Situation nur verschlimmern.
»Wie schön.« Der Mann klang erfreut, was ich beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte. Ich gehörte nicht hierher!
Ich merkte, dass sich der Schatten uns langsam näherte und mit einem Mal verspannte auch ich mich. Mit jedem Schritt konnte ich mehr Details ausmachen. Der Mann war weitaus älter als ich. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig. Falten prangten in seinem harten Gesicht. Seine dunklen Augen waren auf mich fixiert.
Er kam einen weiteren, entscheidenden Schritt näher. ich zwang mich, nicht zurückzuweichen.
»Vorsicht«, warnte der Wärter ihn. »Das Monster ist giftig. Passen Sie auf, dass es Sie nicht berührt.«
Es. Echt jetzt?
Auf die Warnung hin zögerte der ältere Mann einen Moment lang. Schließlich verschränkte er die Arme vor der Brust.
»Wie heißt du?«
»Cora.« Meine Stimme klang schrecklich rau, ich hätte sie selbst um ein Haar nicht wiedererkannt.
»Du bist also ein Monster, Cora. Dann bist du hier goldrichtig.«
Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. »Ich bin kein Monster! Ich will doch niemandem wehtun. Ich gehöre nicht hierher.«
Tiefe, missbilligende Falten bildeten sich auf der Stirn des Mannes, als er mich von oben bis unten musterte.
»Sie ist hübsch«, fuhr er unberührt fort. »Hübsch und gefährlich. Unsere Besucher werden sie lieben. Nur an ihren Manieren muss sie arbeiten.«
»Aber ich will hier nicht sein!«, protestierte ich. Verzweifelt zerrte ich an meinen Armen, doch die Handschellen bewegten sich keinen Millimeter. »Ich muss nach Hause zu meinen Eltern. Ich verspreche, dass ich niemandem etwas zuleide tun werde.«
»Dazu ist es ja wohl reichlich spät«, warf der Wärter ein, doch ich drehte mich nicht zu ihm um. Ich wusste, dass er auf den Mann in der Gasse anspielte.
»Das war Notwehr«, erklärte ich. »Er hat mich angegriffen.«
»Er hat seine Pflicht erfüllt.« Die Wut in der Stimme des Wärters ließ mich zusammenfahren. Keinen der Männer sah ich direkt an. Ich wollte ihnen meine Angst nicht zeigen.
»Du wirst sehen, hier ist es gar nicht so schlimm, wie du vielleicht denkst«, meldete sich der ältere wieder zu Wort. »Es sollte dir eine Ehre sein, ein Teil des Zoos zu werden. Hunderte von Menschen kommen täglich hierher und in die anderen Parks im ganzen Land, um Bestien wie dich zu sehen. Der Zoo ist ein Paradies für Groß und Klein.«
Zumindest stand es so auf den Werbeplakaten.
»Und für die … eingesperrten Menschen?«
»Du meinst die Monster? Die Besucher lieben sie!«
»Aber –«, setzte ich an, doch er hob die Hand.
»Wir sind im Moment überfüllt.« Nachdenklich rieb er sich mit der knochigen Hand das Kinn. »Wo bringen wir dich nur unter?«
»Die Wildkatze ist allein in ihrem Käfig«, meinte der Wärter. »Die teilt zwar nicht gerne, aber für den Übergang ist es bestimmt eine Lösung.«
Fassungslos sah ich zwischen den beiden Männern hin und her. Sie konnten mich nicht in einen Käfig mit einer Wildkatze stecken. Ich würde die Nacht nicht überleben!
Panik machte sich in mir breit. Mit einem Mal erschien mir ein Fluchtversuch gar nicht mehr so abwegig. Da war es mir eindeutig lieber, von dem Gewehr ausgeschaltet zu werden, das der Wärter über der Schulter trug, als das Abendessen für eine Wildkatze zu sein.
