Das gelbe Zeichen - Daniel Schenkel - E-Book

Das gelbe Zeichen E-Book

Schenkel Daniel

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Beschreibung

Carcosa – eine Stadt über der am Tag zwei Sonnen scheinen und bei Nacht drei Monde stehen. Carcosa – eine Stadt im Bürgerkrieg. Carcosa – Ein maskiertes Phantom geht durch die Straßen. Seine Ankunft bedeutet Wahnsinn und Tod. »Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?« Immer wieder stellt das Phantom mit der Maske dieselbe Frage und immer wieder fällt ihm jeder zum Opfer, der die Antwort darauf nicht weiß. Der Assassine Jarek, selbst fremd in der Stadt, gerät zwischen die Fronten des Bürgerkrieges. Kann es ihm gelingen, diejenigen die er liebt und sein eigenes Leben zu retten? Denn Chaos breitet sich aus, etwas unsagbar Fremdes nimmt Carcosa immer mehr in seinen Besitz. Dämonen treten aus den Schatten, die Vorboten des Untergangs. Schon bald wird sich das Gelbe Zeichen offenbaren. Der Lebende Gott mit der Maske wird beanspruchen, was sein ist. Die endgültige Entscheidung steht bevor und das Schicksal einer ganzen Stadt entscheidet sich. Jarek: »Gibt es Hoffnung?« Phantom: »Die gab es nie.«

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Das Gelbe Zeichen

Die Tragödie einer Stadt

von Daniel Schenkel

Impressum

Copyright © Martin Dehling Audio- und Buchverlag 2016 1. Auflage 2016 Umschlagillustration: Johann Sturcz Umschlaggestaltung: Patrick Santy Korrektorat: Mario Weiss eBook: Axel Weiß

Michael Moorcock und Joseph S. Pulver Sr. gewidmet, ohne euch gäbe es dieses Buch nicht.

»Der Tod löst alle Probleme. Kein Mensch, kein Problem.« JOSEF STALIN

»There is nothing in my heart, that is how I love you … «A Song 4 Hate & Devotion ORDO ROSARIUS EQUILIBRIO

Inhaltsverzeichnis

Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
Epilog
Nachwort
Auf den Spuren des gelben Königs

Prolog

In der Kammer herrschte eine solche Dunkelheit, dass Nofris Yvain nicht einmal die Umrisse des spärlichen Mobiliars sehen konnte. Etwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, aber er konnte sich nicht entsinnen, was es war. Nofris lauschte. Nichts war in diesem Raum zu hören und auch die vor der Tür postierte Wache gab kein Geräusch von sich.

Wenn vor der Tür noch eine Wache stand.

War sein Unterschlupf, ein unscheinbares Wohnhaus fast direkt an der Stadtmauer Carcosas, entdeckt worden? Die Agenten des Direktoriums konnten in letzter Zeit immer mehr Erfolge für sich verbuchen, stöberten ein Versteck nach dem anderen auf.

Aber nein. Wenn der Schlupfwinkel tatsächlich aufgeflogen wäre, hätte Nofris Kampfgeräusche gehört. Seine Männer waren keine Feiglinge, würden sich nicht einfach so ergeben, das Schicksal, das sie im Fall einer Gefangennahme erwartete, würde sie bis zum letzten Atemzug kämpfen lassen.

Keine Gnade den Rebellen. Kein Fußbreit der Anarchie.

So lautete das Motto des Direktoriums. Die Imperiale Dynastie kannte kein Erbarmen.

Vor Nofris zeichnete sich immer deutlicher ein Schemen ab, der aus sich selbst heraus gelbes Licht zu verströmen schien. Eine Sinnestäuschung? Ein Traum im Halbschlaf? Er hielt den Atem an, tastete nach der Bolzenpistole, die er immer unter seinem Kopfkissen bereithielt.

Der Schemen wurde zu einer menschengroßen Gestalt. Sie trug eine weiße Robe, eine bleiche, konturlose Maske verbarg ihr Gesicht. Die Augenschlitze der Maske zeigten nur Schwärze.

Schweiß lief Nofris über die Stirn, brannte in seinen Augen.

Was war das? Verlor er den Verstand?

»Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?« Die Stimme, klar, kalt und bar aller Emotion, schien direkt in Nofris’ Kopf zu ertönen.

Er wollte um Hilfe schreien, seine Männer alarmieren, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Er packte die Bolzenpistole, bereit abzudrücken und den Eindringling in den Kopf zu schießen.

In diesem Moment überfluteten ihn die Bilder.

Nofris keuchte, ließ die Waffe sinken.

Diese Bilder, Visionen klarer und leuchtender als die augenblickliche Wirklichkeit, sprachen zu ihm. Zeigten ihm einen Ausweg. Einen Weg, den Krieg zu gewinnen. Er, Nofris, würde Carcosa befreien, die Imperiale Dynastie stürzen. Freiheit. Rache. Macht. Der Thron wartete auf ihn.

»Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?«, fragte die kalte Stimme erneut.

