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Petra Schier

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Beschreibung

Die Macht des Geldes Köln, 1423. Aleydis de Bruinker ist noch nicht lange mit dem lombardischen Geldverleiher Nicolai Golatti verheiratet, als dieser unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt. Man findet ihn erhängt – hat er sich das Leben genommen? Aleydis will das nicht glauben. Und tatsächlich: Sie entdeckt Male, die auf einen Mord hinweisen. Potenzielle Täter gibt es genug, Golatti hatte viele Feinde. Die junge Witwe stellt Nachforschungen an. Zu Hilfe kommt ihr dabei ausgerechnet Gewaltrichter Vinzenz van Cleve, dessen Vater der größte Konkurrent Golattis war. Wider Willen beginnt sie, van Cleve zu vertrauen, der der Wahrheit verpflichtet scheint und doch ein düsteres Geheimnis hegt. Schon bald schwebt Aleydis in großer Gefahr, und es sieht aus, als sei ihr einziger Verbündeter in den Mord verstrickt …

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Seitenzahl: 557

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Petra Schier

Das Gold des Lombarden

Historischer Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Macht des Geldes

Köln, 1423. Aleydis de Bruinker ist noch nicht lange mit dem lombardischen Geldverleiher Nicolai Golatti verheiratet, als dieser unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt. Man findet ihn erhängt – hat er sich das Leben genommen? Aleydis will das nicht glauben. Und tatsächlich: Sie entdeckt Male, die auf einen Mord hinweisen.

Potenzielle Täter gibt es genug, Golatti hatte viele Feinde. Die junge Witwe stellt Nachforschungen an. Zu Hilfe kommt ihr dabei ausgerechnet Gewaltrichter Vinzenz van Cleve, dessen Vater der größte Konkurrent Golattis war. Wider Willen beginnt sie, van Cleve zu vertrauen, der der Wahrheit verpflichtet scheint und doch ein düsteres Geheimnis hegt. Schon bald schwebt Aleydis in großer Gefahr, und es sieht aus, als sei ihr einziger Verbündeter in den Mord verstrickt …

Über Petra Schier

Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit Mann und Hund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet seit 2003 als freie Autorin.

Bekannt wurde sie mit der erfolgreichen Reihe um die Kölner Apothekerin Adelina. Auch ihre Kreuz-Trilogie und Aachen-Trilogie haben bereits viele Leserinnen und Leser begeistert.

Personenverzeichnis

Der Haushalt und die Familie des Nicolai Golatti:

Aleydis Golatti Gemahlin des Lombarden Nicolai Golatti, Jorg de Bruinkers Tochter

Andrea Nicolais Bruder, Eisenwarenhändler

Arnold Hürth Griseldas Bruder, Cathreins Onkel

Cathrein de Piacenza Nicolais Tochter, Jacobs Witwe, Begine, Ursels und Marleins Mutter

Ells Köchin

Gerlin Magd

Griselda Nicolais verstorbene Gemahlin, Cathreins Mutter

Irmel Magd

Jacob de Piacenza Geldwechsler aus Bonn, Marleins und Ursels Vater, verstorben

Jorg de Bruinker Aleydis’ Vater, Tuchhändler

Krista Jorg de Bruinkers Gemahlin

Lutz Knecht

Marlein Cathreins Tochter, Ursels ältere Schwester

Nicolai Golatti Aleydis’ Gemahl, Lombarde, Geldwechsler und -verleiher, Cathreins Vater, Andreas Bruder

Robert de Piacenza Vetter von Cathreins verstorbenem Gemahl Jacob aus Bonn

Sigbert Hussel Lehrling

Symon Knecht in Nicolais Haushalt

Thonnes van Kneyart Lehrling

Wardo Knecht

Ursel Cathreins Tochter, Marleins jüngere Schwester

Die Amtmänner der Stadt Köln:

Cristan Reese Einer der drei Kölner Gewaltrichter

Ewald von Odendorp Advocat und Gerichtsschreiber (Notarius)

Georg Hardefust Einer der drei Kölner Gewaltrichter

Johann Hussel Schöffe, Sigberts Vater

Richwin van Kneyart Schöffe, Thonnes’ Vater

Vinzenz van Cleve Einer der drei Kölner Gewaltrichter, Albas Bruder, Gregor van Cleves Sohn, Geldwechsler und -verleiher