»Das stimmt.« Der ältere Mann nickte eifrig. »Bring sie zu ihrer Hütte. Ich werde mich in der Zwischenzeit mit dem Direktor besprechen.«
Kaum hatte der hagere Mann uns den Rücken zugewandt, erwachte der Wärter aus seiner Starre. Er griff unsanft nach meinem Arm und zerrte mich aus dem wohlig warmen Haus in die Kälte.
»Wer war das?«, wollte ich wissen.
»Es ist dir nicht erlaubt, einen Wärter anzusprechen.« Der Mann klang genervt. »Du wirst schon noch alles erfahren, was von Bedeutung ist.«
»Aber ich weiß doch gar nicht –«
Mit einem Ruck blieb der Mann stehen und verpasste mir einen Stoß. Mit einem Aufschrei fiel ich zu Boden. Als ich zu ihm hochblickte, erkannte ich, dass er sein Gewehr gezückt hatte und damit ausholte.
Schützend riss ich die Arme über den Kopf, als mit einem Mal eine Stimme über das Gelände schallte. Sie schien alles um mich herum einfrieren zu lassen. Die Zeit stand still. Ich wartete auf den Schlag, den Schmerz, der nicht kam. Trotzdem traute ich mich nicht, noch einmal aufzusehen.
Erst als ich hörte, wie sich Schritte näherten, wagte ich einen vorsichtigen Blick zwischen meinen Armen hindurch. Ein junger Mann kam auf uns zu. Seine Miene war düster, doch sein Anblick raubte mir den Atem. Der eisige Wind zerzauste sein dunkles Haar und umfloss seine schwarze Offiziersuniform. Sie hatte Ähnlichkeit mit der des Wärters, der mich hierhergebracht hatte. Jedoch war sie dunkler und schien hochwertiger zu sein. Das Logo des Zoos prangte auch auf seiner Brust.
Vorsichtig, und ohne den Mann aus den Augen zu lassen, setzte ich mich auf. Er sah wirklich gut aus. Wäre das hier ein Märchen, dann wäre er garantiert der unverschämt attraktive Prinz. Und ich die Prinzessin, die gerettet werden musste. Nur leider war ich in diesem Märchen das Biest. Und er vermutlich der Teufel in Menschengestalt.
»Will mir jemand erklären, was hier los ist?«
Wieder richtete sich der Wärter kerzengerade auf. Sein Blick war auf den jüngeren Mann gerichtet.
»Ich habe das Monster angewiesen zu schweigen. Es hat meine Anweisung missachtet.«
»Ist das wahr?« Der Blick des jungen Wärters wanderte zu mir. Er schien mich mit seinen dunklen Augen zu durchbohren.
»Ich habe nur gefragt, was mit mir passiert«, setzte ich vorsichtig an. Meine Stimme klang bei Weitem nicht so stark, wie ich es mir wünschte. »Niemand will mir sagen, wie es mit mir weitergeht. Ich weiß rein gar nichts!«
Einen Moment lang blieb der Blick des Mannes auf mich fixiert. Dann wandte er sich an den Wärter.
»Wie ich sehe, hältst du dich an die Regeln. Das ist gut. Weitermachen.«
Fassungslos sah ich ihm hinterher, als er auf dem Absatz kehrt machte und wieder davon marschierte. Ich schluckte hart, bevor ich mich zu dem Wärter umdrehte. Er hielt sein Gewehr immer noch in der Hand, aber er hatte es sinken lassen. Wütend musterte er mich. Schließlich legte er sich die Waffe wieder um die Schulter, packte grob meinen Arm und zog mich auf die Beine.
»Von nun an hältst du dich an die Anweisungen! Hast du mich verstanden?«
Ohne zu zögern, nickte ich. Ich hasste es, klein beizugeben. Aber fürs Erste musste ich mich an die Spielregeln halten – zumindest, bis ich einen Weg hier raus gefunden hatte.
Kapitel 4
Die Hütte, auf die der Wärter zusteuerte, befand sich in einem völlig anderen Areal. Hier wucherten wilde Pflanzen und die Hütten waren aus dunklem Holz. Wenn der eisige Wind nicht gewesen wäre, hätte ich fast geglaubt, im Urwald gelandet zu sein.
