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Zwanzig Jahre nach dem Abitur lädt Franziska drei Schulfreundinnen zu einer gemeinsamen Bergtour ein. Mit Rucksäcken voller Geheimnisse, Geschichten und Sorgen machen sie sich auf den Weg zum Arlberg. Das Abenteuer beginnt mit einer fröhlichen Pickup-Fahrt zum Fuß des Berges, doch bald schon verfliegt die Leichtigkeit: Der Anstieg zum Stierlochkopf ist beschwerlich, und sie müssen sich den Herausforderungen der Natur stellen.
Ihr Nachtlager schlagen die vier Frauen direkt unterhalb des Gipfels auf. Unter sternenklarem Himmel tauschen sie Erinnerungen an die Schulzeit aus, erzählen von ihren Lebenswegen, da kommt es zum Streit … Die Freundinnen müssen erkennen, dass sie einander nach all den Jahren fremd geworden sind. Ob es gelingt, die Freundschaft zu retten?
Ein Roman über eine besondere Frauenfreundschaft, schicksalhafte Entscheidungen und die inspirierende Kraft der Natur.
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Seitenzahl: 278
Daniela Alge
Das Geschenk der Adlerin
Roman
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4906.
Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4906Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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eISBN 978-3-458-77338-2
www.suhrkamp.de
Das Geschenk der Adlerin
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
eins
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vierzig
einundvierzig
zweiundvierzig
dreiundvierzig
vierundvierzig
fünfundvierzig
sechsundvierzig
siebenundvierzig
Informationen zum Buch
Franziska Brenner rannte die gewohnte Route heute schneller als üblich. Sie raste über Gehwege, durch hübsche Wohnsiedlungen hinaus aus dem kleinen Städtchen in die frühlingskahlen Hügel, wo die unzähligen Holzmasten der Hopfenbauern wie verblasste Mikadostäbe in den grauen Himmel ragten. Sie sah die Raben nicht, die sich auf den kreuz und quer gespannten Drahtseilen versammelt hatten. Sie spürte die Kälte nicht, die einzelne Nebelfetzen vom unbedeckten Ackerboden in ihre Atemluft mischten. Sie sah die Sonne nicht, die zwischen den Nebelschichten durch schmale Lücken blinzelte. Franziska rannte. Sie versuchte mit aller Kraft, schneller zu sein als ihre Gedankengespenster.
Doch die Geister blieben hartnäckig. Sie klopften ohne Unterlass in Franziskas Kopf. Mit Gewalt drückten sie gegen ihre Stirn. Schmerzhaft. Pausenlos. Sie füllten ihr Bewusstsein aus, ließen sich nicht abstellen. Sie konnte ihnen nicht davonrennen, und es schien unmöglich, einen Gute-Laune-Satz darüberzulegen. Die bewährten Strategien funktionierten nicht. Es war sinnlos.
Franziska drosselte das Tempo und steuerte auf eine alte Holzbank zu, die am Rand eines Hopfenackers aus dem Bodennebel ragte und sie in ihrer Einsamkeit berührte. Sie lief jeden Tag hier vorbei. Die Bank hatte sie noch nie wahrgenommen. Sie hielt inne, stützte die Hände auf die Knie und wartete darauf, dass ihr Herzschlag sich beruhigte. Als Franziska aufschaute, sah sie das Hochhaus am Rand von Tettnang und am Horizont den Bodensee, der grau und dunkel schimmerte. Ein Meer der Traurigkeit. Sie setzte sich auf die feuchte Bank und schob die Hände unter die Oberschenkel. Der gestrige Abend lief wie ein Film in ihrem Inneren ab. Schmerzverzerrt kniff sie die Augen zu. Die Erinnerung stoppte nicht. Tränen tropften auf die glänzend schwarzen Leggins. Sie würde Elina verlieren. Elina wollte fort. Viel zu früh. Und vermutlich für immer.
Franziska versuchte, sich an die Zeit zu erinnern, als sie selbst achtzehn geworden war. Auch sie hatte sich damals voller Energie gefühlt und geglaubt, die Welt warte nur auf sie, sie könne alles erreichen, das Leben sei ein Spiel und das Glück auf ihrer Seite. Niemals hätte sie sich vorstellen können, wie schnell diese jugendliche Euphorie ins Gegenteil umschlagen würde. Sie öffnete die Augen, wischte die Tränen mit dem Handrücken weg und stand auf. Von einem Drahtseil erhob sich ein Schwarm Raben und flog lautlos Richtung See. Franziska schaute den Tieren sehnsüchtig hinterher.
