Das Geheimnis der vier Elemente - Louisa P. Grimm - E-Book
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Das Geheimnis der vier Elemente E-Book

Louisa P. Grimm

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Beschreibung

Betritt die geheimnisvollen Gemäuer der Zauberakademie! Ein seltsamer Mann, der bei ihm zu Hause auftaucht, komische Gespräche seiner Eltern – James versteht die Welt nicht mehr. Zu allem Überfluss soll er nun auch noch New York verlassen und auf ein Internat gehen, wo sich die mysteriösen Ereignisse überschlagen. Doch schon bald erfährt James von seinen ungeahnten Fähigkeiten und muss zusammen mit seinen neuen Freunden gegen einen Mann kämpfen, der alles dafür tun würde, mehr Macht über die vier Elemente zu erlangen. Gemeinsam nehmen sie den Kampf gegen die heimtückischen Sombros auf, um am Ende nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen zu retten, die unter einer furchtbaren Schreckensherrschaft leiden. Ein magisches Fantasyabenteuer, in dem die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und die wahre Macht im Herzen der Freundschaft liegt.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Der Morgen war wie jeder andere auch. Die Sonne schien bereits in sein Zimmer, doch James lag noch immer in seinem Bett und starrte an die Decke. Er hörte, wie seine Eltern in der Küche aßen und sich unterhielten, doch die Lust, aufzustehen oder zu ihnen dazuzustoßen, hatte er nicht. Es war die letzte Ferienwoche und somit auch die letzte Woche, in der er die Sprüche seiner Mitschüler nicht hören musste. Sie würden keine Minute auslassen, um ihn zu hänseln oder ihn bloßzustellen. Außerdem war er der Einzige in seiner Schule, der keine Freunde hatte. Natürlich hatten seine Eltern ihn von der Schule nehmen wollen, doch was daraus geworden war, wusste er selbst nicht. Sie hatten ohnehin viel zu viel mit ihrer Arbeit zu tun, um sich darum zu kümmern. Ständig war einer von beiden auf Geschäftsreise. Es machte ihm nicht viel aus; schließlich brauchten sie das Geld, um sich die Wohnung finanzieren zu können. Die Wohnung war nur sehr klein, was für ihn okay war, auch wenn ihn viele seiner Mitschüler bereits wegen dieser Wohnung aufgezogen hatten. Doch es war ihm egal, denn er hatte gelernt, die Sprüche der anderen auszublenden. Zumindest versuchte er es. Mit einem Seufzer stand er auf und sah in den Spiegel, der an der Wand hing. Er warf nur einen schnellen Blick auf seine Locken, die in alle Richtungen abstanden. Während er sich anzog, warf er einen Blick nach draußen. Der Himmel war wolkenlos und die Sonne schien zwischen den Hochhäusern hindurch in sein Zimmer. Er konnte nicht behaupten, dass er New York besonders mochte, doch es war die Entscheidung seiner Eltern gewesen, hierherzuziehen. Wieder wandte er sich dem Spiegel zu und begutachtete sein Outfit. Ein schwarzes T-Shirt und eine etwas breitere, blaue Hose. Das T-Shirt war etwas enger und betonte seine Arme, an denen sich bereits erste Muskeln abzeichneten – sein Training hatte sich bezahlt gemacht. Manchmal, wenn sein Vater von der Arbeit kam, trainierte er mit ihm. Dabei nahmen sie das ganze Wohnzimmer in Anspruch, was seine Mutter jedes Mal mit Verachtung zur Kenntnis nahm. Doch sie ließ sie gewähren. Mit einem erneuten missglückten Versuch, seine Locken zu bändigen, ging er aus seinem Zimmer und geradewegs nach unten. Seine Eltern waren beide in Unterlagen vertieft, die auf dem gesamten Tisch verteilt waren.

»Morgen, James. Das Essen steht in der Küche.« James sah fragend auf die ganzen Unterlagen.

»Ich dachte, ihr hättet Ferien?« Seine Mutter, Marietta, sah nun endlich von ihrer Arbeit auf.

»Haben wir auch.« Sie wechselte einen Blick mit seinem Vater, Sebastian Steward, beinahe so, als würde sie mit ihm reden, ohne etwas zu sagen.

»Dein Vater und ich müssen später ein paar Worte mit dir reden. Iss erst mal, das Essen wird kalt.« James betrachtete das Rührei in der Küche.

»Nein, das Essen kann warten. Worüber möchtet ihr mit mir reden?« Sebastian seufzte und nahm die Brille, die er immer nur beim Arbeiten benutzte, ab.

»Setz dich.« Er sah gestresst aus, doch seine Stimme klang warmherzig und ruhig wie immer. Er tat, wie ihm geheißen, und setzte sich ans andere Ende des Tisches. Er versuchte gar nicht erst, die Unterlagen zu verstehen.

»Wir haben lange nachgedacht. Über die Schule.«

»Und? Wollt ihr mich nun endlich von der Schule nehmen?«, fragte er hoffnungsvoll, jedoch auch misstrauisch zugleich. »Ja, sozusagen. Du hast recht, wir wollen dich von der Schule nehmen, aber anders, als du denkst«, fing sein Vater an. Er machte eine kurze Pause, bevor er weiterredete, doch in James triumphierte bereits alles.

»Wir wollen dich in keine gewöhnliche Schule schicken, sondern in ein Internat.« James glaubte, sich verhört zu haben. Jegliche Freude war verschwunden.

»Das meint ihr nicht ernst!«, sagte er. Diese Aussage war unnötig, denn er wusste genau, dass es seine Eltern ernst meinten.

»Alles, was ich sage, meine ich ernst«, konterte sein Vater.

»James, du musst es verstehen. Wir wurden befördert. Das bedeutet, wir müssen noch viel mehr reisen als zuvor. Wir wären viel zu oft weg. Du wärst die ganze Zeit nur allein zu Hause«, sagte Marietta.