Während der Mann eine Plastikkarte aus seiner Brusttasche zog, sah ich mich um. Die Holzhütten waren in einem Halbkreis aufgestellt – wie eine kleine Siedlung. Vor den wenigen Fenstern befanden sich Gitter. Ein leises Piepsen ertönte, als der Wärter die Tür mit der Karte aufschloss.
Er bedeutete mir, voranzugehen. Ich zögerte. Der Gedanke an die Wildkatze steckte immer noch in meinem Kopf. Andererseits würde der Zoo nicht zulassen, dass ich an meinem ersten Abend hier getötet wurde. Oder?
Widerwillig machte ich ein paar Schritte in die Hütte. Holzdielen knarrten. Der Wärter war dicht hinter mir. Ein Klicken ertönte, woraufhin Licht die Hütte flutete.
Es gab keine Fenster. Das war das Erste, was mir auffiel. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch mit vier Stühlen. Zwei Türen. Nicht weit vom Eingang stand eine abgewetzte Couch. Dahinter befand sich ein Kachelofen mit einem Vorhängeschloss.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Und das lag nicht an dem leicht rauchigen Geruch, der in der Luft hing.
»Hier wirst du fürs Erste wohnen«, hörte ich den Wärter sagen, drehte mich aber nicht zu ihm um. Er nahm mir die Handschellen ab. »Der Zoo öffnet morgen um neun. Ihr müsst um halb neun auf eurem Platz sein. Davor gibt es Frühstück. Abendessen hast du verpasst. Deine Mitbewohnerin wird bald hier sein. Stell dich dahin!« Er deutete auf die Holzwand neben der Tür. »Ich muss ein Foto von dir machen, zur Dokumentation.«
Ohne Widerrede tat ich, was der Wärter von mir verlangte. Als ich in die Linse der winzigen Kamera blickte, fragte ich mich, ob man die geröteten Augen auf dem Bild sehen würde.
Danach zückte der Mann ein kleines Gerät, kaum größer als eine Zündholzschachtel, und legte meinen Zeigefinger hinein. Bestimmt machte er eine elektronische Aufnahme meiner Fingerabdrücke.
»Mund auf!« Unwillkürlich wich ich zurück an die Wand. Was hatte er vor? Erst als ich das Wattestäbchen sah, gehorchte ich. Also auch DNA-Proben.
»Noch irgendwelche Fragen?«
Wie betäubt schüttelte ich den Kopf. Zwar knurrte mein Magen, aber mir war im Moment ohnehin nicht nach Essen zumute. Ich wollte nur allein sein.
Sekunden vergingen, doch dann vernahm ich Schritte. Die Tür öffnete sich und fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.
Ich zuckte zusammen. Gleichzeitig ertönte wieder das Piepsen, gefolgt vom Klicken des Schlosses. Es hatte etwas Endgültiges. Der Weg in die Freiheit blieb mir verwehrt.
Kaum war ich mir sicher, dass der Mann weit genug weg war, begann ich zu laufen. Ich rüttelte an den Holzbalken, zerrte an der Tür – fest verschlossen - und durchsuchte Schlafzimmer und Bad.
Mein Herz raste. Es musste einen Fluchtweg geben. Irgendwie würde ich hier rauskommen!
… und dann? Was sollte ich dann tun? Selbst wenn ich einen Weg aus der Hütte fand, musste ich es erst einmal unbemerkt vom Gelände schaffen. Und auch dann würde es nie mehr so leicht sein, unterzutauchen. Der Zoo kannte nun mein Gesicht und meine DNA. Die Sucher würden mich immer finden.
Unschlüssig blieb ich in der Raummitte stehen. Es hatte keinen Zweck. Es gab keinen Weg hier raus.
Langsam spürte ich, wie der Fluchtinstinkt in meinen Gliedern abebbte. Dabei machte er Platz für etwas, das ich die ganze Zeit schon zu unterdrücken versuchte: unbändige Verzweiflung.