»Es wird Elina ähnlich ergehen wie mir«, dachte sie und wusste doch: »Ich kann es nicht verhindern. Wir sind nun mal als Menschen auf die Welt gekommen, und die Freiheit und das Fliegen sind allein den Vögeln vorbehalten.«
Franziska schwenkte die Arme, um die Kälte zu vertreiben, die plötzlich von allen Seiten gleichzeitig angekrochen kam. Sie konnte nicht länger stehen bleiben, sie trippelte kurz auf der Stelle und joggte dann in ruhigerem Tempo weiter, die gewohnte Strecke entlang. Wie jeden Tag. Wie lange eigentlich schon? Sie versuchte, ihre Konzentration auf Jahreszahlen und Fakten zu lenken. Ihr Geist war damit für eine Weile beschäftigt. Fakten, Daten, Handfestes. Auch wenn es keine fröhlichen Zahlen waren, so war es doch besser, als den Schmerz dahinter fühlen zu müssen. Sie war hier etwa 750 Mal entlanggerannt, seit dem Tag, als sie die Wohnung in Tettnang gefunden hatte. Ihr siebzehnter Umzug damals. Ihr sechzehnter mit den beiden Mädchen. Manchmal waren sie nur ein paar Monate an einem Ort geblieben, einmal aber fast drei Jahre. Doch immer war irgendwann der Moment gekommen, an dem Franziska spürte, dass ihre Geschichte durchgesickert war. Die Blicke der Nachbarn veränderten sich von einem Tag auf den anderen. Sie wurde plötzlich mit Samthandschuhen angefasst. Sie hörte das Gewisper und Geflüster, wenn sie mit den Kindern auf dem Spielplatz schaukelte oder Elina zur Schule begleitete. Wie sie es hasste, das Mitleid, dieses Verstehen-Wollen und doch niemals Erfassen-Können.
Sie waren jedes Mal gegangen, hatten all ihre Habseligkeiten in den klapprigen VW-Bus gepackt und waren weitergezogen. Irgendwohin, wo das Leben günstig und eine passende Einrichtung für Mara in der Nähe war. Immer weit entfernt vom Bodensee, weit fort von ihrer alten Heimat, dem kleinen Dorf in Österreich.
Franziska rannte mit federnden Schritten über den nachgiebigen Waldboden. Sie sprang über die flachen Wurzeln der Fichten und fröstelte, als sie das Geflecht bewusst wahrnahm. Elina war völlig wurzellos. Wie sollte sie einem Sturm standhalten? Elina war ohne Vater aufgewachsen. Sie hatte ihre Großeltern nie kennengelernt, hatte keinerlei Bezug zu Onkeln, Tanten oder Cousins. Da war niemand. Niemand, den Elina kannte. Und es mangelte nicht nur an Verwandtschaft, es fehlte schlicht alles, was Menschen unter dem Begriff »Heimat« zusammenfassten. Die unbeschwerte Kindheit, Erinnerungen an Sonntagsausflüge und Badenachmittage, Grillfeste, Schulfreundinnen, Nachbarinnen, Familienurlaub und Kindergeburtstage. Nichts. Nur Rückblicke auf eine überforderte Mutter und Sonntage in zu kleinen Wohnungen. Elinas einzige Wurzel bestand aus einem dünnen Bändchen zu ihr. Franziska machte sich keine falschen Hoffnungen. Elina würde keine junge Frau werden, die abends ihre Mutter anrief. Sie würde dankbar sein müssen, wenn zu Weihnachten oder zum Geburtstag eine WhatsApp-Nachricht kam. Vielleicht mit einem Smiley. Hoffentlich mit einem lächelnden.
Der Pfad führte aus dem Wald heraus, änderte die Richtung und ging ein kurzes Stück steil den Hügel hinauf. Franziska wurde langsamer, doch sie hielt nicht inne. Der Anstieg wärmte sie. Sie kam ins Schwitzen. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatte, öffnete sich wieder die Aussicht auf den See. Der Anblick gab ihr Kraft. Sie legte an Tempo zu. Bei dem Wort Heimat tauchte vor ihrem inneren Auge stets der Bodensee auf. Dabei war sie dort weder geboren worden noch aufgewachsen. In Bregenz am See hatte sie allerdings fünf Schuljahre im Internat verbracht. Rückblickend waren es die besten Jahre ihres Lebens gewesen. Die einzige Zeit, in denen sie Freundinnen an ihrer Seite gehabt hatte. Ihren achtzehnten Geburtstag hatten sie gemeinsam gefeiert. Mit Eierlikör aus altmodischen Glasschalen hatten sie auf Franziskas Zukunft angestoßen und sich ausgemalt, wie grandios das Leben als Erwachsene sein würde. Wie naiv sie damals waren!
Doch diese drei Mädels hatten sie angenommen, wie sie war. In diesem Viererzimmer war sie einfach nur eine Schülerin gewesen. Wie so viele. Sie hatten gestritten und gelacht, über alles geredet und gemeinsam geweint, wenn Susanne wieder mal krank vor Liebeskummer war. Sie hatte für alle die komplizierten Mathehausaufgaben gelöst, Linda hatte Spinnen ausgesetzt und Blumen für den Biounterricht gepresst, und Katja war die Unbarmherzige gewesen. Sie hatte immer freiheraus gesagt, was sie dachte, und das war selten schmeichelhaft gewesen. Durch Katja hatte sie gelernt, sich eine dickere Haut zuzulegen und nicht jede Anspielung persönlich zu nehmen. Was wohl aus ihr geworden war?
Franziska war derart in ihren Erinnerungen gefangen, dass sie den Ast übersah. Mit einem überraschten Aufschrei landete sie unsanft auf dem kalten Waldboden. »Aaah!« Ihr linker Fuß schmerzte. Sie setzte sich auf und betastete vorsichtig den Knöchel. Das rechte Knie und die rechte Handfläche waren aufgeschürft. Das Zentrum des Schmerzes war jedoch eindeutig der linke Knöchel. Sie tastete nach ihrem Handy in der Tasche des Sportshirts. Es schien heil geblieben zu sein. Gott sei Dank, wenigstens das.
