Die Botschaft der Eule - Daniela Alge - E-Book

Die Botschaft der Eule E-Book

Daniela Alge

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Beschreibung

Martha Stillebach ist verzweifelt. Ihr Traum von einem Selbstversorger Leben mit ihrer Familie auf einem alten Hof ist geplatzt. Völlig allein steht sie vor der Herausforderung, sich zumindest ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wagt den Sprung in die Selbständigkeit und bietet in der alten Scheune Kraft-Abende an. Ganz unterschiedliche Frauen treffen dort aufeinander, um gemeinsam zu Schreiben. Nach und nach eröffnen sich allen Teilnehmerinnen neue Perspektiven, nur Martha selbst findet keinen Zugang zu sich selbst. Doch sie schreibt weiter und eines abends kommt es zu einer berührenden Begegnung mit einer Eule. Ist Martha mutig genug, ihrer Botschaft zu vertrauen?

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Ich glaube

an eine Welt voll motivierter Heldinnen

an klare, fokussierte, lebendige Tänzerinnen

an kraftvolle, freudige Freidenkerinnen

an mutige, intuitive, herzliche Weiber.

Ich glaube

an die Schönheit und Kraft der einfachen Worte

an die Lebendigkeit unserer Kreativität

an die ansteckende Energie unserer Begeisterung

an unser Feuer, das fürs Miteinander brennt.

Ich glaube

an die heilsame Wirkung unseres Schreibens

an die Magie von Reflexion und Träumerei

an den Mut und die Freiheit, unser Leben zu leben

an all diese tiefen Geschenke der Wortmalerei.

(Daniela Alge, März 2024)

Inhaltsverzeichnis

Die Botschaft der Eule

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Flora Maischön

Antonia Gruber

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Flora Maischön

Antonia Gruber

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Antonia Gruber

Flora Maischön

Erster Kraftabend

Das Lebensrad

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Flora Maischön

Antonia Gruber

Eule

Zweiter Kraftabend

Thema Klarheit

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Flora Maischön

Antonia Gruber

Eule

Dritter Kraftabend

Unsere Gewohnheiten

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Flora Maischön

Antonia Gruber

Eule

Vierter Kraftabend

Der Sinn meines Lebens

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Flora Maischön

Antonia Gruber

Eule

Fünfter Kraftabend

Unser Engagement

Martha Stillebach

Sabrina Sommerfeld

Antonia Gruber

Eule

Sechster Kraftabend

Meine Sehnsucht

Martha Stillebach

Eule

Martha Stillebach

Nachwort

Die Botschaft der Eule

Liebe Schreibfreundin!

Lass deinen Stift

Spuren ziehen

auf dem unberührten Blatt der Zukunft

und Farbe bringen

in die eigene Vergangenheit.

Schreib den Kopf frei

und das Herz weit.

Hab Freude dabei!

Ein Leben lang.

Weil es gut tut-

und wirkt!

Herzlich, Daniela

Martha Stillebach

Martha Stillebach stellte das Wasserglas mit dem kleinen Strauß Löwenzahn neben das Foto in dem altmodischen Silberrahmen und flüsterte: »Wenn bei diesen Blüten das Gelb verblasst und die Samen fliegen, werde ich meine Entscheidung getroffen haben.«

Sie drehte das Glas, damit die Blüten dem Bild ganz nahe kamen, und ordnete die bemalten Kieselsteine neu an. Als sie zufrieden war, benetzte Martha Daumen und Zeigefinger mit Spucke und löschte mit einer schnellen Handbewegung die brennende Kerze. »Ich komme bald wieder, das weißt du ja.«

Gedankenverloren schlüpfte sie in eine leichte Jacke und in ihre Turnschuhe an, ging nach draußen und zog die windschiefe Haustür mit einem kräftigen Ruck hinter sich ins Schloss. Dann langte sie in die Stofftasche, die an dem Haken hing, der den ehemals grünen Fensterladen offen halten sollte, und zog zwei schrumpelige Karotten heraus. In der Luft tanzten unzählige silbern schimmernde Schirmchen im Licht der warmen Frühlingssonne und von weitem vernahm sie das monotone Tuckern eines Traktors. Dabei überkam sie eine Gänsehaut. Fröstelnd rieb sie sich über die Oberarme. Ob sich das jemals ändern würde? Ob es ihr woanders besser gehen würde, irgendwo, wo keine Traktoren fuhren, keine einfachen Geräusche Ängste heraufbeschworen und wo keine Erinnerungen hinter Baumstämmen und Blumensträußen lauerten? Ob sie woanders schlafen können würde, ohne zu träumen? Sie musste sich endlich entscheiden.

Martha ging um die alte Scheune herum, trat zum Tor am elektrischen Weidezaun und rief: »Egon, Eugen. Kommt! Kommt!« Zwei Esel erhoben sich aus dem Schatten des Walnussbaumes, trabten geruhsam auf sie zu und streckten die Köpfe über die verwitterten Holzlatten, um nach den Karotten zu schnappen.

»Langsam, langsam, meine alten Herren.« Martha lächelte und seufzte dann. »Was mache ich nur mit euch, wenn ich gehen muss?«

Eugen leckte ihre Hand mit seiner rauen Zunge. Sie ließ ihn gewähren. »Vermutlich kann ich euch nicht mitnehmen. Ich werde euch vermissen!« Martha kraulte die beiden zwischen ihren langen Ohren. »Aber vielleicht dürft ihr ja bleiben, ich werde auf jeden Fall Heu für den nächsten Winter für euch einlagern.« Egon und Eugen schmatzten zufrieden und schauten durch ihre langen Wimpern, ob es noch mehr Karotten geben würde. Doch Martha schüttelte den Kopf und rubbelte beiden noch einmal kurz durch das Fell. »Was mache ich nur ohne euch, meine Freunde? Meine Liebsten und Einzigen.«

Sie wendete sich rasch ab und ging zum Brunnen, um sich die Hände zu waschen. Dann öffnete sie mit Kraft das quietschende Scheunentor. Dort hing innen an einem Nagel ein bunt gewebtes Handtuch. Sie trocknete die Hände sorgfältig ab und schob ihr Fahrrad aus dem düsterenInneren nach draußen ins Sonnenlicht. Es war Freitag kurz vor 17.00 Uhr. Zeit, um los zu radeln.