»Ist das nicht teuer?«, fragte er.

»Doch, ist es. Aber die Preise sind bei diesem Internat deutlich gesunken. Außerdem verdienen dein Vater und ich gerade viel mehr als zuvor, was bedeutet, dass wir es uns leisten können. Auch wenn wir dann von nun an etwas sparsamer sein müssen«, sagte seine Mutter. »Außerdem musst du wissen, dass deine Großmutter auch in diesem Internat war.« James horchte auf. Seine Mutter sprach sonst nie über ihre Mutter. Er selbst hatte sie nie kennengelernt. Sie war bei einem Autounfall verunglückt, bevor er überhaupt geboren worden war. »Ihr tut so, als hättet ihr mich bereits angemeldet. Ist das so?« Marietta sah ihn etwas schuldbewusst an.

»Wir mussten. Du weißt, wir waren bis jetzt auf Reisen und wir wollten nicht, dass es dir dein Großvater sagt. Anmeldeschluss war bereits vor einer Woche und diese Idee kam uns sehr kurzfristig. Wir können dich immer noch abmelden, aber dann müsstest du in ein anderes Internat.« Er hatte also keine andere Wahl. Andererseits, wie schlimm konnte es noch werden? »Jetzt liegt es nur noch an dir, ob du willst oder lieber in ein anderes Internat möchtest. Eines, in dieser Stadt.«

»Wo ist denn das Internat?«, fragte er.

»In Philadelphia. Warte, ich zeige dir den Brief. Sie haben heute Morgen die Zusage per E-Mail geschrieben.« Sein Vater zog die E-Mail, die er ausgedruckt hatte, aus der Hosentasche und streckte sie ihm entgegen, doch James lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Mittlerweile war es ihm egal, in welche Schule er ging. Hauptsache weg von hier. Trotzdem erhaschte er einen flüchtigen Blick auf den Namen des Internats.

»Das Internat heißt Metrings?«, fragte er. So einen Namen hatte er noch nie gehört.

»Ja genau, so heißt es. Mit dem Schulleiter sind wir bereits vertraut, was uns auch die Entscheidung leichter gemacht hat.«

»Und, was sagst du?«, fragte Marietta. James zuckte mit den Achseln. Seine Mutter klang zu begeistert, als dass er es hätte ablehnen können. Die Vorstellung, dass er in dasselbe Internat gehen würde wie ihre Mutter einst, schien ihr wohl zu gefallen. »Was soll ich schon dazu sagen? Es ist ein ganz normales Internat. Und wenn es meiner Großmutter gefallen hat, gefällt es mir bestimmt auch.«

»Das denke ich auch. Und wer weiß, vielleicht wird es ja dort besser als in der alten Schule.«

»Ja, vielleicht«, sagte er, auch wenn er es nach all den Jahren ohne Freunde ziemlich unwahrscheinlich fand, dass er jemals welche finden würde. »War’s das? Denn dann werde ich jetzt …«

»Ja, fast. Wie du weißt, konnten wir diesen Sommer leider nicht mit dir wegfahren; wir haben einfach zu viel zu tun. Aber wir versprechen dir, dass es nächstes Jahr anders wird«, sagte Marietta. Doch James konnte sich das nicht vorstellen. Seine Eltern waren befördert worden und da er nach den Sommerferien ins Internat gehen würde, mussten sie mehr arbeiten, um die Schulgebühren bezahlen zu können. Ohne ein Wort ging er in sein Zimmer. Dort legte er sich auf sein Bett und starrte Löcher in die Luft, während in seinem Kopf ein Gedankenkarussell stattfand.

James lief die Treppe hinunter 2 und zog seine Jacke an. »Was hast du denn vor?«, fragte seine Mutter, die gerade zur Tür hineinkam. »Ich werde mit dem Hund unserer Nachbarin spazieren gehen«, sagte er und ging, ohne sich zu verabschieden, aus der Wohnung. Seine Nachbarin war schon etwas älter und hatte daher nicht jeden Tag die Kraft, mit ihm rauszugehen. Doch seitdem sie sich ein Handy zugelegt hatte, schrieb sie ihm nun viel mehr als früher. Ob es wirklich daran lag, dass sie schwächer geworden war oder an ihrer Bequemlichkeit, wusste er nicht. Doch er tat ihr gern einen Gefallen. Außerdem kam ihre Nachricht gerade richtig. Er wusste selbst nicht, wieso er auf seine Eltern wütend war. Vielleicht weil sie zu wenig Zeit für ihn hatten oder weil sie ihn in ein Internat steckten, wo er sie noch weniger sehen konnte. Im Treppenhaus blieb er vor einer Tür stehen und klingelte. Er wartete etwas länger als sonst, doch schließlich drehte sich das Schloss mit einem Klicken und die Tür ging auf. Doch als er seine Nachbarin sah, musste er schmunzeln. Sie war noch immer im Schlafanzug und im Hintergrund lief der Fernseher. Also war wohl seine zweite Vermutung die richtige gewesen. Sie hatte es sich zur Bequemlichkeit gemacht, dass er mit ihrem Hund spazieren ging. »Morgen, James. Vielen Dank, dass du dir heute wieder Zeit nimmst.«

»Kein Problem«, antwortete er nur und nahm den Hund entgegen. Er war mittelgroß und hatte lockiges, braunes Fell. »Wann muss ich wieder zurück sein?«

»Du hast kein Zeitlimit. Nimm dir ruhig Zeit.« Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Hundes, was ihm mehr sagte als ihre Worte: Sie hatte keine Lust, an diesem Tag noch einmal mit ihm rauszugehen.

