Das Geheimnis der Weihnachtstage - C.H.B. Kitchin - E-Book

Das Geheimnis der Weihnachtstage E-Book

C.H.B. Kitchin

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

»Mörder, so sagt man, sind oft die charmantesten Charaktere.« Es weihnachtet sehr in der Beresford Lodge in Hampstead, unweit von Londons Zentrum. Malcom Warren, ein Börsenmakler, wird von einem seiner Klienten zu einer Weihnachtsparty eingeladen. Eine Gruppe von Bekannten und die einigermaßen komplizierte Familie des Klienten kommt zusammen, feiert ausgelassen, spielt Spiele. Doch als Warren am Weihnachtsmorgen im Gästezimmer aufwacht, findet er eine Leiche. Die Gesellschaft steht unter Schock. Handelt es sich um einen Unfall? Der Hang zum Schlafwandeln der zu Tode gekommenen Frau legt dies erst einmal nahe. Als aber ein zweiter Mord geschieht, wird die Unfalltheorie sehr schnell ausgeschlossen. Der Mörder muss einer der Bewohner oder der Gäste des großen Hauses sein – aber wer? Wer hat ein Motiv an Weihnachten zu morden? Malcolm Warren, so scheint es, soll alles in die Schuhe geschoben werden. Und so wird er gezwungenermaßen selbst zum Ermittler. Kann er den Fall lösen, bevor Weihnachten vorbei ist? C.H.B. Kitchin nimmt als Autor dieses brillanten und hoch unterhaltsamen Cosy Crime von 1934 einen festen Platz in der »Golden Age« Ära der Kriminalromane ein.

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Seitenzahl: 382

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das Geheimnis der Weihnachtstage« von C.H.B. Kitchin, Dorothee Merkel

C. H. B. Kitchin

Das Geheimnis der Weihnachtstage

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Crime at Christmas« im Verlag The Hogarth Press, London

© Catherine Rosenberg, literary executor of the

estate of the late CHB Kitchin, 1934

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Abbildung von © Dieter Braun

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-96639-8

E-Book ISBN 978-3-608-12332-6

Inhalt

I.

 Stolz

II.

 Ein Sturz

III.

 Entdeckung

IV.

 Frühstück (1. Episode)

V.

 Frühstück (2. Episode)

VI.

 Gedanken in einem Badezimmer

VII.

 Die lächelnde Krankenschwester

VIII.

 Der nächste Alarm

IX.

 Tulpen in Schalen

X.

 Invasion

XI.

 Serenade

XII.

 Suchtrupp

XIII.

 Frage und Antwort

XIV.

 Nocturne

XV.

 Weißgetünchte Fenster

XVI.

 Die herabgefallene Pfeife

XVII.

 Die Fotografien

XVIII.

 Hausbesichtigung

XIX.

 Konklave und Zigaretten

XX.

 Ein kurzer Katechismus

Für Kenneth Ritchie

I.

Stolz

24. Dezember – Nachmittag

Um zwanzig Minuten vor vier am Heiligabend bahnte ich mir einen Weg durch den Pulk lärmender Menschen, der sich unter dem Dach der gewaltigen Säulenhalle vor der Londoner Börse tummelte. Die Leute tanzten, sangen und bewarfen einander mit Schneebällen. Mein Ziel war der Raum mit den öffentlichen Telefonen. Dort ließ ich mich mit meinem wichtigsten Kunden verbinden – einem Kunden, der so wichtig war, dass er allein den Wert all meiner übrigen Kunden aufwog.

»Ist dort Hampstead Null-Neun-Eins? Hier Mr Warren am Apparat. Würden Sie Mr Quisberg bitte ausrichten, dass ich ihn am Telefon zu sprechen wünsche?«

Während der darauffolgenden Pause legte ich mein Auftragsbuch zurecht und spitzte meinen Eversharp-Bleistift.

»Und?«

Es war die mir wohlbekannte Stimme, brüsk und angespannt wie eh und je.

»Seit unserem letzten Gespräch hat sich so gut wie nichts verändert. Der Preis wird natürlich noch etwas in die Höhe gehen. Die Leute wollen vor den Feiertagen ihre Verbindlichkeiten eher eingrenzen.«

»Könnten Sie die Aktien für vierzig Schilling kaufen?«

Seine Aussprache des Englischen ließ den Ausländer erkennen, wenn auch nur noch sehr entfernt.

»Nein, ich kann sie für vierzig Schilling und einen Penny Halfpenny verkaufen.«

»Wenn ich über vierzig Schilling bezahle, berechnen Sie mir Sixpence Kommission?«

»Ja«, sagte ich.

»Statt der Fourpence, die ich sonst immer bezahlt habe?«

»Das liegt daran, dass Sie die Aktien bisher noch nie für über vierzig Schilling gekauft haben.«

»Aber es wäre Ihnen lieber, wenn ich sie für über vierzig Schillinge kaufen würde?«

»Natürlich wäre es das«, sagte ich schnippisch. Ich glaube, es war eben diese schnippische Art, die ihn dazu veranlasste, mir die Treue zu halten. Er hatte nämlich ansonsten die Angewohnheit, unentwegt seine Börsenmakler zu wechseln und sie gegeneinander auszuspielen.

»Driffield hat mir gesagt, er könne sie für neununddreißig Schilling und Ninepence bekommen.«

»Wann hat er das gesagt?«

»Kurz vor dem Mittagessen«, sagte er.

»Da hätte ich das auch gekonnt. Kann Driffield das jetzt auch noch?«

»Nein.«

Er brummte leise vor sich hin, was mir verriet, dass er nachdachte. Ich hielt den Bleistift bereit.

»Ich möchte zehntausend kaufen. Was werden Sie dafür bezahlen müssen?«

»Das kann ich nicht so ohne Weiteres sagen. Es wird wahrscheinlich sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich sein, mit einer derart hohen Anzahl zu handeln. Ich denke, ich kann Ihnen eintausend zusagen, für den Preis von vierzig Schilling und Tenpence Halfpenny.«

»Eintausend! Ich will zehn! Dann kaufen Sie mir halt so viel Sie können, und gehen Sie hoch bis zu vierzig Schilling und Tenpence Halfpenny. Nein, bis zu einundvierzig Schilling und Threepence. Nein, zweiundvierzig Schilling, wenn Sie gezwungen sind, so hoch zu gehen. Ich will diese Aktien unbedingt. Also machen Sie schon und verhandeln Sie, und dann rufen Sie mich wieder an.«

Ich setzte meine professionellste Stimme auf und gab ihm eine Zusammenfassung seines Auftrags:

»Ich kaufe für Sie bis zu zehntausend Harrington-Kobalt-Aktien zu bis zu zweiundvierzig Schilling das Stück. Vielen Dank.«

Er brummte noch einmal kurz und hängte dann ein.

Die beiden Händler meiner Firma, mit denen ich hastig Rücksprache über die beste Vorgehensweise hielt, waren hellauf begeistert. Was für ein Glücksfall! Was für ein großartiges Weihnachtsgeschenk! Ich befand mich in Hochstimmung, während ich die Old Broad Street in Richtung unseres Firmensitzes entlanglief. Die Firma, für die ich arbeitete, war zwar klein, doch es war uns mit dem geschickten und umfangreichen Handel von Harrington-Aktien gelungen, uns bereits einiges Ansehen zu verschaffen. Ich sah schon den Tag kommen, an dem die gewieftesten Börsenmakler zu zittern begannen, sobald ich mich nur näherte, und einander nervös zumurmelten: »Achtung, da kommt der von Heavens und Slicer! Was führen die wohl jetzt schon wieder im Schilde?«

Wir hatten es hauptsächlich unserem Glück zu verdanken, dass es uns gelang, den Handel um etwa zehn Minuten nach vier abzuschließen. Ich rief erneut Mr Quisberg an.