Weitere Personen:

Adelheid Langhölm Tochter eines reisenden Topf- und Pfannenhändlers

Alba Vinzenz von Cleves ältere Schwester, verwitwet

Änne ehemalige Dirne, jetzt Magd im Haus Zur schönen Frau

Annelin Vinzenz van Cleves verstorbene Gemahlin

Balthasar Wardos Bruder

Birgel Hafenarbeiter, Clentz’ älterer Bruder

Clentz Hafenarbeiter, Birgels jüngerer Bruder

Clewin Knecht in Vinzenz van Cleves Haushalt

Elsbeth Vorsteherin der Dirnen im Haus Zur schönen Frau in der Schwalbengasse auf dem Berlich

Gero Ännes Sohn, Knecht im Haus Zur schönen Frau

Giselle Dirne im Dirnenhaus Zur schönen Frau

Gregor van Cleve Vinzenz van Cleves und Albas Vater, Geldwechsler und -verleiher

Hardwin Balthasars Sohn

Jan Starkenberg Weinhändler, Aleydis’ Nachbar

Jonata Hirzelin Beginenmeisterin in der Glockengasse

Lentz Gassenjunge, Gerlins kleiner Bruder

Ludger Wachmann in Vinzenz von Cleves Haus

Mathis Greverode Sohn des Ratsherrn und Hauptmanns der Stadtsoldaten Tilmann Greverode und seiner Gemahlin Mira

Mats Geucher Büttel

Meister Claiws Nikolaus van Bueren, 1380–1445, ab 1424/25 Dombaumeister in Köln (historisch verbriefte Person)

Meister Fredebold Messerschmied

Meister Schullein Schuster

Mettel Begine in der Glockengasse

Pater Ecarius Benediktiner, Pfarrer im Kirchspiel St. Kolumba, Jonatas Bruder

Sigurt Weidbrecher Kaufmann

Trin ehemalige Dirne, jetzt Magd im Haus Zur schönen Frau

Kapitel 1

Köln, 16. August, Anno Domini 1423

Weder Abortgrube noch Misthaufen störten heute den Wohlgeruch. Den Mist hatte Lutz, der Altknecht, gestern auf den großen Karren geladen und seinem Bruder gebracht, der Kappesbauer am Eigelstein war, und die Abortgrube war zwei Nächte zuvor von den Goldgräbern geleert worden. Die Sonne war gerade im Begriff, sich über die Dächer und Kirchtürme der Stadt zu erheben, und versprach einen weiteren warmen Sommertag, und ringsum ertönte das vielstimmige Morgengezwitscher der Vögel. Schon seit fast einer Woche hielt sich das trockene Wetter, und allmählich hätte es um der Kräuter und des Gemüses willen, das im Garten gehätschelt wurde, ruhig einmal wieder regnen dürfen. Andererseits liebte Aleydis den Sommer. Sie stand noch in der Hintertür, die zur Küche führte, und atmete tief die frische, würzige Morgenluft ein, genoss die leichte Brise, die in den Blättern der Esskastanien am Rand des quadratischen Hofes raschelte.

Der Blick in die Kronen der kräftigen, uralten Bäume brachte sie zum Lächeln. Schon jetzt war zu erkennen, dass die Maroni-Ernte in diesem Jahr üppig ausfallen würde. Sie aß die süßlichen Früchte mit der stacheligen Schale für ihr Leben gern. Ells, die Köchin, behauptete zwar hartnäckig, dass Esskastanien zu Magenbeschwerden, Blähungen und Durchfällen führten und deshalb gemieden werden müssten, doch Aleydis hatte in dieser Hinsicht noch nie Probleme gehabt. Außerdem waren Esskastanien günstige Nahrungslieferanten im Winter – sie würde also jede einzelne Frucht einsammeln und konservieren, ob nun gekocht oder geräuchert. Schließlich stand sie einer großen Familie vor und wollte die Haushaltskasse, die ihr Mann ihr stets großzügig füllte, nicht über Gebühr strapazieren.