Sie war umgeknickt. Nur eine kurze Unachtsamkeit. Weiterlaufen konnte sie nicht. Vielleicht schaffte sie es, nach Hause zu humpeln? Sie schaute auf dem Handy nach der Uhrzeit, schätzte die Entfernung ab. Nein, unmöglich. Sie brauchte Hilfe. Sie entsperrte ihr Handy und rief Elina an. Niemand ging ran. Franziska versuchte es erneut. Vermutlich ließ Elina es einfach klingeln, weil sie glaubte, sie wolle ihr die Sache mit Berlin ausreden. Verflixt noch mal. Sie stellte keine großen Erwartungen an ihre Tochter. Aber war es zu viel verlangt, ans Handy zu gehen, wenn ihre Mutter sie anrief? Franziska gab auf. Elina war stur wie sie selbst. Sie würde ihr eine Sprachnachricht schicken. Vielleicht reagierte sie dann.
»Elina. Bist du daheim? Ich habe mir den Fuß verknackst, ich schaff es heute nicht pünktlich. Kannst du Mara in Empfang nehmen? Bitte gib mir ein Okay.«
Franziska steckte das Handy ein und kroch zu einem Baumstamm. Sie biss die Zähne zusammen und zog sich am Stamm in die Höhe. Die aufgeschürfte Hand fing an zu bluten, und im Knöchel pochte es heftig und schnell. Als sie auf wackligen Füßen stand, vibrierte ihr Handy. Eine Nachricht von Elina.
»DAS LETZTE MAL!«
Franziska seufzte erleichtert. Es war ihr bewusst, dass es das letzte Mal sein würde. Sie würde ohne Elina viel beschissener dastehen als umgekehrt. Kein Wunder, dass es ihre Tochter fortzog. Elina wollte fliegen, wie sie selbst – damals. Wenn sie nur darauf hoffen könnte, dass Elina keine harte Bruchlandung hinlegte. Vorsichtig versuchte Franziska, mit dem verletzten Fuß aufzutreten. Der Schmerz nahm ihr für einen Moment den Atem. Doch sie musste zurück. Sie packte einen starken Ast, der auf dem Waldboden lag, und machte sich auf den Weg. Meter für Meter kämpfte sie sich voran, auf das Hochhaus zu. Plötzlich wurde ihr bewusst, woher ihre Angst rührte. Elina würde in der Großstadt klarkommen. Sie selbst war es, die ohne ihre Tochter nicht weiterleben konnte wie bisher. Sie würde Hilfe brauchen, Ansprechpartner für Notfälle, neue Betreuungsmöglichkeiten für Mara. Franziskas Leben würde sich ändern. Gerade jetzt, wo es sich endlich etwas besser angefühlt hatte.
Franziska beneidete Elina um ihren Mut, ihre Jugend und ihren Tatendrang. Auch sie selbst musste ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen, etwas verändern, um nicht völlig in ihren depressiven Zuständen unterzugehen. Elina sollte mir ein Vorbild sein, dachte sie. Nicht so viel denken, sondern viel mehr tun. Das Leben leben, aus dem Haus gehen, mit Menschen ins Gespräch kommen und sich auf Abenteuer einlassen. Als Erstes würde sie sich erkundigen, wo sie Mara über Nacht oder gar über ein Wochenende in Betreuung geben könnte; dann würde sie sich zwei freie Tage gönnen und den Beginn eines neuen Lebensabschnittes feiern.
»Man muss die Feste feiern, wie sie fallen«, das sagte ihre Tochter seit Jahren. Doch mit wem sollte Franziska feiern? Elina ging weg. Es gab niemanden mehr. Sie entdeckte eine weitere Bank am Wegrand und setzte sich erschöpft. Sie spürte den Knöchel nicht mehr. Der Körper musste irgendein eigenes Schmerzmittel ausgeschüttet haben. Sie würde es nach Hause schaffen. Erleichtert hob sie den Blick. Das Hochhaus ragte bereits hoch auf, der Bodensee im Hintergrund hatte seine Farbe gewechselt. Auf dem dunklen Wasser tanzten vereinzelte Sonnenstrahlen und brachten die Oberfläche zum Glitzern. Bald würde Franziska wieder schwimmen gehen. Wie damals. Katja hatte sie dazu angestiftet. Linda hatte nicht Nein sagen können, nur Susanne hatte sich geweigert. Es verstieß gegen die Internatsregeln, sich nachts heimlich aus den Schlafzimmern zu schleichen. In Erinnerung an das eiskalte Wasser bekam Franziska Gänsehaut. Doch der Gedanke an Katja, Linda und Susanne brachte sie auf eine Idee. Auf eine wunderbare Idee. Franziska kämpfte sich wieder auf die Beine und humpelte weiter. Lächelnd.