»Gut, gut, sehr gut«, sagte er. »Jetzt möchte ich noch achthundert für Dr. Green.«

»Dr. Green?«, fragte ich, hocherfreut über die Aussicht, einen neuen Kunden hinzuzugewinnen.

»Dr. Martin Green. Ich übernehme die volle Verantwortung für ihn. Besorgen Sie ihm achthundert Stück, so günstig Sie können, und schicken Sie den Schlussschein an mich. Nein, Sie brauchen nicht noch einmal anzurufen. Ich bin sehr beschäftigt. Sie werden Dr. Green heute Abend beim Abendessen kennenlernen und können ihm dann von Ihren Unternehmungen erzählen. Ich werde nicht da sein, fürchte ich. Ich muss um halb acht im Carlton sein, um mich mit G. zu treffen. Diese Information ist selbstverständlich vertraulich.«

Mir entfuhr ein bewunderndes »Oh!«. Der Name »G.« hat in Finanzkreisen eine solch gewaltige Bedeutung, dass ich mich nicht einmal traue, ihn in voller Länge auszuschreiben.

»Und kaufen Sie für sich selbst so viel Sie können«, sagte Quisberg. Plötzlich klang seine Stimme ganz freundlich. Mit dieser Bemerkung machte er zu einem gewissen Grade die zahlreichen Gelegenheiten wieder gut, bei denen er mich auf die Palme gebracht hatte.

Ich kaufte dreihundert Stück zu zweiundvierzig Schilling und Ninepence, und mein Partner, Jack Slicer, tat es mir nach.

»Jetzt haben wir uns weit aus dem Fenster gelehnt«, sagte er, während wir beim Tee zusammensaßen. »Welche Informationen hat der alte Q., was denken Sie?«

»Vielleicht kennt er den Preis, für den die Aktien übernommen werden«, antwortete ich bewusst vorsichtig.

Es war kein Geheimnis, dass die Universal Canadian Mining Corporation, deren Generaldirektor G. war, großes Interesse am Kauf der Harrington-Kobalt-Company hatte, auch wenn es sehr widersprüchliche Theorien dazu gab, zu welchem Preis dies geschehen würde.

»Trotz dieses Dementis, das in der Zeitung stand?«

»Ach, das hat nichts zu bedeuten.«

»Also gut«, sagte er. »Ohne Ihren Handel ständen wir mit ziemlich leeren Händen da. Aber so wie die Dinge nun liegen, läuft es auf einen Rekord hinaus.«

Ich glühte vor Stolz. Es war die Art von unheilschwangerem Hochmut, wie sie unweigerlich einem Fall vorausgeht.

Sobald ich die Verträge und die restliche Korrespondenz unterzeichnet und allen Anwesenden ein frohes Fest gewünscht hatte, schloss ich mein Schreibpult ab und begab mich zu meiner Wohnung in der Nähe des Berkeley Square. Es war vereinbart, dass ich die Weihnachtsfeiertage mit meinem Kunden und dessen Frau – insbesondere dessen Frau – verbringen sollte, und es blieb mir nur wenig Zeit, um mich zu waschen, den Serge-Anzug, den ich üblicherweise zur Arbeit trug, gegen elegantere Kleidung zu tauschen und meine Sachen zu packen. Wenn die Quisbergs nicht gerade zu einer formellen Party luden, dinierten sie üblicherweise um halb acht. Ich hatte versprochen, gegen Viertel vor sieben dort zu sein. Tatsächlich war es zwanzig vor sieben, als ich meine Wohnung verließ, in ein Taxi stieg und mich auf den wohlvertrauten Weg begab, über die Mount Street, dann nördlich die Park Street hoch, am Gloucester Place vorbei, über die Wellington Street, Finchley Road, Fitzjohn’s Avenue bis zu dem höchsten Punkt von Hampstead Heath, am Teich und dem Flaggenmast an der Heath Street vorbei, und schließlich die West Heath Road hinunter bis zur Lyon Avenue, wo ich an meinem Ziel anlangte: dem zweiten Haus auf der rechten Seite namens Beresford Lodge.

Ich war Mrs Quisberg vor etwa elf Monaten vorgestellt worden, bei einer Abendgesellschaft, zu der ich geladen war und bei der auch einige der bedeutendsten Personen aus meinem Bekanntenkreis anwesend waren.

Wo man jemanden sozial einordnet – sofern man sich gezwungen sieht, eine solche Einordnung vorzunehmen – hängt größtenteils von dem Moment ab, in dem man einander vorgestellt wird. Ich glaube, ich brauchte Mrs Quisberg nur anzusehen, um sofort zu erkennen, dass sie nicht in die Welt gehörte, in der wir uns beide gegenwärtig aufhielten. Sie war von einer solchen Überschwänglichkeit und so sehr darum bemüht, anderen zu gefallen, dass sie meiner Ansicht nach nicht im Geringsten zu den übrigen Gästen passte, die an diesem Abend zugegen waren. Wir waren Partner beim Bridge-Spiel. Sie spielte schlecht, wenn auch mit großem Enthusiasmus, und als ich das Glück hatte, bei einem Slam die vierfache Punktzahl einzufahren, konnte sie ihre Begeisterung kaum zügeln.

»Ich hoffe doch sehr, dass Sie mich einmal besuchen kommen«, sagte sie, als wir uns am Ende des Abends verabschiedeten. »Sie sind bestimmt ein aufstrebender junger Anwalt, habe ich recht?«

»Nein, ich arbeite an der Börse.«

»An der Börse! Das wird meinen Mann sehr interessieren. Sie müssen bald einmal bei uns vorbeischauen und ihn kennenlernen. Sie beide haben auch die Liebe zur Musik gemeinsam. Ich habe gehört, wie Sie sich während des Essens mit Lady Geraldine Richings sehr fachkundig über Wagner unterhalten haben. Ich fürchte, ich selbst kann keinen Ton vom anderen unterscheiden – ich bin eine ziemliche Barbarin – aber wir können ja wenigstens Bridge miteinander spielen, nicht wahr?«

Sie sprach mit einem leicht irischen Akzent, der auch ihren banalsten Bemerkungen etwas Besonderes verlieh. Darüber hinaus war sie eine attraktive Frau. Sie war zwar nicht mehr ganz jung, hätte jedoch durchaus für zwei- oder dreiundvierzig durchgehen können. Obwohl sie sehr elegant gekleidet war, erweckte sie gleichzeitig den Eindruck einer gewissen Nachlässigkeit, als wäre es ihr zu viel der Mühe, sich wirklich gepflegt zu kleiden, mochten die Personen, bei denen sie zu Besuch war, auch noch so bedeutend sein. Ich erhaschte einen Blick auf einen nicht mehr ganz sauberen Träger an der Schulter, der mein Mitleid erweckte, weil er aus seiner Brokathalterung gerutscht war. Als Mrs Quisberg in einem prachtvollen Rolls-Royce davonfuhr, hatte ich das Gefühl, hier jemanden gefunden zu haben, bei dem man sich einige Freiheiten erlauben und sich dabei gleichzeitig sicher sein konnte, dass einem das nicht nachgetragen wurde. Ich nahm mir vor, ihre Einladung sofort anzunehmen, sobald diese bei mir eintreffen würde.