Nofris nickte. Er hatte verstanden, oh ja, er hatte das Zeichen gesehen, die Zukunft hatte sich ihm offenbart. Wahrhaft große Dinge standen bevor.

Die Erscheinung verblasste. Das gelbe Licht wurde immer schwächer, bis der maskierte Robenträger ganz verschwunden war.

Nofris ließ sich in sein Kissen zurücksinken. Er lächelte, fühlte zum ersten Mal seit Jahren tiefen Frieden.

Das Schicksal hatte heute Nacht gesprochen, es gab kein Zurück mehr.

1

Zusammen mit Major Thale kauerte Jarek K., Assassine der Königin, in einem Gesträuch, den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen. Er war weit genug von dem einsamen Haus entfernt, die Bewohner des Gebäudes konnten ihn nicht bemerken.

Grillen zirpten. Gelegentlich rief eine Eule und im Unterholz raschelten kleine Tiere. Wolken dämpften den Schein der drei Monde. Durch sein Fernrohr erkannte Jarek eine Gestalt in der Nähe des Hauses, in der Düsternis nicht viel mehr als ein menschenähnlicher Schatten. Die Fensterläden im Erdgeschoss des Gebäudes waren geschlossen und im ersten Stock brannte, soweit der Assassine sehen konnte, kein Licht. Es war unmöglich zu sagen, wie viele Leute sich im Haus aufhielten. Die Gestalt machte ein paar Schritte, wie um sich die Beine zu vertreten, hielt dann an, und schlenderte denselben Weg wieder zurück. Etwas, das Jarek ebenfalls nicht genau erkennen konnte, hing über ihrer Schulter, etwas Längliches. Eine Waffe vielleicht?

»Verdammt kalt«, zischte Thale, der direkt neben Jarek hockte.

Der Assassine gab keine Antwort. Ja, die Kühle und Feuchtigkeit der Nacht krochen auch in seine Knochen und er fragte sich, ob all das die Anstrengung wert war. Aber sie hatten sich die Mühe gemacht, hier herauszukommen, jetzt wollte Jarek auch Gewissheit haben.

Die Wolkendecke brach für einen Moment auf und kaltes, weißes Mondlicht beschien die Gestalt vor dem Haus. Durch das Fernrohr sah Jarek ein narbiges Gesicht mit einem schlecht gepflegten Spitzbart unter einer krummen Nase. Der Assassine schnalzte mit der Zunge. Er kannte den Mann, der vor dem Haus Wache schob, hatte sein Gesicht mehr als einmal auf den Fahndungsbildern des Direktoriums gesehen.

»Rufio«, flüsterte er in Thales Richtung.

»Bist du sicher?«, kam nach kurzem Schweigen die ebenfalls geflüsterte Frage zurück.

»Ganz sicher.«

Der Major kroch noch näher an Jarek heran, um ihm ins Ohr zischen zu können: »Wir müssen Verstärkung holen.«

Gewiss wäre dies das Vernünftigste gewesen. Bran hatte ihnen von dem abgelegenen Haus und seinen Bewohnern erzählt. Der Spitzel war stets bereit, Leute für ein paar Kronen ans Messer zu liefern. Meistens waren seine Informationen nichts wert, Gestammel eines Säufers, der sich den nächsten Schluck erschnorren wollte. Angeblich arbeitete Bran für den geheimnisvollen Rufmacher, was Jarek nicht glauben konnte. Diesmal jedoch schien der Trunkenbold richtig gelegen zu haben.

Der Assassine warf noch einen Blick durch sein Fernrohr. Rufio schien immer noch nichts bemerkt zu haben.

»Die schnappen wir uns«, wisperte Jarek.

»Warten wir lieber auf Verstärkung«, gab Thale flüsternd zurück.

Jarek schüttelte den Kopf. Die nächste Telegrafenstation lag gut eine halbe Stunde entfernt und es würde noch einmal dauern, bis die angeforderten Männer tatsächlich eintrafen. Dafür war Jarek nicht mitten in der Nacht hier herausgekommen. Er wollte handeln. Sein ganzer Körper vibrierte vor Anspannung.

»Das ist verrückt«, raunte Thale.

Jarek schenkte ihm ein Grinsen, doch er wusste nicht, ob sein Freund es im schlechten Licht sehen konnte. »Lassen wir’s drauf ankommen, oder?«

**

Rufio zeigte keine Reaktion, auch als Jarek sich ihm durch das Unterholz näherte, schien er nichts zu hören. Gelegentlich unterbrach er sein Auf- und Abgehen, um die Arme um sich zu schlingen oder sich in die Hände zu hauchen. Sein Atem dampfte in der Nachtkühle.

Die Nadelpistole lag in Jareks Hand, eine Waffe von einer Art, wie niemand sonst sie in Carcosa besaß. Das Erbe des Assassinen und seine Verbindung zu einer Vergangenheit, an die er sich nur noch nebelhaft erinnerte.