Martha wartete bis die Straße frei war und schob das Fahrrad zügig über die wenig befahrene Bundesstraße nahe ihrer Hofstelle, stieg dann auf und radelte auf dem Rad- und Fußgängerweg Richtung Primisweiler. Unzählige Löwenzahnblüten leuchteten in der schon recht tiefstehenden Sonne, die Grillen zirpten ohne Pause und der Traktorfahrer mähte helle Streifen in die tiefgrünen Wiesen hinein. Es war Anfang Mai und bald würde der Duft nach Heu die gesamte Region erfüllen. Der Sommer nahte. Sie freute sich und summte beim Radeln eine fröhliche Melodie. Doch schon nach wenigen Takten verstummte sie. Ein Mann mit seinem Labrador kam ihr entgegen und schaute sie unfreundlich an. Wie immer. Und sie wusste, sie musste endlich vernünftig sein. Eigentlich war die Entscheidung klar: Sie musste fort. Irgendwo anders würde sie neu beginnen. In einem Land ohne Traktorengeräusche, ohne grimmige, alte Männer und vor allem ohne Erinnerungen an eine Zeit, die nie wiederkehren würde und die alle ihre Träume und Hoffnungen zunichte gemacht hatte. Irgendwo würde es einen Platz geben, an dem sie frei atmen konnte.

Martha fuhr am Mittelsee entlang, wich nun einer älteren Frau mit ihrem Dackel aus, und drosselte das Tempo, um nach dem Biber Ausschau zu halten, der in täglicher Kleinarbeit Baum um Baum am Ufer des Sees zu Fall brachte. Sie war immer wieder beeindruckt von der Tatsache, dass er allein durch Ausdauer und Dranbleiben so viel bewegen konnte, auch wenn sie der Anblick der umgefallenen Bäume schmerzte. Vielleicht sollte sie sich an dem Nager ein Beispiel nehmen. Dranbleiben. Ausdauer zeigen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte kein Biber sein. Was für ein absurder Gedanke! Eher könnte sie sich ein Beispiel an der alten Eule nehmen, die sie oft vom Schlafzimmer Fenster aus beobachten konnte. Eulen waren weise. Sie wussten immer, was das Richtige war. Vermutlich kannten sie keine Zweifel.

Hinter der Dorfkirche kettete Martha ihr Rad am rostigen Fahrradständer fest. Vom Kirchturm schlug die Glocke zur vollen Stunde und verschluckte mit ihrem lauten Klang das Geräusch der automatischen Türklingel, die ertönte, als sie den kleinen Friseurladen betrat.

»Grüß Gott, Martha.« Joschi eilte strahlend auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Schön, dass Sie da sind.«

Martha nahm lächelnd auf dem Sessel vor dem einzigen Spiegel Platz.

»Wie immer?«, fragte der alte Herr und legte ihr ein wiesengrünes Handtuch über die Schultern.

Sie nickte und schluckte. »Ich werde diese Viertelstunde freitags bei Ihnen vermissen.«

»Kommen Sie nicht wieder?«, fragte Joschi und griff nach dem scharfen Messer, um das Haar Tattoo über Marthas linkem Ohr nachzuschaffen.

»Ich kann den Hof alleine nicht halten. Endlich habe ich es eingesehen. Es übersteigt meine Kraft und meine Energie.« Martha verkniff sich ein Schulterzucken und blieb ruhig sitzen. »Es war ein gemeinsamer Traum. Er ist ausgeträumt.«

Der Friseurmeister schaffte konzentriert weiter. Als er die liegende Acht perfekt nachgearbeitet hatte, schaute er in den Spiegel und musterte Martha. »Ich lebe auch einen gemeinsamen Traum - allein. Seit fast vierzig Jahren. Er schenkt mir eine große Zufriedenheit.«

Martha betastete mit dem Zeigefinger nachdenklich das ausrasierte Symbol. »Wir wollten auf dem Hof als Familie leben und arbeiten. Alleine fehlen mir Geld und Arbeitskraft. Wovon soll ich hier meinen Lebensunterhalt bestreiten?« Sie zeigte mit der Hand zum Fenster hinaus. Eine Kirche, ein Friedhof, ein paar verputzte Einfamilienhäuser mit aufgeschichtetem Brennholz davor, verzweigte Apfelbäume, Vergissmeinnicht und Maiglöckchen in Vorgärten und ein Spaziergänger mit seinem Schäferhund.

»Was haben Sie denn gelernt?«, fragte Joschi, während er mit einem weichen Pinsel alle losen Härchen beseitigte.

»Ich bin … Ich war Hebamme«, sagte Martha zögernd. »Aber das ist lange her.«

Er lachte freundlich: »Sie sind doch keine vierzig. So lange kann das nicht her sein.«

»Ich bin vierzig, und ich kann das nicht mehr tun. Ich bin keine Hebamme mehr.«

Er legte den Pinsel zur Seite. »Ich durfte Sie als eine tatkräftige, bodenständige Frau kennenlernen. Hier würde Sie jeder einstellen. Vielleicht möchten Sie das Friseurhandwerk lernen?« Er schmunzelte. »Ich könnte mir das gut vorstellen.«

Martha ging nicht darauf ein. »Ich muss fort. Weit weg. Am besten so schnell wie möglich. Doch auch eine Hofauflösung braucht Zeit.« Sie seufzte tief. »Ich kann nicht einfach in einen Zug steigen und fortgehen. Leider.«

Joschi hielt einen Handspiegel in die Höhe, damit Martha die Frisur besser sehen konnte. »Die Zeit ist unendlich. Oder wofür steht Ihr Tattoo, falls ich mir diese Frage nach all der gemeinsamen Zeit erlauben darf?«

Martha räusperte sich kurz und griff dann an den hölzernen Herzanhänger, der an einem Lederband über ihrer Brust hing. »Es ist einfach ein Symbol, das ich mag.«

Joschi nickte. »Unendlich. Ewig. Endlos. Wie die Liebe.«

Sie wiegte sacht den Kopf hin und her und begutachtete ihre Haare im Spiegel. Die Frisur gefiel ihr. Doch ihre dunklen Augen waren von noch dunkleren Schatten umgeben und ihre Haut war ungewöhnlich blass. Sie sah alt und unglücklich aus, registrierte sie.

»Ich werde Sie ebenfalls vermissen«, sagte er. »Ich habe mich immer darauf gefreut, die Arbeitswoche mit Ihnen abzuschließen.«

Sie drehte sich auf dem Stuhl um und schaute ihn direkt an. »Wieso haben Sie ihren gemeinsamen Traum alleine gelebt?«

»Meine einzige Liebe wurde nur siebzehn Jahre alt. Wir feierten ein großes Musikfest. Ich spielte in der Tanzkapelle und sie hatte versprechen müssen, um elf zuhause zu sein. Ich konnte sie nicht begleiten. Sie fuhr mit dem Fahrrad auf der unbeleuchteten Landstraße. Ich stelle mir vor, wie sie gesungen hat, um sich die Nacht zu erhellen. Ihre Stimme war so besonders gewesen. Und sie hatte eine Gabe für zauberhafte Flechtfrisuren. Ein Autofahrer hatte sie zu spät gesehen. Sie starb am nächsten Tag im Krankenhaus.«

»Das tut mir leid.« Martha fasste ihren Anhänger fester.