Ich musste nicht lange darauf warten, und so kam es, dass ich an einem düstergrauen Sonntag im Februar meinen ersten Besuch auf Beresford Lodge abstattete – den ersten in einer langen Reihe von Besuchen. Zu Beginn des Sommers war es bereits so weit, dass ich mich in diesem Haus sehr viel öfter aufhielt als in irgendeinem anderen Haus in London. Es verging kaum eine Woche, ohne dass ich mich mit einem Mitglied der Quisberg-Familie traf. Doch ich muss ausdrücklich hinzufügen, dass meine Freundschaft mit Mrs Quisberg auch nicht das Geringste mit einer Liebelei zu tun hatte. Sie mochte mich und legte mir gegenüber sogar eine Art sentimentaler Zärtlichkeit an den Tag, aber das tat sie bei jedem, den sie mochte. Sie war, wie man so schön sagt, eine hingebungsvolle Ehefrau und fürsorgliche Mutter.

Mr Quisberg war ihr dritter Ehemann. Es gab fünf Kinder in der Familie, die alle von Quisbergs beiden Vorgängern stammten. Der älteste Sohn, Clarence James, war bereits vier- oder fünfundzwanzig und wohnte nicht mehr zu Hause. Ich glaube, er war die einzige Enttäuschung in Mrs Quisbergs Leben. Er konnte sich nie mit dem Umstand anfreunden, dass sie sich zweimal wiederverheiratet hatte, und hatte eigentümliche, künstlerische Vorlieben, die den Rest der Familie befremdeten. Nach seinem Abschluss in Cambridge hatte er sich geweigert, eine lukrative Berufslaufbahn zu ergreifen und stattdessen zu malen begonnen. Nach zahlreichen Querelen und Wiederversöhnungen erklärte sich sein Stiefvater schließlich bereit, ihm ein kleines monatliches Einkommen auszuzahlen, woraufhin er sich in einem kleinen Cottage im alten Teil von Hampstead niederließ. Er war eng mit einem Künstlerzirkel in Bloomsbury verbandelt – einer Gruppe von Leuten, mit der ich selbst gelegentlich verkehrte, auch wenn ich nicht sicher war, inwieweit man mich dort akzeptierte. Ich war ihm in diesem Stadtteil tatsächlich einmal auf einer Party begegnet, nur wenige Monate, bevor ich seine Mutter kennenlernte. Als er später erfuhr, dass ich mit seinen Eltern befreundet und darüber hinaus auch noch an der Börse tätig war, konnte er mich plötzlich nicht mehr leiden. Es ist mein Schicksal, dass man mich in Bloomsbury für einen Philister hält, während man mich in anderen Kreisen als einen Kunstliebhaber ansieht, der einen viel zu ausgeprägten Sinn für Schönheit an den Tag legt, um verlässlich zu sein.

Das zweitälteste Kind, eine Tochter namens Amabel Thurston, stammte wie auch alle übrigen Kinder aus Mrs Quisbergs zweiter Ehe. Sie war eben erst zwanzig geworden, sehr hübsch auf eine wasserstoffblonde Art, und ungeheuer selbstbewusst. Sie war verlobt mit und sehr verliebt in einen kräftig gebauten, ehemaligen Teepflanzer namens Leonard Dixon, für den ich beim besten Willen keine Zuneigung hegen konnte. Es ist mir schon oft aufgefallen, dass es mein Schicksal zu sein scheint, wo auch immer ich hingehe, mindestens einen Mann im Bekanntenkreis zu haben, der mir ein Gefühl von Unbeholfenheit und körperlicher Unterlegenheit gibt. Früher war mein Cousin, Bob Carvel, mein Peiniger. Nachdem die katastrophalen Ereignisse, in die wir beide verwickelt wurden, unser Verhältnis von Grund auf verändert hatten, wurde diese Rolle von einem ehemaligen Marineoffizier eingenommen, der in derselben Firma arbeitete wie ich. Doch kaum war es mir gelungen, diesen Stachel in meinem Fleisch loszuwerden, wurde mir klar, dass ich, solange ich bei den Quisbergs ein und aus ging, es nicht würde verhindern können, andauernd diesem Dixon-Kerl (wie ich ihn insgeheim verächtlich nannte) zu begegnen. Mrs Quisberg hatte keine besonders feine Auffassungsgabe und neigte zu sehr dazu, immer nur das Beste über ihre Mitmenschen zu denken und deren Selbsteinschätzung einfach zu akzeptieren, ohne diese zu hinterfragen. Allerdings gestand sie mir, dass ihr Gatte die geplante Hochzeit nicht gerade guthieß und sehr gerne mehr über seinen zukünftigen Stief-Schwiegersohn gewusst hätte. Anscheinend waren dessen Eltern beide gestorben, und die einzige Verwandte, die er jemals erwähnte, war eine Tante, die in der Nähe von Gosport lebte. Mr Quisbergs Missfallen überraschte mich nicht im Geringsten, denn zusätzlich zu den Eigenschaften, die Dixon mir besonders unsympathisch machten, hatte er etwas Vulgäres an sich, was bei meinem Cousin Bob und dem Ex-Marineoffizier undenkbar gewesen wäre. Ich hätte behaupten mögen, dass Amabels Leidenschaft für diesen Mann hauptsächlich körperlicher Natur war, wenn es nicht so ausgesehen hätte, als würden die Neigungen und Vorlieben der beiden in fast allen Dingen übereinstimmen.

Das dritte Kind, Sheila Thurston, mochte ich. Sie war fast achtzehn Jahre alt und weniger blond und vielleicht auch weniger hübsch als ihre Schwester, doch sie hatte meiner Ansicht nach ein weit angenehmeres Naturell. Sie war eben erst mit der Schule fertig geworden und ging immer noch voll und ganz in den dort geschlossenen Freundschaften auf.

Als Nächstes kamen zwei Jungen, Richard, der fünfzehn Jahre alt war und das Weihnachtsfest zusammen mit seinen Cousins in der Schweiz verbrachte, und der zwölfjährige Cyril, der sich zu Hause von einer Blinddarmentzündung erholte. Er war erst vor zwei Wochen operiert worden und musste daher immer noch das Bett hüten.

Während das Taxi sich über die steile Kurve der Heath Street mühte, gab ich mich der Hoffnung hin, keine allzu ausgelassene Party vorzufinden. Ich war von den vielen Stunden im Büro ziemlich erschöpft und konnte mich beim besten Willen nicht in die fröhliche Weihnachtsstimmung versetzen, die in diesen Tagen von einem erwartet wurde. Andererseits war dies eine sehr viel angenehmere Art, das Weihnachtsfest zu verbringen, als allein zu Hause zu sitzen oder ein Zimmer in einem Hotel zu buchen. Meine Mutter, mein Stiefvater und meine unverheiratete Schwester waren für drei Monate in den Süden Frankreichs gezogen, wo man meinem Stiefvater die Stelle des Seelsorgers in einer englischen Kirche angeboten hatte. Ich kannte die Quisbergs gut genug, um meinen misanthropischen Neigungen nachzugeben, falls es mir an der nötigen Energie fehlen sollte.