Rufio war wohl mit Taubheit geschlagen. Er bemerkte Jarek noch nicht einmal, als dieser in knapp einem Meter Abstand hinter ihm stand. Wieder blies sich der Mann in die Hände und murmelte etwas Unverständliches. Wahrscheinlich verfluchte er den Wachdienst. Dank der zurückgewichenen Wolkendecke besaß das Licht der Monde jetzt bedeutend mehr Kraft. Jarek sah nun, dass Rufio ein Bolzengewehr auf dem Rücken trug.

Der Assassine räusperte sich. Der Mann mit dem Gewehr sollte ihn wenigstens einmal sehen. Jetzt erst wirbelte Rufio herum, einen Ausdruck vollkommener Überraschung in seinem narbigen Gesicht. Er öffnete den Mund, möglicherweise um einen Schrei auszustoßen.

Jarek schoss ihm in den Hals. Das einzige Geräusch der Nadelpistole war ein Zischen. Rufio keuchte, wankte ein paar Schritte zurück, starrte Jarek aus großen Augen an. Dann kippte er ohne einen weiteren Laut zur Seite. Das Gift in der Nadel wirkte schnell.

Im Haus blieb alles ruhig. Niemand schien etwas von den Ereignissen hier draußen bemerkt zu haben. Knacken und Rascheln im Unterholz kündeten Thales Kommen an. Jarek unterdrückte einen Fluch. Der Major war ein zuverlässiger Partner, ein guter Freund und sogar einmal viel mehr als das gewesen, aber Heimlichkeit gehörte nicht zu seinen Begabungen.

Die Tür wurde aufgerissen. Matter Lampenschein fiel in die Dunkelheit. Im Türstock stand ein Mann mit langen Haaren, der eine Flasche in der Hand hielt.

»Hey Rufio«, rief der Kerl. »Magst du auch …«

Ein Schuss krachte. Der Kopf des Langhaarigen explodierte. Jarek riss die Arme hoch, als ihm Knochensplitter, Blut und Hirnbrocken entgegenspritzten. Der Leichnam blieb auf der Schwelle liegen.

Thale stand ein paar Schritte entfernt, seine Bolzenpistole in beiden Händen. Jarek sah angeekelt an seinem besudeltem Mantel herunter.

»Großartig, du Meisterschütze«, sagte er in Thales Richtung.

»Er hätte bewaffnet sein können«, antwortete der Major.

Aus dem Haus waren Schreie zu hören. Etwas polterte als vermutlich Möbel umgestoßen wurden.

Jarek zog mit der linken Hand sein Stilett aus der Scheide an seinem Gürtel und fasste mit der rechten den Griff der Nadelpistole fester.

So viel zur Heimlichkeit.

**

Jarek hatte eigentlich nichts gegen die AKU – die Anarchistische Kämpfende Union – die sich als Widerstandsbewegung gegen die Imperiale Dynastie verstand. Er stammte nicht aus Carcosa und die Politik in der Stadt interessierte ihn wenig. Die Leute um Nofris Yvain waren entweder fehlgeleitet oder dumm und die meisten davon letzteres. Arme Tröpfe allesamt, Ausgestoßene wie Rufio, Deserteure, verarmte Adlige, im Grunde zu bemitleiden. Aber sie trachteten Cassilda Castaigne nach dem Leben und das machte sie zu Jareks Feinden. Cassilda. Schon bei dem Gedanken an die Frau mit den traurigen Augen stach etwas in Jareks Brust. Oh ja, er würde sie beschützen. Alle, die sie bedrohten, aus dem Weg räumen, jeden einzelnen, ohne Gnade, ohne Zögern.

Der Assassine und Thale betraten das Haus, ihre Waffen im Anschlag. Jetzt noch auf Lautlosigkeit zu setzen, war ohnehin sinnlos. Zwei Männer mit Bolzengewehren stürmten ihnen entgegen. Einer von ihnen schoss sofort. Jarek sprang zur Seite. Thale ließ sich zu Boden fallen, feuerte gleichzeitig und traf den Schützen in die Brust. Mit einer klaffenden Wunde unter dem Brustbein taumelte der Mann zurück. Jarek drückte ebenfalls ab. Die Nadel bohrte sich in die Seite des anderen Gegners. Der Körper des Anarchisten verkrampfte sich und er fiel um, noch bevor er einen Schuss abgeben konnte.

Thale sagte etwas, das Jarek nicht verstand. In den Ohren des Assassinen rauschte es. Er konnte froh sein, wenn ihn der Lärm der Schießerei nicht das Trommelfell kostete.

» … leben lassen … einen!« Thale schrie Jarek ins malträtierte Ohr.