Ich bekam kaum noch Luft. Die Angst legte sich wie eine eiserne Kette um meine Brust. Erschöpft ließ ich mich auf das Sofa sinken.
Meine Gedanken rasten. Ein Teil von mir sagte immer wieder, dass ich keinesfalls aufgeben durfte. Der andere wollte einfach nur zusammenbrechen und alles rauslassen, was unter der Oberfläche brodelte.
Meine Augen brannten von den Tränen, die mir in die Augen schossen, und meine trockene Kehle schmerzte. Ich muss einen kühlen Kopf bewahren, sonst komme ich niemals hier weg.
Angestrengt versuchte ich, meine Atmung zu kontrollieren. Meine Finger gruben sich in die ohnehin schon ramponierte Couch und durchdrangen die dünne Oberfläche.
Wo meine Eltern wohl gerade waren? Zu Hause, in Sicherheit? Oder hatte der Zoo sie ebenfalls abgeführt? Ich betete, dass ihnen eine Strafe erspart blieb.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als sich die Tür mit einem weiteren Piepen öffnete. Wieder trat ein Wärter in dunkler Uniform ein. Zum Glück nicht der, der mich hierhergebracht hatte.
An seiner Seite befand sich eine Frau. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie trug einen dunklen Mantel, der das Rot ihrer Haare strahlen ließ. Ihr düsterer Blick fiel auf mich, als hätte ich einen unsagbaren Lärm gemacht.
»Was macht das Blondchen in meinem Haus?« Ihre Stimme war tiefer als erwartet und rau. Die Fremde runzelte die Stirn, als sie mich eingehend musterte. Dann wandte sie sich an den Mann an ihrer Seite. »Das ist mein Haus. Hier lebe ich, und niemand sonst.«
»Du wirst dich wohl an die Gesellschaft gewöhnen müssen«, meinte der Wärter unbeeindruckt. »Zumindest für eine Weile. Befehl des Stellvertreters.«
Die Rothaarige verdrehte die Augen. Begeistert wirkte sie nicht über meine Gesellschaft, was ich ihr kaum verübeln konnte. Ich selbst wäre auch nicht glücklich, wenn plötzlich ein wildfremdes Mädchen in meinem Zimmer sitzen würde. Was mich jedoch viel mehr verwunderte, war die Art und Weise, wie sie mit dem Wärter sprach. Offensichtlich war sie ebenfalls eine Gefangene. Warum wurde sie so anders behandelt?
»Na schön.« Die Frau gab dem Wärter ein Zeichen. Sie hatte seltsam lange Fingernägel – fast wie Krallen. »Sie können uns allein lassen. Wir brauchen keinen Aufpasser.«
Er nickte und ging. Wieder machte sich dieses bedrückende Gefühl in meiner Brust breit, als ich das Piepsen und das darauffolgende Klicken des Türschlosses hörte. Ich war hier gefangen. Wie ein Tier. Wie ein Verbrecher. Dabei hatte ich nichts getan!
Mein Blick wanderte zu der Frau. Sie ließ den Mantel von ihren Schultern gleiten. Darunter trug sie ein stark figurbetontes schwarzes Kleid. Sie war wunderschön. Bestimmt war sie einen ganzen Kopf größer als ich, aber wenn ich raten müsste, wog sie weniger.
»Du bist also neu hier«, schlussfolgerte sie, als sie sich endlich zu mir umdrehte. Langsam näherte sie sich mir mit geschmeidigen Bewegungen. Ihre High Heels klackerten leise auf dem Dielenboden. »Was kannst du?«
Verwirrt sah ich sie an. »Wie bitte?«
»Na, was du kannst.« Die Frau klang ungeduldig. »Warum haben die Wärter dich hierhergebracht? Du musst irgendetwas an dir haben, was die Leute interessant finden.«
Ich zuckte mit den Schultern, denn um ehrlich zu sein hatte ich keine Lust, über das Gift zu sprechen, das mich in diese Lage gebracht hatte.