Nachdem mein Taxi die West Heath Road hinuntergefahren und scharf links in die Lyon Avenue abgebogen war, durchquerte es schließlich das eiserne Eingangstor von Beresford Lodge. Es war dem Fahrer jedoch unmöglich, mich an der Haustür abzusetzen, da die kreisförmige Auffahrt von dem Rolls-Royce der Quisbergs blockiert wurde, der mit laufendem Motor und fahrbereitem Chauffeur vor dem Haus stand. Harley, Mr Quisbergs Sekretär, ein kleinwüchsiger Mann mit Brille und zahlreichen Sommersprossen, stand wartend neben dem Chauffeur und starrte derart konzentriert auf seine Uhr, dass er mein Eintreffen kaum bemerkte. Ich stieg aus dem Taxi aus, nahm meinen Koffer, bezahlte den Fahrer und sagte ihm, er solle im Rückwärtsgang zurück zur Lyon Avenue fahren. Während ich auf das Haus zuging, sah ich meinen Gastgeber und einen anderen Mann auf der schmalen Rasenfläche vor dem Haus im Lichtschein der elektrischen Lampen des Eingangstores auf- und abschreiten. Die beiden Männer waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass ich sie nicht unterbrechen wollte. Ich stand schon im Begriff zu klingeln, als Quisberg sich umdrehte und mich an der Tür stehen sah.

»Hallo!«, rief er. »Ich bin auf dem Sprung.« Dann, nach einer unschlüssigen Pause, wie sie typisch für ihn war, kam er zu mir herübergelaufen und schüttelte mir die Hand.

»Das hier«, sagte er und wies auf seinen Begleiter, »ist Dr. Green. Und was Sie zu berichten haben, werde ich ja dann morgen von Ihnen erfahren, hoffe ich. Gute Nacht!«

Mit diesen Worten stieg er in den Wagen, gefolgt von Harley, der einen Aktenkoffer trug. Das Auto war jedoch kaum losgefahren, da klopfte Quisberg an die Scheibe, um den Chauffeur zum Anhalten zu bewegen, sprang aus dem Wagen und rief: »Martin, warte, da ist noch etwas –« Der Doktor, der noch nicht dazu gekommen war, mir die Hand zu schütteln, nahm Quisberg am Arm und zog ihn recht hastig, wie mir schien, außer Hörweite, zum anderen Ende des Rasenstücks. Im selben Moment erschien meine Gastgeberin in Begleitung des Hausdieners an der Tür.

»Na, da sind Sie ja endlich, Malcolm«, sagte sie. »Kommen Sie doch rein und kümmern Sie sich nicht weiter um die beiden. Ich weiß nicht, was sie im Schilde führen, aber es scheint irgendetwas sehr Wichtiges zu sein. Ich nehme an, Sie sind recht müde. Möchten Sie einen Cocktail, bevor Sie sich umziehen oder wenn Sie wieder nach unten kommen? Oder soll ich Ihnen einen auf Ihr Zimmer bringen lassen? Oh, Sie sollten unbedingt einen zu sich nehmen. Amabel ist schon beim vierten. Ich fürchte, ich war gezwungen, Ihnen den hässlichsten kleinen Raum zu geben, den wir haben. Er liegt direkt neben dem Salon, und wir nennen ihn nur das ›Geisterkabinett‹. Sie müssen nämlich wissen: Uns ist der Platz ausgegangen. Ich hatte gehofft, wir wären mittlerweile die Krankenschwester los, aber Dr. McKenzie ist der Ansicht, dass sie noch eine weitere Woche hierbleiben sollte, auch wenn Cyril sich ganz großartig macht. Sie haben sie noch nicht kennengelernt, oder? Sie ist sehr hübsch, also passen Sie auf, dass Sie mich nicht eifersüchtig machen. Außerdem ist Clarence hier, das war eine ziemliche Überraschung. Er hat den winzigen Speicher bezogen, ganz oben, eigentlich nur eine Art Abstellkammer. Ein Glück, dass wir so viele Betten haben. Und dann ist da ja noch Mrs Harley –«

»Harleys Frau?«

Sie lachte schallend.

»Nein, Sie Dummerchen! Seine Mutter. Eine kleine Frau. Aber hat noch eine ziemlich hübsche Figur. Muss früher mal eine Schönheit gewesen sein. Und dann sind da ja noch Dr. Green und natürlich Leonard. Hier ist Ihr Zimmer.«

Wir waren im ersten Stock angelangt. Sie öffnete eine Tür zur Linken des Salons und ging mir voraus in ein Zimmer, das wegen der hohen Zimmerdecke kleiner aussah als es in Wirklichkeit war.

»Dann lasse ich Sie jetzt mal allein. Edwins wird Ihre Sachen für Sie auspacken. Da kommt er ja auch schon mit Ihrer Tasche. Und nicht vergessen: Um halb acht wird gegessen!« Und mit diesen Worten eilte sie hinaus.

Sie hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um es mir gemütlich zu machen. Eine Ormolu-Truhe war zu einem Frisiertisch umgewandelt worden, und an der gegenüberliegenden Wand stand ein Kleiderschrank. Ich hatte hier in der Tat alles, was ich brauchte – eine vollständige Schlafzimmereinrichtung, auch wenn alles recht zusammengewürfelt wirkte. Ein wenig ärgerte ich mich aber schon darüber, dass man Dixon ein richtiges Schlafzimmer zugestanden hatte, während ich mit einem Provisorium Vorlieb nehmen musste. Keine Frage, dachte ich böse, er und Amabel hatten bestimmt angrenzende Zimmer gewollt. Immerhin befand ich mich hier im ersten Stock und konnte die Party daher mit Leichtigkeit verlassen, falls mir danach zumute sein sollte – immer gesetzt den Fall, mein Zimmer wurde nicht als Umkleideraum für irgendwelche Scharaden benutzt.