Der Assassine nickte nur. Klar, der Major gehörte zum Direktorium und wie jeder Geheimdienst brauchte auch der Dienst Carcosas Leute, aus denen er Informationen pressen konnte. Das Rauschen in Jareks Ohren ließ allmählich nach. Er trat eine nur angelehnte Tür auf, sah in einen Raum mit einem Esstisch in der Mitte und einigen Stühlen, manche davon umgestürzt. Drei Männer standen hier, ebenfalls mit Bolzengewehren bewaffnet. Jarek erschoss zwei von ihnen. Sie starben lautlos. Der dritte feuerte sein Gewehr ab. Der Assassine spürte einen Schlag gegen seine Schulter, der ihn herumriss. Aber es gab keinen Schmerz. Etwas Warmes, Klebriges lief seinen Arm hinunter. Jarek sprang zur Seite in den Gang, schlug dort der Länge nach hin und wälzte sich herum. Weiter entfernt krachten ebenfalls Schüsse. Thale war anscheinend auf noch mehr Gegner getroffen.

Der Mann mit dem Gewehr trat in den Gang. Jarek wurde klar, dass er seine Pistole nicht mehr in der Hand hielt. Er musste sie fallen gelassen haben, als der Bolzen ihn erwischt hatte. Jareks Gegner grinste, zeigte dabei zwei glänzende Goldzähne und richtete den Gewehrlauf auf den Kopf des Assassinen.

Jarek warf das Stilett. Die Klinge grub sich in ein Auge seines Gegners. Der Mann öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, dann ging er zu Boden.

Der Schmerz kam. Brandete wie eine Feuerwoge durch Jareks Arm. Der Assassine presste die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er betrachtete die Wunde. Trotz allem hatte er Glück gehabt: Obwohl der Bolzen ein großes Stück Fleisch aus seinem Oberarm gerissen hatte, schien das Geschoss nicht steckengeblieben zu sein. Es war mehr oder weniger ein Streifschuss. Ein richtiger Treffer hätte Jarek vermutlich den Arm abgerissen.

Trotz seiner Schmerzen stieß der Assassine ein kurzes Lachen aus. Mit was für Nieten sich der arme Nofris Yvain doch abgeben musste. Drei bewaffnete Männer und zwei davon waren nicht einmal in der Lage gewesen, einen einzigen Schuss abzugeben und auch der dritte hatte letztlich versagt.

Jarek riss ein paar Streifen Stoff aus seinem Hemd, verband notdürftig die Wunde, um wenigstens die Blutung zu stillen. Sein Ärmel war bereits rotbraun getränkt und ein breiter rostfarbener Fleck besudelte die Stelle, an der der verletzte Arm den Boden berührt hatte.

Der Assassine stand auf. Dabei wurde ihm so schwindlig, dass er sich an der Wand abstützen musste. Eigentlich war er nicht viel besser als Nofris’ Dilettanten. Machte die Dummheit seiner Feinde ihn nachlässig oder wurde er allmählich alt?

Endlich auf den Beinen lief ihm Schweiß in Bächen über das Gesicht und er zitterte. Gewiss hatte er jede Menge Blut verloren.

Jarek hörte keine Schüsse mehr. Entweder hatte Thale die letzten Hausbewohner unschädlich gemacht oder ihm war etwas zugestoßen. Die Nadelpistole lag nahe der Türschwelle. Jarek bückte sich, um die Waffe aufzuheben. Anschließend zog er das Stilett aus dem Auge des toten Anarchisten und machte sich auf die Suche nach Thale. An den Raum mit dem großen Tisch grenzte eine Küche. Auf dem Herd stand ein Topf, dessen Inhalt vor sich hinblubberte. In einer Ecke kauerte eine grauhaarige Frau, die eine Kittelschürze trug. Sie warf Jarek einen furchtsamen Blick zu, dann wandte sie ihr Gesicht wieder ab, als befürchte sie, ihn durch Augenkontakt zu provozieren. Weder der Assassine noch die Köchin sprachen.

Jarek setzte seinen Weg fort. Er musste Thale finden. Sein Herz pochte so laut, dass man es bestimmt im ganzen Haus hören konnte und die Pein in seiner Schulter pulsierte im Rhythmus dazu. Sein Mund war ausgetrocknet, er konnte kaum noch schlucken.

Wo steckte Thale bloß?

»Da bist du ja«, sagte jemand.

Jarek prallte zurück, hob die Nadelpistole. Doch es war der Major, der auf einmal vor ihm stand.

»Dich hat’s aber böse erwischt«, stellte Thale fest und packte den Freund an dessen gesundem Arm, um ihn zu stützen.

»Geht schon«, stieß Jarek hervor, obwohl er für Thales Hilfe dankbar war.

»Hier unten und im ersten Stock ist alles klar«, informierte ihn Thale. »Aber es gibt da ein Problem.«

Jarek leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. »Was für ein Problem?«

»Das siehst du dir besser selbst an.«

**

Auf dem unteren Treppenabsatz lagen drei Leichen mit klaffenden, rotschwarzen Wunden in den Körpern. Sicherlich Thales Werk. Der Major führte seinen Freund zu einer schmalen Tür direkt unterhalb der Treppe. Das Holz dieser Tür war dunkel und wies an mehreren Stellen Stockflecken auf. In die Türmitte war, offenbar mit einem Messer oder ähnlich grobem Werkzeug, ein Symbol geritzt worden.