»Ich habe ihr versprochen, den Traum von einem kleinen Friseurladen wahr zu machen. Dieser Traum verbindet uns bis heute.«

Er nahm Martha behutsam das Handtuch ab. »Liebe ist unendlich.«

Auf dem Nachhauseweg verschob Martha ihren Helm, um mit einer Hand nach der Acht tasten zu können. Auf dem Hinweg war sie sich sicher gewesen, dass sie die Entscheidung getroffen hatte. Jetzt hatten ein paar Worte eines alten Mannes alles ins Wanken gebracht. Konnte sie den Traum allein verwirklichen?

Sie würde von etwas leben müssen, sie bräuchte ein regelmäßiges Einkommen und ein Netz aus Menschen, damit sie keine Eigenbrötlerin wurde. Es reichte auf Dauer nicht, mit den Eseln und den Laufenten zu reden. Sie kannte hier niemanden, vom Friseurmeister abgesehen. Trotzdem hatte sie das Gefühl: ihr Herz wollte bleiben. Es passte zwar nichts zusammen und doch fühlte es sich falsch an, den Traum endgültig zu begraben. Ob sie noch einen Versuch wagen sollte? Nach einer Lösung suchen, bis die Walnüsse reiften? Einen Weg finden, den Traum trotz allem zu leben?

»Warum?«, fragte eine leise Stimme.

Martha blieb stehen und flüsterte: »Weil Liebe immer unendlich ist.«

Sabrina Sommerfeld

Sabrina Sommerfeld hasste den Muttertag mit seinen roten Rosen, teuren Pralinen, gebügelten Blusen und dem aufgesetzten Lächeln der glücklichen Familien in überfüllten Gasthäusern vor teuren Riesenschnitzeln. All der Kommerz, die Geschäftemacherei und die falsche Glückseligkeit konnten ihr gestohlen bleiben. Dummerweise fiel aber dieses Jahr der Geburtstag ihrer Mutter auf den zweiten Sonntag im Mai und damit auf den Muttertag. Und so weit konnte sie ihre konservative Erziehung dann doch nicht verleugnen, als dass sie an diesem Tag nicht an der Tür zu ihrem Elternhaus geklingelt hätte. Sie trug einen selbstgepflückten Blumenstrauß mit Maiglöckchen, Vergissmeinnicht und Frauenmantel in der einen Hand, fasste ihren Sohn Pedro an der anderen und gleichzeitig den Vorsatz, den angesagten Brunch mit der Familie möglichst konfliktfrei über die Bühne zu bringen. Das, was sie ihnen allen sagen musste, würde sie erst kurz vor dem Aufbrechen ansprechen.

Ihre Mutter öffnete nach dem Klingeln schwungvoll die Tür des gepflegten Einfamilienhauses. »Sabrina, du musst doch nicht läuten, kommt rein! Peterle, mein Süßer, du warst viel zu lange nicht mehr bei uns. Du wirst ja jeden Tag größer. Zieh deine Gummistiefel aus und dann lass dich drücken.«

Aus dem Hintergrund kam Sabrinas Vater zur Tür. Er hatte eine schwarze Schürze umgebunden und einen hölzernen Kochlöffel in der Hand. »Habt ihr euch verlaufen, weil ihr so lange nicht mehr hier gewesen seid?«, lachte er freundlich. »Die Rühreier sind schon fertig, der Speck ist kross, wir können gleich anfangen. Susanne, Simon und Sarah sitzen schon am Tisch. Kommt herein in die gute Stube!«

Sabrina versuchte ein Lächeln, drückte ihrer Mutter die Blumen in die Hand und half Pedro dabei, die Stiefel ordentlich neben der Haustür abzustellen. Dann zogen sie ihre Jacken im Flur aus und Sabrina hörte eine vorwurfsvolle Stimme: »Nein, wie kannst du ihm nur ein rosa T-Shirt anziehen? Er ist doch ein Junge!«

»Ich habe die Sachen von einer Freundin geschenkt bekommen. Ich bin froh um alles, das mich nichts kostet. Komm, Pedro, schauen wir mal, wo deine Tanten und Onkel Simon sind.«

Es gab ein freundliches Hallo am vollgedeckten Tisch. Mutter stellte die Blumen in ein Wasserglas in der Küche. Pedro wurde rundherum gehätschelt und Sabrina setzte sich an ihren alten, angestammten Platz mit Blick Richtung Garten. Auf der weißen Tischdecke stand die obligatorische Kristallvase mit 20 roten Rosen. Drum herum standen hübsch drapiert Schüsseln mit Birchermüsli, Obstsalat und Erdbeerjoghurt, ein Brotkorb mit Croissants, Semmeln und Hörnchen, ein überdimensionierter Mandelzopf, Gläschen mit Honig und allerlei süßen und pikanten Aufstrichen. Das Holzbrett mit Schinken, Wurstaufschnitt, Kaminwurzen und vier verschiedenen Käsesorten samt Weintrauben wirkte völlig überladen. Sabrina seufzte innerlich. Die Menge an Lebensmitteln würde ausreichen, um fünf Familien satt zu bekommen.

Mutter schenkte ihr Kaffee aus der Goldrandkanne ein und schob ihr Sahne und Zucker zu. Da brachte der Vater frisches Rührei und heißen Speck an den Tisch und begann, allen die Teller zu füllen. Sabrina hielt abwehrend die Hand über ihren Teller. »Du weißt, dass ich mich vegan ernähre.«

»Ab und zu kann man sich ja eine Ausnahme gönnen. Die Eier sind vom Biohof in Primisweiler und der Speck ist vom Baumann.«

»Nein, danke. Und Pedro mag am liebsten ein leeres Hörnle.«

»Mit ein wenig Butter oder Salami würde es sicher besser rutschen. Ich habe auch extra Saitenwürstle besorgt, oder soll ich ihm einen Kaba dazu machen?«

»Wir trinken Wasser. Ihr müsstet auch mal eine Zeitlang woanders leben, dann würdet ihr verstehen, dass uns das Allgäuer Leitungswasser tatsächlich besser schmeckt als jedes andere Getränk. So frisch. Einfach nur genial.«