»Geht klar.« Er wollte sich verabschieden, doch sie hatte bereits die Tür hinter sich geschlossen. Sie schien es wirklich eilig zu haben, zurück zu ihrem Fernseher zu kommen. Er verdrehte nur die Augen und lief mit Flyn – das war der Name des Hundes – die Treppen hinunter und hinaus an die Luft. Es war angenehm warm draußen und eine angenehme Brise wehte ihm durch die Locken. Er sah zu den Hochhäusern hinauf. Wie wäre es wohl, mit Flyn nicht durch die Straßen, sondern auf Feldwegen zu laufen? Früher, als er noch klein gewesen war, hatte er immer davon geträumt, auf dem Land zu leben, und nicht in einer Großstadt. Doch inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. Drei Jungen, die er nur zu gut kannte, rissen ihn aus seinen Gedanken. Es waren die Jungs aus seiner alten Klasse. Sein Magen krampfte sich zusammen. Doch neben ihnen stand ein blondes Mädchen, das er nicht kannte. Die vier hatten es auf ein Mädchen abgesehen, das direkt vor ihnen stand. Es hatte lange, braune Haare. Auch sie hatte einen Hund dabei. Er war schwarz und hatte ebenfalls lockiges Fell, nur dass er noch sehr jung aussah. James vermutete, dass es sich um dieselbe Rasse handeln musste wie Flyn. Doch der Hund interessierte ihn gerade nicht. Ihn interessierte nur, dass die drei Jungen und das blonde Mädchen das andere schikanierten. Er musste etwas tun. Doch was? Ihn schikanierten sie doch auch. James nahm all seinen Mut zusammen und lief auf die fünf zu. Jeder Schritt war eine fürchterliche Qual, doch der Gedanke, wie sich dieses Mädchen fühlen musste, ließ ihn weitergehen. Als er bei ihnen angekommen war, stellte er sich neben das Mädchen. »Lasst sie in Ruhe!«, sagte er mit fester Stimme. Er war selbst überrascht von seiner Entschlossenheit, denn sein ganzer Körper zitterte.

»Oh wie süß, Katy, du hast endlich einen Freund gefunden!«, sagte das blonde Mädchen. »Halt die Klappe, Lya«, antwortete Katy.

»Oh, ziemlich unhöflich. Lya, darf ich vorstellen: Das ist James Stewards. Er ist genauso ein Trottel wie Katy«, sagte einer der drei Jungen. Es war Justin. James ballte die Fäuste. Doch der Junge neben Justin – Kevin – übernahm nun das Wort: »Kennt ihr euch, oder wieso habt ihr beide einen Hund dabei? Sollen die euch beschützen, ihr Angsthasen?«

»Der kleine Hund neben ihr kann ja nicht einmal laufen!«, sagte der andere Junge mit dem Namen John. »Er kann laufen«, sagte Katy mit leiser Stimme. »Natürlich. Du …«

»Lass sie in Ruhe, Justin!«, rief James mit erhobener Stimme. Doch Justin lachte nur. »Was ist denn plötzlich mit dir los? Hast du dir den Kopf gestoßen?«

»Du denkst also, ich hätte mir den Kopf gestoßen, nur weil ich mich für sie einsetze?«

»Tendenziell nicht, es ist nur Zeitverschwendung sich für ein Mädchen wie sie einzusetzen!« Das war genug, das Fass war übergelaufen. James hob die Faust und wollte zuschlagen, doch Justin fing sie mit einem geübten Griff ab. »Ich dachte, du hättest mittlerweile gelernt, dass ich stärker bin als du«, sagte Justin und grinste.

»Verschwinde einfach.« James versuchte, gefasst zu klingen. Mutig und stark, so wie Justin. Doch dieser lachte nur. Dieses Lachen, das er so sehr hasste.

»In wenigen Tagen beginnt die Schule wieder. So einfach wirst du uns nicht los!«

»Es ist mir egal, was du nach den Ferien machst oder was du dann mit mir vorhast. Denn ich werde nach den Ferien nicht mehr auf diese Schule gehen.« Justin starrte ihn an. Doch dann prustete er laut los.

»Du wechselst die Schule? Bist du etwa schon so tief gesunken?« Er lachte weiter. Kevin und John taten es ihm gleich.

»Ist das gerade dein Ernst?«, sagte Kevin und sah ihn genauso höhnisch an wie Justin.

»Könntest du mir bitte einmal verraten, was so lustig daran ist?« James' Stimme drohte zu versagen.

»Was so lustig daran ist? Du bist ein Feigling und ein Loser dazu!« James sagte gar nichts, sondern wartete, bis sich Justin wieder beruhigt hatte. Er war diese Anschuldigungen gewohnt. »Denkst du etwa, du könntest vor der Wahrheit davonlaufen? Denkst du etwa allen Ernstes, dass wir nur so daherreden? Da irrst du dich aber gewaltig! Alles, was wir sagen, entspricht der Wahrheit. Du bist ein Loser und ein Versager, das sagt sogar die ganze Schule! Und wenn es die ganze Schule sagt, muss es doch wohl stimmen, nicht wahr?« James schwieg, während es sich so anfühlte, als würde sich eine eisige Hand um sein Herz legen. Justin lachte.

»Du bist ein hoffnungsloser Fall. Aus dir wird eh nichts werden!«

»Das reicht, verschwindet!«, sagte Katy und versuchte, gefasst zu klingen.

»Oh, die habe ich ja ganz vergessen. Du …«

»Wir haben heute noch Wichtigeres zu tun, als euer lächerliches Geplapper anzuhören.« Mit diesen Worten lief sie davon. James folgte ihr, während er die Blicke der Jungs in seinem Nacken spürte. Jedes einzelne Wort hallte in seinem Kopf wider wie ein Echo. »Wieso hast du das getan? Das ist das erste Mal, dass sich jemand für mich einsetzt«, sagte Katy schließlich, nachdem sie einige Schritte gelaufen waren.