Nicolai Golatti betonte immer wieder, wie stolz er auf seine tüchtige und sparsame Hausfrau sei, und sie freute sich über die Anerkennung. Nötig hatten sie das Sparen nicht, denn Nicolai war einer der bekanntesten und wohlhabendsten Münzwechsler Kölns. Sein großes Anwesen und die vielen Bequemlichkeiten, die das zweistöckige Wohnhaus auszeichneten, verrieten, welchen Wohlstand der Hausherr seiner Familie zu bieten hatte.

Aleydis fand jedoch, das sei noch kein Grund, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Aus ihrem Elternhaus war sie an bescheidenere Verhältnisse gewöhnt und stolz darauf, von sich behaupten zu dürfen, dass sie trotzdem über eine stets gut bestückte Vorratskammer verfügt und jeden Tag ein schmackhaftes Essen auf den Tisch gezaubert hatte.

Bis kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstag hatte sie ihrem Vater, dem Tuchhändler Jorg de Bruinker, den Haushalt geführt. Nach dem Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren war ihr als einziger Tochter nicht viel anderes übriggeblieben. Ihr Vater ging ganz in der Welt der Stoffe, Wollen und Tuche auf, fuhr manchmal auf Messen und brachte regelmäßig andere Kaufleute zu Gastmählern mit nach Hause. Jemand musste sich um alles kümmern, und Aleydis tat es gern. Sie hatte Freude an einem gut geführten Haushalt, in dem alles seinen Gang ging. Noch ein wenig mehr Spaß hatte sie allerdings an der Buchführung, die der Vater ihr zunehmend überließ, nachdem er ihr die Grundlagen beigebracht hatte. Früher hatte ihre Mutter diese Arbeit verrichtet und Aleydis glücklicherweise ein Talent fürs Kopfrechnen sowie eine gut lesbare Handschrift vererbt.

Das Leben hätte, wenn es nach Aleydis gegangen wäre, ewig in diesen ruhigen Bahnen verlaufen dürfen. Doch dann, eines stillen Tages, war Jorg an seine Tochter herangetreten und hatte ihr verkündet, er wolle sich erneut verheiraten. Krista, die Witwe eines Buntwörters, war seine Liebe aus Jugendzeiten, deren Hand ihm einst verwehrt worden war, weil er keinerlei Vermögen vorzuweisen gehabt hatte. Nun jedoch war sie frei und willens, sich ihm anzuvermählen. Drei Kinder – zwei davon bereits fast erwachsene Töchter nur wenige Jahre jünger als Aleydis, das dritte ein zwölfjähriger Sohn – würden die Familie bereichern.

Aleydis freute sich für ihren Vater und hieß die neuen Familienmitglieder nicht nur willkommen, sondern übernahm auch wie selbstverständlich die wachsenden Haushaltspflichten. Was sie nicht bedacht hatte, war die Tatsache, dass zwei Hausfrauen in einer Küche selten lange Frieden wahren können. Schon gar nicht, wenn sie beide über ein energisches Gemüt verfügen. Streit und Zwistigkeiten schlichen sich in den Alltag, bis es Jorg zu bunt wurde und er beschloss – zum Wohle aller, wie er betonte –, Aleydis habe es verdient, einen eigenen Hausstand zu führen. Er hatte sich wohl schon länger Gedanken darüber gemacht, denn ein passender Bräutigam war schnell zur Stelle gewesen.

Anfangs war Aleydis skeptisch gewesen, denn der Auserwählte war ein alter Freund ihres Vaters – alt an Freundschafts- wie an Lebensjahren. Er hatte zum veranschlagten Hochzeitstermin seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag bereits seit einigen Monaten hinter sich; Aleydis war also mit ihren nunmehr zwanzig Jahren weniger als halb so alt wie er. Dass sie sich dennoch nicht gegen die Ehe sträubte, war Nicolais freundlichem Wesen geschuldet und der Tatsache, dass er sie nicht nur ehrlich gern hatte, sondern sie auch hinsichtlich ihrer Talente wertschätzte. Schon kurz nach der Vermählung vertraute er ihr einen Teil seiner Rechnungsbücher an und bat sie, diese ordentlich ins Reine zu schreiben und fortan unter seiner Aufsicht zu führen.

