Das Gift der Propheten - Matthais Fischer - E-Book

Das Gift der Propheten E-Book

Matthais Fischer

4,7

Beschreibung

Kriminaldirektor Caspari und sein Team jagen den Kopf eines Kinderpornorings. Doch kaum haben sie den Mann festgenommen, entkommt er unter rätselhaften Umständen aus dem Untersuchungsgefängnis. Casparis vierter und bisher schwerster Fall.

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Matthias Fischer, geboren 1964 in Hanau, wuchs in Bruchköbel auf, studierte evangelische Theologie in Oberursel und Mainz und absolvierte sein Vikariat von 1992 bis 1994 in Wächtersbach. Seit 1994 ist er evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde im Kinzigtal sowie in der Notfallseelsorge tätig und schreibt erfolgreich Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig

© eBook-Ausgabe: Emons Verlag GmbH 2016

Alle Rechte vorbehalten

Erstausgabe: »Das Gift der Propheten«: Verlag M. Naumann, vmn, Hanau 2012

Umschlagmotiv: photocase.com/fridarika

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-038-6

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Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

SEHT EUCH VOR VOR DENFALSCHEN PROPHETEN, DIE IN SCHAFSKLEIDERNZU EUCH KOMMEN, INWENDIG ABER SIND SIEREISSENDE WÖLFE.

(Matthäusevangelium 7,15)

FREITAG, 5. OKTOBER

POLIZEIRAT HEINZ BERTRAM

Es war ein warmer Herbsttag. Die Blätter der Bäume trugen noch ein sattes Grün. Nur hier und da zeigte sich ganz vorsichtig ein kleiner roter Farbtupfer. Polizeirat Heinz Bertram, der Leiter des Polizeireviers Gelnhausen, blickte verträumt aus dem geöffneten Fenster seines Büros. Diese Temperaturen hätte er sich in den Sommermonaten gewünscht. Mit einem Seufzer setzte er sich an den Schreibtisch, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und lockerte den Krawattenknoten. Widerwillig befasste er sich mit einer Ermittlungsakte, da klopfte es an seiner Tür. Arndt Müller steckte den Kopf herein.

»Was gibt es?«, fragte Bertram, dankbar für die Ablenkung.

»Chef, wir haben ein Mädchen mit ihren Eltern hier. Die wollen eine Anzeige wegen sexueller Belästigung erstatten.«

Die Nachricht riss Bertram aus seinem Müßiggang. Er atmete tief durch.

»Gut, schicken Sie Jürgen Jungmann zu mir, und bringen Sie dann die Familie in mein Büro.«

Der Beamte nickte und verschwand so leise wie er gekommen war. Wenig später stand Jungmann, sein Stellvertreter und gleichzeitig sein Schwiegersohn, in seinem Büro.

»Sexuelle Belästigung, habe ich gehört.«

»Ja, mal hören, was das Mädchen zu erzählen hat. Das behalten wir erst einmal für uns und geben es nicht an die Presse.«

»Klar.«

Es klopfte. Müller führte eine Jugendliche und zwei Erwachsene herein.

»Das sind Jasmin Huth aus Gelnhausen und ihre Eltern«, sagte er.

Bertram nahm sich Zeit, das Mädchen anzusehen. Er schätzte sie auf 16 bis 18 Jahre. Blondes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht und reichte ihr bis über die Schultern. ›Eigentlich ein hübsches Mädchen‹, dachte Bertram, ›aber die verhärmten Gesichtszüge und der starre Blick sind wie schwarze Kleckse auf einem schönen Bild.‹

Bertram stellte Jungmann und sich vor, dann bat er die Familie, sich zu setzen.

»Wir sind zu Ihnen gekommen, um Anzeige zu erstatten«, begann Herr Huth mit finsterer Miene.

»Gegen wen richtet sich Ihre Anzeige?«, fragte Bertram.

»Gegen Pfarrer Gärtner.«

»Den evangelischen Pfarrer aus Gelnhausen?«, fragte Jungmann überrascht.

»Ja, genau den meine ich«, antwortete Huth kalt.

Bertram tauschte mit seinem Schwiegersohn einen Blick. Sie beide kannten Pfarrer Michael Gärtner seit vielen Jahren aufgrund der Zusammenarbeit der Polizei mit der Notfallseelsorge. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass dieser Pfarrer sich an Mädchen verging. Das traute Bertram Gärtner einfach nicht zu, und wenn er den Blick seines Schwiegersohnes richtig deutete, ging es ihm genauso. Andererseits – welchem Sexualstraftäter traute man seine Verbrechen schon zu?

CLAUDIA GÄRTNER

Claudia Gärtner saß am Küchentisch über die Notenblätter der ›Russischen Klavierschule‹ gebeugt und sah sich das Pensum an, das ihr heutiger Schüler würde mit ihr üben müssen. Die aufgeregte Stimme ihres Mannes riss sie aus ihrer Konzentration.

»Fabian, warst du in den letzten Wochen etwa an meinem Dienstcomputer?«, rief Michael etwas zu laut durch das Treppenhaus. Eine Zimmertür ging auf, und Fabian, ihr Ältester, schlurfte durch den Flur.

»Nee, du weißt doch, dass ich nicht an das Ding gehe. Außerdem kenne ich dein Passwort ja auch gar nicht.«

Claudia stand auf und ging zu den Beiden.

»Warum regst du dich denn so auf? Was ist denn passiert?«

Michael sah sie mit dem Blick eines gehetzten Tieres an.

»Was passiert ist, weiß ich nicht. Aber es ist eine Katastrophe!«

»Was meinst du denn?«, fragte Fabian.

»Kommt mit«, sagte sein Vater mit belegter Stimme.

Als Claudia Gärtner auf den Bildschirm des Pfarramtsrechners sah, verstand sie die Aufregung ihres Mannes. Was dort zu sehen war, verschlug ihr die Sprache. Jasmin Huth stand nackt in einem dunklen Raum, die Scham und die Brüste mit ihren Händen bedeckt und das Gesicht halb abgewandt. Der Blitz des Fotoapparates tauchte ihre Haut in grellweißes Licht, während der Hintergrund fast schwarz war.

»Ich suchte nach passenden Fotos für meinen Artikel von der Konfirmandenfreizeit als ich das entdeckt habe«, erklärte Michael aufgeregt.

»Woher hast du das?«, fragte Claudia mit rauer Stimme.

»Ich weiß es nicht«, raunte Michael und wischte sich über die Stirn. »Das Erstellungsdatum der Datei ist vier Wochen alt. Das Bild ist wohl auf der Konfirmandenfreizeit entstanden, bei der sie als Betreuerin dabei war.«

»Hast du …?«

Ihr war es egal, dass Fabian ihre Worte mitbekam.

»Nein, natürlich nicht. Was denkst du denn von mir. Ich habe sie weder nackt fotografiert noch mich ihr in irgendeiner Weise aufgedrängt. Verdammt nochmal, das Mädchen geht seit der Grundschule hier ein und aus!«

Er holte tief Luft.

»Aber das ist nicht das einzige Bild. Das war daneben.«

Er klickte auf die Computermaus. Ein neues Bild erschien. Es zeigte Jasmin und Michael in schmutziger Sportkleidung und mit erdverschmierten Gesichtern auf einer Wiese.

»Das berüchtigte Brennballturnier«, kommentierte Fabian und grinste.

»An dem Tag hatte es geregnet. Die Wiese war aufgeweicht. Weil wir aussahen wie die Ferkel, wollten die Konfirmanden uns unbedingt fotografieren.«

»Papa, das Bild ist doch völlig harmlos.«

»Nicht im Zusammenhang mit der Aufnahme davor. Das Nacktbild soll dieses Foto interpretieren, verstehst du?«

»Von welchem Konfirmanden stammt denn dieses Bild?«, fragte Claudia.

Ihr Mann zuckte mit den Schultern. Fabian beugte sich zum Bildschirm.

»Von keinem. Dieses Bild wurde mit einem großen Objektiv gemacht. Während die Konfis Jasmin und Papa fotografierten, nutzte jemand, der weiter weg stand, die Gunst der Stunde. Guck mal, das Bild ist grobkörnig und an den Rändern ein winziges bisschen unscharf. Da will dich jemand in die Pfanne hauen, Papa.«

»Aber wie soll das denn gehen?«, fragte Michael. »Das ist ein Intranet-Rechner. So leicht kann man sich nicht in das digitale Netz der Landeskirche schmuggeln und diese Bilder auf meinem Rechner platzieren.«

»Papa, du träumst. Das ist für einen guten Hacker bloß eine Frage von Zeit. Richtige Profis bekommen das auf jeden Fall hin. Da hilft die beste Schutz-Software nichts!«

Claudia Gärtner sah ihren Mann lange an. Sie wollte glauben, dass Fabian recht hatte. Doch in diesem Augenblick fragte sie sich, ob die Spuren des Entsetzens auf seinem Gesicht echt oder nur gut inszeniert waren. War Michael wirklich unschuldig, oder erlebte sie gerade einen theaterreifen Versuch ihres Mannes, seine Familie von seiner Schuld abzulenken?

BERTRAM UND JUNGMANN

»Bitte nehmen Sie im Flur Platz!«, bat Bertram Herrn und Frau Huth.