»Aber du wirst mit uns anstoßen, oder? Ich werde ja nur einmal achtundvierzig!« Ihre Mutter lächelte und öffnete eine Flasche Prosecco. Vorsichtig nahm sie ein Glas nach dem anderen zur Hand, hielt es leicht schräg und füllte die prickelnde Flüssigkeit ein. Sabrina nahm ihr das angebotene Glas ab, stieß mit allen an und stellte es ab, ohne daran zu nippen. Pedro genoss die Aufmerksamkeit der großen Familie und setzte sich dann seiner Oma auf den Schoß, um gemeinsam mit ihr die Kerzen auf der Geburtstagstorte auszublasen, die Vater strahlend vom Balkon hereingeholt hatte. Alle klatschten, fotografierten und sangen: »Happy birthday!«

Dann zogen die Geschwister nacheinander ihre Geschenke hervor und Sabrina sagte: »Du weißt, dass ich diese Schenkerei nicht mag. Wir wünschen dir aber von Herzen das Allerbeste zu deinem Geburtstag. Möge das neue Jahr ein Glückliches werden!«

»Danke. Es fängt ja schon glücklich an. Ich freu mich, dass ihr heute alle gekommen seid.« Ihre Mutter hob das Glas und Sabrina fügte an: »Pedro wird bald drei. Bitte verzichtet bei ihm auch auf Geschenke. Kommt einfach vorbei und feiert mit uns. Er soll die Feste im Jahreskreis nicht nur mit Geschenken in Verbindung bringen, okay?«

»Du machst es uns nicht leicht, Sabrina«, sagte ihr Vater. »Wieso findest du alles, was wir tun, so schlecht?«

»Ich mach mir einfach viele Gedanken über eine lebenswerte Zukunft für Pedro. Was ist daran verkehrt? Wir müssen das Leben neu denken lernen, sonst wird unsere Erde zugrunde gehen. Wir brauchen andere Kinder, die anders denken. Insgesamt muss ein großes Umdenken stattfinden. Die Menschheit ist an einem Punkt angelangt, da gibt es kein Höher, Besser und Schneller mehr. Wir müssen lernen, auf unnützen Kram zu verzichten. Die Müllberge bei uns wären unendlich, würden wir das Zeug nicht nach China verschiffen. Wir müssen zurück zur Langsamkeit, zur Einfachheit, Wege aus dem unnötigen Luxus finden, um unseren Planeten zu erhalten. Das wünsche ich mir für Pedro, dass wir die Erde vor dem Klimakollaps bewahren können. Das ist doch das schönste Geschenk und absolut nicht selbstverständlich.«

»Du klingst wie mein Biolehrer«, lachte Simon. »Wenn du ein Mann wärst, würdest du einen Bart tragen.«

Sabrina fasste in ihre Rastas und band sie mit einem ausgeleierten Haargummi lose zusammen. »Dann pass gut auf in Bio, von deinem Lehrer kannst du anscheinend wirklich was lernen.«

»Ich dachte, du findest das deutsche Schulsystem scheiße.«

»Das ist es, aber es gibt eben doch überall Lichtblicke. Es gibt immer wieder Menschen, die aus dem System ausbrechen und mit klarem Menschenverstand unterrichten. Ich hoffe so sehr, dass sich in den Schulen in nächster Zeit ganz viel wandelt. Den Kindern zuliebe.«

»Pedro wird drei«, sagte ihre Schwester Susanne. »Hast du ihn schon in einem Kindergarten angemeldet? Dann kannst du dir eine Arbeit suchen, oder wie lange zahlt das Amt deine Wohnung noch?«

»Wir haben uns ein paar Kindergärten angeschaut, aber ich habe leider noch nichts gefunden, wo wir uns wohlfühlen könnten.«

»Wieso wir?«, fragte Simon sofort.

»Du bist vielleicht oft so kindisch wie eine Vierjährige, aber doch zwanzig Jahre zu alt.«

»Es soll einfach passen. Ich halt die Augen offen, es wird sich was ergeben.«

»Dann hast du dich noch nirgends beworben?«, fragte ihr Vater nach. »Was würdest du denn arbeitstechnisch gerne machen? Du kannst Pedro auch zu uns bringen, wenn du als Bedienung was findest. Abends und am Wochenende sind wir eh immer zuhause. Oder was meinst du, Gerda?«

Ihre Mutter nickte, doch Sabrina sagte: »Wir kommen schon klar. Esst jetzt doch, bevor alles kalt wird.« Sie griff nach dem Brotkorb und ließ Pedro ein Brötchen aussuchen. »Wie gefällt es dir in deinem Job, Susanne?«

»Ich verdiene endlich eigenes Geld, ich zahle zwar Miete, aber ich kann jeden Monat etwas zur Seite legen. Das ist ein unglaublich gutes Gefühl. Du brauchst gar nicht das Gesicht zu verziehen, Schwesterherz, es ist nicht verpönt, Geld zu verdienen. Es macht mich unabhängig und das liebe ich!«

»Aber macht dir der Job auch Freude?«

»Das ist doch zweitrangig. Er verhilft mir zur Selbständigkeit und ich muss weder den Eltern noch dem Staat auf der Tasche liegen. Du wirst das anders sehen, aber ich find’s geil.«

»Schmeckt euch das Rührei?«, fragte der Vater.

Simon nickte kauend. Sabrina trank einen Schluck Wasser. Sie musste die Nachricht endlich loswerden. Sie lag ihr im Magen und nahm ihr den Appetit. Sie schluckte und sagte dann in die Stille hinein: »Meine Vermieterin hat mir wegen Eigenbedarf gekündigt.«

Alle schauten sie erschrocken an. »So ein Mist, in Wangen findet man grad echt keine bezahlbaren Wohnungen. Kann sie das einfach so? Wann musst du raus? Das ist eine Frechheit! Wieso Eigenbedarf? Wo wollt ihr hin?« Alle redeten durcheinander.

»Ich wollte fragen, ob ihr mir das große Familienzelt leihen könntet.«

Ihre Mutter stand auf. »Niemals! Meine Kinder und meine Enkelkinder werden in diesem Haus immer ein Zuhause haben. Merkt euch das alle. Es ist groß und steht euch immer offen. Ein Leben lang!«

»Ich möchte…«, begann Sabrina.