Susanne Herz war allein zu Hause. Sie schleppte die überladenen Wäschekörbe in das gemütliche Wohnzimmer, räumte den Tisch ab, machte ihn sauber, holte das Bügelbrett aus der Abstellkammer und schaute sich um. Die Jungs waren in der Schule und im Kindergarten. Pirmin hatte nach dem Melken seine roten Skiklamotten übergestreift und war zur Skischule gefahren. Sie warf einen raschen Blick aus dem Stubenfenster. Nein, der Pick-up stand nicht auf dem Hof. Sie schlüpfte in die Holzschuhe, ging vorsichtig über den festgefahrenen Schnee ins Stallbüro und holte den alten Laptop. Zurück in der Stube kroch sie unter die Eckbank, um ihn einzustecken, und stellte ihn dann vor das Bügelbrett auf den Tisch. Langsam fuhr er hoch. In der Zwischenzeit füllte sie Wasser ins Bügeleisen und heizte es auf. Fast hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Videos anschauen, und das am helllichten Vormittag, während draußen die Sonne strahlte und offenbarte, dass die Fenster schon ewig nicht mehr geputzt worden waren.
Susanne dachte an den gestrigen Elternabend der Erstkommunionkinder zurück. Nach dem Anstoßen mit dem dritten Gespritzten in der »Sonne« hatte eine der Mütter angefangen zu schwärmen: von der neuen Lust am Aufräumen, von Nachhaltigkeit-Blogs, vom achtsamen Bügeln und inspirierenden Podcasts, die jedes Wäschefalten zu einem freudvollen Erlebnis voller Alltagswunder werden ließen. Susanne vergewisserte sich noch einmal, dass der Pick-up weg war, und öffnete den Internet-Explorer. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Wäscheberg. Wenn sie sich mit dieser Arbeit anfreunden könnte, ja, dann wäre ihr wirklich geholfen. Sie stellte sich vor, wie sie sich morgens unter der Dusche auf den Wäschekorb freuen würde. Das Visualisieren eines freudvollen Alltags gehörte anscheinend zu jeder erfolgreichen Morgenroutine. Sie lachte leise vor sich hin – in einer Frauenrunde wurden manchmal recht seltsame Themen besprochen. Sie war da nur staunende Zuhörerin. Der Alltag mit Großfamilie, Feriengästen und Hofarbeit ließ ihr keinen Raum für derlei Gedankenexperimente, Für-mich-Zeit-Inseln und Wohlfühlauszeiten. In ihrem Kopf drehten die alltäglichen Fragen ihre Dauerrunden: Was koche ich heute? Wann hat David das letzte Mal gebadet? Wie finde ich heute Zeit für einen Spaziergang mit Rico?
Zögernd öffnete Susanne YouTube. Mit zwei Fingern tippte sie in das Feld mit der Lupe den Namen eines Gurus, von dem sie als Einzige bis gestern Abend noch nichts gehört hatte. Aber wenn Ahina, Christl und Sandra ihn so hilfreich fanden, dann würde sie es heute wagen und mit seiner Hilfe den Alltag neu erfahren. Sie scrollte durch die angebotenen Titel. Raus aus der Komfortzone, rein in die Selbstliebe, Formeln für Glück und Erfolg und gelingende Beziehungen, aufs Herz hören, wahre Werte leben und Nein sagen lernen. Sie schüttelte den Kopf. Kein Wunder, dass sie jedes Jahr als Elternvertreterin zur Verfügung stehen musste. Alle anderen Mütter zogen sich diese Videos rein und konnten viel besser Nein sagen und den eigenen Erfolg in den Vordergrund stellen. Allein diese Titel gaben allen die Ausreden an die Hand, um sich nicht mehr einzubringen, kein ehrenamtliches Engagement mehr zu zeigen und kein unkompliziertes Ja mehr über die Lippen zu bringen. Deshalb war das Gemeindeleben so zäh und einseitig geworden. Diese Weiber! Hörten auf einen langhaarigen Möchtegern-Jesus und ließen sich die Ausreden zum Nichtstun und Wellnessen und Sich-in-den-Mittelpunkt-Stellen über einen Gratis-Videokanal liefern. Denen würde sie es zeigen!
Nach jahrzehntelangem »ja, natürlich, gern« würde sie es sich nun verkneifen. Die würden sich noch wünschen, ihr nie erklärt zu haben, was ein Podcast oder spiritueller Coach ist. Sie würde sich alle Videos ansehen, an Wäsche mangelte es zum Glück nicht – und dann konnten die Damen im Kindergarten, in der Schule, in der Gemeinde, beim Kirchenchor, bei den Landfrauen, im Pfarrgemeinderat, beim Obst- und Gartenbauverein, beim Ferienprogramm und bei der Erstkommunionsvorbereitung sich eine andere Doofe suchen. Und die Kinder würden staunen, und Pirmin, und erst recht die Schwiegermutter. Susanne lachte laut auf. Ja, sie würde starten mit: Nein sagen lernen. Das schien genau die richtige Lektion für sie.