Jarek blinzelte. Etwas an diesem Symbol tat seinen Augen weh. Es schien zu wabern, sich ständig zu verändern. Vermutlich zeigte es einen stilisierten Skorpion mit einem gezackten Stachel, vielleicht aber auch ein Swastika, vielleicht etwas ganz anderes.

»Was soll das sein?«, murmelte der Assassine und rieb sich die Stirn.

Zu den Qualen in seinem Arm gesellten sich hämmernde Kopfschmerzen.

»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete Thale. »Vielleicht irgendein neuer Code der AKU, den wir noch nicht kennen. Aber sag mal, wo kommt denn dieser Gestank her? Riechst du das auch?«

Jarek hatte gedacht, der Gestank, der in seine Nase kroch, entstamme seinen überreizten Sinnen: das Eisenaroma von Blut, vermischt mit Exkrementen.

»Das kommt unter der Tür durch«, sagte Thale. »Außerdem habe ich von drinnen etwas gehört. Kann sein, dass dahinter noch jemand ist.«

Der Gestank ließ in Jarek Übelkeit aufsteigen. Selbst ohne etwas gehört zu haben, war er sich sicher, dass hinter dieser Tür etwas wartete, etwas lauerte …

»Bleiben Sie weg von da«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Die beiden Männer drehten sich um. Vor ihnen stand die Köchin. Die Frau zitterte am ganzen Körper und Jarek fragte sich, warum sie nicht die Gunst der Stunde genutzt hatte, um zu fliehen.

»Was ist da drin?«, wollte Thale wissen.

Die Köchin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht und, bei St. Haita, ich will es auch nicht wissen. Aber sie haben Leute da reingebracht, in den Keller. Die sind nicht mehr rausgekommen, verstehen Sie? Und die Schreie habe ich auch gehört.«

»Ich muss es trotzdem wissen.« Thale klang fest entschlossen.

Jarek vermutete, dass der Major nicht als Feigling dastehen wollte, obwohl ihm seine Angst allzu deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

»Gehen Sie da nicht rein.« Tränen liefen jetzt über die Wangen der alten Frau. »Was immer da drin ist, es ist böse. Spüren Sie das nicht? Sehen Sie das Zeichen an der Tür?«

»Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?«

Jarek fuhr zusammen und drehte sich zu Thale. »Was meinst du damit?«

Thale sah seinen Freund irritiert an. »Was soll ich meinen? Ich habe nichts gesagt.«

»Schon in Ordnung.« Der Assassine seufzte.

Jetzt hörte er schon Stimmen. Es ging ihm wirklich nicht gut. Dann schoss er der Köchin in die Brust. Die alte Frau fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden.

»Was machst du da?«, rief Thale. Unglauben gepaart mit Schrecken schwangen in seiner Stimme mit.

Jarek gab keine Antwort. Alles drehte sich um ihn. Das Zeichen auf der Tür schien im Rhythmus der Schmerzen in seiner Schulter zu pochen.

Thale schüttelte den Kopf, verzichtete aber auf einen weiteren Kommentar. Er wandte sich wieder der Tür zu.

»Dann möchte ich jetzt wenigstens wissen, was dahinter ist«, sagte er.

»Ich bin überhaupt nicht mehr neugierig«, murmelte Jarek.

Er fühlte sich schwach und elend, einer Ohnmacht nahe. Sollte sich das Direktorium doch um den Rest hier kümmern, er brauchte Schlaf und Ruhe und er brauchte Cassilda. Wollte sie in die Arme schließen. Seine Königin. Den Duft ihres Haars riechen, sie küssen, sich in ihrem Schoß verlieren.

Thale trat mit voller Wucht gegen die Tür. Beim ersten Tritt ächzte das morsche Holz, nach dem zweiten gab es nach und die Tür flog krachend auf.

Durch den Türrahmen fiel blasser, unsteter Schein wie von Kerzenlicht. Jarek erkannte hinter der Öffnung lediglich vage Umrisse, die sich zu bewegen schienen. Ein Klirren drang an sein Ohr, dann ein Geräusch, das Wimmern oder Gekicher sein konnte. Der Gestank, der aus dem Durchlass drang, ließ den Assassinen würgen: Ein Brodem aus Fäulnis, Vorbote unvorstellbarer Scheußlichkeiten.

Thale hielt seine Bolzenpistole mit beiden Händen fest umklammert, und trat durch die Tür.

»Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?«

Wieder flüsterte die Stimme in Jareks Ohr.

Gleich darauf schrie Thale.

2

Jarek vergaß Erschöpfung und Schmerz. Die Nadelpistole in der einen, das Stilett in der anderen Hand, folgte er Thale. Die Ausdünstungen raubten dem Assassinen fast den Atem, er spürte ätzenden Magensaft seine Kehle hinaufsteigen.

Eine schmale Treppe führte nach unten in eine gemauerte Kammer. Kerzen standen auf dem Boden verteilt und spendeten gelblich trübes Licht. Das Klirren entstammte von der Decke hängenden Ketten, die in der Zugluft hin und her schwangen. Das, was in den Ketten hing, teilweise mit Fleischerhaken daran befestigt war, hatte nicht mehr viel Menschliches an sich, trotzdem wusste Jarek sofort, was er da vor sich sah. Welcher Wahnsinn war hier am Werk?