»Soll das etwa heißen, wir dürfen nicht dabei sein, wenn Sie unsere Tochter verhören?«, erwiderte der Vater aufgeregt.

»Wir verhören Ihre Tochter nicht, wir befragen sie als Zeugin«, erklärte Bertram ruhig. »Dazu ist es wichtig, ein möglichst unverfälschtes Bild zu bekommen.«

Mit diesen Worten führte er das Ehepaar aus seinem Büro zu den Stühlen im Flur. Der erboste Vater folgte seiner Aufforderung nur widerwillig, während seine Frau die ganze Zeit über auf ihre Handtasche starrte.

Als er das Büro wieder betrat, hatte Jürgen schon das Aufnahmegerät auf den Tisch gestellt. Bertram setzte sich Jasmin gegenüber auf seinen Stuhl, zog sich die Computertastatur heran und rief das Programm auf, mit dem die Anzeigen erstellt werden. Er bat das Mädchen um ihren Personalausweis. Dann gab er ihre Daten in der Maske ein.

»Siebzehn Jahre – schönes Alter. Da hat man noch alles vor sich«, brummte er.

Jasmin blieb stumm, ihre Augen wirkten wie zwei verschlossene und verspiegelte Glastüren.

»Erzählen Sie uns bitte, was Sie zu der Anzeige gegen Pfarrer Gärtner führt«, forderte Bertram sie auf.

»Ich kenne die Familie Gärtner schon, seit ich ein Kind war. Deshalb habe ich mir auch nie etwas gedacht, wenn Pfarrer Gärtner mir mal die Hand auf die Schulter gelegt oder mir über den Kopf gestrichen hat», begann sie. »In letzter Zeit haben diese Berührungen allerdings zugenommen. Im Konfirmandenunterricht, im evangelischen Jugendtreff, bei den Pfadfindern und zum Schluss auf der Konfirmandenfreizeit, bei der ich eine der Betreuerinnen war.«

Sie holte ein Foto aus ihrer Tasche und legte es vor Bertram auf den Tisch. Der musste grinsen, als er den schlammbespritzten und verschwitzten Pfarrer sah, der seinen Arm um die Schulter von Jasmin gelegt hatte, die ebenso verdreckt in die Kamera grinste.

»Das ist bis hierhin noch ein völlig unverfängliches Bild«, urteilte Jungmann.

»Ja, das stimmt. Aber dabei scheint Gärtner wohl auf den Geschmack gekommen zu sein. Denn als wir dann spät abends Schlafen gingen, fotografierte er mich, als ich mich umziehen wollte.«

Sie legte ein weiteres Bild auf den Schreibtisch, das sie nackt zeigte.

»Ich schaffte es gerade noch, mich notdürftig zu bedecken. Er meinte, ich solle mich nicht so haben, wir würden uns doch schon eine halbe Ewigkeit kennen. Er wollte mich ganz nackt sehen. Gott sei Dank machten die Konfirmanden in einem Zimmer Radau, sodass er mich in Ruhe lassen und nachsehen musste.«

»Hat er es noch einmal versucht?«, fragte Jungmann.

»Nein, ich habe ihm gedroht, es seiner Frau zu erzählen, falls er mich nicht in Ruhe lässt. Das hat gewirkt. Ich hätte diese Sache auf sich beruhen lassen, wenn er mir nicht vor drei Tagen dieses Foto per EMail geschickt hätte.«

»Was, meinen Sie, wollte er damit bezwecken?«, fragte Bertram.

»Ist doch klar. Das ist eine plumpe Anmache. Er will Kontakt.«

»Gibt es für diese Situation auf der Freizeit Zeugen?«, fragte Jungmann.

»Glauben Sie mir etwa nicht?«, erregte sich Jasmin.

»Wir nehmen jede Anzeige ernst und ermitteln selbstverständlich. Doch es ist hilfreich, wenn wir die Anschuldigung durch Zeugen erhärten können. Das stärkt Ihre Position«, erklärte Bertram.

»Nein, Zeugen gibt es nicht.«

»Existiert die E-Mail noch?«, fragte Bertram vorsichtig.

»Ja, mein Vater meinte, ich sollte die auf gar keinen Fall löschen.«

Bertram stöhnte innerlich. Das ganze Land diskutierte immer noch über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, von denen immer wieder ein neuer ans Tageslicht kam. Nun hatte er einen Nötigungsfall innerhalb der evangelischen Kirche am Hals. Ausgerechnet Gärtner! Den hatte er bisher für einen integeren Mann gehalten. Er führte eine gute Ehe, hatte zwei Söhne und eine Tochter. Nach außen hin schien alles solide und in Ordnung zu sein. Nach außen hin.

GÄRTNER

»Warum reagieren Sie erst jetzt auf vier Wochen alte Fotos?«, fragte Dekan Kern skeptisch. Gärtner hatte ihn um einen kurzfristigen Termin in einer sehr dringlichen Sache gebeten. Nun saßen sie in Kerns Büro im Dekanat. Auf dem Konferenztisch lagen zwei Fotos, die, zusammengenommen, den Kollegen sehr belasteten.

»Weil sie erst seit heute auf meinem Rechner abgelegt sind«, entgegnete Gärtner und erzählte, was passiert war.

»Gut, dass Sie gleich zu mir gekommen sind«, sagte Kern schließlich. »Das erspart uns und Ihnen unnötige Komplikationen. Jetzt müssen wir schnell handeln. Ich muss Sie beurlauben, das wissen Sie. Nicht, weil ich Sie für schuldig halte, sondern, um Schaden von Ihnen und der Kirche abzuwenden. Ich werde mich sofort mit den Fachleuten im Landeskirchenamt in Verbindung setzen und überprüfen lassen, wie diese Bilder auf Ihren Rechner geschleust werden konnten.«

»Sollten wir nicht die Polizei informieren?«, fragte Gärtner mit rotem Kopf.

»Dafür ist die Rechtsabteilung des Landeskirchenamtes zuständig. Sie halten erst einmal die Füße still und lassen den Dingen ihren Lauf.«

Gärtners Hände zitterten, als er einen Schluck Kaffee aus der Tasse trinken wollte.

»Das ist wie ein böser Alptraum. Aber ich bin mir sicher, dass sich das alles aufklären wird.«

»Und wenn nicht? Was, wenn mich jemand fertig machen will und damit auch noch Erfolg hat?«

JASMINS ELTERN

»Verhaften Sie diesen sauberen Gottesmann jetzt?«, polterte Huth, als er und seine Frau wieder ins Büro gebeten wurden.

»Nein. So schnell geht das nicht«, erwiderte Bertram. »Zunächst werden wir Pfarrer Gärtner verhören, dann den Jugenddiakon der Kirchengemeinde und schließlich noch einige Jugendliche aus der Gruppe, die mit dem Pfarrer zusammenarbeitet.«

»Die anderen sollen als Zeugen aussagen?«, fragte Jasmin. »Muss das denn sein? Die ganze Sache ist doch auch so schon peinlich genug.«

»Peinlich, ja, aber für denjenigen, der eine junge Frau sexuell nötigt, nicht für die Betroffene«, antwortete Jungmann ruhig.

»Pfarrer Gärtner ist bei uns Jugendlichen sehr beliebt. Deshalb wollte ich mit niemandem darüber sprechen. Gegen den sagt doch keiner aus.«

»Wenn er sich strafbar gemacht hat, finden wir auch Beweise, verlassen Sie sich darauf!« entgegnete Jungmann. »Wir werden uns Ihren Computer ausleihen müssen, um die Mail genauer zu untersuchen.«

Das Mädchen nickte.

»Es gibt nur einen Freund, dem ich mich anvertraut habe. Der hat mit der katholischen Kirche seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht. Wir haben uns gegenseitig ermutigt, Anzeige zu erstatten.«

Bertram fühlte, wie sich ein schwerer Kloß in seinem Magen ausdehnte.

»Das heißt, wir haben in den nächsten Tagen mit einer weiteren Anzeige zu rechnen?«

»Davon können Sie ausgehen. Ich möchte aber nicht darüber reden, das soll Vincent Ihnen selbst erzählen.«

Bertram unterdrückte einen Fluch. Gleich zwei Fälle zur selben Zeit in seinem Bezirk? Das bedeutete einen unglaublichen Medienrummel, wenn die Presse davon erfuhr.

»Wie geht es dann weiter?«, fragte Herr Huth.

»Wenn unsere Ermittlungen den Anfangsverdacht untermauern, geben wir dem Staatsanwalt die Empfehlung, Anklage zu erheben«, erklärte Jungmann.

»Ich muss Sie bitten, vorerst nicht an die Öffentlichkeit damit zu gehen«, sagte Bertram.

»Sie wollen diesen scheinheiligen Gottesmann schützen!«, blaffte Huth ihn an.

»Zu Allererst will ich Ihre Tochter schützen«, erwiderte Bertram schroff. »Sie haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, von Medienvertretern umlagert zu sein. Das ist für einen jungen Menschen schwer zu verkraften. Suchen Sie sich lieber einen Rechtsanwalt, der die Interessen Ihrer Tochter vertritt. Den werden Sie nämlich brauchen, erst recht, wenn die Presse Wind von der Sache bekommt.«

»Das ist genau meine Meinung«, sagte Frau Huth, die bisher geschwiegen hatte. »Wir müssen überlegt vorgehen.«

Bertram sah, wie Huth sie wütend anfunkelte. Mit einem solchen Choleriker verheiratet zu sein, war bestimmt kein Vergnügen.