Susanne stellte den Ton auf hundert Prozent, drückte auf Start und holte das erste Handtuch aus dem Korb. Routiniert faltete sie das fadenscheinige Stück und legte es auf den Tisch. Nach dem fünften Duschtuch hatte der Guru seine einschmeichelnde Begrüßung beendet und versprach, nun auf die Kraft des Neins zu sprechen zu kommen. In seiner Stimme klangen eine Weichheit und Zartheit, die in Susanne Aggressionen auflodern ließen. Konnte der nicht normal reden? Sie wollte während des Zuhörens etwas erledigen und nicht schlafend in den Bettwäschekorb sinken. Enttäuscht legte sie das letzte Handtuch auf den Stapel und ging zum Laptop, um ein anderes Video auszuwählen. Doch während sie nach einem neuen Titel scrollte, schrie ihr der Typ aus dem Laptop laut entgegen: »Fick dich! Nein!« Susanne erstarrte. So ein Vollidiot. Hatten die anderen sie nur verarschen wollen, als sie ihr diesen Guru empfahlen? Sie klappte den Bildschirm zu und zog den Stecker. Ohne Strom ging der Laptop schon lange nicht mehr. Fertig. Thema erledigt. Wer sprach öffentlich diese Worte laut aus und war noch sichtlich stolz darauf? Nein, ein unmöglicher Typ. Von dem würde sie die Finger lassen.
Aufgewühlt wandte sich Susanne wieder der Bettwäsche zu. Auf so etwas konnte sie verzichten. Zur Beruhigung begann sie eine alte Melodie zu summen. Ein Lied über den schmelzenden Schnee und den nahenden Frühling. Sie schüttelte schwungvoll die Bettbezüge, und ihre Gedanken wanderten vom letzten Streit mit Pirmin über die Reinigung der Ferienwohnung zur bevorstehenden Goldenen Hochzeit ihrer Schwiegereltern. Susanne freute sich darauf, ihre große Familie und die Verwandtschaft um sich zu scharen. Sie schnappte sich einen schweren, duftenden Stapel Bettwäsche, um ihn in dem alten Bauernschrank in der Diele zu verstauen, als das Festnetztelefon klingelte. Schnell legte sie den Stapel zurück auf den Tisch und eilte in die Küche.
»Susanne Herz«, meldete sie sich.
»Menschenskind Susi, hoj, hier ist Christl. Du bist daheim? Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Schaust du denn den ganzen Tag nie aufs Handy? In unserer Gruppe ist die Hölle los!«
»Hoj, Christl. Ich weiß grad nicht, wo es liegt. Worum geht es denn? Kann die Solistin in der Osternacht jetzt doch nicht?«
»Ich meine nicht die Kirchenchorgruppe, in der Familiengruppe geht's rund. Die Mesmerin meinte, dass wir den Kirchenschmuck selbst machen sollen. Zu der Zeit ist sonst kein Fest, und Grete, die sonst die Kirche schmückt, ist mit Pater Pius auf einer Wallfahrt, und wenn wir's schön haben wollen … Also, jedenfalls hat irgendwie niemand Zeit dafür, denn wir machen ja alle schon Torten und Kartoffelsalat, und da dachte ich, also, du weißt selbst, du hast doch ein Händchen dafür, das würde sicher allen gefallen. Du hast dich zwar nicht gemeldet, aber alle sind einverstanden und vertrauen dir voll. Mein Gott, bin ich froh, dich erreicht zu haben. Diese Ungewissheit hätte mich noch fertiggemacht. Da wird allen ein Stein vom Herzen fallen.«
»Christl, mal langsam. Ich kann die Kirche nicht dekorieren.«
»Natürlich. Du bist die Kreativste von uns, Susilein. Wer denn sonst? Wir sind auch gern bereit, ein paar Franken beizusteuern, aber so wie wir dich kennen, findest du eh alles, was du brauchst, im Wald und auf dem Hof. Das bewundern wir doch alle so an dir. Dass du quasi aus nichts so lässige Sachen zaubern kannst.«
»Es ist Februar. Draußen liegt Schnee. Aber vielleicht …«
»Ach, Susi. Susilein, du bist die Beste! Ich wusste, dass du nicht Nein sagen wirst. Danke dir! Wirklich! Was würden wir nur ohne dich tun?«
Das Besetztzeichen ertönte. Ihre Schwägerin hatte aufgelegt.
Wie in Trance ging Susanne ins Wohnzimmer, am Wäschekorb vorbei, direkt zum Fenster. Sie öffnete es, ließ die kühle Luft herein und schrie, so laut sie konnte: »Fick dich! Nein!« Von sich selbst überrascht, schloss sie das Fenster und wandte sich dem Sockenhaufen zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie so ein übles Wort über die Lippen gebracht, und es fühlte sich gut an. Irgendwie verwegen. Sie grinste. Es hatte eben Vorteile, abgelegen zu wohnen. Wer weiß, vielleicht sollte sie öfter mal zum Fenster raus schreien? Wenn Pirmin beim Après-Ski kein Ende fand, obwohl im Stall die Kühe muhten, oder wenn die Schwiegermutter wieder mal besser wusste, welches Brot die Gäste zum Frühstück erwarteten. Wenn wieder mal jeder irgendetwas von ihr wollte, aber keiner an ein Danke dachte. Fenster auf, schreien, Wut rauslassen. Ja, das war besser, als alles zu schlucken und nur zu nicken. Es hatte sie erleichtert. Sie musste sich gar nicht über Christl aufregen. Na gut, ein bisschen schon. Vielleicht half eine Wiederholung. Sie warf die Socke zurück in den Korb und öffnete das Fenster mit Schwung. »Fickt euch! Alle!«, sie holte tief Luft. Da klingelte es an der Haustür. Sie schloss das Fenster und murmelte leise: »Godverdammi, so ein Sch …«
Susanne spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Wer immer da draußen stehen mochte, er hatte ihren Schrei gehört. Sie sah sich hektisch um. Eilends schaltete sie den Fernseher ein und stellte den Ton auf volle Lautstärke, dann rannte sie zur Haustür und versuchte, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Sie öffnete die Tür und wich überrascht zurück.