Neben den undefinierbaren Fleischbrocken hing ein Frauenkopf in den Ketten. Der Mund war zu einem ewigen, stummen Schrei geöffnet, die Augen starrten weit aufgerissen aber blicklos ins Leere.

Thale stürmte Jarek entgegen, drückte sich an ihm vorbei und hastete in den Gang zurück. Der Assassine hörte, wie der Major sich draußen geräuschvoll erbrach.

Doch da war noch etwas in dieser Kammer des Schreckens und der Perversion, etwas Lebendiges. Eine Gestalt kroch dort auf allen Vieren über den Boden. Sie trug eine gelbe Robe, die an vielen Stellen mit dunklen Flecken besudelt war, eine ebenfalls gelbe Kapuzenmaske verbarg ihr Gesicht.

Auf wackligen Beinen stakste Jarek die Treppe hinunter, auf den Maskierten zu, der den Assassinen an einen desorientierten Käfer denken ließ. Jareks Schritte erzeugten auf dem von Blut und Fäkalien klebrigen Untergrund ein saugendes Geräusch.

»Wer bist du?« fuhr der Assassine den Maskierten an. »Was ist das hier?«

Die Gestalt schien Jarek nicht zur Kenntnis zu nehmen, setzte ihr sinnloses Krabbeln ungerührt fort.

Jarek packte den Kapuzenträger bei den Schultern, schüttelte ihn. »Kannst du nicht sprechen?«

Die Kreatur stieß ein Geräusch aus, das Jarek erst nach einigen Momenten als Gelächter erkannte. Sie kicherte und gluckste, als hätte der Assassine gerade einen besonders guten Witz erzählt.

Jarek riss der Gestalt die Maske vom Gesicht. Ein kahlgeschorener, bartloser Kopf kam zum Vorschein. Irre Augen, die weder Brauen noch Wimpern besaßen, rollten haltlos wie Murmeln in ihren Höhlen. Schaum tropfte aus dem Mund, der heiseres Gelächter ausstieß.

Von Abscheu übermannt, stieß Jarek den Wahnsinnigen von sich.

»Das Gelbe Zeichen«, wisperte das Wesen. »Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?«

»Wovon redest du?«, rief Jarek. »Was soll das hier alles?«

»Er wird kommen.« Die Kreatur schüttelte sich, als würde sie vor Lachkrämpfen beinahe ersticken. »Er wird kommen und dann werdet ihr alle sehen. Dann ist es zu Ende. Dann fällt der Vorhang.«

Jarek drückte ab. Die Nadel traf das kichernde Scheusal genau zwischen die Augen. Das Wesen verstummte endgültig.

Keuchend machte der Assassine sich auf den Weg zur Treppe. Jeder Atemzug kostete unendlich viel Kraft und er wäre nur zu gerne stehengeblieben, um sich wie Thale zu übergeben. Jarek stolperte beinahe in den Gang hinter der Tür. Er schwankte, rang krampfhaft nach Atem, sog köstlich frische Luft in seine Lungen, schaffte es, die drohende Ohnmacht zurückzudrängen. Trotzdem musste er raus aus diesem Haus, diesem Ort des Schreckens, der weitaus Schlimmeres beherbergte als ein paar Mitglieder der AKU.

Die Eingangstür stand offen. Nicht weit entfernt lag Thale zusammengekrümmt zu einem Häuflein Elend. Er schluchzte und schüttelte sich, als litte er unter Fieber. Jarek kniete sich neben den Freund, strich ihm über die schweißnasse und doch kalte Stirn.

Der Major hustete, spie aus, bevor er verständliche Worte herausbrachte: »Ich habe so etwas noch nie gesehen, niemals. Im Krieg gegen Ythill war es auch schlimm, da gab es viele Tote und Verletzte, aber das war eben der Krieg, aber hier … das …

Thales Stimme ging in Schluchzen über.

Jarek sagte nichts, aber wortlos stimmte er dem Major zu. Etwas war hier am Werk, etwas Unmenschliches, etwas unvorstellbar Böses. Im Keller war es körperlich spürbar gewesen. Die Abscheulichkeit des Ortes rührte nicht nur von den zerstückelten Leichen und dem Blut her, da war noch anderes gewesen, Unbegreifliches …

Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander; die Feuchtigkeit des Waldbodens durchnässte allmählich ihre Kleidung. Bis auf die Rufe der Nachtvögel und gelegentlichem Rascheln im Geäst war alles still. Die Erlebnisse im Haus hätten genauso gut nur ein Albtraum sein können.

Es war Thale, der die Ruhe schließlich durchbrach.

»Jarek, was bei St. Haita machen wir denn jetzt nur?«

Der Assassine atmete noch einmal tief durch.