Wenig später hatte er ihr in einem traulichen Moment gestanden, dass er sich zu Beginn seiner Werbung um sie einen Narren gescholten hatte, weil er sich eine so junge, hübsche Frau ins Haus holen wollte. Eine Frau, die sogar noch sechs Jahre jünger war als seine eigene geliebte Tochter. Eine Braut, für die ihn wegen ihrer Schönheit und wohlgeratenen Gestalt sämtliche Kölner Junggesellen glühend beneiden würden. Spott und Häme hatte er tatsächlich hier und da aushalten müssen, weil einige Zeitgenossen sich natürlich fragten, ob er überhaupt noch Manns genug für die jugendlich frische Aleydis sei.

Diese Frage, so vertraute er ihr weiter an, hatte er sich sogar selbst gestellt, denn er litt schon seit längerer Zeit unter einem zunehmenden Mangel an männlichem Stehvermögen, wie er es scherzhaft bezeichnete. Allerdings hatte seine körperliche Verfassung dann doch ausgereicht, um die Hochzeitsnacht mit Anstand hinter sich zu bringen.

Mit dem Anflug eines Lächelns ließ sie sich auf der Steinbank am Rand ihres Gartens nieder und dachte an jenen ersten Beischlaf zurück. Sie hatte sich ein wenig gefürchtet, jedoch ohne Grund, wie ihr bald klargeworden war. Nicolai war ein besonnener Mann und gewillt, ihr die ehelichen Pflichten durchaus angenehm zu gestalten. Auch wenn er tatsächlich nicht über die Ausdauer eines jüngeren Mannes verfügte, so konnte Aleydis sich dennoch glücklich schätzen, denn gewiss gab es Frauen, denen es weniger gut erging.

Zum Dank für Nicolais Freundlichkeit und Zuneigung hätte sie ihm gerne den gewünschten Sohn geschenkt. Das war nämlich neben seiner – wie er fand – beinahe törichten Vorliebe für sein hübsches Weib ein weiterer Grund für ihn gewesen, sich noch einmal zu vermählen. Seine erste Frau war sechs oder sieben Jahre zuvor an einem Lungenfieber gestorben und hatte ihm nur eine einzige Tochter gebären können. Danach waren zwar noch Kinder gezeugt worden, die jedoch entweder schon vor oder gleich nach der Geburt ins ewige Himmelreich abberufen worden waren. Irgendwann hatte das Paar es aufgegeben.

Aleydis argwöhnte, dass einer der Gründe für seinen fehlenden Ehrgeiz womöglich gar nicht bei ihm zu suchen war, sondern in dem Umstand, dass Griselda, seine verstorbene Gemahlin, einige Jahre älter als er und wenig ansehnlich gewesen war. Wie sonst war zu erklären, dass seine Vitalität angesichts einer hübschen, unverbrauchten Braut schlagartig, wenn auch wohl nicht in vollem Umfange zurückgekehrt war? Er hatte Griselda einst ihrer gewaltigen Mitgift wegen geheiratet und wegen der Verbindungen, die ihre Familie zu den wichtigen Adels- und Patrizierhäusern nicht nur in Köln, sondern im gesamten Umland unterhielt und die er sich seitdem für seine Geschäfte erfolgreich zunutze machte.

Nun erhoffte sich Nicolai von seiner neuen Frau endlich den ersehnten Erben, und Aleydis hätte ihm diese Freude gerne bereitet. Bislang waren ihre Bemühungen allerdings noch nicht von Erfolg gekrönt worden. Gerade am vergangenen Abend hatte Nicolai ihr wieder einmal beigewohnt, und während sie ihren Blick über die von ersten Sonnenstrahlen erhellten Beete voller Rüben, Erbsen und Zwiebeln gleiten ließ, dachte sie darüber nach, an welchen Heiligen sie sich mit ihrem Kinderwunsch wenden sollte, um dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen.

Sie schwankte zwischen Maria Magdalena, der heiligen Lucia und der heiligen Margareta und fragte sich nachgerade, ob nicht alle drei anzurufen das Vernünftigste sei, als sie hinter sich Schritte auf dem steinigen Untergrund des Hofes vernahm. Augenblicke später spürte sie zwei warme Hände auf ihren Schultern.

«Na, mein Püppchen, habe ich dich beim Müßiggang erwischt?»

