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Sprachgewaltig und poetisch erzählt Erri De Luca das Duell des alten Jägers mit dem stolzen "König der Gemsen", zwei willenstarken Einzelgängern. Ähnlich wie Hemingways "Der alte Mann und das Meer" wurde dieses schmale Meisterwerk zum Kultbuch. Ein flirrend klarer, strahlender Novembertag, hoch in den Bergen. Zum letzten Mal nimmt der alte Wilderer den steinigen Weg auf sich: Über dreihundert Tiere hat er im Lauf seines Lebens erlegt, lange schon lebt er als Eremit. Nur ein einziges fehlt ihm noch: Der König der Gemsen, dieses starke, beinahe unbezwingbare Tier, dessen Mutter er einst ins Tal wuchtete. Im Tal hängen schon die Nebel und die Menschen gedenken ihrer Toten, wenn für das Wild die Zeit des Aufbruchs und der Revierkämpfe beginnt. Der Zeitpunkt ist gekommen für das seit Jahren aufgeschobene, letzte Duell. Zwei Einzelgänger, ähnlich willensstark und kompromisslos, Mensch und Tier, bewegen sich langsam und unausweichlich aufeinander zu. Am Ende ist es ein weißer Schmetterling, zu Eis gefroren auf dem Horn des Gamsbocks, der für den schicksalhaften Ausgleich sorgt.
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ERRI DE LUCA
Das Gewichtdes Schmetterlings
Aus dem Italienischen übersetzt undmit einem Nachwort von Helmut Moysich
Laudatio zum Petrarca-Preisvon Peter Kammerer
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Il peso della farfalla« bei Giangiacomo Feltrinelli Editore in Mailand.
Im Graf Verlag erschien von Erri De Luca außerdem:
»Der Tag vor dem Glück« (2010).
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung, wie
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verfolgt werden.
Der Graf Verlag München ist ein Unternehmender Ullstein Buchverlage
ISBN 978-3-8437-0084-9
© 2009 by Erri de Luca,first published by Giangiacomo Feltrinelli, Milano 2009
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2010 by Ullstein Buchverlage, Berlin
Satz: Uwe Steffen, München
eBook:
Inhalt
Das Gewicht des Schmetterlings
Der Besuch eines Baumes
Anhang
Die Lehre des SchmetterlingsNachwort von Helmut Moysich
Das Gewicht des WindesLaudatio zum Petrarca-Preis von Peter Kammerer>
Das Gewicht desSchmetterlings
Seine Mutter war vom Jäger erlegt worden. In seinen kitzjungen Nüstern hatte sich der Geruch von Mensch und Schießpulver unauslöschlich festgesetzt.
Früh verwaist wie seine Schwester, ohne die Nähe eines Rudels, lernte er, sich allein durchzuschlagen. Er wuchs zu einer Größe heran, die die seiner männlichen Artgenossen weit übertraf. Seine Schwester war an einem wolkenverhangenen Wintertag von einem Adler gerissen worden. Sie bemerkte ihn, wie er fast bewegungslos über ihnen in der Luft stand, während sie abgeschieden auf einem Sonnenhang weideten, wo sich noch letztes vergilbtes Gras fand. Die Schwester hatte den Adler gespürt, selbst bei zugezogenem Himmel, ohne dass sein Schatten auf dem Boden zu sehen war.
Für eines von ihnen gab es kein Entrinnen. Seine Schwester stürzte los, geradewegs dem Adler entgegen, eine leichte Beute.
Ganz auf sich allein gestellt, wuchs er völlig frei und einsam auf. Als er reif dafür war, suchte er das nächste Rudel auf, forderte den führenden Platzbock zum Kampf und gewann. Er wurde König an einem Tag und mit einem Duell.
Beim Kampf gehen die Gamsböcke nicht aufs Ganze. Der Sieger wird schon bei den ersten Zusammenstößen ausgemacht. Dabei rammen sie nicht die Hörner aneinander wie die Steinböcke und Ziegen. Mit zum Boden gesenktem Kopf versuchen sie ihre leicht zurückgebogenen Hörner in den Bauch des anderen zu stoßen. Wenn der Gegner nicht augenblicklich aufgibt, durchbohren sie die Bauchdecke und schlitzen sie beim Zurückziehen des Kopfes mit den Hörnern auf. Es ist selten, dass es zu diesem Ende kommt.