»Weil ich weiß, wie es ist, von ihnen gedemütigt zu werden. Genau das Gleiche machen sie jeden Tag in der Schule mit mir. Woher kennen sie dich überhaupt? Ich habe dich noch nie zuvor in der Schule gesehen.«

»Ich wohne nicht hier, ich bin nur für ein paar Tage bei meinen Großeltern zu Besuch. Das blonde Mädchen, Lya, kennt mich. Sie macht mit mir genau dasselbe wie Justin mit dir.«

»Das tut mir leid.« Katy hob nur die Achseln.

»Ich bin es gewohnt. Danke, jedenfalls.«

»Nichts zu danken.« Sie lächelte zum Abschied und lief davon. Doch dieses Mal setzte sie ihren Hund ab. Die Worte der anderen schienen sie wohl doch nicht so kalt zu lassen, wie sie behauptet hatte. James sah ihr nach, bis sie schließlich zwischen den Häusern verschwunden war. Dann machte sich auch James auf den Weg zurück. Auch wenn er heute lange hatte wegbleiben wollen, wollte er das jetzt nicht mehr. Die Vorstellung, er könnte noch mehr seiner Klassenkameraden antreffen, drehte ihm beinahe den Magen um. Als er zurück im Hochhaus war, klingelte er bei der Nachbarin. Ihr Murren war sogar durch das laute Gedröhne des Fernsehers zu hören. »Du bist früh«, meinte sie und nahm den Hund entgegen. »Ich weiß, tut mir leid.« Sie sagte nichts dazu, sondern schloss ohne ein weiteres Wort die Tür hinter sich. Er konnte die Emotionen dieser Dame beim besten Willen nicht verstehen. An manchen Tagen war sie der fröhlichste Mensch auf Erden und an manchen anderen Tagen war sie so schlecht gelaunt, dass sie beinahe jeden Nachbarn beschimpfte. Heute war einer dieser Tage. Doch er hatte mittlerweile gelernt, ihre Stimmungsschwankungen nicht auf sich zu beziehen. Sie war nun mal so, wie sie war. Er lief zurück zu seiner Wohnung und schlüpfte leise hinein, in der Hoffnung, seine Eltern würden ihn nicht kommen hören. Doch natürlich stand seine Mutter bereits an der Treppe und musterte ihn.

»Du bist früh zurück«, stellte sie fest. James antwortete nicht, sondern versuchte, an ihr vorbeizukommen, doch sie versperrte ihm den Weg.

»Hast du wieder jemanden angetroffen?«

»Ich weiß nicht, wen du meinst.«

»Du weißt genau, wen ich meine. Justin und die anderen Jungs.« Er hasste diese Art von Gesprächen.

»Vielleicht.«

»Was haben sie dieses Mal gesagt?«

»Das Übliche.« Marietta seufzte. »Was ist passiert?«

»Sie haben ein Mädchen schikaniert. Ich habe ihr geholfen, das ist alles.«

»Ist sonst noch etwas? Du hast dich heute Morgen so merkwürdig verhalten. Liegt es an dem Internat?« James zögerte.

»James?«

»Da ist was dran«, sagte er. James holte tief Luft, bevor er weiterredete: »Es ist nur, ihr habt gerade so viel zu tun. Ich sehe euch ja schon jetzt sehr wenig und jetzt soll ich ins Internat, wo ich euch manchmal monatelang nicht mehr sehe?«

»Ich weiß, dass die momentane Situation gerade für dich nicht einfach ist. Ich wünschte auch, es wäre anders. Doch jetzt wurden dein Vater und ich befördert. Das bedeutet, wir müssen noch mehr reisen. Doch wir verdienen jetzt auch viel besser. Und wir schicken dich nicht nur wegen unserer Arbeit ins Internat. Wir glauben auch, dass es dir guttut, von zu Hause weg zu sein. Denn in Philadelphia kennt dich vermutlich niemand. Du kannst es als einen Neustart sehen. Du kannst dort Freunde finden.«

»Und was ist, wenn die Leute dort genauso sind wie die in der alten Schule? Ich meine, die Leute in Internaten sind oft sehr verwöhnt.«

»Es sind nicht alle Leute böse.« James zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen. Er wusste nicht, wie viele Male er bereits diesen Spruch von ihr gehört hatte.

»Ich weiß. Das Einzige, was ich mir gerade wünsche, ist, nicht die ganze Zeit die Kommentare meiner Mitschüler hören zu müssen.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Wieso kündigst du eigentlich nicht, wenn du mehr Zeit für mich haben willst? Du sagst andauernd, wie leid es dir tut, doch du unternimmst auch nichts gegen deinen Zeitmangel«, sagte er. Marietta ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Wenn wir kündigen würden und keine Arbeit mehr finden, könnten wir die Schulgebühren für das Internat nicht mehr bezahlen. Außerdem würde es schwierig werden, wieder eine so gut bezahlte Arbeit zu finden. Und wir brauchen eine gut bezahlte Arbeit. Vor allem jetzt, da du ins Internat gehst.« James nickte. »Ich werde uns jetzt etwas kochen«, sagte sie und verließ den Raum. Natürlich kochte sie. Sie kochte immer, wenn es ihr unangenehm wurde.

James wusste nicht, mit was er sich den Tag vertrieben hatte. Doch als es dämmerte, hielt er es nicht mehr in seinem Zimmer aus und ging in den Garten. Es war der gemeinsame Garten des Hochhauses. Er war zwar nicht groß, aber schön. Zahlreiche Sträucher, Pflanzen sowie Büsche und vereinzelte Bäume standen an der Seite. Doch etwas Schwarzes zwischen den Büschen erregte seine Aufmerksamkeit. War es eine neue Pflanze? Nein, das konnte keine Pflanze sein. Rote Augen starrten ihn an und schwarze Hände umklammerten den nächsten Ast. James blinzelte einige Male, doch dieses schwarze Etwas verschwand nicht. Stattdessen schien es immer näher zu kommen und ihn mit diesen leuchtend roten Augen beinahe zu durchbohren …

»Essen ist fertig!« James zuckte bei der Stimme seiner Mutter zusammen.