Aleydis legte den Kopf in den Nacken und blickte lächelnd in die vergnügt blitzenden braunen Augen ihres Gemahls. «Dies ist die einzige Tageszeit, zu der ich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen kann, Nicolai. Ich hoffe, Ihr seid mir deshalb nicht gram.»

«Weshalb sollte ich? Ich weiß doch, dass du nie lange die Hände in den Schoß legst. Aber weshalb so förmlich heute früh? Noch sind wir unter uns, und du brauchst mich nicht wie deinen strengen Eheherrn anzusprechen.» Er setzte sich neben sie auf die Bank und nahm beiläufig ihre Hand.

«Wie du meinst, Nicolai, aber jeden Moment werden die Mägde herauskommen und die Knechte an ihre Arbeit gehen. Sollen sie uns etwa beim Turteln ertappen?»

«Ich könnte mir weit Schlimmeres vorstellen, meine Liebe. Und überhaupt, habe ich als Gemahl eines so bezaubernden Püppchens wie dir nicht das Recht, mich wie ein verliebter Jüngling zu benehmen? Zumindest auf meinem eigenen Grund und Boden?»

«Wohl wahr, in deinem Heim darfst du tun und lassen, was dir beliebt.»

«Das will ich meinen.» Er lachte leise und strich sich durch den eisengrauen Bart. «Welcher Art waren denn die Gedanken, denen du nachgehangen hast, ehe ich dich gestört habe? Irgendetwas Erwähnenswertes?»

«Wie man es nimmt.» Aleydis zupfte an den Rändern ihrer schlichten weißen Haube. «Möglicherweise wird es dir nicht gefallen, was ich mir zurechtgedacht habe.»

«So, meinst du?» Gespannt musterte er sie. «Nun bin ich neugierig geworden. Was könnte es wohl sein?»

«Es wird ein wenig Geld kosten.»

«Erläutere mir bitte, was du mit ein wenig andeuten willst. Soll es ein neues Kleid sein? Schuhe? Tand?»

Überrascht schüttelte Aleydis den Kopf. «Nein, ganz und gar nicht. Ich habe genügend Kleider und Schuhe, und Schmuck ist mir bei der Arbeit meistens nur im Weg. Nein, weißt du, ich möchte gerne in St. Kolumba beten und ein paar Kerzen entzünden. Gute Wachskerzen, die werden der heiligen Margareta und der heiligen Lucia gut gefallen. Und ebenso Maria Magdalena, wie ich hoffe. Vielleicht helfen sie mir ja …» Verblüfft brach sie ab, als Nicolai laut auflachte. «Das ist nicht lustig!»

«Doch, ist es. Hat man so etwas schon gehört! Meine wunderschöne, junge, gesunde Gemahlin will bei den Schutzheiligen der unfruchtbaren Frauen und der Gebärenden um ein Wunder bitten? Nein, also wirklich, Püppchen, das ist zu drollig.» Er wurde wieder ernst, als er bemerkte, dass sie die Stirn runzelte. «Mein süßer Schatz.» Er drückte ihre Hand. «Wir sind gerade ein halbes Jahr verheiratet, und wenn du bis jetzt noch nicht guter Hoffnung bist, liegt das mit Sicherheit nicht an dir, sondern an mir.»

«Aber nein, Nicolai …»

«Doch, doch, bestimmt. Aber siehst du mich deswegen gutes Geld für überteuerte Wachskerzen ausgeben? Nein, ganz sicher nicht, denn viel besser wäre es in einem neuen Kleid angelegt und in hübschen Hauben und Geschmeiden. So etwas würde deinen nicht mehr ganz taufrischen Gemahl dazu animieren, seine Bemühungen auf dem ehelichen Lager noch ein wenig zu intensivieren. Glaube mir, das bringt mehr als jedes Lichtlein, das du in St. Kolumba, Groß St. Martin oder sonst wo zu Füßen der Heiligenstatuen entzündest.» Er sah sich um und küsste sie erst kurz auf die Wange, dann etwas länger auf die Lippen. «Also abgemacht?»

«Was meinst du?» Verlegen blickte sich auch Aleydis um. Irgendwo klappte eine Tür, dann vernahm sie den unmelodischen Singsang, den die Magd Irmel stets bei der Arbeit von sich gab.