Als die Familie gegangen war, riss Bertram das Fenster auf. Milde Luft wehte ins Büro.

»Was hältst du davon?«, fragte er seinen Schwiegersohn.

»Schwer zu sagen. Die Sache mit der E-Mail ist schon sehr belastend. Was mich allerdings stutzig macht, ist die zweite Anzeige, die wir noch zu erwarten haben. Zwei Jugendliche verabreden, ihre Pfarrer anzuzeigen? Wenn das mal kein Spiel mit gezinkten Karten ist.«

»Ich verhänge absolute Nachrichtensperre. Du kümmerst dich darum, dass die Kollegen nichts erfahren, und wenn sie schon etwas wissen, dass sie nicht darüber reden.«

»Geht klar. Und wie geht es weiter?«

»Du fährst jetzt gleich zur Familie Huth und lässt dir den Computer des Mädchens geben. Ich telefoniere mit dem Staatsanwalt und dann mit der Landeskirche.«

»Mit der Landeskirche?«

»Ja, das ist das übliche Vorgehen. Die evangelische Kirche will die Fehler verhindern, die die katholische zu Beginn der Missbrauchsskandale gemacht hat. Bei denen steht die Zusammenarbeit mit der Polizei an oberster Stelle.«

»Schön zu hören!«

GÄRTNER

Volker Waldmann, der Jugenddiakon der evangelischen Kirchengemeinde Gelnhausen, saß in seinem Büro und quälte sich mit der Beschreibung der Konzeption seiner Jugendarbeit, um die ihn der Kirchenvorstand gebeten hatte. Ein heftiges Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

»Herein!«, rief er unwillig.

Pfarrer Gärtner trat ein. Waldmann erschrak über den Anblick, den sein Vorgesetzter bot. Er war blass, auf seiner Stirn stand Schweiß, sein Blick wirkte gehetzt.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, begann Gärtner und setzte sich.

»Wobei?«, fragte Waldmann besorgt.

»Haben Sie Jasmin in den vergangenen Wochen gesprochen?«

»Nein, seit der Konfirmandenfreizeit habe ich sie nicht mehr gesehen. Jetzt, wo Sie mich darauf ansprechen, fällt es mir auf. Das ist ungewöhnlich. Die kommt sonst fast jeden Tag hier vorbei.«

»Ich habe ein Problem und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll«, fuhr Gärtner fort.

Fahrig holte er einen Umschlag aus seiner Aktentasche und schüttelte dessen Inhalt umständlich aus. Waldmann warf einen ungläubigen Blick auf die Fotos.

»Um Gottes willen! Was ist das?«

»Jemand versucht, mich damit fertig zu machen.«

»Zusammen genommen sagen diese Bilder, dass Sie sich an das Mädchen herangemacht haben«, konstatierte der Jugenddiakon. »Wer hat die Fotos gemacht?«

»Keine Ahnung. Diese beiden Bilder fand ich in dem Dateienordner, auf dem ich die Fotoalben der Konfirmandenfreizeiten abgespeichert habe.«

»Doch nicht etwas auf Ihrem Dienstcomputer?«

Gärtner nickte. »Bitte halten Sie Augen und Ohren auf. Noch weiß niemand, welches Ziel da verfolgt wird. Jeder Hinweis dürfte wichtig sein. Und bitte, das unterliegt Ihrer absoluten dienstlichen Verschwiegenheit.«

»Selbstverständlich«, entgegnete Waldmann. »Sobald ich etwas erfahre, melde ich mich bei Ihnen.«

»Nein, nicht bei mir. Ich habe den Dekan informiert und bin mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Melden Sie sich bitte bei ihm.«

Nachdem Gärtner gegangen war, saß Waldmann noch eine ganze Weile ratlos an seinem Schreibtisch. Sollte er die Geschichte mit dem Computer glauben? Andererseits hatte sich sein Vorgesetzter immer korrekt den Jugendlichen gegenüber verhalten.

CASPARI

»Christoph, wo warst du denn? Herr Fuhr lässt dich zu sich bitten«, rief Tina, als Caspari das Büro im Bundeskriminalamt betrat.

»Man wird ja noch mal auf die Toilette gehen dürfen«, grinste Caspari. »Zum großen Boss soll ich gehen? Hat er denn gesagt, was er will?«

»Nein, nur, dass du gleich kommen sollst.«

Caspari richtete seinen Krawattenknoten und machte sich auf den Weg. Als er über den Flur zum Fahrstuhl ging, bemerkte er, dass ihm jemand folgte. Er drehte sich um und sah seine ganze Abteilung hinter sich her laufen.

»Was wird das?«

»Hatte ich vergessen zu erwähnen, dass wir mitkommen sollen?«, fragte Tina und grinste.

Caspari wusste nicht, was das bedeuten sollte. Etwas Schlimmes konnte es, dem Gesichtsausdruck seiner Mitarbeiter nach zu urteilen, nicht sein. Aber was um alles in der Welt mochte der Präsident des Bundeskriminalamtes von ihm und seiner Abteilung wollen?

»Nun mal raus mit der Sprache!«, brummte er, als sie sich alle in den Fahrstuhl zwängten.

»Wir wissen nicht, was Sie meinen«, lächelte Jin Jang ihn an.

Er gab es auf. Gleich würde er ohnehin wissen, was hier gespielt wurde.

Die Sekretärin des Direktors führte sie in Fuhrs Büro. Der stand von seinem Schreibtisch auf, begrüßte alle und bat sie, sich an den Konferenztisch zu setzen.

»Mir war völlig entgangen«, eröffnete Fuhr das Gespräch, »dass Sie mit Ihrer Ausbildung, Ihrem akademischen Titel und Ihrer Berufserfahrung als Kriminalrat ganz falsch eingestuft sind. Der angemessene Titel für einen Abteilungsleiter des BKA mit ihrer Reputation ist der ›Kriminaldirektor‹. Ich ernenne Sie deshalb durch Handauflegung mit sofortiger Wirkung zum Kriminaldirektor.« Fuhr stand auf und legte die Hände auf Casparis Schultern. Dann gab er ihm die Hand.

»Herzlichen Glückwunsch!«

Alle Mitglieder der Abteilung folgten Fuhrs Beispiel, allen voran Tina und Mario. Von irgendwoher zauberte Jin Jang einen großen Blumenstrauß, den sie Caspari überreichte. Mario stellte eine Flasche toskanischen Barriqueweins auf den Tisch. Die Sekretärin kam mit einem Tablett voller Sektgläsern herein.

»Na, dann stoßen wir mal auf Sie an«, sagte Fuhr und hob das Glas. »Alles Gute und viel Erfolg!«

Als sie sich wieder auf den Weg machen wollten, bat der Direktor Caspari um ein Wort unter vier Augen.

»Ich muss mit Ihnen über Schneider sprechen«, begann Fuhr. »Wollen Sie den Mann tatsächlich in Ihrer Abteilung behalten?«

»Ich sehe keinen Grund, ihn wegzuschicken. Im Fall der Triadenmorde hat er als ehemaliges Mitglied der GSG 9 viel Erfahrung im Umgang mit Berufsverbrechern einbringen können. Solches Wissen fehlt uns in der Abteilung, die auf Serientäter spezialisiert ist. Er ist am Tatort ein guter Spurenleser und ein ausgesprochen guter Verhörspezialist«, erklärte Caspari. »Warum fragen Sie?«

»Bisher konnte Schneider noch nichts nachgewiesen werden. Aber in der Unterwelt ist er gefürchtet. Er hat den Ruf, die schweren Jungs sehr hart anzupacken. Schneider ist ein Mann ohne soziale Kontakte, ein Einzelgänger, der sich bei Konflikten in einer Ermittlungseinheit nicht zurechtfindet. Deshalb war er innerhalb des BKA auch immer als Springer im Einsatz. Lange konnten wir ihn bisher in keiner Abteilung lassen. Dass er sich in Ihrer Abteilung einzuordnen scheint, ist außergewöhnlich. Meistens hat es nach spätestens einem Monat geknallt. Er ist verpflichtet, einmal wöchentlich unseren Psychologen auszusuchen. Seit er bei Ihnen ist, hat er alle Termine wahrgenommen. Kann es sein, dass Sie ihn auf Kurs bekommen.«

»Ich will mir diese Lorbeeren nicht allein zusprechen. Ich denke, es ist das ganze Team, in dem er sich wohl fühlt«, erklärte Caspari. »Allerdings würde ich schon gern einen Blick in seine Personalakte werfen, damit ich weiß, wie er tickt, wenn es einmal kracht.«

CLARA

Der Weiher lag malerisch in der Nachmittagssonne. Clara blickte aus dem Arbeitszimmer, das sie sich von nun an mit Christoph teilte, hinaus. Sie öffnete das Fenster und sog gierig den Duft des Altweibersommers ein. In wenigen Tagen würde die Luft kühler werden und das Rot der Blätter den Herbst einläuten.

Langsam löste sie sich von dem Anblick und ging durch den Raum, wobei sie die Fingerspitzen über den Schreibtisch und die Buchrücken in den Regalen fahren ließ.