»Frau Prinz?«
Hinter der Dame in der neonpinken Daunenjacke stand ein bärtiger Mann im gefütterten Karohemd. In seiner kräftigen Faust hielt er ein Bündel aus fünf Leinen, an deren Enden jeweils ein Mini-Hund hing.
Susanne fasste sich rasch. »Herzlich willkommen, liebe Familie Prinz!«
Sie schüttelte der Dame erfreut die Hand, dann wandte sie sich dem Mann zu. »Sind da zwei dazugekommen? Im Herbst waren es doch erst drei?«
Der Holzfällertyp nickte stolz. Susanne strich einem der Fellwuschel über den Kopf. Sie musste Zeit gewinnen. Und Klarheit. Heute war Freitag. Wollten sie nicht erst samstags anreisen? Hatte sie da etwas verwechselt?
»Liebe Frau Susanne«, sagte Frau Prinz mitten in ihr Gedankenchaos hinein, »es ist ja so wunderbar, dass wir schon einen Tag früher kommen durften. Wir hatten solche Sehnsucht nach dem schönen Appenzeller Land. Und gestern hatten wir mit Pirmin so ein nettes Gespräch. Ich dachte, er wäre heute auf der Piste, aber anscheinend ist bei Ihnen daheim ordentlich was los.« Sie lächelte verständnisvoll. »Uwe und ich sind auch nicht immer einer Meinung. Nur, wenn es um die Wahl des Urlaubszieles geht, da sind wir uns einig, oder, Schatz?«
Susanne schüttelte verdattert den Kopf. Da stritt tatsächlich jemand lautstark. Sie erinnerte sich.
»Das ist nur der Fernseher. Die Katze liegt manchmal versehentlich auf der Fernbedienung, und wenn es ihr dann zu laut wird, stolziert sie beleidigt davon.«
Susannes Kopf rotierte. Die Betten in der Ferienwohnung waren nicht bezogen, die Handtücher lagen auf dem Küchentisch, und der Wasserkocher war mit Essig gefüllt. Irgendwie musste sie das Gespann noch für eine Stunde loswerden. Und Pirmin konnte sich auf was gefasst machen. Wieso hatte er nichts gesagt?
»Hatten Sie denn eine gute Fahrt?«, fragte sie höflich.
Frau Prinz nickte. »Die Benzingebühren in der Schweiz sind ja mittlerweile der Wahnsinn, aber ansonsten – danke, alles gut. Ein wenig erschöpft sind wir, von dem Stress in der Firma, aber hier werden wir uns wunderbar erholen. Ich werde erst mal ein kleines Nickerchen machen, die lange Fahrt hat mich doch ziemlich müde gemacht.«
»Vielleicht wollen Sie zuvor mit den Hunden eine Runde drehen? Im frischen Schnee. Das Licht ist heute besonders bezaubernd.«
»Wir haben erst vor einer Viertelstunde eine Pinkelpause gemacht. Mein Uwe konnte es nicht mehr aushalten.« Frau Prinz lächelte vielsagend. »Die Hunde sind unkompliziert.«
Im Wohnzimmer brüllten die Sirenen von Polizei und Feuerwehr um die Wette. Auch in Susanne gingen immer mehr Lichter an. Sie schaute auf die Uhr. Schon halb zwölf. Sie sollte ein Essen auf den Tisch bringen und die Jungs im Dorf abholen. Was machte sie nur mit diesen beiden? Während Frau Prinz den Kofferraum öffnete, kam Susanne ein Geistesblitz, und sie sagte: »Bevor ich's vergesse: Pirmin freut sich ja so über Ihr Kommen. Er kann es kaum erwarten. Er wollte Sie gleich heute Mittag zum Essen einladen. Er erwartet Sie um halb eins im Panoramarestaurant. Am besten, Sie machen sich gleich auf den Weg.«
»Ehrlich?« Frau Prinz strahlte. »Uwe, Schatz, erinnerst du dich noch an die weltbesten Käsespätzle, die wir letztes Jahr da oben gegessen haben? Oh, das wäre jetzt tatsächlich ein herrlicher Einstieg in unsere Urlaubswoche.«
Herr Prinz nickte und hielt mit den Hunden wieder auf das Auto zu.
»Und grüßt ihn von mir«, brachte Susanne noch an, dann knallten die Autotüren zu, und der tiefergelegte BMW fuhr langsam vom Hof. Sie wischte sich erleichtert ein paar Locken aus der Stirn. Doch als sie sich umdrehte, um ins Haus zu gehen, fuhr quietschend der gelbe Kastenwagen der Postlerin auf den Hof. Sie reichte Susanne die Briefe durch die geöffnete Fensterscheibe.
»Danke«, sagte sie automatisch, obwohl ihr innerlich vor neuen Rechnungen graute.
»Ich wünsche dir ein schönes Wochenende«, sagte die Postlerin und wendete gekonnt.