«Na, dass du ein neues Kleid bekommst. Und eine hübsche Haube. Wie wäre es mit einem silbern durchwirkten Haarnetz, darunter kann man dein herrliches blondes Haar sehen. Es erinnert mich immer an reichen Honig, weißt du. Vielleicht entwindet sich ja auch die eine oder andere Locke und umspielt dein Gesicht. Das würde mir gefallen.»

Aleydis spürte, wie eine leichte Wärme in ihre Wangen kroch. «Das wäre aber unschicklich, nicht wahr?»

«Ach was, an einer oder zwei Haarlocken war noch niemals etwas unschicklich. Schon gar nicht, wenn dein Gemahl darauf besteht, sie zu sehen.» Er zwinkerte ihr zu. «Am besten gehst du noch heute zu deinem Vater wegen der Stoffe und gleich anschließend zur Gewandmacherin. Vielleicht wird das Kleid dann schon zum Wochenende fertig, wenn wir auf dem Schallenhof zum Bankett geladen sind.»

«Am Samstag?» Sie zog erneut die Stirn kraus. «Das ist aber kurzfristig. Da wird sich Frau Beata sehr beeilen müssen. Und weißt du überhaupt, ob Vater einen passenden Stoff vorrätig hat?»

«Für seine Tochter ganz bestimmt, da bin ich sicher. Soweit ich weiß, hat er erst kürzlich weißen und blau eingefärbten Brokat eingehandelt. Daraus ließe sich gewiss etwas Hübsches für dich schneidern.»

Beinahe hätte sie protestiert, denn gerade blau gefärbte Stoffe waren sündhaft teuer. Doch mittlerweile hatte sie gelernt, dass Nicolai sie gerne verwöhnte und seinen Spaß daran hatte, sie in wertvollen Kleidern vorzuzeigen, wann immer eine Gesellschaft Gelegenheit dazu bot. Also hielt sie den Mund und freute sich über die Aussicht auf eine weitere wunderschöne Cotte mit Surcot, die den Inhalt ihrer bereits jetzt schon prall gefüllten Truhen ergänzen würden. Denn auch wenn sie gerne sparsam wirtschaftete, war sie doch Frau genug, um schöne Kleider, Hauben und Schuhe von Herzen zu genießen.

«Danke, Nicolai, das ist sehr großzügig von dir.» Sie erwiderte den Druck seiner Hand und sein Lächeln und erhob sich. «Nun aber, fürchte ich, wird es Zeit, an meine Pflichten zu gehen. Eigentlich wollte ich nur einen Blick auf die Petersilie werfen und einen Bund davon für das Rührei schneiden, das Ells uns heute zum Frühstück bereiten soll.»

Auch Nicolai stand auf und küsste sie noch einmal auf die Wange, ihrem energischen Räuspern und dem stummen Hinweis, dass sie nicht mehr allein waren, zum Trotz. «Dann will ich dich nicht aufhalten, denn ein gutes Rührei wird die beste Grundlage für einen erfolgreichen Tag sein.» Er grinste schalkhaft, als die Magd Irmel, eine knochige Frau um die dreißig mit mausbraunem Haar unter einem einfachen weißen Kopftuch, auf ihren schweren Holzpantinen herangeklappert kam. Sie stieß die Tür zum Hühnerstall auf und warf ihnen dabei neugierige Blicke zu.

«Guten Morgen, Irmel.» Nicolai nickte ihr kurz zu, woraufhin die Magd breit lächelte.

«Guten Morgen, Herr, guten Morgen, Herrin. Ich füttere nur die Hühner, will nicht stören.»

«Du störst ganz und gar nicht», beeilte sich Aleydis zu sagen.

«Doch, doch, sah aber so … also, ich füttere dann mal die Hühner.» Mit rotem Kopf verschwand Irmel im Hühnerstall und ließ die gackernden Vögel dabei auf den Hof hinaus.

Aleydis schmunzelte. «Jetzt ist sie verlegen.»

«Na und? Bis zum Frühstück hat sie es schon wieder vergessen, du wirst sehen.» Leise vor sich hin lachend ging Nicolai zurück zum Haus.