Meine Kenntnis des Hauses beschränkte sich logischerweise auf die unteren Stockwerke. Das Gebäude war, wie nicht anders zu erwarten, sehr prächtig und aufwendig gestaltet, sowohl in seiner Konstruktion als auch im Design. Im Erdgeschoss durchschritt man zunächst einen Vorraum, von dem man in eine riesige Eingangshalle gelangte, deren Holzvertäfelung mit den kunstvollsten Verzierungen versehen war, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Zur Rechten dieser Halle, also an der nordöstlichen Seite des Hauses, befand sich der Speisesaal. Von dort aus hatte man Zutritt zu einem im maurischen Stil gehaltenen Wintergarten, der gemeinhin das »Vogelhaus« genannt wurde, auch wenn dort glücklicherweise keine Vögel gehalten wurden. Die Eingangshalle erstreckte sich derart weit nach Nordwesten, dass der Raum, der an dieser Stelle von ihr abging, zwischen Tür und Fenstern absurd schmal war, auch wenn er andererseits nahezu die gesamte Breite des Hauses einnahm. Diesen Raum nannte man das »Terrassenzimmer«. Er hatte vier breite Fenstertüren, die alle auf die weiträumige, überdachte Terrasse führten, von der aus man über die nicht besonders gut gelungene Nachahmung einer Louis-Quinze-Treppe in den Garten gelangte – den richtigen Garten. Denn der Rasenstreifen, auf dem Quisberg und der Doktor hin und her gegangen waren, war nichts im Vergleich zu dem riesigen Areal, das sich hinter dem Haus erstreckte. Von der linken, südwestlichen Seite der Halle führte ein Flur zu einer großen Garderobe mit angrenzender Toilette, die beide auf der Gartenseite des Hauses gelegen waren, sowie zu einer mit grünem Filz ausgeschlagenen Tür auf der Straßenseite. Allerdings war das Privileg, diese Tür zu durchschreiten, lediglich der Dienerschaft vorbehalten. Aber bevor man zu dieser Tür gelangte, kam man auf derselben Seite des Flurs noch an der Tür zum Arbeitszimmer meines Gastgebers vorbei – einem schmalen Raum mit Blick auf die Straße. Es gab von diesem Raum auch eine Tür, die direkt in die Halle führte, aber diese wurde stets verschlossen gehalten und war darüber hinaus auf der Seite des Arbeitszimmers hinter einem Bücherschrank verborgen. Die Quartiere der Dienerschaft befanden sich hauptsächlich in dem angenehm hellen und luftigen Keller, der sich auf der Straßenseite über die gesamte Breite des Hauses erstreckte. Die Treppe, über die man zu diesem Bereich Zugang erhielt, befand sich irgendwo hinter der mit grünem Filz beschlagenen Tür, was bedeutete, dass man, wenn man vom Speisesaal zur Küche gelangen wollte, das Haus zweimal durchqueren musste. Sämtliche Speisen wurden jedoch über einen kleinen Aufzug direkt in den Speisesaal transportiert. Wie bei vielen Gärten in Hampstead fiel auch hier das Gelände steil ab – wobei es das in diesem Fall auf der von der Straße abgelegenen Seite des Hauses tat. So kam es auch, dass die Terrasse auf einer Höhe von über dreieinhalb Metern lag und dass der Pfad, der unterhalb der Terrasse entlangführte, tiefer gelegen war als der Kellerfußboden. Dennoch gab es von den Kellerräumen aus keine Fenster, die auf die Gartenseite hinausblickten.

Das erste Stockwerk wurde fast vollständig von dem Salon in Anspruch genommen – einem Raum, für den ich keinen passenden Superlativ zu finden vermag. Er ersteckte sich über die gesamte Länge des Speisesaals, einen Großteil der Eingangshalle und das Terrassenzimmer, wobei der Teil, der über dem Speisesaal lag, zusammen mit dem Rest ein gewaltiges L bildete. Auf der nordöstlichen Seite blickten die Fenster auf das Glasdach des »Vogelhauses« hinaus und auf der nordwestlichen Seite auf den Garten, obgleich es dort einen breiten Balkon gab, der von einem mit Metallspitzen versehenen Geländer eingefasst wurde und das Dach der darunterliegenden Terrasse bildete. Mein Zimmer war eigentlich nur ein winziger, vom Salon abgetrennter Splitter, der zweifellos aufgrund irgendwelcher kapriziösen Wünsche eines früheren Besitzers entstanden war und von dem aus man ebenfalls auf den Balkon gelangte, der sich am Salon entlangzog. Ich wünschte, es hätte ein Eisengeländer gegeben, das meinen Teil des Balkons vom Rest abtrennte – so wie man es in manchen Hotels vorfindet –, denn dann hätte ich darauf, sofern verfügbar, ungestört die Nachmittagssonne genießen können. Auf diesem Stockwerk gab es noch drei weitere Zimmer, die auf die Straße hinausschauten. Eines davon gehörte Sheila, ein weiteres war das Schlafzimmer von Mrs Quisbergs Zofe, und das dritte war Harley zugeteilt, Mr Quisbergs Sekretär. Das Einzige, was ich über die westliche Hälfte des Flures wusste, war, dass sich dort in der Wand eine weitere, mit grünem Filz beschlagene Tür befand, die stets hinter einem riesigen, bunt lackierten Paravent verborgen blieb.

Das Bad – oder besser gesagt, das Bad, das ich benutzen würde – befand sich auf halbem Weg zum nächsten Stockwerk.

Mrs Quisbergs riesiges Schlafzimmer, das ich ein einziges Mal besucht hatte, als sie erkältet gewesen war, befand sich im zweiten Stock, auf der nordöstlichen Seite des Gebäudes, sodass sie in den Genuss der Morgensonne kam. Es musste auf dieser Etage mindestens fünf weitere Zimmer geben – Mr Quisbergs Schlafzimmer, Amabels Zimmer und ein Gästezimmer, die wahrscheinlich alle auf die Gartenseite hinausgingen, sowie zwei weitere Gästezimmer auf der Straßenseite – von den Badezimmern und Hauswirtschaftsräumen ganz zu schweigen.

Der dritte Stock wurde von den Kinderzimmern, weiteren Räumen für die Dienerschaft, einigen Abstellkammern und dem »Speicher« eingenommen, in dem man Clarence untergebracht hatte.

Je weniger ich über die Einrichtung und Ausstattung des Hauses sage, desto besser, fürchte ich. Sowohl in Bloomsbury als auch in Belgravia hätte man sie (aus unterschiedlichen Gründen) für absolut scheußlich erklärt. Es gab nur einige wenige Möbelstücke, die schön waren. Sämtliche Einrichtungsgegenstände waren sehr kostspielig, doch der Gesamteffekt war äußerst beklagenswert. An diesem Haus stimmte nichts so recht. Die Räume waren zwar groß, wirkten jedoch alle viel zu vollgestellt. Die Halterungen für die elektrischen Lampen, die, wie man mir sagte, extra in Paris für dieses Haus hergestellt worden waren, harmonierten nicht mit den Schnitzereien an den Wänden und Türen. Die Farbgebung war gleichzeitig nichtssagend und geschmacklos. So wurde zum Beispiel im Salon die Wirkung einiger erlesener Samarkand-Teppiche von den Brokatvorhängen zerstört, die, wie Amabel einmal unbeschwert ausplauderte, ein Pfund und Fourpence Zoll gekostet hatten. Der Speisesaal war der misslungenste Raum im ganzen Haus, denn dort hatte sich Mrs Quisbergs Geschmack, der sich vor allem am Prunk des neunzehnten Jahrhunderts orientierte, vollkommen ungehemmt austoben können. Immer dann, wenn sie versuchte, die neo-georgianischen Interieurs ihrer Freundinnen aus Mayfair zu kopieren, scheiterte sie kläglich.

Während ich mich zum Essen umkleidete, kreisten meine Gedanken hauptsächlich um die Harrington-Kobalt-Aktien. Mal wünschte ich, ich wäre so massiv wie nur irgend möglich in das Geschäft eingestiegen, mal fürchtete ich, eine Dummheit begangen zu haben, indem ich so viele Aktien gekauft hatte. Als der Gong ertönte, begann ich gerade, mich zu fragen, was wohl meine Bank sagen würde, falls das Ganze schiefging.

II.

Ein Sturz

24. Dezember – Abend

Beim Abendessen waren wir zu acht. Mrs Quisberg saß am Kopfende des Tisches, Sheila, Leonard Dixon und ich saßen zu ihrer Rechten, und Dr. Green, Mrs Harley und Clarence zu ihrer Linken. Amabel saß am anderen Ende zwischen Clarence und Dixon. Bei der ersten ›Konversationsrunde‹ war ich Sheila zugeteilt, doch sie war nicht besonders gesprächig und widmete sich gierig ihrem Essen, sodass ich Muße hatte, die beiden Partygäste zu beobachten, die mir zuvor noch nicht bekannt gewesen waren – nämlich Dr. Green, der mir gegenübersaß, und Mrs Harley.