Seit einer Woche war das ihr neues Zuhause. Die halbe Stelle als Gemeindepfarrerin in Gelnhausen hatte sie aufgegeben, um mit ihrem Lebensgefährten und seiner Familie auf dem alten Gehöft zwischen Wittgenborn und Waldensberg zu leben. Die halbe Schulpfarrstelle hatte sie behalten, um nicht ganz und gar in dieser Abgeschiedenheit einzugehen. Doch nun fragte sie sich, ob eine halbe Stelle ausreichte, damit ihr bei aller Schönheit der Natur hier oben nicht die Decke auf den Kopf fallen würde.

IRINA

Wenn es Herbst wurde, waren die Abende und Nächte in Sankt Petersburg kalt. In der zugigen Luft des alten Bahnhofes waren ihre Finger kaum warm zu bekommen. Doch mit kalten Händen konnte sie sich nichts verdienen. Stehlen war ihr Handwerk, das einzige, was sie in ihrem Leben gelernt hatte. An die ersten drei Schuljahre hatte sie noch eine dunkle Erinnerung. Dann waren ihre Eltern von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwunden. Im Dorf redete man hinter vorgehaltener Hand von der russischen Mafia. Was das war, wusste sie damals noch nicht, nur, dass diese Mafia für das Verschwinden ihrer Eltern verantwortlich gemacht wurde. Großeltern und andere Verwandte hatte sie keine mehr, also brachte man sie in ein Heim. Schläge bei schlechten Schulnoten, Schläge, wenn sie das Essen nicht aufgegessen hatte, Schläge, wenn sie spielte, statt zu arbeiten.

Eines Nachts lief sie weg und wurde wie Strandgut an den Hauptbahnhof von Sankt Petersburg gespült. Hier gab es warme Schächte, in denen man sich verkriechen konnte. Die Mülleimer waren voll mit Essensresten, die die Leute in den teuren Mänteln achtlos wegwarfen. Ab und zu versuchte die Polizei, das Problem der Straßenkinder mit einer Razzia zu beseitigen. Doch die Banden hatten ein gutes Frühwarnsystem. Damals, als sie halbverhungert hier angekommen war, hatte Sascha sie unter ihre Fittiche genommen. Mit ihren kleinen Händen war sie die geborene Taschendiebin. Jeden Tag fischte sie aus den Taschen Portemonnaies und Brieftaschen. Die Verkäufer an den Essensständen fragten nicht, woher die Mädchen ihr Geld hatten. Sie wussten es. Und für die Ausweise und Führerscheine hatte sie genug Abnehmer. Der Schwarzmarkt für gefälschte Pässe blühte in Russland.

Doch heute lief es nicht gut. Eines der Mädchen war der Polizei direkt in die Arme gelaufen und weggeführt worden. Die Züge hatten an diesem Tag weniger Menschen als sonst auf den Bahnsteig ausgespien. Das Geld vom Vortag war schon aufgebraucht. Alle Mädchen der Bande warteten auf eine neue Gelegenheit, ihre leeren Bäuche zu füllen. Endlich fuhren die Züge mit den Berufspendlern ein. Sascha und Irina gingen langsam den Fahrgästen entgegen. Ihre Masche war immer die gleiche. Sascha quatschte eine betucht aussehende Person an und lenkte sie ab, während Irina flink in deren Tasche griff.

Doch dieses Mal ließen sich die Menschen nicht ablenken. Niemand wollte ein Gespräch mit Sascha anfangen. Männer, denen sie sich provokant anbot, brummten unwillig und schoben sie zur Seite. Frauen hielten gleich ihre Handtasche fest. Irina knurrte der Magen.

»Die Masche ist abgedroschen. Damit werdet ihr kein Glück mehr haben«, sagte eine Männerstimme mit starkem Akzent hinter ihnen. Irina sah Sascha erschrocken an. Die blickte über ihre Schulter.

»O nein, ihr braucht nicht wegzulaufen. Ich tue euch nichts, Ehrenwort. Ich will euch sogar helfen!«

Sascha sah sich nach allen Seiten um. Irina wagte einen Blick hinter sich. Die Stimme gehörte einem schlanken Mann, der sein Haar nach hinten gegelt hatte und eine englische Wachsjacke trug. Irgendetwas störte Irina an der Art, wie er sie ansah.

»Ich bin Mitglied einer kirchlichen Organisation. Wir haben Essen, warme Getränke und neue Schlafsäcke für euch dabei. Nun kommt schon. Wenn ihr unsere Hilfe ausschlagt, geht ihr heute hungrig zum Schlafen in die Schächte.«

Sascha pfiff wie ein Waldkauz. Von allen Seiten kamen Mädchen unterschiedlichen Alters angelaufen und bildeten einen Kreis um den Mann.

»Wenn Sie uns verarschen, sind Sie dran!«, fauchte Sascha. Irina bewunderte sie wegen ihres Mutes.

»Schon klar«, antwortete der Mann mit den schönen Haaren. Dann setzte er sich in Bewegung, gefolgt von den Mädchen, die ihn nicht aus den Augen ließen. Er ging auf den Vorplatz des Bahnhofes, auf dem drei Lieferwagen standen. Vor einem war ein Tisch aufgebaut, auf dem Becher standen, aus denen es nach heißem Tee roch. Auf einem anderen Tisch lagen belegte Brote. Vor dem Heck des dritten Wagens war ein Haufen zusammengerollter Schlafsäcke aufgestapelt.

»Bedient euch!«, lud sie der Mann ein.

»Warum helfen Sie uns?«, fragte Sascha skeptisch.

»Weil das zu unserem Glauben gehört«, antwortete der Mann lächelnd.

Irina wollte nicht länger warten. Gierig langte sie zu. Die anderen taten es ihr nach. Auch Sascha gab ihren Widerstand auf. Die Brote füllten den Magen, der schon seit dem Mittag vor Hunger schmerzte. Der Tee wärmte sie von innen. Sie fühlte sich sonderbar entspannt, fast schwerelos. Plötzlich gaben ihre Beine nach, und sie fiel zu Boden. Als sie aufschlug, sah sie in Saschas Augen, in denen eine tiefe Traurigkeit lag.

»Tut mir leid, kleine Schwester, tut mir leid.«

Sascha verdrehte die Augen, dann war sie bewusstlos. Verschwommen sah Irina noch, wie Männer in russischen Polizeiuniformen den vermeintlichen Kirchenmännern halfen, die Mädchen in die Wagen zu legen. Dann fiel sie in ein tiefes, dunkles Loch.

SAMSTAG, 6. OKTOBER

CLARA

Lukas, Casparis Sohn, rief nach Clara, die gerade den Hof kehrte. Er kam auf sie zugelaufen und gab ihr das schnurlose Telefon.

»Ein Mann will dich sprechen«, sagte der Kleine, der seit ein paar Wochen nun in die erste Klasse ging.

»Wer ist es?«, fragte sie.

»Kern!«

Grinsend nahm Clara den Hörer entgegen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Dekan Kern.

»Guten Morgen, Frau Frank. Ich rufe wegen Ihrer Verabschiedung morgen an. Tja, der Kollege Gärtner wird leider nicht dabei sein. Er hat mich um eine Auszeit gebeten. Es geht ihm mental sehr schlecht. Vielleicht hat er das Burnout-Syndrom, vielleicht ist er aber auch einfach nur völlig erschöpft.«

Clara war verwundert. Erst zwei Tage zuvor hatte sie mit ihrem Kollegen gesprochen. Er hatte nicht den Eindruck gemacht, kurz vor einem Kollaps zu stehen.

»Ach, das ist sehr schade«, antwortete sie.

»Ja, aber leider nicht zu ändern. Vikar Bender wird seinen Part im Gottesdienst übernehmen, sodass Sie außer der Predigt nichts weiter machen brauchen.«

»Ich werde mich mal bei Michael melden und ihm gute Besserung wünschen«, schlug Clara vor.

»Zurzeit möchte er keine Anrufe. Er sagt, er braucht Ruhe. Warten Sie mit Ihrem Anruf noch eine Weile.«

Clara verabschiedete sich und legte auf. Die Sache kam ihr merkwürdig vor. Spontan wählte sie die Nummer ihres Kollegen. Dort lief nur der Anrufbeantworter. Clara versuchte es mit Gärtners Mobilnummer. Nach dem vierten Läuten meldete er sich.

»Hallo, hier ist Clara. Sag mal, was ist denn mit dir los?«, fragte sie besorgt.

»Mir geht es echt beschissen«, antwortete Gärtner.

»Was hast du denn?«

»Lass mal gut sein, ich kann jetzt nicht darüber reden«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich melde mich, sobald ich mich ein bisschen erholt habe.«

Clara war ratlos. Tief in Gedanken fegte sie weiter, bis Pia, Casparis Mutter, die Essensglocke läutete.

Der Weiherhof, den die Familie Caspari bewohnte, war hufeisenförmig angelegt. In einem Teil lebten Casparis Eltern, in einem anderen Clara, Christoph und Lukas. Einen weiteren bauten Christophs Schwager Benny, seine Schwester Iris und Christoph selbst zur Wohnung aus, in die das frisch vermählte Ehepaar demnächst einziehen wollte. Über dem ehemaligen Schweinestall schließlich waren noch Gästezimmer untergebracht. Christoph, Benny und Iris sah man an, dass sie die Tapeten gestrichen hatten. Überall klebten Farbspritzer in ihren Haaren.