Ebenfalls mit einem Schmunzeln auf den Lippen begab Aleydis sich an den Rand eines der Beete und begutachtete die dicht wachsenden Petersilienstauden. Während sie einen großzügigen Bund davon mit dem Messerchen abschnitt, das sie aus der Küche mitgebracht hatte, sann sie erneut darüber nach, wie gut sie es als Gemahlin des Lombarden Nicolai Golatti getroffen hatte. Wen kümmerte es schon, dass er älter war als ihr Vater? Sie selbst nicht im Geringsten, und alle anderen ging es überhaupt nichts an. Sie war sich ganz sicher, dass es kaum einen besseren Gemahl und schon gar kein schöneres Leben für sie geben konnte.

***

Als Aleydis am späten Nachmittag zusammen mit dem Knecht Wardo von der Gewandmacherin zurückkehrte, sah sie schon von weitem, dass sich vor ihrem Haus eine Menschentraube gebildet hatte, in deren Mitte sich irgendetwas tat. Sie hörte die zeternden Stimmen von Ells und der jungen Magd Gerlin, die sogar die Hände rang.

«Was geht denn dort vor sich?» Aleydis beschleunigte ihren Schritt.

«Was schon, ein Klaaf, das sieht man doch.» Wardo, ein kräftiger und gedrungener Mann mit enormen Muskeln und schütterem blondem Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, schüttelte missbilligend den Kopf. «Die werden sich mal wieder über irgendwas die Köpfe heißreden. Ist doch immer so.»

«Nein, diesmal ist etwas anderes. Hör doch, das klingt ja beinah wie ein Kampf!» Fast im Laufschritt und gerade noch schicklich eilte Aleydis die Glockengasse hinauf und schob energisch die gaffenden Lehrbuben aus der Nachbarschaft beiseite, die ihr den Weg versperrten. «Was geht hier … Ach, du liebe Güte!»

Erschrocken blickte sie auf die beiden Kinder, die im Straßenstaub lagen und verbissen miteinander rangen. Einer der beiden Übeltäter war Lentz, der zehnjährige Bruder ihrer Magd Gerlin, der andere …

Aleydis schnappte nach Luft. «Ursel!» Sie stellte ihren mit Einkäufen gefüllten Korb auf dem Boden ab und ging entschlossen auf die beiden raufenden Kinder zu. Dabei wurde sie beinahe von einem strampelnden Fuß getroffen. «Schluss jetzt, ihr beiden!» Sie sah sich suchend um. «Gerlin, was soll das denn? Warum hast du die beiden nicht längst getrennt?»

Die junge Magd, gerade sechzehn Jahre alt, rang noch immer hilflos die Hände. «Verzeiht, Herrin, aber ich schaff es einfach nicht. Die beiden sind wie wild aufeinander losgegangen. Ich konnte gar nicht …»

«Unfug.» Ohne auf weitere Tritte zu achten, packte Aleydis den nächstbesten Arm, der ihr in die Quere kam, und zog mit einem Ruck daran, sodass die beiden Kampfhähne übereinanderpurzelten. Im nächsten Moment hatte sie Lentz bereits auf die Füße gestellt. «Habt ihr nicht gehört? Ihr sollt auf der Stelle aufhören.» Sie gab ihrer Stimme alle Autorität, derer sie fähig war – und das war eine Menge, seit sie Nicolais Haushalt führte.

Die neunjährige Ursel, fast genauso strohblond wie ihr Widersacher, war auf dem Hintern gelandet und kam nun ebenfalls eiligst auf die Beine. «Frau Aleydis!» Erschrocken klopfte sie an ihrem verschmutzten Kleid herum. Ihr vormals hübsch geflochtener Zopf war vollkommen aufgelöst. «Ich hab Euch gar nicht gesehen.»

«Das wundert mich wenig. Was fällt euch ein, euch wie zwei kleine Wilde im Gassenstaub zu prügeln?» Aleydis’ strenger Blick wanderte zwischen den beiden Kindern hin und her, dann hob sie den Kopf und blickte in die Runde. «Und weshalb steht ihr hier alle dumm herum und gafft, anstatt diesem unwürdigen Schauspiel ein Ende zu setzen?» Sie entdeckte Sigbert und Thonnes, die beiden Lehrlinge ihres Gemahls, in der Menge. «Nun? Eure Erklärung?»