Die Frau kniff misstrauisch die Augen zusammen und streckte die Hand nach mir aus. Ich war kurz davor, sie zu warnen. Aber ich tat es nicht. Ich ging das Risiko ein, dass sich meine neue Mitbewohnerin an mir die Finger verbrannte.
»Nicht schlecht«, meinte sie nachdenklich, als sie mein Kinn leicht anhob und mein Gesicht unter die Lupe nahm. Sie schien keine Schmerzen zu haben. Offensichtlich hielt sich meine Angst in diesem Moment in Grenzen – oder mein Gift wirkte bei ihr nicht. »Die Besucher werden dich mögen.«
Die Frau wandte sich von mir ab. »Aber du wirst es nicht schaffen, mir die Show zu stehlen, Schätzchen.«
»Das hatte ich auch gar nicht vor«, beteuerte ich und folgte ihr ein paar Schritte in den Raum hinein. »Mein Name ist Cora. Und ich werde alles dafür tun, hier schnell wieder wegzukommen. Was ist mit dir?«
Sie drehte sich langsam zu mir um und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wenn es einen Weg hier raus gäbe, denkst du wirklich, dass wir hier freiwillig leben würden?«
Da war es wieder, das bedrückende Gefühl der Gefangenschaft.
»Miranda«, meinte sie dann. »Aber die Wärter nennen mich nur Wildkatze. Weil, na ja –«
Sie drehte mir den Rücken zu. Jetzt sah ich die sanften Streifen auf ihrer Haut, wie die von einem Tiger. Und dann die krallenartigen Nägel … Ich konnte mir vorstellen, wo sie ihren Spitznamen herhatte. Trotzdem wirkte sie nicht so furchteinflößend, wie »Wildkatze« vermuten ließ.
»Ich wurde von meiner Katze angegriffen, als ich noch klein war. Danach hat sich mein Aussehen immer mehr verändert. Und kurz darauf standen auch schon die Mitarbeiter des Zoos vor meiner Tür.« Miranda kramte in der Tasche ihres Mantels, bis sie eine Packung Zigaretten hervorzog. Eine davon zündete sie an und atmete tief durch. Dann wanderte ihr Blick wieder zu mir. »Es stört dich doch nicht, wenn ich rauche, oder?«
Unverwandt blickte ich Miranda an. »Und das macht dir alles gar nichts aus? Ich meine, dass du hier festgehalten wirst? Gegen deinen Willen?«
Sie zuckte mit den Schultern und pustete den Rauch in die Luft. »Was soll ich schon tun? Die Leute lieben den Zoo. Niemand würde jemals auf die Idee kommen, hinter die Fassade zu blicken. Denn dann müssten sie erkennen, dass all die ach-so-gefährlichen Monster in Wahrheit gar nicht so viel anders sind als sie selbst. Und wer will das schon hören?«
»Aber es könnte doch auch jeder von ihnen zu einem …« Ich schluckte. »… Monster werden, oder etwa nicht? Wir waren doch früher auch ganz normal.«
Miranda nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette. »Nein, nicht jeder wird zu einem Monster. Unsere DNA ist das Problem. Es gibt Menschen, die sind anfällig für solche Genmutationen. Aber die meisten Leute können noch so oft von einem Tier angefallen werden, ohne dass etwas passiert.«
»Na toll.« Angespannt verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Miranda lachte leise, während sich in mir alles verkrampfte. Nicht nur, dass ich mir diese schäbige Hütte mit einer Wildkatze teilen musste. Sie rieb mir auch noch die Ausweglosigkeit dieser Situation unter die Nase!
»Weißt du was?« Ich fixierte sie. »Ich habe tatsächlich etwas dagegen, dass du rauchst. Ich bin genauso in diesem Haus gefangen wie du. Der Rauch macht es nicht besser.«
Einen Moment lang betrachtete mich Miranda mit ausdrucksloser Miene. Dann ließ sie die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie mit ihrem High Heel aus.