»Dein Zimmer ist immer noch dein Zimmer«, sagte der Vater. »Da habt ihr auch zu zweit Platz, solange Pedro noch klein ist. Wir werden nicht zulassen, dass du wie eine Obdachlose in fremden Gärten oder öffentlichen Anlagen rumlungerst und noch nicht mal ein eigenes WC hast. Sabrina, das hat Pedro nicht verdient. Deshalb bist du doch mit ihm zurück nach Deutschland gekommen. Du wolltest ihn in einem sicheren Umfeld großziehen. Ihr könnt heute noch einziehen.«

»Danke, aber ich möchte …«

»Niemals, Sabrina. Ich habe dir immer viel durchgehen lassen, aber jetzt gehst du zu weit.« Ihre Mutter trank das Glas Prosecco in einem Zug leer. »Sei so gut und komm zur Vernunft. Schlag dir die Idee gleich aus dem Kopf. Du kannst nicht in einem Zelt hausen. Schon gar nicht mit einem kleinen Kind. Das Jugendamt würde einschreiten, wir wären Stadtgespräch! Sabrina, ich bitte dich!«

Ihr Bruder meinte: »Ich glaub, Kinder finden zelten cool. Zumindest im Sommer. Also ich hätte da nichts dagegen, solange das W-Lan funktioniert.«

Ihr Vater war ganz blass geworden. »Lasst uns nicht streiten. Jetzt bist du doch noch drin in der Wohnung. Wir haben Zeit, eine Lösung zu finden. Das muss nicht heute sein.«

Sabrina verzog keine Miene, rückte den Stuhl nach hinten, stand auf, nahm Pedro auf den Arm, winkte wortlos in die Runde und ging in den Flur hinaus. Leise zog sie die Tür der Wohnküche hinter sich ins Schloss. Sie wollte nicht streiten. Sie hatte gewusst, wie die Eltern reagieren würden. Jetzt musste sie raus, sonst würden Worte fallen, die wehtun würden.

Flora Maischön

»Herzlich willkommen! Was kann ich für Sie tun?« Flora Maischön legte den halbfertig gebundenen Kranz aus Schleierkraut und hellrosa Rosenblüten vorsichtig auf die Werkbank und ging der Kundin entgegen, die sich neugierig im Blumengeschäft umschaute.

»Wie es hier duftet. Und wie hübsch es hier ist! Ich hatte schon Angst, ich muss einen Strauß am Automaten ziehen.«

Flora musterte die zierliche Dame und sagte mit Überzeugung: »Solange ich hier bin, werden Sie immer einen Strauß bekommen, den ich ganz nach Ihren Wünschen binde.«

»Das ist schön. Wirklich. Was würden Sie mir denn empfehlen? Die Beschenkte wird dreißig und legt großen Wert auf Nachhaltigkeit, Regionalität und Saison. Sie wissen schon, die jungen Leute heutzutage möchten keine Tulpen aus Holland, alles soll hier gewachsen sein, umso mehr Unkräuter drin stecken, umso besser.« Sie lachte und zwinkerte Flora zu. »Ich bin damit völlig überfordert. Oder haben Sie sonst eine Idee, was man einer zukünftigen Schwiegertochter schenken könnte?«

Flora lachte mit. »Sie haben bereits eine gute Idee. Ich zaubere ihnen einen Strauß, bei dem niemand etwas daran beanstanden kann, ohne Draht und ohne Tüll, ohne Schleifen, Folien und Papier, ohne Exoten und Importware und trotzdem wunderhübsch. Ich mag solche Herausforderungen.«

»Sie sind ein Engel, im Automat habe ich nichts Entsprechendes gefunden.«

Flora trat näher und sagte verschwörerisch: »Eine Idee meiner Schwiegertochter. Blumen to go, und das rund um die Uhr. Wenn Sie wieder was Spezielles brauchen, kommen Sie einfach montags, mittwochs oder freitags, dann bin ich jeweils den ganzen Tag im Geschäft.«

»Gut zu wissen, danke. Wann kann ich den Strauß denn abholen?«

»Haben Sie noch was in der Stadt zu tun? Ansonsten biete ich Ihnen gerne eine Zeitschrift und eine Sitzgelegenheit an. Eine Viertelstunde werde ich etwa brauchen.«

Die Dame setzte sich mit einem aktuellen Interieur Magazin in den goldgelben Polstersessel, der hinter ein paar großen Farnwedeln versteckt stand und machte es sich gemütlich. Flora schaute sich kurz im Geschäft um, nahm dann eine Blumenschere zur Hand und ging hinter den Geräteschuppen, um zu schauen, was dort draußen wild und ungesehen wucherte. Sie fand helllila Storchschnabel und cremeweiße Scharfgarbe, eine Handvoll feinster Vergissmeinnicht und frischen Frauenmantel in hellem Grün. Beschwingt griff Flora zu und zauberte einen Strauß, der so stimmig und wunderhübsch wurde, dass sie ihn gerne behalten hätte. Glücklich ging sie zurück an die Werkbank, band die Blumen und Kräuter mit einer Juteschnur zusammen und brachte das dezente Etikett mit dem Logo von »Maischön« an. Die Dame kam hinter den Farnwedeln hervor und sagte begeistert: »Sie sind eine Künstlerin. Der Blumengruß wird bestimmt gut ankommen.«

Flora schmunzelte: »Das muss eine sympathische Frau sein, die auf Wildblumen steht. Ich danke Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind. Es hat mir richtig Freude bereitet, mal etwas ganz anderes zusammenzustellen. Ich finde die Kombination selbst wunderschön, ich glaube, ich mache mir gleich noch ein Sträußchen für meine eigene Wohnung.«

»Was kostet das Kunstwerk denn?« Die Kundin suchte in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel.

»Möchten sie ein paar Münzen in unsere Kaffeekasse werfen? Ich habe keinen Materialaufwand zu verbuchen.« Flora zuckte mit den Schultern.

Die Dame starrte sie an. »Dass es sowas heutzutage noch gibt! Und das mitten in München! Ich bin fassungslos.« Sie kramte in der Geldbörse und drückte Flora zehn Euro in die Hand.

»Vielen lieben Dank, ich werde sie in meinem Bekanntenkreis weiterempfehlen und ganz bestimmt wiederkommen.«

Den restlichen Nachmittag verbrachte Flora mit einem Lächeln auf den Lippen. Es bereitete ihr immer wieder Freude, andere Menschen mit einem passenden Strauß glücklich zu machen. Und auch sich selbst, wie sie sich eingestehen musste, als sie nochmals kurz den Laden verließ, um ein paar Wildblumen zu pflücken.