»Ich komme!«, rief er. Ein letztes Mal sah er zu den Büschen, doch dieses schwarze Etwas war verschwunden. Wie tief musste man gesunken sein, um sich schwarze Wesen in seinem Garten einzubilden? Noch immer verwirrt ging er zurück in die Wohnung. Auf dem Weg in die Küche kam er an einem anderen Zimmer vorbei, bei dem er sich immer fragte, für was dieses Zimmer eigentlich gut sein sollte. Vor einigen Wochen hatte er es geöffnet und ein paar Schubladen durchgestöbert. Doch was er dort gesehen hatte, hatte ihn nur noch mehr verwirrt. Seine Eltern hatten ihm immer gesagt, dieses Zimmer sei für Gäste. Er hatte versucht, ihnen Glauben zu schenken, doch nachdem er gesehen hatte, was sich in diesem Zimmer befand, wusste er, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hatten. Das Bett war dabei noch das Normalste gewesen. An den Wänden hingen Pferdeposter und in den Schubladen waren Schulsachen, die allesamt leer waren. Es sah beinahe so aus, als hätte hier drinnen einmal ein kleines Mädchen gewohnt oder als würden seine Eltern auf jemanden warten. Doch nichts schien einen Sinn zu ergeben, egal wie er es sich zusammenreimte. Doch am allermeisten wunderte ihn, warum seine Mutter dieses Zimmer stets verschlossen hielt. Als seine Mutter vor einigen Wochen auf Geschäftsreise war, hatte er sich in ihrem Schlafzimmer auf die Suche nach dem Schlüssel gemacht und ihn dann auch gefunden. Doch rückblickend wünschte er sich, er hätte dieses Zimmer nie betreten.

Ein paar Tage waren nun vergangen. Eigentlich hatte er beschlossen, schon jetzt mit dem Kofferpacken anzufangen. Ob es an seiner ständigen Langeweile lag oder einfach daran, dass er am Ende der Woche keinen Stress haben wollte, wusste er nicht. Doch was es auch war, es schien nun keine Rolle mehr zu spielen, denn weiter, als den Koffer in seinem Zimmer abzustellen, kam er nicht. Schon seit Stunden saß er nun auf seinem Bett und versuchte, sich die Zeit mit seinem Handy zu vertreiben. So lange, bis seine Mutter hereinkam.

»Du packst jetzt schon?«

»Nun ja, ich wollte.« Marietta verdrehte nur die Augen.

»Es hätte mich auch gewundert, wenn du schon jetzt angefangen hättest. Ich wollte dir nur sagen, dass deine Großeltern an deinem letzten Tag bei uns vorbeischauen werden und dann im Anschluss bei uns zu Abend essen.«

»Hört sich gut an.« Es waren Sebastians Eltern und somit auch die einzigen Großeltern, die er hatte. Mariettas Vater war kurz nach dem Tod ihrer Mutter verschwunden und seither nie wieder aufgetaucht. Damals war sie gerade erst achtzehn Jahre alt gewesen. In den Augen der Polizisten galt er bereits als tot. Doch James wusste, dass sein übriger Großvater krank war und da er nun ins Internat gehen würde, wusste er nicht, wann er ihn nach diesem Besuch wiedersehen würde. Plötzlich klingelte es an der Tür. Da Marietta an seiner Tür stehen blieb und ihn erwartungsvoll ansah, verdrehte er nur die Augen, bevor er sich aufraffte. »Ich geh schon.« Er hastete nach unten und zur Tür. Fluchend suchte er den Schlüssel, den sein Vater immer an einen anderen Ort legte. Allmählich fragte er sich, wie die Person vor der Tür so geduldig sein konnte. Doch als er den Schlüssel endlich gefunden hatte und die Tür öffnete, erstarrte er.

Es war ein alter Mann. Er sah so aus, als hätte er schon lange nichts Richtiges mehr gegessen und sein ganzer Körper war schmutzig. Der Mann sagte gar nichts. Er sah ihn nur an.

»Mom, da steht ein Mann vor unserer Tür!«, rief James. Kurz darauf kam seine Mutter. Doch vor der Tür erstarrte sie und starrte den Mann an. »Hallo, Metti«, sagte der Mann mit schwacher Stimme und lächelte sie vorsichtig an. Doch sie starrte ihn weiterhin an, ohne etwas zu sagen.

»Wage es nicht, mich so zu nennen.« Als James sie erstaunt ansah, wegen der Härte in ihrer Stimme, erwiderte sie den Blick, doch ihr Gesicht blieb hart.

»James, würdest du bitte wieder zurück auf dein Zimmer gehen?« James gehorchte augenblicklich. Er wollte keine Sekunde länger vor diesem komischen Mann stehen. Als er wieder zurück in seinem Zimmer war, setzte er sich nachdenklich auf sein Bett. Es hatte so ausgesehen, als würde seine Mutter den Mann kennen. Aber woher? Vorsichtig machte er seine Tür wieder auf, in der Hoffnung etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen, doch es gab nichts. Noch etwa zwei Minuten stand er an der Tür, bevor Marietta endlich das Wort ergriff: »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder!«, flüsterte sie. Doch es klang nicht nach Erleichterung, sondern eher nach einem Vorwurf.

»Das dachte ich auch.«

»Du hast mich im Stich gelassen.«

»Es ging nicht anders. Ich hatte keine andere Wahl.«

»Man hat immer die Wahl.«

»Ich weiß. Aber in meinem Fall ging es einfach nicht.«

»Du wolltest einfach nicht.«

»Natürlich wollte ich! Aber ich habe dir doch schon gesagt: Es ging nicht anders.« James hatte keine Ahnung, worüber sie redeten. Er wusste nicht einmal, wer dieser Mann war. »Ich kann es erklären!«, sagte der Mann mit heiserer Stimme. Um Verständnis suchend sah er sie an, doch Marietta blieb hart.