»Jetzt, mein Freund, rufen wir das Direktorium.«

**

Jarek ließ Thale alleine in das in der Nähe versteckte Kabelmobil steigen. Die Schulter des Assassinen klopfte und pochte und ihm war mittlerweile trotz der frischen Luft so übel, dass er sich die holprige Fahrt über unbefestigte Straßen bis zur Telegraphenstation nicht zumuten wollte.

An einen Baumstamm gelehnt, saß Jarek in der Nacht und betrachtete die an den drei Monden vorüberziehenden Wolken. Der Assassine stammte nicht aus Carcosa und auch nicht aus Ythill. Sein früheres Leben, bevor er in die Stadt am Ufer des Sees Hali gekommen war, erschien ihm wie ein Traum, an den er sich kaum erinnerte. Die in den Himmel ragenden, grauen Steingebäude mit den beiden bleichen Sonnen darüber und das rauchige, wolkenähnliche Wellen schlagende Wasser des Sees, das war Carcosa. Cassilda war in Jareks Leben getreten, Carcosas traurige Königin. Seine Königin. Seine Geliebte …

Jarek schrak auf. Er musste eingenickt oder ohnmächtig geworden sein. Seine Schulter tat immer noch höllisch weh. Geräusche von Rädern, die durch Buschwerk brachen, waren zu hören zusammen mit dem Surren von Spulenmotoren. In der Ferne schrie jemand Befehle.

Vier Kabelmobile brachen aus dem Unterholz. Auf den Fahrzeugen waren Scheinwerfer montiert, welche die Umgebung in kaltes, weißes Licht tauchten. Wie klobige Schatten wirkende Uniformierte mit Pickelhauben folgten den Kabelmobilen im Laufschritt.

Das Direktorium war eingetroffen.

Die Kabelmobile brausten an Jarek vorbei. Drei Soldaten blieben jedoch bei ihm stehen und richteten Bolzengewehre auf ihn.

»Bleib wo du bist«, knurrte ein Kerl mit einem Schnauzbart.

Dem Rangabzeichen nach war der Mann ein Unteroffizier und anscheinend wollte er sich vor seinen niederrangigen Kameraden beweisen.

»Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?«, schnauzte der Unteroffizier den Assassinen an.

Jarek hob seine rechte Hand, an deren Ringfinger Königin Cassildas goldener Siegelring mit dem Rosenwappen der Familie Castaigne steckte. Das Scheinwerferlicht spiegelte sich im Gold des Ringes. Der Unteroffizier starrte das Wappen verständnislos an, dann weiteten sich seine Augen in plötzlichem Begreifen. Er ließ sein Gewehr sinken. Die anderen Soldaten wichen vor ihm zurück, als befürchteten sie, dass ihn im nächsten Augenblick ein Blitz in Flammen setzten könnte.

»Bitte entschuldigen Sie«, nuschelte der Unteroffizier. »Das … ich … ich habe Sie nicht erkannt.«

Jarek schüttelte lediglich den Kopf. Er war so müde, konnte kaum die Augen offenhalten. Seine Gedanken schweiften zu Cassilda. Wie gern wäre er jetzt bei ihr, würde ihre kühlen Lippen küssen, sie einfach in den Arm nehmen …

»Ist schon gut, wegtreten.« Er erschrak selbst, wie müde und brüchig seine Stimme klang.

»Sehr wohl, mein Herr.« Der Unteroffizier nahm Haltung an und salutierte.

Jarek erwartete geradezu, dass der Mann im Stechschritt abmarschieren würde.

»Und ihr holt mir jetzt endlich einen Arzt her«, krächzte der Assassine in die Richtung der verbliebenen Soldaten. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.

**

Jarek kam zu sich, als ein älterer, glatzköpfiger Mann ihm die Wange tätschelte.

»Herr K., können Sie mich hören?«

Jarek schenkte Dr. Jaspert ein schwaches Lächeln. »Taub bin ich noch nicht, Herr Doktor.«

Die Schmerzen in seiner Schulter waren verschwunden und anstelle der provisorischen Bandage bedeckte ein dicker, weißer Verband die Wunde. Während Jareks Ohnmacht musste Jaspert die Verletzung versorgt haben.

Der Doktor schnaubte. »Sehr komisch. Sie haben ziemlich viel Blut verloren und können glücklich sein, wenn Sie ohne eine Infektion davonkommen. Wie kann man nur so unvorsichtig sein? Der Bolzen hätte auch durch Ihren Kopf gehen können.«

Jarek antwortete nicht, sondern zog sich an dem Baumstamm, an dem er kürzlich noch gelehnt hatte, auf die Beine. Er sah zu dem Versteck der Anarchisten. Die Scheinwerfer der Kabelmobile tauchten das Gebäude in grellweißes Licht. Direktoriumstruppen schwärmten wie behelmte Ameisen um das Haus herum, einige befanden sich sicherlich auch im Inneren.

»Wo ist Thale?«, fragte Jarek.

»So weit ich weiß, mit einem Stoßtrupp im Gebäude. Ich selbst war noch nicht da drinnen, aber ich habe es schon von den Männern gehört. Sie beide haben ja mit Nofris’ Leuten kurzen Prozess gemacht.«

»Waren unsere Männer schon im Keller?«, fragte Jarek.