»Papa«, rief Lukas in die Runde. »Wir wollen uns einen Hund kaufen!«

»Wer sagt das?«, fragte sein Vater.

»Ich«, erwiderte der Kleine.

»Ein Hund ist das Letzte, was ich gebrauchen kann. So ein Tier bedeutet viel Verantwortung. Die kannst du noch nicht allein übernehmen. Dazu bist du noch nicht groß genug. Clara und ich haben dafür keine Zeit«, erklärte Caspari.

»Sagt wer?«, unterbrach ihn Clara.

»Na, ich« , erwiderte er.

»Vielleicht solltest du mich auch nach meiner Meinung fragen«, entgegnete sie spitz. »Einen Hund finde ich gar keine so schlechte Idee!«

SONNTAG, 7. OKTOBER

CLARA

Caspari unterdrückte ein Gähnen. Er vermisste sein Mittagsschläfchen, das er sich an Sonntagen gönnte, sofern Clara und Lukas das zuließen. Er sah Lukas zu, der auf dem Hof zwischen der Marienkirche und dem Romanischen Haus an den Spielstationen, die die Pfadfinder betreuten, wirbelte. Bei dem schönen Wetter waren alle Aktivitäten im Rahmen des Gemeindefestes ins Freie verlegt worden. Außer Claras Verabschiedung. Nach dem Erntedankgottesdienst, in dem sie die Predigt gehalten hatte und verabschiedet worden war, war eine Reihe von Grußworten im Saal des Romanischen Hauses gesprochen worden. Caspari hatte neben Clara gesessen und zugesehen, wie sie die lobenden Worte des Dekans, des Kirchenvorstandsvorsitzenden, des Bürgermeisters und vieler anderer genossen hatte. Er hatte sich für sie gefreut, die verbrauchte Luft als notwendiges Übel hingenommen. Nun stand er endlich im Freien und atmete tief ein. Die Luft war mild, roch aber schon ein bisschen nach Herbst.

»Was für ein schöner Tag«, sagte eine wohlvertraute Stimme hinter ihm.

Er drehte sich herum und blickte in das Gesicht von Heinz Bertram.

»Herrlich, nicht wahr«, erwiderte er.

»In ein paar Tagen ist es damit leider vorbei.«

»Der September hat uns immerhin für einen verpatzten Sommer entschädigt«, meinte Caspari.

»Können wir uns kurz über etwas anderes unterhalten?«, bat Bertram. »Ich brauche deinen Rat als Kriminologe und Psychologe.«

Caspari sah sich um. In der Nähe des Hauptportals sah er wenige Leute. Er machte eine Bewegung mit dem Kopf. Bertram folgte ihm. Vor der Skulptur, die an die Hexenverfolgungen in Gelnhausen erinnerte, blieben sie stehen.

»Was gibt’s?«, fragte Caspari

»Jürgen und ich haben vorgestern die Anzeige einer Jugendlichen wegen sexueller Belästigung aufgenommen«, erklärte sein früherer Mentor. »Und jetzt wird es heikel: Das Mädchen, eine Siebzehnjährige, ist Betreuerin bei Konfirmandenfreizeiten. Sie hat Pfarrer Gärtner angezeigt.«

»Ach, daher weht der Wind«, kombinierte Caspari.

»Wie meinst du das?«

»Na, er ist heute nicht hier. Der Dekan hat Clara gestern gesagt, dass es Gärtner gesundheitlich schlecht geht. Von jetzt auf gleich.«

»Wir sind aber noch gar nicht in dieser Sache aktiv geworden. Lediglich den Staatsanwalt und das Landeskirchenamt haben wir informiert.«

»Wobei soll ich dir nun helfen? Willst du wissen, ob ich Gärtner das zutraue?«, fragte Caspari. »Ich halte Michael Gärtner für einen integren Mann, der sich und seinen Prinzipien treu ist. Andererseits schützt das nicht immer vor Dummheiten.«

»Das war das eine, wonach ich dich fragen wollte. Das andere ist der Hinweis des Mädchens, dass sie sich einem Freund anvertraut hat, der als Messdiener immer wieder vom katholischen Pfarrer Leistner geschlagen worden sein soll. Beide hätten sich gegenseitig darin bestärkt, gegen die Geistlichen Anzeigen zu erstatten. Was hältst du davon?«

»Das ist mir ein bisschen suspekt. Zwei Jugendliche verabreden sich, fast zeitgleich ihre Peiniger vor den Richter zu zerren.«

»Geht mir genauso«, erwiderte Bertram. »Das Mädchen hat uns ein Bild gezeigt. Sie ist, wahrscheinlich gegen ihren Willen, nackt fotografiert worden. Sie sagte, das war Gärtner.«

»Sonst habt ihr nichts?«

»Doch, eine E-Mail, die Gärtner ihr geschickt haben soll. Darin schreibt er, dass er sie so wiedersehen will, wie auf dem Foto.«

»Gärtner?«, fragte Caspari. »Das passt gar nicht zu ihm. Er ist Keiner, der solche E-Mails schreibt.«

»Was sagst du?«

Caspari schwieg und wog das Für und Wider ab.

»Du weißt ja selbst, dass die Hälfte aller Anzeigen wegen sexueller Belästigung, Nötigung oder gar Vergewaltigungen aufgrund einer unklaren Beziehung zwischen dem vermeintlichen Opfer und dem angeblichen Täter erstattet werden. Die vorgeworfene Straftat hat in diesen Fällen gar nicht stattgefunden.«

»Ja, ich kenne diese Statistik. Mir kommt die Galle hoch, wenn ich so etwas höre«, regte Bertram sich auf. »Leute, die solche falschen Anzeigen erstatten, nutzen das Leid der wahren Opfer für ihre Zwecke aus.«

»Ich kann dir nur den Rat geben, in beide Richtungen zu ermitteln. So unangenehm das ist – du musst beiden Pfarrern auf den Zahn fühlen und gleichzeitig die zwei Jugendlichen ins Visier nehmen.«

»So ungefähr hatten Jürgen und ich uns das auch gedacht. Gut, dass du das genauso siehst.«

CASPARI

»Geht es dir gut?«, fragte Caspari. Was sollte Clara ihm darauf antworten?

»Ja und nein«, antwortete sie nach einer Weile. »Einerseits bin ich traurig, dass ich nicht mehr in der Gemeinde arbeite. Das hat mir viel Freude gemacht, auch wenn ich manchmal nicht mehr wusste, wie ich die Arbeit noch schaffen soll. Andererseits freue ich mich, dass mir so viele Menschen nach nur zwei Amtsjahren so große Sympathie entgegenbringen.«

»Ich bin mir im Klaren, was du für mich aufgibst«, sagte er leise und nahm sie in den Arm.

»Nein, ich gebe es nicht für dich allein auf, sondern auch für mich. Ich will ja in deiner Nähe sein. Und dieser Ort hier ist einfach wunderschön.«

»Wäre es dir recht, wenn ich den Fernseher anschalte?«, fragte Clara nach einer Weile. »Vielleicht lenkt mich das ein bisschen ab.«

»Ich dachte, Mendelssohn-Bartholdy und ich lenken dich ab«, lachte Caspari, schaltete die Musikanlage aus und gab ihr die Fernbedienung. Auf einem Programm lief eine langweilige Talkshow, in der Politiker darüber stritten, ob ein Minister seinen Hut nehmen sollte, weil er einen Teppich unverzollt auf einer seiner Dienstreisen mitgenommen hatte. Clara brummte unwillig und schaltete weiter. Die folgenden Programme waren auch nicht nach ihrem Geschmack. Schließlich landete sie bei einem Bericht über eine neue Actionkomödie mit dem Titel ›kiss and kill‹, die zum Teil im Frankfurter Bankenviertel gedreht worden war. In der Dokumentation über die Filmproduktion wurden einige kleine Aufnahmepannen gezeigt, über die Caspari lachen musste. Dann kamen die Hauptdarsteller zu Wort, die von ihrer Arbeit erzählten.

»Sieh mal, Maria MacDonald ist auch dabei. Die war doch mal eine ganze Weile von der Bildfläche verschwunden«, rief Clara und sah Caspari an.

Sein Gesichtsausdruck war ernst geworden.

»Ich weiß«, sagte er.

»Ach, hast du wieder mal beim Friseur Illustrierten gelesen?«, fragte sie ironisch.

»Nein, mich interessiert dieser Tratsch nicht. Aber Maria kenne ich persönlich.«

Clara lachte. »Du kennst einen der bestbezahlten Hollywoodstars? Willst du mich vergackeiern?«

»Nein, ich meine das ernst«, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den Clara nicht recht zu deuten wusste.

»Klar, und ich bin die Cousine von Bratt Pitt.«

»Maria und ich waren lange miteinander befreundet.« Langsam begann Clara, ihm zu glauben.

»Das musst du mir erklären!«

»Als Schüler war ich in einem deutsch-amerikanischen Austauschprogramm. Sie war die Schwester meines Austauschpartners. Ihr Bruder und ich wurden nicht so recht warm miteinander. Aber mit ihr habe ich mich blendend verstanden. Deshalb war sie es, die anschließend zu uns nach Deutschland kam.«

Clara blieb skeptisch.