»Das glaube ich kaum. Ich weiß nur, dass du uns im Stich gelassen hast. Die ganze Familie hast du im Stich gelassen. Wir hätten dich in dieser Zeit gebraucht. Doch du hast dich einfach aus dem Staub gemacht. Du hast so viel verpasst! Ja, selbst die Geburt deiner Enkel hast du verpasst!«

»Dieser Junge, der die Tür aufgemacht hat, ist mein Enkel? Er sieht dir unglaublich ähnlich.«

»Ja, aber von James ist jetzt nicht die Rede. Ich möchte eine Erklärung von dir!«

»James, was tust du da?« James schnellte herum. Sein Vater stand neben ihm.

»Da steht ein komischer, alter Mann vor der Tür. Mom kennt ihn, aber ich kenne ihn nicht.« Etwas in dem Blick seines Vaters veränderte sich.

»Warte hier, ich gehe nach unten.« James nickte. Sebastian lief zur Treppe, doch dann drehte er sich noch einmal zu ihm um. »Und James: nicht lauschen!« Sein Vater hatte wirklich nicht dazugelernt. Inzwischen sollte er ihn gut genug kennen, um zu wissen, dass James nach so einer Aussage nur noch mehr lauschen würde. Trotzdem versuchte er, dem Wunsch seines Vaters gerecht zu werden, und ging zurück zu seinem Zimmer. Doch die Neugierde zerfraß ihn fast. Wer war dieser Mann und wieso war Marietta so hart zu ihm? Was verband die beiden miteinander? Auch wenn er seinem Vater versprochen hatte, nicht zu lauschen, machte er die Tür auf und trat erneut in den Flur. Er ging ein paar Schritte den Gang entlang, um besser zu hören, was sie sagten. Sebastian war wohl gerade an die Tür gegangen. James lief zur Treppe, um von dort aus die drei etwas sehen zu können.

»Charles?«, sagte Sebastian.

»Hallo, Sebastian. Schon lange her, was?«

»Ja, das ist es. Komm doch rein!« James war überrascht, wie ruhig sein Vater war, und es war ihm auch nicht entgangen, dass Sebastian wegen seiner Höflichkeit einen giftigen Blick von Marietta erhielt. Er beobachtete, wie seine Eltern und der Mann ins Wohnzimmer gingen. Er hatte eine Vorahnung, wer dieser Mann war. Marietta hatte gesagt, er habe die Geburt seiner Enkel verpasst. Das musste wohl heißen, dass er … Konnte das möglich sein?

Stille herrschte im Wohnzimmer, bis Marietta das Wort ergriff. Ihre Stimme war nun etwas weicher geworden. »Wo warst du in all den Jahren?« Charles seufzte.

»Ich musste weg.«

»Und wohin?«

»Nachdem deine Mutter gestorben war, konnte ich nicht mehr klar denken. Ich brauchte Zeit für mich. Also bin ich weggefahren.«

»Und nicht mehr wiedergekommen«, schlussfolgerte Marietta.

»Ja. Aber ich wollte wiederkommen. Eigentlich wollte ich nur für ein oder auch zwei Wochen wegbleiben. Doch mich hat etwas aufgehalten.«

»So viele Jahre? Ich meine, ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele es überhaupt schon sind!«

»Siebzehn Jahre sind es.«

»Und was ganz genau hat dich nun siebzehn Jahre lang aufgehalten?«

»Ronald und danach Vladimir.« Stille herrschte. James konnte sehen, wie Marietta die Hände vor den Mund schlug und ihn erschrocken ansah. »Was haben sie mit dir gemacht?« Ihre Stimme hatte nun ihre letzte Härte verloren.

»Das ist jetzt nicht wichtig. Ich weiß nur, dass die zwei schuld am Tod deiner Mutter sind.«

»Sie haben diesen Autounfall verursacht?«

»Ja, das haben sie. Sie sind die Mörder deiner Mutter.« Bedrücktes Schweigen herrschte. »Weiß James überhaupt schon etwas von ihr?«, fragte Charles plötzlich unerwartet.

»Wen meinst du mit ihr? Wenn du damit seine Großmutter meinst …«

»Nein, ich meine nicht sie. Ich meine …«

»Ich weiß, wen du meinst.« James' Atem stockte. Da lag so viel Sorge in diesem einen Satz.

»Verstehe. « Es sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch Marietta unterbrach ihn sofort.

»Hast du sie gesehen? Wo ist sie? Geht es ihr gut?«

»Sie ist wieder zurück in Metrings. Und ja, es geht ihr gut. Aber nur weil ich sie gerettet habe.« Seine Eltern sahen ihn mit großen Augen an.

»Was ist passiert?«, fragte Sebastian.

»Sie war in Vladimirs Gewalt. Ihr wisst bestimmt, was bald für ein Vollmond ist.« Marietta sah ihn entsetzt an.

»Du meinst …?«

»Ja, das meine ich. Außerdem ist nun Vladimir an der Macht und er zeigt kein Erbarmen. Für keinen. Er ist noch schlimmer als Ronald und wird, selbst bei Kindern, die nicht besonders sind, keine Gnade walten lassen. Er wird sie alle gefangen nehmen und … ihr wisst schon, was er dann am Vollmond mit ihnen macht.« James hatte noch immer keinen blassen Schimmer, über was seine Eltern redeten. Doch seine Eltern schienen zu verstehen.

»Wir müssen James sofort abmelden!«

»Das ist doch etwas sehr kurzfristig, oder?«, fragte Charles.