Der Doktor war ein großer, rotgesichtiger Mann mit blauen Augen, einem nahezu kahlen Kopf und einem buschigen, blonden Schnurrbart. Es ließ sich unmöglich sagen, wie alt er war – er hätte zweiundvierzig, aber auch sechzig Jahre alt sein können. Er lachte und redete laut und ununterbrochen und bekräftigte jede seiner Bemerkungen, indem er mit seinen gewaltigen Händen in der Luft herumwedelte, auf den Tisch trommelte oder seinem Gesprächspartner zuzwinkerte. Er war ganz offenbar kein Engländer, auch wenn er über eine unerschöpfliche Redegewandtheit verfügte und zudem jedes Mal, wenn er einen idiomatischen Fehler machte, den Eindruck erweckte, als habe er dies mit voller Absicht getan. Er war derart lebhaft, dass im Vergleich zu ihm sogar meine Gastgeberin matt wirkte. Mrs Harley war eine kleine, blasse Person mit großen braunen Augen, die sie in besseren Zeiten wahrscheinlich für ihre Zwecke eingesetzt hatte. Sie hatte eine heisere Stimme und war mit zahlreichen nervösen Ticks geschlagen, schien jedoch sehr dankbar für die Einladung zu sein. Vielleicht war sie auch ein wenig eingeschüchtert. Ein- oder zweimal beobachtete ich sie, wie sie Mrs Quisberg mit einem halb betrübten und halb von Ressentiments erfüllten Blick bedachte. Sie fragt sich bestimmt, dachte ich, warum manche Frauen in ärmlichen Pensionen wohnen und andere in funkelnden Palästen.

Jegliche ernsthafte Unterhaltung bei Tisch verstummte, als Amabel plötzlich rief: »Sheila, du gieriger Vielfraß, gib die Mandeln her! Len, nimm sie ihr ab!«

»Lassen Sie sich bloß nicht herumkommandieren«, sagte ich zu meiner Tischnachbarin. »Wir wollen die Mandeln hierbehalten.«

Diese Bemerkung lenkte Amabels Aufmerksamkeit auf mich.

»Ah, unsere Mandeln munden Ihnen also, Mr Warren«, entgegnete sie in jener affektierten Sprechweise, die sie – sofern sie es nicht gerade vergaß – immer dann an den Tag legte, wenn sie etwas zu mir sagte. »Dann sagen Sie mir doch mal, Herr Börsenmakler, haben Sie geruht, den Schlusskurs der Harrington-Kobalt-Aktien zur Kenntnis zu nehmen?«

»Es war ein sehr respektabler Abschluss«, antwortete ich vorsichtig.

»Nicht doch, Amabel«, mischte sich ihre Mutter ein. »Rede nicht über Dinge, von denen du nicht das Geringste verstehst.«

»Aber ich verstehe sehr wohl etwas davon«, lautete die Antwort. »Seien wir doch ehrlich, wir wissen doch alle nur zu gut, dass wir, falls die Aktien ihr Kursziel – das ist doch das mot juste, nicht wahr? – von fünfundfünfzig Pfund erreichen, Paragon House auf der Stelle kaufen?«

»Unsinn, du weißt nichts dergleichen«, sagte Mrs Quisberg und warf einen nervösen Blick in die Runde, um sicherzustellen, dass sich niemand von der Dienerschaft im Raum befand.

»Was und wo ist Paragon House?«, fragte ich.

»Paragon House ist dieses scheußliche, baufällige Gebäude in der Strathsporran Road, das wir im Winter am Ende unseres Gartens sehen können. Im Sommer liegt es natürlich hinter den Platanen versteckt.«

»Steht es leer?«, fragte der Doktor.

»Ja, leer und zum Verkauf. Das Grundstück liegt recht nah an der Finchley Road. Deshalb plädieren auch manche Leute dafür, das Haus abzureißen und einen Wohnblock dort zu errichten. Das würden wir natürlich nicht willkommen heißen. Wirklich sehr schade, denn es ist das einzige Gebäude, von dem aus man auf unser Grundstück schauen kann.«

»Wie viel will man denn dafür haben?«, fragte ich.

»Zwölftausend.«

»Du liebe Güte!«

»Die Preise in dieser Gegend sind exorbitant. Sir Samuel Baruch hat siebenundzwanzigtausend für Darlington Lodge bezahlt – das ist das Eckhaus neben unserem.«

»Aber«, fuhr Amabel unbeirrt fort, »du kannst Lyon Avenue doch unmöglich mit Strathsporran Road vergleichen. Die Gegend ist im Grunde genommen ein Slum. Am Ende der Straße sind sogar Geschäfte und die Sorte von Bungalows, in denen die weiblichen Mitglieder der Labour-Partei so gerne hausen. Was mich anbelangt, so finde ich diese ganze Idee vollkommen albern. Schon gut, Mama. Papa sollte lieber meinen Unterhalt verdoppeln. Findest du nicht auch, Len?«

»Außerdem«, warf Clarence ein, während Dixon noch überlegte, welche spöttisch-mokante Antwort er wohl am besten ins Gespräch werfen sollte, »werden die Frauen von der Labour-Partei euch wahrscheinlich so hohe Steuern aufbrummen, dass ihr gar nichts mehr davon habt, falls ihr das Haus tatsächlich erwerben solltet.«

»Das würde dir wohl so passen, was, Clarence? Wusstest du, Len, dass er für den Daily Herald drei Zeitungsartikel zum Thema Kunst verfasst hat?«

»Na, da brat mir doch einer ’nen Storch! Was für eine Sorte Kunst denn? Die Kunst, auf der faulen Haut zu liegen?«

Clarence hatte sich jedoch, nachdem er seine kleine giftige Spitze gesetzt hatte, unterdessen wieder Mrs Harley zugewandt.

»Ich fürchte, Sie müssen uns für eine sehr unhöfliche Familie halten«, sagte er zu ihr.

»Aber ganz im Gegenteil«, mischte sich Dr. Green ein, der mit seinen Ohren offenbar überall war. »Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als wenn junge Leute ganz offen sagen, was sie denken, selbst wenn sie nicht das denken, was sie denken sollten. Ich war einmal bei einer Familie zu Besuch, die acht Töchter hatte – lauter hübsche, temperamentvolle junge Damen. Eines Tages hat die dritte Tochter, deren Name Waterloo war – man hatte alle Mädchen nach berühmten, von Großbritannien gewonnenen Schlachten benannt …«

Er stürzte sich in eine weitläufige Geschichte, die einzig dadurch interessant wurde, wie er sie erzählte. Als mir auffiel, dass Mrs Quisberg ihm nicht zuhörte, fragte ich sie, was ihr Mann denn mit Paragon House tun würde, falls es ihm gelingen sollte, es zu kaufen.

»Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommt«, antwortete sie. »Aber ich nehme an, falls das Haus zu einem günstigen Preis verkauft wird und wir den Zuschlag bekommen, würden wir es einfach abreißen lassen. Das Gelände steigt auf der anderen Seite nämlich ziemlich steil an, und von dort könnten wir eine ähnliche Aussicht auf Harrow Ridge genießen, wie man sie am höchsten Punkt von Hampstead Heath hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Alex einen Teil des Grundstücks dafür benutzen würde, ein zweites Gewächshaus zu errichten. Es gibt da irgend so eine tropische Melonenart, mit der er immer schon experimentieren wollte und deren Zucht unglaublich viel Platz und Pflege erfordert. Und möglicherweise bauen wir uns auch ein Schwimmbassin. Aber es lohnt gar nicht, darüber zu reden, denn das Ganze ist wie gesagt höchst unwahrscheinlich. Und vielleicht wäre es auch gar nicht klug, das Haus zu kaufen. Schließlich wollen wir nicht auf ewig hier wohnen bleiben.«

Mir fiel auf, dass Mrs Harley, obwohl sie doch eigentlich zur Zuhörerschaft des Doktors zählte, diese letzte Bemerkung von Mrs Quisberg anscheinend aufgeschnappt hatte, denn sie schaute halb auf, um etwas zu sagen. Doch dann starrte sie wieder auf ihren Teller und spielte mit einer Walnuss herum. Sie leidet bestimmt sehr unter Minderwertigkeitskomplexen, dachte ich.

»Ich nehme an, Sie rechnen so gegen elf Uhr mit Mr Quisbergs Rückkehr?«, wechselte ich das Thema.

»Nein, heute überhaupt nicht mehr. Er und Mr Harley verbringen die Nacht im Carlton. Mr G. scheint ein sehr absonderlicher Mensch zu sein und zahlreiche seltsame Launen zu haben, wie so viele dieser Multimillionäre. Er geht immer um halb zehn zu Bett und steht um halb sieben wieder auf, und der arme Alex wird es ihm gleichtun müssen. Sobald die wichtigen Männer ihre Gespräche beendet haben, werden die kleinen Fische – die Sekretäre, Buchhalter und all sowas, Sie wissen schon – sich auf irgendwelche Zahlen einigen müssen, und dann kommen morgen früh um halb acht alle zu einer weiteren Besprechung zusammen, bevor Mr G. so gegen zehn Uhr in sein Privatflugzeug steigt und nach Brüssel fliegt. Der arme Alex. Er hasst Hotels, aber es ist natürlich besser für ihn, wenn er vor Ort übernachtet. Ich hoffe doch sehr, dass er dort gut schläft. Er kam mir gestern Abend ziemlich nervös vor. Und jetzt sollte ich wohl mal die Tafel aufheben. Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit mit den anderen Herren, in etwa zehn Minuten sehen wir uns im Salon zum Kaffee. Amabel –«

Die Frauen verließen den Raum. Im nächsten Moment hatte sich Dr. Green schon auf Mrs Quisbergs Platz gesetzt, als wollte er um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand sonst die Herrschaft über die Tafel übernahm. Er goss sich zwei große Gläser ein, eins mit Sherry und eins mit Brandy, und ließ dann die Flaschen um den Tisch gehen.

»Schenken Sie sich reichlich ein, reichlich!«, sagte er. »Morgen ist schließlich der erste Weihnachtsfeiertag!«

»Für mich nicht, danke«, sagte Clarence, den es nicht im Geringsten überrascht zu haben schien, dass man ihn, obwohl er doch der Sohn der Gastgeberin war, von dem ihm zustehenden Platz verdrängt hatte.

»Ich bin mehr oder weniger abstinent«, sagte Dixon. Seltsamerweise stimmte das. Er hatte während des Essens keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken.

»Hat man Ihnen in den Tropen denn nicht das Trinken beigebracht, Dixon?«, fragte der Doktor.

»Der ein oder andere hat’s versucht. Ich persönlich habe mich ohne Alkohol immer gesünder gefühlt.«

Der Doktor sah ihn mit einem irritierten Lächeln an, und auch ich betrachtete Dixon nun genauer. Er machte in der Tat den Eindruck, als sei er unglaublich gut in Form, und ich verglich seine gesunde, braune Gesichtsfarbe neidisch mit meinem eigenen Teint, an dem der Mangel an frischer Luft und zu viele späte Arbeitsstunden seine Spuren hinterlassen hatten. Wie stellte er das bloß an? Wie schaffte er es, mir das Gefühl zu vermitteln, ich sei eine Ratte, die sich neben einem Zuchthengst duckt? Sogar meine Smoking-Jacke sah im Vergleich zu seiner schäbig aus.

Wir bildeten eine mehr schlecht als recht zusammengewürfelte Tischgesellschaft, und ich hoffte, dass der Doktor uns nicht zu lange hier im Speisesaal zurückhalten würde. Doch als wäre ihm klargeworden, dass ohnehin keine fröhliche Unterhaltung zustande kommen würde, erzählte er mehrere jener derben Geschichten, wie sie in Rauchersalons verbreitet sind, inklusive eines äußerst abstoßenden Berichts über einen Patienten, der operiert werden musste, weil er sich selbst höchst seltsame Verletzungen zugefügt hatte. Clarence sah gelangweilt aus, während Dixon (der offenbar, wie so viele, zum Puritaner wurde, wenn man ihn mit etwas konfrontierte, das ihm fremd war) schockiert wirkte. Ich hatte das Gefühl, reagieren zu müssen.

»Ich muss schon sagen«, bemerkte ich, »dass ich froh bin, dass Sie nur mein Kunde und nicht mein Arzt sind, wenn Sie sich auf derartige Beschwerden spezialisiert haben.«

»Wer weiß?«, entgegnete er. »Vielleicht benötigen Sie ja schon bald meine Dienste. Stets zu Ihrer Verfügung. Allseits immer jedermann zur Verfügung.«

»Ihr Doktorgrad ist also ein medizinischer?«

»Ich bin Doktor der Naturwissenschaften an der Universität Wien. Und es gibt in der ganzen Welt keinen Titel, der angesehener wäre.«

»Aus der Freud’schen Schule, meinen Sie?«

»Pah! Freud! Die Psychoanalyse ist nichts anderes als gesunder Menschenverstand. Nicht mehr und nicht weniger. Da ist nichts Neues dran. Freuds größte Errungenschaft besteht darin, einen weiteren Nagel in den Sarg der Prüderie geschlagen zu haben. Mehr hat er nicht getan. Und da Sie anscheinend alle nichts anderes im Kopf haben, als sich wieder zu den Damen zu gesellen und deshalb nicht einmal Axels hervorragenden Brandy genießen können, sollten wir wohl besser in den Salon gehen.«

Er leerte sein noch reichlich mit Brandy gefülltes Glas in einem Zug und ging uns voran die Treppe hinauf.

»Eine Partie Bridge, werte Dame?«, fragte er Mrs Quisberg. »Ich spiele hervorragend Bridge. Und ich bin mir sicher, dass man das Gleiche von meinem Freund Malcolm hier behaupten kann.«

Mir fiel auf, dass er uns alle mit unseren Vornamen ansprach, alle, außer Dixon.

»Clarence, du wirst als Vierter spielen müssen«, sagte sie. »Mrs Harley möchte auf keinen Fall mitspielen.«

»Kann nicht mitspielen, meinen Sie«, murmelte die Genannte schüchtern. »Aber ich schaue nur allzu gern zu, falls Sie mich einen Moment entschuldigen würden, damit ich meine Näharbeit holen kann.«

Sie warf ein um Verzeihung heischendes Lächeln in die Runde und eilte dann aus dem Zimmer, als hätte sie Angst, man könne sie zurückrufen.

»Was ist los mit ihr?«, fragte der Doktor.