»Irgendwie glaube ich dir immer noch nicht.«

»Dann geh doch rüber zu meinen Eltern und frage sie«, beharrte Caspari.

Clara bohrte weiter: »Warum hast du mir nie etwas von ihr erzählt?«

»Als Abiturient und später als Student habe ich sie öfter in den USA besucht, so gut es eben mein Geldbeutel zuließ. Dann steckte jeder von uns in seinen eigenen Verpflichtungen, und wir verloren uns aus den Augen.«

»Und das ist alles?«, fragte Clara.

»Das ist alles«, bestätigte er, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht stimmte.

MONTAG, 8. OKTOBER

CLARA

Clara mochte es nicht, nach einem anstrengenden Sonntag am Montag gleich wieder zu arbeiten. Doch der Schulbetrieb nahm auf Pfarrerinnen und deren Verpflichtungen an den Wochenenden keine Rücksicht. In den zwei letzten Stunden nahm sie die Kanonbildung des Neuen Testaments durch. Die Kämpfe der frühen Kirche mit den Gnostikern, den damaligen Esoterikern, wurden heiß diskutiert. Clara gefiel es, dass die Schüler es nicht einfach hinnahmen, dass die Kirchenväter Recht gehabt haben sollten, sondern dass sie sich mit den Argumenten aller Streitparteien intensiv auseinandersetzten.

Am deutlichsten fiel ihr Jasmin auf. Das Mädchen hatte sich in den vergangenen Monaten immer mehr zurückgezogen. In dieser Stunde schien sie allerdings aufzutauen. Heftig stritt sie mit und übernahm die Positionen der Gnostiker. Der Gong unterbrach schließlich eine der spannendsten Stunden, die Clara bisher in diesem Schuljahr unterrichtet hatte. Während die Schüler ihre Hefte und Bücher einpackten, sah sie zu Jasmin hinüber. Die Lebhaftigkeit, mit der sie diskutiert hatte, war schon wieder verflogen. Als Jasmin an ihr vorbeiging, hielt Clara sie an

»Einen Moment bitte, Jasmin.«

»Frau Frank?«

»Ich möchte dich kurz sprechen, ist das möglich?«

»Klar«, entgegnete das Mädchen. Sein Gesicht sagte etwas anderes.

»Mir fällt in letzter Zeit auf, dass du dich immer mehr zurückziehst«, begann Clara vorsichtig. »Du bist häufig abwesend.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, wand Jasmin sich.

»Geht es dir nicht gut? Ist etwas vorgefallen, das dich belastet oder dir Angst macht?«, fragte Clara ganz direkt.

»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Jasmin ein wenig zu halbherzig.

Clara wusste, dass sie so bei dem Mädchen nicht weiterkommen würde.

»In Ordnung. Wenn du Hilfe brauchst – ich bin für dich da.«

Für einen kurzen Augenblick fiel die Maske.

»Ja, danke, das weiß ich.«

Clara gab sich damit zufrieden. Sie wechselte das Thema.

»Ich habe mit Erstaunen die Vehemenz gesehen, mit der du die Position der Gnostiker verteidigt hast.«

»Die sind mir irgendwie sympathischer. Auf die kirchliche Lehrmeinung stehe ich gerade nicht so.«

Clara ließ sie gehen. Wenn sie Jasmin helfen wollte, musste sie Geduld haben.

Während Clara zum Lehrerzimmer ging, fiel ihr Michael Gärtner wieder ein. Sie nahm sich vor, ihn gleich zu besuchen, wenn sie ihre Sachen aus dem Lehrerzimmer geholt hatte. Anders als Jasmin würde er Clara sagen, was mit ihm los war. Oder sie würde so lange bohren, bis er es tat.

BERTRAM

Vincent Montag war ein hochgewachsener junger Mann von 18 Jahren. Auf Bertram wirkte er sympathisch. Was dem altgedienten Polizeibeamten sofort auffiel, war der unruhige Blick.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

»Der Gang zur Polizei fällt mir nicht leicht. Pfarrer Leistner ist schließlich eine Institution in Gelnhausen. Irgendwie fühle ich mich wie ein Königsmörder.«

»Was ist denn vorgefallen?«

»Nach meiner Kommunion wollte ich immer nur eins werden, und das war Messdiener. Ich fand es als kleiner Junge immer schon toll, neben dem Priester zu stehen und ihm dabei zu helfen, das Heilige zu zelebrieren. Am Anfang war Pfarrer Leistner auch sehr freundlich zu mir. Aber ich war ein Kind, das halt auch Fehler macht. Wenn er eine normale Arbeitswoche hatte, ließ er das durchgehen. Wenn er aber viele Beerdigungen und andere Verpflichtungen in der Woche hatte, war er sehr leicht reizbar. Einmal hatte er nach einer Messe einen heftigen Streit mit unserem Messner. Ich war noch in der Sakristei und räumte einige Kleinigkeiten weg, die die anderen Ministranten hatten liegen lassen. Pfarrer Leistner kam mit einem hochroten Kopf in die Sakristei, nachdem er den Messner nach Hause geschickt hatte. Er schrie mich gleich an: ›Du hast wieder einmal zu viel Weihrauch in das Fass getan. Sollen denn die Gottesdienstbesucher ersticken?‹ Dann hat er mich geschlagen.«

»Wie und wohin?«, fragte Bertram.

»Mit der flachen Hand auf meine Arme, dann hat er mich über’s Knie gelegt.«

»Nicht ins Gesicht?«

»Nein, wieso?«

»Was Sie mir erzählen, zeugt von einem kontrollierten Akt der Gewalt. Nach Ihrer Schilderung war der Pfarrer aber außer sich vor Wut. Man würde bei einem solchen Gemütszustand eher eine explosive Eskalation erwarten. Was ich damit sagen will, ist, dass die meisten Männer in Pfarrer Leisners Situation Sie wohl eher geohrfeigt und vielleicht noch geboxt hätten.«

»Ich nehme an, er wollte vermeiden, dass meine Eltern die Spuren seiner Misshandlung an mir entdecken.«

»Möglich. Wie ging es dann weiter?«

»Irgendwann bekam er sich wieder in den Griff, keuchte heftig und setzte mich wieder auf. Dann bat er mich um Entschuldigung für seinen Ausbruch. Es täte ihm furchtbar leid.«

»Sie haben die Entschuldigung akzeptiert?«

»Ja, natürlich. Ich war ja noch ein Kind, und der Priester stand in meiner Vorstellung Gott ganz nahe, näher als alle anderen Menschen.«

»War das das einzige Mal, dass er sie misshandelt hat?«

»Nein. Ich bin weiterhin Ministrant geblieben. Aber es war, als wäre mit diesem Übergriff ein Damm gebrochen. Er hat sich immer wieder an mir abreagiert, egal, wer von uns Messdienern Mist gebaut hat.«

»Wie oft geschah das?«

»Drei bis vier Mal im Jahr. Als Firmling schlug ich dann einmal zurück. Ich war kein Kind mehr und wollte seine Brutalität nicht länger hinnehmen. Er bekam meine Faust mit voller Wucht in den Magen. Danach hatte ich Ruhe.«

»Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt mit dieser Anzeige zu uns?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nach Ihrer Gegenwehr wäre doch ein guter Zeitpunkt gewesen. Sie fühlten sich doch auch stark genug, dass Sie zurückschlagen konnten.«

»Das war eine Verzweiflungstat. Trotzdem war er für mich immer noch der Priester.«

Jungmann, der die Aussage auf dem Computer mitgeschrieben hatte, sah stumm zu Bertram hinüber. In seinen Blick stand der Zweifel geschrieben.

Nachdem sie Vincent den Text seiner Aussage vorgelesen hatten und dieser ihn unterzeichnet hatte, ließen sie ihn gehen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sagten beide für eine halbe Ewigkeit kein Wort.

»Glaubst du ihm?«, fragte Bertram.

»Nicht eine Silbe«, antwortete Jungmann kalt.

»Und dem Mädchen?«

»Auch nicht.«

»Und die Sache mit der E-Mail von Gärtner?«

»Das ist das einzige, was meinen Standpunkt noch umwerfen könnte.«

»Aber warum um alles in der Welt belasten sie die beiden Pfarrer?«

»Gute Frage. Ich habe noch nicht mal eine Vermutung«, meinte Jungmann schulterzuckend.

»Aber es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden.«

»Ja, das ist es«, brummte Bertram. »Und ich befürchte, das wird eine schmutzige Angelegenheit.«

IRINA

Irina kam nur sehr langsam zu sich. Der Boden bewegte sich. Sie wandte den Blick sofort Richtung Decke. Man hatte sie zusammen mit den anderen Mädchen in Betten gelegt, die in einem engen Raum mit weißen Wänden standen. Sie hörte ihre Kameradinnen husten und spucken. Eine würgte und erbrach sich in einen Eimer, der neben ihrem Bett stand.

Der Schwindel ließ allmählich nach. Gleichzeitig nahm sie das tiefe Brummen wahr, das nicht aufzuhören schien. Vorsichtig stellte sie die Füße auf den Boden und stemmte sich mit den Händen aus dem Bett. Der Boden wankte so stark, dass sie wieder zurück fiel.