»Ich weiß. Aber wir müssen.«

»Marietta, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vladimir hat noch keinen Angriff auf Metrings gewagt.«

»Aber wie konnte er sie denn sonst kriegen?«

»Das war einfach Pech. Sie war nicht auf dem Schulgelände, als es passierte.«

»Und wie hast du es geschafft, sie zu retten?«

»Ist eine lange Geschichte.«

»Na gut. Aber ihr geht es jetzt gut?«

»Ja, mach dir keine Sorgen.«

»Und was machen wir jetzt mit James? Ich möchte nicht, dass er schon im Alter von vierzehn Jahren solche Dinge erlebt …«

»Ja, ich weiß. Aber dort hätte er zumindest die Chance, Freunde zu finden. Außerdem wagt es Vladimir mit Sicherheit nicht, Metrings anzugreifen.«

»Und wenn er es trotzdem macht?«

»Bis dahin weiß James bestimmt schon, wie er sich verteidigen kann. Und wenn er nach seiner Großmutter kommt, wird er gut darin sein, sich zu verteidigen.«

»Ja, aber auch wenn er auch nach seiner Großmutter kommt, ist es für ihn noch viel gefährlicher. Ronald wusste schon von Anfang an, dass er anders wird. Deshalb konnten wir James auch noch nichts von ihr erzählen.«

»Hat er euch gedroht?«

»Ja.« Mit was hatte dieser Mann seinen Eltern gedroht? Das Einzige, was er wusste, war, dass diese Drohung etwas mit ihm zu tun hatte. Nur wer war diese Person, vor dem seine Eltern solche Angst hatten?

»Charles, möchtest du duschen? Du könntest auch für eine gewisse Zeit bei uns wohnen.«

»Oh nein, schon gut, ich möchte euch keine Mühe bereiten. Nicht nach all den vergangenen Jahren und dem Kummer, den ich euch gebracht habe.«

»Dad, das ist schon okay. Wir würden uns sehr über deine Gesellschaft freuen. Und für die vergangenen siebzehn Jahre kannst du nichts. Vladimir hätte jeden von uns gefangen nehmen können.«

»Danke, Marietta. Aber ich glaube, es wäre besser, wenn …«

»Dad! Du bist inzwischen über siebzig Jahre alt. Also bleib bitte vorübergehend hier.« Dad. Dieser Mann war also tatsächlich sein Großvater. Er war der Großvater, der von den Polizisten bereits für tot erklärt worden war. Und jetzt war er wieder da.

»Danke«, sagte er.

»Du kannst nach oben gehen und dich duschen. Das Bad ist im zweiten Stock, ganz hinten, links. Und wenn du es nicht findest, kannst du James um Hilfe bitten.« James hastete zurück in sein Zimmer. Dort setzte er sich auf sein Bett und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Das, worüber seine Eltern gesprochen hatten, ergab für ihn keinen Sinn. Charles hatte etwas von zwei Männern gesagt, die ihn angeblich gefangen genommen hatten. Und er war tatsächlich sein Großvater. Sollte er sich darüber freuen? Er wusste es nicht. Natürlich freute er sich, dass es ihm gut ging, doch andererseits machte er ihm Angst. Doch vermutlich sah das alles ganz anders aus, wenn er geduscht hatte, dachte James und schmunzelte.

»James?« James sah auf. Sein Vater stand an der Tür.

»Was ist?«, fragte er. Er wollte es nicht zu offensichtlich machen, dass er gelauscht hatte. Doch sein Vater sah ihn bereits wissend an.

»Eigentlich wollte ich dir von dem Mann erzählen, der vor der Tür stand. Doch ich schätze, du weißt bereits alles.« James sah zu Boden.

»Dieser Mann … Er ist tatsächlich mein Großvater, hab ich recht?« Sebastian nickte nur und trat in sein Zimmer.

»Doch wie ist das möglich? Wo war er in all der Zeit? Und wer hat ihn gefangen genommen und wieso?« Sebastian seufzte.

»Und genau das ist der Grund, weshalb ich dir gesagt hatte, dass du nicht lauschen sollst. Es wirft einfach zu viele Fragen auf.« Ja, sein Vater hatte recht, er hatte viele Fragen. »Ja, die habe ich.« Sein Vater lief wieder in Richtung Tür.

»Du wirst alles früher oder später erfahren. Versprochen. Doch gerade ist nicht der richtige Zeitpunkt dazu.« James sah seinen Vater nur an, ohne etwas zu sagen. Vermutlich würde nie der richtige Zeitpunkt kommen. Er kannte seine Eltern mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie nicht die Art von Eltern waren, die alles mit ihren Kindern teilten. Im Generellen behielten sie das meiste für sich und teilten nicht viele Informationen mit ihm. Es hatte schon lange und viel Überredungskunst gekostet, um aus ihnen herauszubekommen, was mit seiner Großmutter passiert war.

Sein Vater ging ohne ein weiteres Wort aus der Tür und ließ ihn allein. Vermutlich wollte er nur den restlichen Fragen aus dem Weg gehen, die er ohnehin nicht beantwortet hätte.

Mit einem Seufzen ließ sich James auf sein Bett fallen und starrte an die Wand. Er konnte die Informationen drehen und wenden, wie er es wollte, doch es ergab für ihn keinen Sinn. Doch in einem war er sich sicher: Seine Eltern verheimlichten ihm etwas. Und das schon lange. Außerdem schienen es wichtige Informationen zu sein, die auch etwas mit ihm zu tun hatten. Doch egal was er zu seinen Eltern sagen würde, sie würden ihm keine Antworten liefern. Zumindest jetzt noch nicht. Mit einem erneuten Seufzen setzte er sich wieder auf, doch mit einem Blick auf die Tür zuckte er zusammen. Sein Großvater lehnte am Türrahmen und beobachtete ihn. James musste zugeben, dass er nicht mehr allzu furchterregend aussah. Ja, er sah nun wie ein richtiger Großvater aus und nicht mehr wie ein angsteinflößender Obdachloser. »Hallo, James. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht beobachten, aber die Räumlichkeiten hier sind wirklich schön.« James runzelte die Stirn. War er etwa schon so lange in keinem richtigen Haus mehr gewesen, um zu wissen, dass es schönere Wohnungen in New York gab als diese hier? Charles sah ihn eindringlich, aber freundlich an.