»Sie hat fürchterlich schwache Nerven. Leidet unter Schlaflosigkeit. Und wenn sie dann doch einschläft, dann schlafwandelt sie. Sie tut mir schrecklich leid. Tatsächlich war der eigentliche Anlass ihres Besuchs in London ein Termin bei einem Nervenarzt. Harley, Axels Sekretär, wollte sie ungern allein in einem Hotel wohnen lassen, und weil Axel ihn im Augenblick nicht entbehren kann, wegen dieses Mr G., hielten wir es für besser, dass sie bei uns unterkommt. Und ich bin froh, dass sie hier ist. Ich hoffe, wir können sie ein wenig aufpäppeln, das arme Ding. Sie sieht so fürchterlich verhärmt aus. Also bitte, lieber Clarence, leg dieses Buch weg.«

Clarence erhob sich, um sich zu uns zu gesellen, und Amabel zog Dixon von dem Sofa am Kamin hoch, auf dem er sich niedergelassen hatte.

»Komm«, sagte sie, während sie uns einen verächtlichen Blick zuwarf, »überlassen wir diese Leute ihrem langweiligen Kartenspiel, und gehen wir für eine Partie Tischtennis ins Terrassenzimmer.«

Ich sah befriedigt zu, wie sie den Raum verließen, und bildete mir ein, bei Clarence dieselbe Erleichterung zu bemerken.

»Ich wusste nicht, dass Sie Bridge spielen«, sagte ich zu ihm.

»Das tue ich im Regelfall auch nicht. Ich ziehe eine intelligente Unterhaltung bei Weitem vor. Aber was soll man tun, wenn …«

Er zuckte mit den Schultern und setzte sich.

Das Spiel begann. Mrs Quisberg spielte sehr schlecht, Clarence jedoch sehr viel besser, als ich erwartet hatte. Er möchte beweisen, dachte ich, dass ein Mann von Intelligenz einen Banausen jederzeit zu schlagen vermag, mochte dieser Banause sich auch noch so viel auf seine Kenntnisse einbilden. Tatsächlich hatte dieser Clarence James etwas an sich, das mich ärgerte. Ich war, wenn auch ohne triftigen Grund, davon überzeugt, dass ich sehr viel mehr über dieses Kartenspiel wusste als er, aber er schien während des Spiels bei allem, was er unternahm, Glück zu haben und heimste daher unverdiente Lorbeeren ein. Als er zum Beispiel in der ersten Runde mein Karo-As übertrumpfte, machte er eine Geste, die fast so etwas wie Verachtung für mein armseliges Börsenmakler-Gehirn auszudrücken schien, und wann immer er eine Ansage machte, kam es mir so vor, als wollte er damit die von mir zuvor gemachte Ansage korrigieren. Nach einer Weile ärgerte ich mich jedoch viel mehr über mich selbst als über ihn, weil ich so empfindlich auf seine überheblichen Allüren reagierte – Allüren, die ihm möglicherweise überhaupt nicht bewusst waren. Von da an versuchte ich kläglich, die flapsige Einstellung zu imitieren, die der Doktor zu diesem Spiel zu haben schien. Es war unübersehbar, dass er viel besser Bridge spielen konnte als jeder andere in der Runde, doch er nahm das Spiel keine Sekunde lang ernst. Er redete ohne Unterlass, pfiff zwischendurch fröhlich vor sich hin, sang, mischte die Karten auf spektakuläre Weise mit seinen riesigen Händen, tätschelte die von ihm gemachten Stiche, trommelte auf dem Tisch herum und vermittelte die ganze Zeit den Eindruck, als wolle er jeden Moment betrügen, tat es jedoch nie.

»Nun kommen Sie schon, Malcolm«, sagte er zum Beispiel, »spielen Sie die Königin aus, wenn Sie sie haben. Komm schon, herzige Dame. Hoppla, da ist sie ja! Und da ist ja auch der Bube, der freche kleine Bube, den wir in die Finger kriegen müssen. Wer hat den Herzbuben? Falls Letty ihn auf der Hand hat, gebe ich euch noch zwei Stiche dazu. Ja, nur zwei Stiche. Ihr Kreuzkönig? Was kann mir Ihr Kreuzkönig schon? Ich übertrumpfe ihn – schwups! Letty hat den Herzbuben. Hab’ ich’s doch gewusst. Sie musste ihn einfach haben, so lauten die Gesetze dieses Spiels. Und nach den Gesetzen dieses Spiels gehören jetzt die restlichen Stiche alle mir – denn ich habe nur noch Trümpfe auf der Hand! Ist das nicht wunderbar? Oh, ich habe einen derartigen Pechvogel zum Partner – er hat solches Pech, er muss verliebt sein, dass er mir ein solches Blatt gegeben hat. Liebt das Mädel Sie denn gar nicht, auch nicht ein bisschen, Partner? Na ja, ich hoffe, das wird sie auch nicht, bis diese Runde vorbei ist. Danach darf sie Sie so sehr lieben, wie Sie wollen, Gott segne Sie beide.«

Clarence, auf den diese kleinen Stiche gemünzt waren, wurde tiefrot im Gesicht und war ersichtlich drauf und dran, seine Karten auf den Tisch zu werfen.

»Aber, aber, Herr Doktor, das ist nicht nett von Ihnen, ihn so aufzuziehen«, sagte seine Mutter. »Am Ende ist er tatsächlich verliebt. Könnte doch sein. Schließlich waren wir das in seinem Alter eigentlich ständig, nicht wahr?«

»Oh, Madam, Sie schmeicheln mir. Aber Sie wissen nichts über mein früheres Leben. Da brauchen Sie gar nicht erst so zu tun! Das wäre nichts für die Ohren dieser jungen Unschuldslämmer hier – bloß keine Geschichten aus meiner Vergangenheit! Kein Sterbenswort, ich bitte Sie! Also gut! Ich sage an, dass ich drei Pikstiche machen werde, und wäre zutiefst überrascht, wenn darauf keine Reaktionen von Ihnen kommen. Wie ist es mit Ihnen, Malcolm? Ah ja, dachte ich’s mir doch. Sie halten sich bedeckt? Und Ihr Partner?«

»Fünf Kreuz.«

»Ah, großartig. Und, Madam?

›Holla, es ist des lieblichen Gretchens hübscher Fuß,

der hat mir den Kopf verdreht …‹

Psst! Fünf Herz, sagen Sie? Was können mir schon fünf Herz anhaben? Sechs Ohne-Trumpf! Oh, es ist ein leichtes Spiel, dieses Bridge! Was ist mit Ihnen, Malcolm? Sie reizen schon wieder nicht? Na, Sie sind aber ein schüchterner Junge! Partner? Danke für das bedingungslose Vertrauen, das Sie in mich setzen. Und Sie, Madam? Madam verdoppelt. Das hat Madam so an sich, ja, ja, und ich verdopple erneut – nur, damit ein wenig Ritterlichkeit in dieses Spiel kommt, das im Grunde genommen doch eigentlich durch und durch ungalant ist.«

Und so ging es munter weiter. Als die Uhr halb elf schlug, hatte der Doktor bereits vier Runden gewonnen. Mrs Harley, die sich still und leise auf einen Stuhl neben den Tisch gehockt und uns wie ein kleines Kätzchen zugesehen hatte, faltete ihre Näharbeit zusammen und stand ganz offenbar im Begriff, uns eine gute Nacht zu wünschen, als Amabel in den Raum gestürzt kam, dicht gefolgt von Dixon und den Drews, einem jungen Ehepaar aus der Nachbarschaft.