»Wenn du dich morgen während der Besuchszeit genauso verhältst, werden dich die Wärter bei lebendigem Leib fressen, Schätzchen«, meinte sie. »Das Schlafzimmer gehört mir. Du kannst die Couch nehmen.«
Kapitel 5
Die ganze Nacht brachte ich kein Auge zu. Seit Stunden starrte ich die Decke an und dachte an meine Eltern. Bestimmt machten sie sich schreckliche Sorgen um mich.
»Guten Morgen.«
Ich setzte mich auf und entdeckte Miranda, die in einem langen nachtschwarzen Kleid ins Zimmer geschwebt kam.
»Bist du bereit für deinen allerersten Auftritt?«
»Was passiert, wenn ich mich weigere?«
»Sie werden dich töten«, gab Miranda trocken zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »So außergewöhnlich bist du nicht. Wenn du Ärger machst, wird der Zoo nicht lange fackeln. Und nein, es gibt keine Monster-Schützer, so wie es die für Tiere gibt, falls du dich das gefragt hast.« Sie schnaubte. »Niemand demonstriert für unsere artgerechte Haltung.«
Alles andere hätte mich auch gewundert. Trotzdem lösten ihre Worte ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen aus.
»Was ist mit Frühstück?«, wollte ich wissen, um mich abzulenken, obwohl mir allein beim Gedanken an Essen übel wurde.
»Bekommen wir unterwegs. Die Wärter müssten jeden Augenblick hier sein.« Skeptisch betrachtete sie mich von oben bis unten. »So willst du gehen?«
Ich folgte ihrem Blick zu meinen Jeans und den festen Winterstiefeln. »Na ja, als ich gefangen genommen wurde war leider keine Zeit mehr, die Abendgarderobe einzupacken.«
»Ich bezweifle, dass die Leute kommen, um ein gewöhnliches Mädchen zu sehen. Du könntest dich doch zumindest ein wenig hübsch machen.«
Wut loderte in mir auf, aber ich versuchte, sie hinunterzuschlucken. »Ich soll mich hübsch machen für Leute, die dafür bezahlen, dass ich gefangen gehalten werde?«
»Du scheinst nicht zu kapieren, wie es hier läuft, Schätzchen. Dein Leben hängt am seidenen Faden. Du musst dich für den Zoo unentbehrlich machen, ansonsten rollt ganz schnell dein hübsches Köpfchen.«
Ich versuchte, Miranda nicht zu zeigen, was ihre Worte in mir auslösten. Schlimm genug, dass ich die Angst deutlich auf meiner Haut spürte. Ich musterte ihr Gesicht genau. Die rötlichen Augenbrauen, die leichten Sommersprossen auf der hellen Haut, die tiefbraunen Augen.
»Ich will nicht sterben.« Meine Stimme bebte. »Kannst du mir sagen, wie ich Ärger vermeide?«
Miranda stemmte die Hände in die Hüften, so als wollte sie sagen: Na bitte, hier ist doch noch jeder zur Vernunft gekommen.
»Es gibt ein paar Regeln, die du beachten solltest, wenn du keine Probleme mit den Wärtern haben möchtest«, erklärte sie. »Nummer eins: Widersprich nicht ständig. Du darfst dich keinesfalls mit den Wärtern anlegen, hast du das kapiert?«
Ich nickte. Zwar hasste ich die Wärter, aber sie waren bewaffnet und ich nicht.
»Nummer zwei – und die ist mindestens genauso wichtig: Verscherze es dir niemals mit Besuchern. Erst recht nicht, wenn ein Wärter in der Nähe ist. Das wäre dein Ende.«
»Na schön.« Ich schloss die Augen und atmete tief durch. »Ich tue mein Bestes.«
In diesem Moment hörte ich das Piepsen der Tür. Noch in derselben Sekunde breitete sich ein zuckersüßes, falsches Lächeln auf Mirandas Gesicht aus.
»Francis, was für eine Freude.«