»Du hast gelauscht, stimmt’s? Das ist nicht schlimm. Ich habe früher auch immer gelauscht.«

»Ich …«

»Ja, da haben wir wohl etwas gemeinsam. Meine Neugierde war auch immer viel zu groß. Außerdem war ich auch immer so ein schlechter Lügner.« James musste allmählich grinsen. »Es gibt nur manche Dinge, die man lieber nicht wissen sollte.«

»Ich habe den Sinn eures Gespräches sowieso nicht verstanden.« Charles hob eine Braue.

»Ich dachte, du hättest nicht gelauscht!« Mit einem Grinsen drehte er sich wieder um und ging. Etwa eine Stunde später gab es Essen. Es gab Hühnchen. James vermutete, dass das Charles' Lieblingsgericht war, denn sonst kochte seine Mutter es so gut wie nie, da sie es zu fettig fand. Doch eigentlich war es auch sein Lieblingsgericht. Während des Essens beobachtete James seinen Großvater sehr ausführlich. Er aß dieses Hühnchen, als hätte er nie etwas Besseres gegessen. Dann sah er wieder zu Marietta, die bei manchen Bissen das Gesicht verzog. James grinste und schob sich einen weiteren Bissen in den Mund. Es war schon spät, als James noch immer wach lag. Er konnte nicht schlafen. Das Stadtleben draußen war laut. Früher hatte ihn der Lärm nicht gestört, ja, er hatte ihn sogar als entspannend empfunden. Doch heute war er es, der ihn wachhielt. Oder waren es doch die seltsamen Dinge, die heute geschehen waren? James schaltete das Licht an und nahm ein Buch zur Hand, um zu lesen. Doch als er es aufschlug, fiel ein Zettel heraus. Vorsichtig nahm er ihn und begann zu lesen:

Hallo James

Komm nach draußen, ich muss mit dir reden.

Liebe Grüße, dein Großvater.

James runzelte die Stirn, doch er stand trotzdem auf, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte. Als er die Tür aufstieß, wehte ein kühler Wind, und obwohl Sommer war, schlang er die Arme um sich selbst, um sich warm zu halten. Charles stand bereits in dem kleinen Garten und sah ihm entgegen. Doch da war etwas in seinem Blick, das sich verändert hatte. Beim Abendessen hatte er durchgehend geschmunzelt, ja, er hatte beinahe glücklich ausgesehen. Doch nun lag in seinem Blick tiefe Trauer, Sorge und sogar Bedauern.

»Hallo, James. Danke, dass du so spät noch kommst. Ich muss nämlich mit dir reden. Bestimmt fragst du dich, wieso wir das hier draußen machen. Es ist nur so, deine Eltern wollen nicht, dass ich dir von ihr erzähle.«

»Dieser Mann würde eine bestimmte Drohung wahr werden lassen, wenn du mir von ihr erzählst.«

»Das sind nur leere Drohungen. Versprochen.«

»Und du willst mir jetzt erzählen, wer sie ist?«

»Ganz genau.« James schluckte. Was, wenn es doch keine leere Drohung gewesen war? Doch Charles sah ihn nur an, mit einem Lachen, das nicht bis zu seinen Augen reichte.

»Ich verspreche dir, dieser Mann wird dir nichts antun. Er macht nur den Leuten Angst, aber er hat noch nie irgendeine Drohung wahr werden lassen.« James atmete tief ein.

»Na gut, wer ist sie?«

»Sie ist …« Charles sagte noch mehr, aber ein lauter Knall verschluckte seine nächsten Worte. Erschrocken versuchte James, den Ursprung des Knalls zu finden. Er drehte sich um seine eigene Achse, spähte zu den Straßen, zu den anderen Häusern und Gebäuden … und dann sah er ihn. Er trug einen schwarzen Umhang und seine roten Haare schienen beinahe zu leuchten in der Dunkelheit. Doch daneben war noch etwas anderes. Es sah beinahe aus wie ein Schatten; ein Schatten, der ihm folgte, als er direkt auf sie zusteuerte. James sah zu seinem Großvater. Doch dieser stand einfach nur da, den Blick voller Entsetzen. Wieder sah er zu dem seltsamen Mann, doch dieser schwarze Schatten war verschwunden. Es war also alles nur Einbildung gewesen. Nur eine Einbildung. Er sagte sich diese Worte immer wieder und wieder, doch sein Herz schlug mittlerweile so schnell, dass er dachte, es würde ihm bald aus der Brust springen. Wie in Trance lief James rückwärts. Er wusste nicht wieso, doch seine Füße trugen ihn wie von selbst fort von diesem Mann. Er kannte diesen Mann zwar nicht, doch er wusste, dass er nichts Gutes im Sinne hatte. Nun war der Mann auf ihrem Grundstück. Mit wild pochendem Herzen lief James noch immer rückwärts. Doch dann sah er erneut zu seinem Großvater, der wie erstarrt dastand, unfähig sich zu bewegen. Der Mann kam immer näher. James wollte weiter rückwärtslaufen. Doch er war am Ende des Gartens angekommen. Plötzlich ging die Tür des Hochhauses auf und er erblickte seinen Vater, der mit schnellem Schritt auf ihn zueilte. »Geh zurück in die Wohnung. Ich regle das.«

»Wo ist er?« Auch Marietta trat in den Garten und starrte Sebastian an. Doch sie hatte den Mann noch nicht gesehen.