Dann band sie in Ruhe den angefangenen Kranz fertig, legte ihn in den Automat und war insgeheim enttäuscht, dass tatsächlich viele Kunden sich schnell dort bedienten, statt mit weiteren Wünschen zu ihr in den Laden zu kommen. Irgendwann würde der Automat sie ersetzen, zumindest im Umgang mit den Kunden. Kränze und Sträuße würde er nicht binden können, aber heutzutage gab es alles fix und fertig beim Großhändler. Sie seufzte kurz. Noch war es nicht soweit. Sie würde die letzten paar Jahre im Laden genießen. Zufrieden griff sie nach einem Kranzrohling aus Stroh. Sie würde noch viele Kränze binden, und das war auch gut so!

Als sie gerade die Tür des Ladenlokals abschließen wollte, fuhr ihr Sohn in seinem neuen Cabrio vor. Sie hielt inne und blieb in der offenen Tür stehen. Nachdem er den Motor ausgemacht hatte, ging sie gut gelaunt auf ihn zu. »Lenz, was gibt’s, wie geht’s? Schön, dich zu sehen.«

»Bist du wahnsinnig geworden?«

Überrascht hob Flora beide Augenbrauen und ließ in Gedanken den Tag Revue passieren. Da war nichts. »Ich und wahnsinnig? Nicht mehr als üblich,« scherzte sie.

»Kannst du mir sagen, was du dir dabei gedacht hast? Das ist eine Blamage für unser Geschäft. Es ist einfach nur megapeinlich und ich dachte erst, das muss ein Scherz sein!«

»Lenz. Um was geht’s?«

»Vera hat mir gerade eine WhatsApp mit Fotos geschickt. Sie ist auf dem runden Geburtstag einer Freundin. Auf dem Tisch steht eine Vase mit Unkraut. Da hängt unser Logo dran. Kannst du mir das erklären?«

»Es war ein Sonderwunsch.«

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass wir keine Sonderwünsche mehr machen? Du holst Unkräuter vom Wegrand und die teuren Züchtungen verwelken im Automaten. Hör doch endlich auf, dich überall einzumischen. Es ist jetzt mein Geschäft, kapier das endlich. Vera schämt sich in Grund und Boden. Du bist einfach nur noch peinlich, Mutter, es ist Zeit, dass du in Rente gehst. Mach dir mit Vater noch ein paar schöne Jahre, aber verderbe uns bitte nicht weiter das Geschäft. Okay?«

Flora fand keine Worte. Sie wollte sich nicht entschuldigen, denn sie hatte nicht das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Sie würde sich auch nicht rechtfertigen. Es nützte sowieso nichts. Aber auf keinen Fall wollte sie mit ihrem Sohn streiten.

»Lenz. Der Automat läuft doch gut. Viel besser, als ich je gedacht hätte. Da könnt ihr stolz darauf sein. Ihr habt Ideen, die in die Zeit passen. Doch die alte Dame hätte sich dort nichts gekauft. Sie wäre mit leeren Händen wieder gegangen.«

»Wir haben uns unsere Geschäftsausrichtung hart erarbeitet, haben uns viele Gedanken um unsere Zielgruppe gemacht. Die alte Dame ist darin nicht vorgesehen. Wir spezialisieren uns auf die Kunden von morgen. Ein Geschäft geht heutzutage unter, wenn man es einzelnen alten Omas recht machen will. Das hat keine Zukunft.«

»Ich wollte nur eine Kundin zufrieden machen.«

»Du willst den Laden nicht loslassen. Das ist das Problem. Du bist weitaus schlimmer, als Oma jemals gewesen ist. Und über die hast du täglich geschimpft.«

Das saß. Flora verstummte. Sie drehte sich um und schloss die Eingangstür hinter sich ab. Drinnen löschte sie alle Lichter, kontrollierte noch einmal, ob die Kasse geleert war, nahm dann den kleinen Wildblumenstrauß und ging durch die Hintertür aus dem Laden hinaus. Sie sperrte auch diese Tür zu und ging nachdenklich zum Wohnhaus hinüber. Ihr Mann war nicht zuhause. Die Aufenthalte auf den Blumenmessen verlängerten sich von Jahr zu Jahr. In Zukunft hätte sie also Zeit, ihn zu begleiten. Vielleicht konnte sie so zumindest ihre Ehe retten.

Flora ging einfach an der eigenen Haustür vorbei und lief den Spazierweg an der Isar entlang. Sie schritt zügig dahin, wich anderen Spaziergängern aus, überquerte den Fluss über eine Brücke und wendete sich dann in Richtung der großen Discounter. Während sie einen riesigen Parkplatz querte, überprüfte sie, ob sie überhaupt ein wenig Kleingeld in ihrer Jackentasche hatte, trat durch die automatische Tür und ging aufmerksam durch die langen Reihen. Sie fand, was sie suchte, nahm eine große Packung mit und stellte sich an eine der Schlangen vor einer Kasse. Die anderen Kunden schoben prall gefüllte Einkaufswagen vor sich her. Sie kam sich reichlich deplatziert vor, legte beinahe verlegen ihren Einkauf aufs Band und drückte der verblüfften Kassiererin den Blumenstrauß in die Hand. »Danke für Ihren unermüdlichen Einsatz. Nehmen sie den Strauß mit nach Hause. Ich hoffe, er gefällt ihnen.«

»Danke«, sagte die Kassiererin müde, legte die Blumen hinter sich auf einen leeren Karton und nahm Floras Münzen entgegen. »Ich finde ihn wunderschön.«

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend«, sagte Flora.

»Gleichfalls«, hörte sie die Stimme der Frau noch, als sie den Discounter verließ.

Sie ging über den Parkplatz zurück zum Spazierweg und setzte sich auf eine Bank. Ihr Blick verlor sich in dem langsam dahinfließenden Wasser. Flora öffnete die Packung mit den Obstbrandpralinen und ließ die Erste auf ihrer Zunge schmelzen. Der Alkohol hinterließ ein warmes Gefühl im Hals. Sie griff zur nächsten Praline. Sie würde noch einiges an Schokolade und Alkohol brauchen, bis die Wärme auch ihr Herz erfassen würde. Hoffentlich war die Packung groß genug.