Sascha schaute vom Bett über ihr herunter.

»Hallo, kleine Schwester«, sagte sie halblaut. »Du hast lange geschlafen.«

»Wo sind wir hier?«, fragte Irina.

»Auf einem Schiff.«

»Auf einem Schiff?«

»Ja, da ist eine Luke, da kannst du rausgucken, wenn du stehen kannst. Draußen siehst du die Wellen.«

»Warum sind wir hier, Sascha?«

»Ich weiß es nicht, Irina. Aber etwas Gutes kann das nicht bedeuten.«

GÄRTNER

Das Leben im zwangsverordneten Urlaub war unerträglich. Michael Gärtner lief im Haus umher wie ein Tiger im Käfig. Er hatte versucht sich damit abzulenken, dass er endlich einmal sein Büro aufräumte und die Ablage auf Vordermann brachte. Er hasste die Verwaltungsarbeit, doch sie lenkte ihn den Vormittag über ab. Dann versuchte er, mit seiner Frau zu kochen, so wie sie es sonst immer taten, wenn er sonntags predigtfrei hatte. Doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu den beiden Fotos. Nachdem er sich beim Zwiebelschneiden in den Finger geschnitten hatte, nahm Claudia ihm das Küchenmesser aus der Hand.

»Lass gut sein, Michael. Das wird so nichts. Wir sind ja ohnehin fast fertig. Den Salat bekomme ich auch noch allein hin.«

Verärgert über sich selbst, ging er ins Bad und klebte ein Pflaster auf die Wunde.

»Dieses Warten macht mich fertig«, sagte er, als er in die Küche zurückkam.

»Du glaubst, diese Bilder waren erst der Anfang?«, fragte Claudia beunruhigt.

»Natürlich«, erwiderte er. »Wer auch immer in meinen Computer eingedrungen ist, wird garantiert nicht aufhören. Für einen dummen Jungenstreich kostet eine solche Hackerarbeit zu viel Zeit und Engagement. Was wollen die bloß von mir? Ich habe doch niemandem etwas getan.«

»Ich weiß es nicht, Michael, ich weiß es nicht. Wenn du selbst schon keine Idee hast …«

Claudia drückte zärtlich seine Hand. Dann streichelte sie ihm über die Wange. Für solche kleinen Momente der Zärtlichkeit hatten sie sich in der Vergangenheit wenig Zeit genommen. Michael tat ihre Berührung unendlich gut. Ein schrilles Pfeifen ließ sie beide zusammenzucken. Der Dampfkochtopf signalisierte, dass die Kartoffeln fertig waren. Claudia grinste.

»Na dann, Mahlzeit!«

Kurz nach dem Essen klingelte es. Bertram und Jungmann standen vor der Tür.

»Guten Tag, Herr Pfarrer. Wir müssen mit Ihnen reden.«

Nachdem Gärtner sie hineingebeten hatte, fragte er: »Worum geht es denn?«

»Können wir ungestört sprechen?«, fragte Bertram.

»Natürlich, wir gehen in mein Amtszimmer.«

Nachdem sie sich gesetzt hatten, bot er ihnen etwas zu Trinken an. Innerlich brodelte es in ihm vor Aufregung, aber nach außen hin versuchte er, ruhig und gelassen zu wirken. Die Polizisten lehnten dankend ab.

»Wir sind hier, weil jemand eine Anzeige gegen Sie erstattet hat«, erklärte Bertram.

»Gegen mich? Aber warum? Ich verstehe nicht«, stammelte Gärtner.

Er hatte immer noch keine Ahnung, aus welcher Richtung der Angriff kommen konnte.

Jungmann legte zwei große Abzüge der Fotos auf den Tisch. »Kennen Sie diese Bilder?«

Zeit seines Lebens war Gärtner am besten damit gefahren, bei der Wahrheit zu bleiben, auch wenn das manchmal schwieriger war.

»Ja, ich kenne diese Bilder«, sagte er.

»Die Juristen Ihrer Landeskirche sagten mir vorhin schon am Telefon, dass Sie dem Dekan darüber Bericht erstattet haben«, antwortete Bertram.

Michael Gärtner war erleichtert. Er war bei der Wahrheit geblieben und hatte damit die richtige Entscheidung getroffen.

»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Fotos in Ihren Dateien abgelegt hat?«, fragte Jungmann freundlich.

»Nein, beim besten Willen nicht. Ich selbst weiß auch gar nicht, wie man so etwas macht. Die Abteilung, die für unser Intranet zuständig ist, sucht bereits nach dem Leck in unserer Schutzsoftware.«

»Was tun Sie, wenn sich herausstellt, dass diese Fotodateien gar nicht auf einen Hackerangriff zurückgehen?«, fragte Jungmann weiter.

»Ich weiß es nicht.«

Das war die ehrlichste und zugleich auch die einzige Antwort, die Gärtner auf diese Frage hatte.

»Jasmin Huth und ihre Eltern haben Sie wegen sexueller Belästigung angezeigt«, erklärte Bertram.

»Angesichts dieser Bilder hatte ich mir so etwas schon gedacht.«

»Wissen Sie, das unfreiwillige Nacktfoto kann von jedem jedem gemacht worden sein«, meinte Jungmann. »Aber es existiert auch noch eine E-Mail von Ihnen, in der Sie Jasmin um ein Sex-Date bitten.«

»Wie bitte?«, rief Michael Gärtner außer sich. »Ich soll sie um ein Treffen gebeten haben?«

Die Nachricht, dass Jasmin ihm so etwas unterstellte, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Aufgeregt sprang er auf und lief im Amtszimmer auf und ab.

»Das Mädchen geht hier seit Jahren ein und aus. Jasmin gehört praktisch zur Familie. Gut, in letzter Zeit ist es etwas weniger geworden. Ich dachte, dass sie vielleicht einen neuen Freund hat. Seit Beginn meiner Amtszeit arbeite ich mit Jugendlichen zusammen. Ich versuche, ihnen Perspektiven, Lebensrichtung und Halt im Glauben zu geben. Dafür brenne ich, aber doch nicht dafür, über ein Mädchen herzufallen.«

»So kenne ich Sie ja auch«, versuchte Bertram ihn zu beruhigen. »Aber leider ist da diese E-Mail. Die ist in Verbindung mit diesen Fotos auf Ihrem Rechner sehr belastend für Sie.«

Gärtner versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann kam ihm eine Idee.

»Kann ich diese Mail einmal sehen?«

Jungmann zog ein Blatt Papier aus einer Aktenkladde und reichte es ihm.

›Ruhig bleiben‹, ermahnte Gärtner sich. ›Sieh genau hin.‹ Er zwang sich, die Nachricht zu lesen.

›Hallo Jasmin, wir hatten eine schöne Zeit miteinander. Die Bilder erzählen davon. Du bist so schön! Ich will dich so wiedersehen, dich anfassen und streicheln. Lass mich nicht warten. Michael.‹

»Igitt! Das ist ja ekelhaft!«, platzte es aus ihm heraus.

»Diese Nachricht wurde zweifelsfrei zu Jasmins Mailbox geschickt. Der Absender trägt Ihre Adresse«, erwiderte Jungmann.

»michael.gä[email protected], ja, das ist mein Postfach.«

Lange hielt er das Blatt in der Hand. Irgendwo musste doch ein Fehler sein, der seine Unschuld bestätigen konnte. Auch wenn er noch so klein und unbedeutend war, Michael Gärtner musste ihn finden. Wieder und wieder las er alles durch. Dann fand er, wonach er gesucht hatte. Ganz klein und unscheinbar stand es im Kopf des Schreibens.

»Die Nachricht kann nicht von mir sein«, sagte er mit fester Stimme.

»Warum nicht?«, fragte Jungmann.

»Weil sie zu einem Zeitpunkt abgeschickt wurde, an dem ich gar nicht am Rechner gesessen habe.«

»Können Sie das beweisen?«, fragte Bertram.

»Das ist kein Problem. An diesem Abend hatten wir eine lange Kirchenvorstandssitzung, in der wir unter anderem die Verabschiedung der Kollegin Frank planten.«

»Donnerstag, der 6. September 2012, 21.30 Uhr«, las Bertram vor. »Sind Sie sich sicher?«

»Hundertprozentig. Ich war turnusgemäß mit dem Schreiben des Protokolls dran.«

»Aber wie kommt diese Nachricht mit Ihrem Absender in Jasmin Huths Mailbox? Haben Sie dafür eine Erklärung?«, fragte Jungmann.

»Nicht die geringste«, erwiderte Gärtner.

»Für unsere Ermittlungen wäre es hilfreich, wenn wir Ihren Rechner mit auf’s Revier nehmen dürften.«

»Ich kann ihn leider nicht so einfach rausgeben, denn er gehört nicht mir. Dieser Computer gehört der Landeskirche. Die muss mir erst grünes Licht geben, dann können Sie ihn selbstverständlich haben.«

»Wir werden unseren Wunsch den Kirchenjuristen vortragen«, meinte Bertram. »Ansonsten haben wir vorerst keine Fragen.«

Gärtner sah an Bertrams Gesicht, dass der sich seine Worte gründlich überlegte.