Wochenende? Es war doch erst Freitagmittag. Susanne schaute die Briefe durch. Einer war handschriftlich und persönlich an sie adressiert. Spannend! Das war fast wie Geburtstag. Sie legte die Post für Pirmin in das Stallbüro und setzte sich mit ihrem Brief in seinen Schreibtischstuhl. So viel Zeit musste sein. Dann gab es eben Klapptoast zu Mittag. Sie öffnete das Kuvert mit einem Geodreieck und entnahm aufgeregt das zusammengefaltete Papier. Eine Einladung. Sie hielt Ausschau nach einer Unterschrift. Ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Franziska. Sie kannte nur eine Franzi. Das war doch nicht möglich? Ihr Herz pochte vor Freude aufgeregt. Was für eine schöne Überraschung! Apropos Überraschung … sie drückte den Brief an ihren Busen und hetzte ins Haus.
Im Wohnzimmer schnappte sie den Stapel Handtücher, und in dem Moment fiel ihr ein, dass sie Pirmin Bescheid geben musste. Da hatte er ihr einen ordentlichen Mist eingebrockt. Aber das würde sie am Abend mit ihm klären. Sie suchte fieberhaft nach dem Handy. Ein Blick auf die Uhr am Herd. Noch sieben Minuten, dann musste sie ins Dorf und die Jungs einsammeln. Hinter einem Kissen auf der Couch fand sie das Handy. 42 neue Nachrichten in der Familiengruppe. Eine Mitteilung von Pirmin. Susanne öffnete sie. »Die Prinzenbande kommt schon morgen. Die Wohnung ist frei, also habe ich zugesagt. Ich wünsch dir gute Nerven.« Dazu ein Smiley mit Kussmund. Angekommen war die Nachricht um 15.10 Uhr. Gestern.
Linda Lenz schaute aus dem Fenster ihrer Wohnung. Der Februar zeigte sich dieses Jahr in eintönigem Grau. Keine einzige Schneeflocke hatte den Weg nach Stuttgart gefunden. Es war trostlos. Die Sonne hielt sich meist versteckt, und der Nieselregen vermieste jeden längeren Spaziergang. Sie wünschte sich einen schützenden Kokon. Das Leben verlangte momentan viel von ihr. Das war umso beunruhigender, da sie es sich in den vergangenen Monaten in ihrer Gute-Welt-Blase richtig gemütlich eingerichtet hatte. Doch wie ein Sturm im April war ihr in den letzten Tagen allerhand dazwischengefegt und hatte die Blase platzen lassen. Ungeschützt und verletzt hockte sie in ihrem Lebenschaos und wusste nicht, wohin. Sie wartete ab. Das Leben würde sie von selbst weiterschubsen.
Mit müden Beinen ging sie in die kleine Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Ihr Kopf fühlte sich leer an, anders als in den täglichen Meditationseinheiten, wenn Gedanken wie lästige Fliegen umherschwirrten. Mechanisch griff sie nach der Teetasse, gab getrockneten Salbei hinein und füllte sie mit Wasser auf, dann steuerte sie zurück an den Tisch. Ganz automatisch schaltete sie ihren Laptop ein. Kurz hielt sie inne. War sie bereit dazu? Sie versuchte, in sich hineinzufühlen. Sie spürte nichts. Alles schien wie betäubt. Alle Lebensenergie aufgebraucht, die Batterien leer. Sie brauchte Aufmunterung, oder zumindest das Gefühl, nicht allein zu sein. Das Alleinsein, das sie in den letzten Jahren so schätzen gelernt hatte, war einer erdrückenden Einsamkeit gewichen.
Routiniert loggte sie sich auf die Coaching-Plattform ein, bei der sie seit Jahren aktives Mitglied war und die sich mittlerweile fast heimatlich anfühlte. Sie hatte niemanden zum Reden vor Ort, also behalf sie sich mit Chats und persönlichen Nachrichten an Gleichgesinnte. Sie klickte auf den öffentlichen Chat und scrollte nach oben. Mal schauen, wer gerade online war. Sie lächelte, als sie den Namen Beate entdeckte. Beate Wiemann war eine jener Frauen, die ihr wirklich ans Herz gewachsen waren.
Linda öffnete das Feld für die persönlichen Nachrichten und schrieb: »Beate, meine Liebe, was gibt es Neues bei Dir?«
Sie wartete nur kurz, dann ploppte die Antwort auf ihrem Bildschirm auf. »Liebe, wie schön, dass Du da bist. Hast Du den heutigen Tagesimpuls schon gelesen?«
»Mir fehlt leider gerade die Muße zum Lesen. Worum geht es denn?«
»Um das Rückwärtssehen.«
»Rückwärts? Ich kapiere heute nichts, mein Kopf ist leer. Sorry.«
»Du kannst lernen, immer dann, wenn Du in einer beschissenen Situation steckst, Dir vorzustellen, wie Du später darauf zurückschaust und erkennst, was sie Dir Gutes gebracht hat. Verstehst Du? Im Nachhinein ergibt alles Sinn. Alles, was Dir passiert, ist Teil Deines großen Lebensplans. Dieser Gedanke tut mir gerade so gut. Jeder Beinbruch ist ein Geschenk. Ich muss ihn nur als solches betrachten.«
»Schön für Dich, wenn du allen Mist als Kompost sehen kannst. Nur geht das leider nicht, wenn man bis zu den Ohren drinsteckt.«
»Ach, Linda. Was ist denn los? Kann ich was für Dich tun?«
»Ich fühle mich in einem ausweglosen Abwärtsstrudel gefangen, mittendrin in der Scheiße. Aber so richtig. Ich komme da allein nicht raus.«
»Probleme mit Deinem Seelengefährten?«
Lindas Tränen kullerten über ihre geröteten Wangen. Der Bildschirm verschwamm vor ihren Augen. Sie stand auf und holte sich ein frisches Papiertaschentuch. Zögerlich tippte sie weiter.