Jaspert schüttelte den Kopf. »Ich weiß gerade nicht, was Sie damit meinen.«

Ein Schrei aus Richtung des Hauses ließ beide Männer den Kopf drehen. Aus der Haustür stürzten zwei Uniformierte ins Freie. Der eine erbrach sich unmittelbar nach der Schwelle, der andere lehnte sich wie zu Tode erschöpft gegen die Hauswand.

»Das habe ich gemeint«, sagte Jarek.

Er fühlte sich ein wenig kräftiger und machte sich auf den Weg zum Haus, Dr. Jaspert folgte ihm. Bei dem Gebäude angekommen, ging der Arzt neben dem immer noch würgenden Soldaten auf die Knie.

Thale schälte sich aus der Menge der Uniformierten und trat zu Jarek.

»Comrus ist im Haus«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Er sieht sich gerade die Bescherung im Keller an.«

»Ich wette, ihm ist nicht schlecht geworden.« Jarek warf einen vielsagenden Blick auf den Soldaten, der mittlerweile mit Jasperts Hilfe wieder auf die Füße gekommen war.

Thale schnitt eine Grimasse. »Comrus doch nicht. Ich hoffe bloß, dass der Keller ihn nicht auf Ideen für neue Verhörmethoden bringt.«

Jarek wollte gerade antworten, als eine schneidende Stimme aus Richtung der Haustür ertönte.

»K., da stecken Sie ja.«

Comrus, Vorsitzender des Direktoriums, stand im Türrahmen. In der rechten Hand hielt er den silberüberzogenen Gehstock, in dessen Schaft sich Gerüchten zufolge ein Degen verbarg. Sein Bein nachziehend – Folge einer Verletzung im Krieg gegen Ythill – humpelte er auf Jarek zu. Comrus’ zerfurchtes Gesicht zeigte etwas, das möglicherweise ein Lächeln war.

»Sie hatten recht, bei Hastur«, sagte er, als er Thale und Jarek erreicht hatte. »Bran, dieser Taugenichts, hat ausnahmsweise einmal keinen Blödsinn erzählt.«

»Sie haben den Keller gesehen«, stellte Jarek fest.

Comrus nickte. »Allerdings und ich muss sagen, dass mich das da unten nicht einmal überrascht. Yvain und seine Bande aus Halunken zeigen ihr wahres Gesicht. Aber keine Sorge, wir werden den Dreckskerl schon bald erwischen. Meine Leute werden jeden Quadratzentimeter dieses Hauses nach Hinweisen durchsuchen und es wäre doch gelacht, wenn sie nichts finden. Schade allerdings, dass Sie niemanden übrig gelassen haben, den wir verhören könnten.«

»Sie wissen ja, wie das in der Hitze des Gefechts ist, Herr Vorsitzender«, gab Jarek zurück. »Es war einfach keine Gelegenheit für derlei Rücksichtnahmen.«

Das Gesicht der Köchin irrlichtete vor seinem geistigen Auge. Keine Rücksicht, keine Gefangenen, ja sicher doch. Aber Jarek wusste nicht mehr, warum er die alte Frau getötet hatte. Etwas war in jenem Moment geschehen. Das Flüstern, das er gehört hatte, es schien von der Gravur auf der Tür ausgegangen zu sein, diesem Symbol, dessen Anblick in den Augen und im Kopf weh tat …

»Was ist mit dem Kerl im Keller?«, meldete sich Thale zu Wort und unterbrach damit den Gedankengang des Assassinen.

Comrus schüttelte den Kopf. »Habe diesen Mann noch nirgendwo gesehen, wurde jedenfalls nicht von uns gesucht.«

»Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?«

Die unsichtbaren Stimme klang erneut in Jareks Kopf. Etwas stand bevor, ein Unwetter nie gekannten Ausmaßes, dessen Vorboten am Horizont heraufzogen.

3

Eine Droschke brachte Jarek zum Palast Carcosas, der alles andere überragend auf einem Hügel über der Stadt thronte. Der Assassine hatte nur knappe drei Stunden in seiner Unterkunft verbracht und auf dem Feldbett vor sich hingedöst. Seine Wohnstätte war eine billige Absteige in der Nähe des Seeviertels, die er nur zum Schlafen betrat. Das einzige Zimmer hatte rissige Wände und nur ein Feldbett und eine Kleidertruhe als Mobiliar, aber das Gesindel, das dieses Haus bewohnte, stellte keine Fragen und hielt sich aus Jareks Angelegenheiten heraus. Niemand dort hatte jemals nach seinem Namen gefragt oder wissen wollen, was er tat. Die Bruchbude war als Unterschlupf also bestens geeignet. Wenn Jarek der Sinn nach Luxus stand, konnte er Cassilda im Palast besuchen. Das schäbige Zimmer war nur ein Ort, an dem der Assassine ungestört Kraft schöpfen konnte.