»Wir müssen gegen Sie ermitteln, Herr Pfarrer. Und zwar so lange, bis alle Verdachtsmomente ausgeräumt sind. Aber ich gehe von hier weg mit der Überzeugung, dass Sie unschuldig sind.«

»Und Jasmin? Warum tut sie so etwas?«, fragte Gärtner.

»Die Ermittlungen laufen auch in ihre Richtung. Ob sie auch nur ein Opfer ist oder eine Intrigantin, wissen wir derzeit noch nicht. Bitte suchen Sie nicht den Kontakt zu ihr, während die Ermittlungen laufen. Das würde Ihre Position nur schwächen.«

Gärtner verabschiedete die beiden Polizisten an der Haustür. Clara kam ihnen entgegen und grüßte sie. Gärtner wartete mit einem leisen Zittern auf sein Kollegin. Das Gespräch mit der Polizei hatte ihn viel Kraft gekostet. Vielleicht konnte Clara ihm dabei helfen, die Dinge in seinem Kopf zu ordnen.

PETER SAUER

Er wusste nicht, wie lange er noch die Demütigungen über sich ergehen lassen konnte. Dabei musste er froh sein, seinen Arbeitsplatz behalten zu haben. Peter Sauer kam frustriert aus der Redaktionssitzung des Gelnhäuser Anzeigers. Wieder hatte ihm der Ressortchef nur Aufgaben zugeteilt, die er hasste: Berichte über Jahreshauptversammlungen verschiedener Vereine im Kinzigtal. Jedes Mal musste er sich Vorstandsberichte anhören, das umständliche Prozedere der Neuwahlen miterleben und anschließend die neuen Vorstandsmitglieder möglichst vorteilhaft fotografieren. Dann verbrachte er viel Zeit in der Redaktion, um all das spannender in seinem Bericht darzustellen, als es seiner Meinung nach in Wirklichkeit war. Daneben versorgte sein Chef ihn mit reichlich Arbeit am Schreibtisch. In dieser Zeit waren die Kollegen unterwegs, um über heftige Streitigkeiten in Gemeindeparlamenten oder Abwahlen von Bürgermeistern zu berichten.

Vor zwei Jahren hatte er seiner Karriere selbst das Grab geschaufelt. Damals hatte er die Hoffnung gehabt, mit besonders investigativem Journalismus das Interesse bedeutender Zeitungsredaktionen an seiner Arbeit zu wecken. Lange war er der Liebling des Verlegers, bis er in einem großen Bericht über die regelmäßigen Treffen eines Kreistagspolitikers mit einer Edelprostituierten berichtet hatte. Der Fraktionsvorsitzende der FDP hatte daraufhin alle Register gezogen, um ihn fertigzumachen. Das war ihm auch fast gelungen. Nun war Peter Sauer eine ganz kleine Nummer in der Redaktion, seine Ehe war daran zerbrochen und er selbst nur noch der Schatten des damals vor Selbstbewusstsein strotzenden Journalisten.

Doch nun schien die Zeit gekommen zu sein, wieder den Platz einzufordern, der ihm zustand. Auf dem Tisch lag seine Fahrkarte für die Rückkehr in sein altes Leben. Lange hatte er überlegt, ob er den anonymen Brief überhaupt ernst nehmen oder gleich in den Papierkorb werfen sollte. Doch die Anschuldigungen gegen die beiden Pfarrer waren zu schwerwiegend, um sie einfach zu ignorieren. Falls sie sich bewahrheiteten, war das die Story seines Lebens. Er fasste den Entschluss, niemandem davon zu erzählen und auf eigene Faust zu recherchieren.

CLARA UND CASPARI

Während des Abendessens brannten Clara einige Fragen unter den Fingernägeln. Das Gespräch mit Michael Gärtner ließ ihr keine Ruhe. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass dieser sich jemals eine solche Entgleisung erlauben würde. Solange Lukas noch am Tisch saß, konnte Clara Caspari nicht nach seiner Meinung fragen. Der Kleine sollte von der ganzen Geschichte nichts mitbekommen. Als Caspari ihn endlich ins Bett gebracht hatte und die Treppe herunterkam, platzte es aus ihr heraus, noch bevor er wieder am Küchentisch Platz genommen hatte.

»Sag mal, Christoph, ist es eigentlich für einen Außenstehenden möglich, über das Internet fremde Dateien auf den Rechner eines anderen zu schmuggeln?«

»Interessant, dass du mich das fragst«, erwiderte Caspari mit einem Grinsen. »Ja, im Prinzip ist das möglich, soweit ich weiß. Allerdings braucht man dazu einen wirklich guten Hacker.«

»Meinst du, ein Hacker kann den Angriff eines anderen auf einen Computer erkennen?«

»Auch das ist möglich, vorausgesetzt, der ist auch richtig gut in seinem Fach. Warum willst du das denn wissen?«

Clara holte tief Luft.

»Du musst mir versprechen, das für dich zu behalten«, sagte sie schließlich.

»Na gut, aber nur, weil du es bist.«

Alles, was Michael Gärtner ihr erzählt hatte, sprudelte aus ihr heraus, auch die Beschreibung der beiden Bilder.

»Über die Anzeige gegen deinen Kollegen weiß ich Bescheid. Die Geschichte mit den zwei Fotos kannte ich allerdings noch nicht. Früher oder später wird sich ein Fachmann der Polizei den Rechner vornehmen. Aber bis das soweit ist, kann doch auch Lars den Trojaner suchen.«

Natürlich hatte Caspari recht. Wie hatte sie nur Lars vergessen können? Sie hatte ihn vor wenigen Wochen vor einer großen Dummheit bewahrt. Der Mathematikstudent und passionierte Hacker war ihr noch einen Gefallen schuldig.

DIENSTAG, 9. OKTOBER

BERTRAM

Bertram und Jungmann saßen im katholischen Pfarrbüro. Leistners Haushälterin goss ihnen Kaffee ein, dann ließ sie die drei Männer allein.

Der katholische Geistliche schaute sie erwartungsvoll an.

»Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«, fragte der Priester.

Während Bertram in Gärtners Gesichtsausdruck eine dunkle Vorahnung gesehen hatte, schien sein katholischer Kollege tatsächlich nicht zu wissen, warum sie ihn aufsuchten.

»Kennen Sie einen Vincent Montag?«, begann Bertram.

»Ja, natürlich kenne ich den. Seit seiner Taufe sogar. Der ist ein ganz aktiver junger Mann in unserer Gemeinde. Ist ihm etwas passiert?«, fragte der Geistliche besorgt.

Jungmann übernahm es, den Pfarrer über die Anzeige und ihren Inhalt zu informieren.

Leistner starrte Bertram fassungslos an.

»Das kann doch alles gar nicht sein. Das gibt es doch gar nicht«, sagte er mit belegter Stimme.

»Gab es in der letzten Zeit irgendwelche Anzeichen, dass der Junge auf Sie schlecht zu sprechen ist?«, fragte Bertram.

»Nein, um Gottes willen, nein! Vincent war seit seiner Kommunion ein sehr netter und zuverlässiger Messdiener, über den es nicht das Geringste zu klagen gibt. Vor einiger Zeit kam er allerdings zu mir, um mir zu sagen, dass er mehr Zeit und Energie in die Schule investieren müsse. Seine Noten wären nicht so berauschend. Er musste als Messdiener aufhören. Es tat mir sehr leid, aber ich hatte Verständnis für seine Situation, zumal er diesen Dienst viel länger als irgendein anderer Jugendlicher in unserer Gemeinde ausgeübt hat. Die Anforderungen des Grimmelshausen Gymnasiums sind sehr hoch, wie ich immer wieder höre. Vincent ist zwar ein intelligenter Kerl, aber auch ein fauler Hund, wenn es um die Schule geht.«

»Wie kommt der Junge darauf, Sie wegen Missbrauchs anzuzeigen?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. In meiner ganzen Amtszeit habe ich niemals ein Kind oder einen Jugendlichen geschlagen. Das wäre mir nie im Traum eingefallen. Natürlich muss man achtgeben, dass die einem nicht auf der Nase rumtanzen. Aber Schlagen – das lehne ich vollkommen ab!«

Nachdem sich Leistner wieder etwas beruhigt hatte, verließen Bertram und Jungmann das Pfarrhaus.

»Glaubst du ihm?«, fragte Jürgen Jungmann seinen Schwiegervater ganz direkt.

»Ja. In seinem Gesicht konnte man lesen wie in einem offenen Buch. Der arme Mann ist aus allen Wolken gefallen.«

»Es dürfte ohnehin schwer für Vincent Montag sein, seine Anschuldigungen vor Gericht zu beweisen. Es gibt keine Zeugen, keine Verletzungen oder Narben, keine brauchbare Spuren. Nichts außer der Aussage eines Jugendlichen. Was wird der Staatsanwalt dazu sagen?«

»Keine Ahnung!«

CASPARI

Caspari konnte Leute wie Marcel Nick nicht ausstehen. Der Inhaber einer Computer-Softwarefirma stand seit einiger Zeit im Fokus der Fahndungen des Bundeskriminalamtes. Die Abteilung für Internetkriminalität hatte Caspari und seine Leute bei den Ermittlungen gegen den Betreiber einer Kinderporno-Plattform um Zusammenarbeit gebeten.