Doch bei ihm war das anders. Ohne Regeln aufgewachsen, war er es jetzt, der sie bestimmte. Es war ein strahlender Novembertag, als die Rivalen zum Duell aufeinandertrafen, auf der Erde lagen vereinzelte Flecken frischen Schnees. Die Weibchen werden vor Einbruch des Winters brünstig und bringen ihre Jungen mitten im Frühling zur Welt. Die Gamsböcke kämpfen im November.
Von einem Felsvorsprung herunter war er plötzlich bei der weidenden Herde aufgetaucht. Die Weibchen ergriffen sofort mit ihren Jährlingen die Flucht, nur der Platzbock blieb stehen und stampfte mit den Vorderhufen wild auf das Gras.
Hoch in der Luft bildeten sich krächzende Schwärme von schwarzen Krähenflügeln. Vom Aufwind getragen, beobachteten sie, wie unten das Duell eröffnet wurde. Der einsame junge Bock preschte vor und scharrte unter heftigem Schnauben mit den Hufen. Es war ein kurzer und grausamer Kampf. Die Hörner des Herausforderers schlugen eine Bresche in die Verteidigung des Gegners, und mit dem linken Horn hakte er sich im Bauch des Gegners fest. Es gab ein lautes, reißendes Geräusch, als er ihm den Bauch aufschlitzte. Oben in der Höhe brach wildes Flügelklatschen los. Die Vögel riefen den Besiegten aus, der für sie bestimmt war. Mit offenem Bauch, aus dem die Eingeweide herausquollen, ergriff der Bock die Flucht. Schon stießen die Flügel zur Erde herab, um das Gedärm zu verschlingen. Die Flucht des Verlierers endete jäh, ein plötzliches Erstarren, dann brach er zusammen.
Weiße Schmetterlinge ließen sich auf dem blutbefleckten Horn des Siegers nieder. Einer von ihnen würde dort über Generationen von Schmetterlingen für immer bleiben und von April bis November wie ein Blütenblatt im Wind über dem Kopf des Gamskönigs flattern.
An diesem Novembermorgen wachte er müde auf. Allseits unangefochten beherrschte er seit vielen Jahren schon sein Revier. Seine Jungen wuchsen bei den Muttertieren auf und wussten nichts von der Unerbittlichkeit ihres Erzeugers. Unter seiner Herrschaft gab es keine Duelle. Die ausgewachsenen Männchen verließen das Revier und suchten sich bei einem anderen Rudel zu behaupten.
Es war eine Zeit des Friedens im Reich der Gämsen. Sie starben nur durch die Jagd des Menschen oder des Adlers. Das war der Preis, den die Gämsen an die Räuber aus dem Tal und aus der Luft für das Bewohnen dieses Reichs zahlten. Der Mensch lud sich den Fang auf die Schulter und trug ihn hinunter ins Tal, der Adler verzehrte ihn an Ort und Stelle, dann nahm er bergab Anlauf, um sich von Neuem in die Luft zu erheben.
Am Boden ist ein Adler plump und unbeholfen. Vom Fressen der Beute schwer geworden, gleicht er eher einem Truthahn. Mit seinen kurzen Füßen rennt er los und muss sich vor dem Abheben mehrmals vom Boden abstoßen. Am Boden ist ein satter Adler verwundbar.
Einmal, auf einer Hochebene, hatte der Gämsenkönig einen Adler getötet. Er hatte abgewartet, bis dieser voll- und schwergefressen war, dann griff er an. Der Adler gewann nur mühsam an Höhe, er flatterte knapp über der Erde. Wie gelähmt hatte die Herde aus der Ferne verfolgt, wie ihr König sich mit gesenktem Kopf auf den Adler stürzte, der immer wieder entkam, dann erneut nach unten taumelte. Mit einem Stoß des linken Horns hatte der König ihn beim Niedersinken noch in der Luft durchbohrt. Er sprang auf den verletzten Adler, trampelte ihn mit den Hufen nieder und ließ ihn schließlich zum Sterben liegen. Nie zuvor hatte man das im Reich der Gämsengesehen.