Antonia Gruber

Antonia Gruber drückte auf den »Senden«-Button und schaute erleichtert auf die tickende Uhr über ihrem Schreibtisch. Der Newsletter mit dem Wochenrückblick der Allgäuer Zeitung war pünktlich rausgegangen. So wie jede Woche, seit sie vor wenigen Monaten diesen neuen Service für alle Abonnenten eingerichtet hatte. Sie hatte den Zeitaufwand unterschätzt. Es reichte nicht, die wichtigsten Schlagzeilen und Artikel hineinzukopieren, schließlich sollte er auch für jene lesenswert sein, die jeden Tag ausführlich Zeitung lasen. E-Mail-Adressen waren die Währung der heutigen Zeit. Sie seufzte kurz. Geschafft. Haken dran. Drei Mails ploppten gleichzeitig mit einem leisen »pling« auf ihrem PC auf, während das Smartphone neben der Tastatur zu klingeln begann. Antonia fuhr den PC herunter und nahm das Smartphone in die Hand, da klopfte es hinter ihrem Rücken an die Glastür. Einer der Fotografen streckte seinen grauen Lockenkopf in ihr Büro. »Frau Gruber, es gibt ein Problem mit den Bildern der Konzertpremiere.«

Sie stand auf und deutete auf die Uhr. »Sorry, ich hab um zwölf einen dringenden Termin. Klären Sie das mit Frau Wagner.«

»Das geht nicht.«

»Ich kann jetzt nicht, auch nicht eine Minute. Frau Wagner oder in drei Stunden.«

Er hielt ihr die Tür auf und Antonia lief auf ihren hohen Schuhen im Laufschritt durch das Großraumbüro. Das Handy war verstummt, nur, um sofort wieder loszulegen. Einer der Redakteure trat ihr in den Weg. »Der Aufmacher für …«

»Sorry, bin schon zu spät, melden Sie sich bei Frau Wagner, sie soll mir die Info weiterleiten.« Antonia eilte weiter, ihre Schritte hallten durch den kühlen Flur. Sie drückte den Knopf am modernen Aufzug und trommelte mit den Fingern gegen die Glaswand. Das Smartphone nahm einen neuen Anlauf. Sie riss es aus der Tasche und nahm das Gespräch an. »Norbert, ich steh unter Druck. Wir sehen uns am Abend, es wird spät.« Die Lift Tür öffnete sich sanft. Antonia trat ein und drückte hart auf den Knopf der Tiefgarage. Da ging das Klingeln des Smartphones erneut los. Sie ignorierte es, suchte in der Handtasche nach dem Autoschlüssel und stürzte, noch bevor die Tür des Aufzugs ganz offen war, zwischen anderen geparkten Autos hindurch zu ihrem BMW. Wie gewohnt, parkte sie zügig aus und trat aufs Gas. Während sie aus der Ausfahrt des Parkhauses in die vielbefahrene Kemptner Stadtstraße einbog, baute ihr Smartphone über Bluetooth eine Verbindung zum Autoradio auf. Endlich ein paar Minuten für die dringendsten Telefonate. Antonia tippte auf den grünen Hörer und lauschte.

»Spreche ich mit Frau Gruber?«

»Ja, wer da?« Ungeduldig rollte Antonia mit den Augen.

»Hier ist Frau Rosenkranz von ›Essen auf Rädern‹. Ich bin gerade bei Herrn Gruber, er scheint gestürzt zu sein. Ich habe bereits die Rettung benachrichtigt. Ich wollte Ihnen nur kurz Bescheid geben.«

»Was ist mit ihm?«, Antonias Stimme klang heiser.

»Er ist nicht ansprechbar. Es tut mir leid, ich weiß es nicht.«

»Ist er verletzt?«

»Auf den ersten Blick nicht, aber vermutlich hat er sich den Kopf stark angeschlagen, sonst wäre er wohl bei Bewusstsein. Er reagiert nicht.«

Antonias Körper fing unkontrolliert an zu zittern. Sie lenkte den Wagen in eine Bus Bucht am Straßenrand.

»Frau Gruber, hören Sie mich noch? Ich muss auflegen, ich kann den Rettungswagen hören. Der wird gleich da sein. Gott sei es gedankt. Ich melde mich nachher nochmal, Sie sind erreichbar, ja?«

Antonia nickte kraftlos, stellte den Motor ab, legte beide Arme aufs Lenkrad und den Kopf darauf. Ihre Beine zitterten, sie hielt sich krampfhaft am Lenkrad fest. Als das Smartphone erneut klingelte, öffnete sie die Tür des Wagens und stieg aus. Sie konnte das Klingeln nicht mehr ertragen. Planlos lief sie über den Gehweg, bemerkte weder die Blicke der anderen Fußgänger, noch spürte sie die Tränen auf ihren Wangen. Ihre Beine schienen von alleine vorwärts zu hasten, sie atmete schnell und flach, ihr fehlte jegliche Orientierung. Nach wenigen Minuten ging ihr die Kraft aus. Sie lehnte sich an die Hausfassade eines Bürogebäudes in der Kemptener Innenstadt und glitt mit dem Rücken an der Hauswand zu Boden. In ihrem Kopf war ein Tosen wie von einem aufgewühlten Wildbach. Das Geräusch füllte sie völlig aus. Nichts anderes konnte sie wahrnehmen, nichts sehen, nichts denken. Sie hörte nur das Tosen, das immer lauter und bedrohlicher wurde.

Plötzlich spürte sie, wie jemand sie hart an der rechten Schulter rüttelte. Sie wollte die Hand abstreifen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie suchte nach Worten, doch die Zunge klebte am Gaumen fest. Immer mehr Beinpaare gerieten in ihr Blickfeld, laute Stimmen versuchten, zu ihr durchzudringen. Sie nahm alles wahr und erkannte nicht, was es mit ihr zu tun hatte. Es war nur ein Film, ein Traum. Bald würde es vorbei sein. Der dringende Termin um zwölf. Sie würde ihn schaffen, würde pünktlich sein, wie immer. Dazu musste sie jetzt los, sollte sich wer anders um diese Person auf dem Boden kümmern. Sie konnte nicht länger warten, war in Eile. Warum ließ sie sich aufhalten?

Irgendwann durchdrang die Sirene des Notarztwagens die Wand um ihr Bewusstsein und verdrängte das Tosen aus dem Körper. Endlich endete alle Anstrengung. Vor ihren Augen wurde alles schwarz, sämtliche Geräusche wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Sie konnte sich entspannen und fallenlassen. Einsinken, in den Boden, in die Welt, die sich nicht mehr drehte, sondern stillstand. Endlich. Endlich war alles still.

Als Antonia später aufwachte, fühlte sie sich benommen und wie betäubt. Sie nahm einen seltsamen Geruch wahr und versuchte, sich umzusehen. Sie fokussierte sich auf ein Aquarell mit einer bunten Seepromenade, rechts daneben stand eine große Grünpflanze, ein graues Gestänge hing über ihrem Kopf und dann hörte sie eine freundliche Stimme: »Da sind Sie ja wieder. Wunderbar.«

Ein heiseres Krächzen kam aus Antonias Kehle.