»Er ist ein egoistischer Narzisst. Er denkt immer nur an sich.«
»Oje. Du Arme. Ich drück Dich mal virtuell! Aber Du weißt, jede Krise lässt Dich wachsen. Er wird nicht der Richtige sein, da wartet sicher schon ein Besserer auf Dich. Vertrau dem Leben!«
»Er ist gar nicht das größte Problem. Meine Vermieterin hat mir gekündigt, und ich brauche dringend einen Job, aber bei der Beratung sagen sie, mein Alter sei schwierig.«
Linda schluchzte laut auf. Es tat weh, jemandem von dem Chaos in ihrem Leben zu berichten. Sie fasste sich an die Brust und schloss die Augen. Den Seelenschmerz annehmen und fühlen, so konnte sie ihn transformieren, sagte ihr Verstand, und doch wollte sie nichts lieber, als diesen hässlichen Schmerz aus dem Herzen zerren und darauf herumtrampeln, bis er verreckte.
»Die Wohnung wurde Dir gekündigt? Bis wann?«
»Sofort. Ende Juni setzen sie mich vor die Tür, aber ich will hier nicht weg, ich fühle mich hier so frei und wohl wie nirgendwo sonst.«
»Meine Liebe. Du übertreibst. Denk an Deinen Nachbarn mit der Motorsense. Das ist die Chance, einen besseren Ort zu finden.«
Linda schüttelte den Kopf und tippte hastig: »Ich will nicht weg. Es gibt hier keine Wohnungen, die auch nur annähernd erschwinglich sind.«
»Dann erfüll Dir jetzt Deinen Traum.«
»???«
»Ach, Schätzchen, seit Jahren träumst Du von einer Reise durch Skandinavien, allein mit der Gitarre und einem Camper. Das Leben serviert Dir die Chance dazu auf dem Silbertablett. Greif zu!«
Es war ein Fehler gewesen, Beate zu schreiben. Sie zeigte keinerlei Verständnis für die Situation. Das optimistische Getue ging Linda gehörig auf die Nerven.
»Ich habe kein Geld, Liebe.«
»Sei mutig für Deinen Traum. Wenn es das Richtige ist, wird sich das Geld finden. Sei zuversichtlich, glaube daran, male es auf Dein Visionboard!«
Ha, ha. Jetzt hätte Linda am liebsten laut gelacht. An was sollte sie glauben? An die Behörden, die ihr Geschäft mit Strafzahlungen in den Ruin treiben wollten? An ihren Exmann, der sich von vornherein mit einem schäbigen Vertrag für die damals schon vorauszuahnende Scheidung abgesichert hatte? Vertrauen in Hartz IV, das nicht mal reichte, um im nächsten halben Jahr die Strafe abzuzahlen? Vertrauen in was? Glauben an Gott oder ans Schicksal?
Ihr Herz klopfte immer schneller. Sie steigerte sich da in etwas hinein. Sie musste raus aus der Situation.
»Danke«, schrieb sie an Beate. »Es wird schon werden.« Schnell loggte sie sich aus und trat auf den kleinen Balkon.
Ja, in Momenten, in denen es uns gut geht, ist dieses spirituelle Palaver richtig nett. Aber wenn's einem schlecht geht, sollte man auch mal fluchen und unvernünftig sein dürfen. »Zefix noch mal, verdammter Mist! Was mache ich nur?«
Sie sah das gelbe Elektrofahrzeug in die Auffahrt des Nachbarhauses einbiegen. Die Post! Vielleicht kam endlich der langersehnte Kettenanhänger, den eine Facebook-Freundin ihr als Talisman versprochen hatte? Sie könnte ihn dringend brauchen. Hoffnungsvoll ging sie die Treppe hinunter und zog die Post aus dem Fach. Leider war kein kleines Päckchen dabei. Dafür ein Kuvert mit handgeschriebener Adresse. Vorsichtig tastete sie – nein, es war nur Papier. Enttäuscht und kraftlos ging sie Stufe für Stufe nach oben und legte sich in die Hängematte. Unmotiviert öffnete sie den Umschlag und zog den gefalteten Bogen heraus.
Ein kleines Klassentreffen? Alte Schulfreundinnen? Alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie atmete tief ein. Ich muss da nicht hin. Ich werde niemandem auf die Nase binden, wie beschissen es mir geht. Keine Wohnung, kein Beruf, kein Geld, keine Freundinnen, kein Mann. Das ist allein mein Leben und geht euch gar nix an! Sie pfefferte die Einladung in den Papierkorb und schloss die Augen.