»Entspannen Sie sich. Sie sind im Krankenhaus und in guten Händen. Können Sie sich erinnern? Sie sind in der Innenstadt zusammengebrochen, vermutlich hatten Sie einen Nervenzusammenbruch, aber alle Knochen sind noch ganz. Das wird wieder.«

So langsam setzte Antonias Erinnerung wieder ein. Ihr Vater war gestürzt. »Wie geht es ihm?«, fragte sie heiser.

Die Krankenschwester legte ihr eine kühle Hand auf die Stirn. »Sie sind in guten Händen. Entspannen Sie sich. Schlafen Sie für eine Weile, das wird Ihnen gut tun.«

»Wo ist er?« Antonia versuchte, sich umzuschauen. Das Zimmer war klein. Da stand kein Bett und der einzige Stuhl war leer. »Er überlebt doch?«

»Wen meinen Sie?«, fragte die Schwester sanft.

»Vater. Er war gestürzt.«

»Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung davongetragen. Ich schicke einen Arzt zu Ihnen. Bleiben sie ruhig liegen. Nach meiner Runde schaue ich auch nochmals vorbei.«

Antonia blieb liegen und schlief wieder ein. Endlos lange lag sie traumlos in dem weißen Krankenhausbett. Als sie am nächsten Tag aufwachte, saß Norbert auf dem Stuhl neben ihrem Bett. Sie schrak hoch. »Wie spät ist es? Ich habe um zwölf einen wichtigen Termin.«

Norbert grinste. »Immer mit der Ruhe, Antonia. Du hast jetzt fast 22 Stunden geschlafen. Bin ja heilfroh, dass du überhaupt wieder aufgewacht bist. Der Arzt sagt, du kannst die Termine für die nächsten drei Monate absagen.«

»Das geht nicht. Niemals.«

»Ich habe erwartet, dass du so reagierst. Er wird es dir selbst erklären müssen. Du hast mir einen ordentlichen Schreck eingejagt.«

»Ich bin gesund. Mir geht es gut, nur etwas Kopfweh.«

»Du wirst wieder, Antonia. Aber erstmal musst du dich wirklich schonen.«

»Das kann ich nicht.«

Er drückte ihre Hand. »Dann lernst du es!«

Martha Stillebach

Martha stand am offenen Fenster ihres Schlafzimmers und schaute nervös zum morgendlichen Sommerhimmel hinauf. Die beiden Esel lagen noch friedlich in ihrem offenen Unterstand. Sie selbst hatte kaum geschlafen. Ihre Gedanken hatten sie wachgehalten. Immer wieder war sie kurz weggedämmert, um dann verschwitzt und mit klopfendem Herzen wieder aufzuwachen. Sie hatte in den letzten Monaten keinen einzigen Cent verdient, doch der heutige Tag würde die Wende einläuten. Friseurmeister Joschi hatte ihre vage Idee begeistert aufgegriffen und sie in allen Belangen unterstützt. Doch was, wenn die ganze Mühe umsonst war? Die anfängliche Euphorie und Motivation hatte heute Nacht in Angst umgeschlagen. Wäre dieser Tag doch schon vorbei!

Die dünnen Wolken am Horizont leuchteten rosa. Morgenrot bedeutete etwas Ungutes. Es gab einen alten Spruch, der ihr im Moment aber nicht einfallen wollte. Sie schüttelte den Kopf. Es war egal. Heute war der große Tag, und sie musste da durch. Mit dem Zeigfinger der linken Hand spurte sie die liegende Acht über ihrem Ohr nach. Wenn sie dieses Haar-Tattoo nicht hätte, würde der heutige Tag sich nicht von den anderen unterscheiden. War es Zufall oder war es Schicksal, dass sie ausgerechnet mit Joschi über die Aufgabe der Hofstelle gesprochen hatte? Zuvor hatte sie ihm nie etwas Persönliches erzählt, sie war keine Frau, die das Herz auf der Zunge trug. Lieber stellte sie anderen Fragen, als von sich zu erzählen. Wieso damals, an diesem Freitag Anfang Mai? Wer schmiedete die Pläne des Lebens, wer hatte die Ideen, warum fügte sich Vieles, so wie es sein sollte, und warum passierte so Vieles, das nie passieren dürfte?

Nachdenklich schloss sie das Fenster, zog sich an und ging in die Küche, um zu frühstücken. Jeden Tag gab es unzählige Entscheidungen zu treffen. Manchmal fühlte sie sich überfordert. Früher hatte sie sich gern mit ihrem Mann Joachim beraten. Wo ihr Herz davongaloppierte, zog seine Vernunft die Zügel straff und wenn er zu sehr auf die Bremse getreten war, hatte ihre Euphorie ihn angesteckt. Alleine war jedes Ja oder Nein ein Kampf gegen die eigenen Zweifel. Was er wohl vom heutigen Tag gehalten hätte?

Nachdem sie gefrühstückt und die Küche aufgeräumt hatte, nahm sie ein paar Salatblätter und etwas Mangold aus dem Kühlschrank und lief barfuß zum kleinen Weiher hinter dem Haus. Dort öffnete sie die Tür des einfachen Holzverschlages. Die jungen Laufenten – oder Erpel, sie wusste es schlicht nicht –, freuten sich über das lahme Gemüse und schnatterten voller Lebenslust. Martha hatte sie an einem einsamen Abend auf Ebay entdeckt und sofort abgeholt. Schon lange hatte sie sich welche gewünscht, und sie fühlte sich jedes Mal leicht und zuversichtlich, wenn sie dem freundlichen Geschnatter lauschte. Kurz beobachtete Martha die Tiere bei ihrer Morgentoilette, dann machte sie sich auf zur Eselkoppel. In der Scheune holte sie den Kübel mit dem Striegel und ein paar Scheiben trockenes Brot und rief die beiden dann zu sich an den Zaun. »Egon! Eugen! Kommt! Kommt! Ihr glaubt nicht, wie aufgeregt ich bin. Ich habe heute wirklich das Gefühl, dass alles noch gut wird. Oder viel schlimmer. Ich weiß es nicht, aber nach dem heutigen Tag wird definitiv alles anders sein. Wir stehen an einem Wendepunkt. Wir drei.«

Sie nahm die Bürste und begann damit, Egon zu striegeln. Er genoss die Aufmerksamkeit, hielt ruhig und still, während Eugen beleidigt davontrottete und sich am Stamm des Walnussbaumes rieb. »Komm, Eugen, du bekommst auch eine Scheibe Brot und Streicheleinheiten.«