Sigbert, mit seinen fünfzehn Jahren zwei Jahre jünger als Thonnes, wurde puterrot. «Ich, ähm, also ich bin gerade erst dazugekommen. Wirklich, Frau Aleydis, ich hatte noch gar keine Gelegenheit …»

«Und du, Thonnes?»

Der hochgewachsene junge Mann zuckte die Achseln. «Ich werd mich da nicht einmischen. Wenn die zwei Zwerge meinen, sie müssten sich in die Haare kriegen, ist das nicht meine Sache.»

«Ach, ist es nicht?» Ohne Lentz loszulassen, der unter ihrem harten Griff schmerzlich die Lippen verzog, trat sie auf den Lehrjungen zu. «Überleg dir das ganz genau, dann antworte mir noch einmal.»

Obwohl Thonnes eine Handbreit größer war als Aleydis, wirkte ihr eherner Blick zumindest so weit respekteinflößend, dass er den Kopf ein wenig einzog. «Schon gut, ich mein ja bloß. Ehe ich mich von den beiden treten und beißen lasse, sollen sie sich lieber müde raufen.»

«Darüber unterhalten wir uns noch.» Aleydis wandte sich an die übrigen Gaffer: «Was ist denn noch? Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Macht, dass ihr fortkommt!» Energisch griff sie nun auch nach Ursels Arm und zog beide Kinder mit sich ins Haus. Ells und Gerlin folgten ihr mit dem Korb.

Die Küche beherbergte neben der gemauerten Feuerstelle, einem ebenfalls gemauerten Herd mit Rost und Spießen zum Grillen und dem steinernen Ausguss auch noch einen großen Hinterladeofen und einen rechteckigen Eichentisch mit zwei massiven Bänken. Aleydis deutete schweigend auf eine davon, und die beiden Missetäter setzten sich. Ehe sie jedoch etwas sagen konnte, redeten die beiden gleichzeitig los.

«Lentz hat angefangen!» – «Ursel ist ein fieses Biest!» – «Bin ich gar nicht!» – «Hab ich gar nicht!» – «Hast du wohl, und ich bin eine Jungfer und kein Biest!» – «Und wie du ein Biest bist und fies und kein Mann wird dich jemals haben wollen, weil du so blöd …»

«Noch ein Wort und es setzt für euch beide was.» Aleydis stemmte die Hände in die Hüften. «Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Ursel, wie du bloß aussiehst! Ganz bestimmt nicht wie eine brave Jungfer. Dein Haar ist verstrubbelt und staubig, von deinem Kleid ganz zu schweigen. Ich will gar nicht wissen, was das da für Flecken sind. Den Saum hast du dir eingerissen, und eine Schramme hast du an der Stirn.»

Beinahe hätte Aleydis sich an die kleine Narbe gefasst, die sich genau auf ihrer linken Augenbraue befand. Sie seufzte innerlich. Diese und die sichelförmige, wenn auch nach den vielen Jahren verblasste Narbe an ihrem Kinn hatte sie sich zwar nicht bei einer Rauferei zugezogen, aber sehr wohl bei einem wenig schicklichen Ausflug in die Krone des Kirschbaums im Obstgarten ihres Vaters, als sie acht Jahre alt gewesen war. Sie hatte Verständnis für den einen oder anderen jugendlichen Leichtsinn, jedoch nicht für den Gebrauch von Fäusten und Zähnen, um eine Zwistigkeit auszutragen, ganz gleich ob die Streithähne männlichen oder weiblichen Geschlechts waren.

«An der Hand auch.» Ursels Stimme klang plötzlich gar nicht mehr so aufmüpfig. Anscheinend bemerkte sie erst jetzt, dass sie sich die rechte Handkante verletzt hatte. Ein kleiner Faden Blut rann ihr in den Ärmel des ramponierten braunen Kleidchens.

«Zeig her.» Mit Kennermiene untersuchte Aleydis die Schürfwunde und warf einen kurzen Blick auf Gerlin. «Hol frisches Wasser und Verbandszeug. Für deinen missratenen kleinen Bruder auch.»

«Ja, Herrin, sofort.» Mit eingezogenem Kopf rannte die Magd davon.

«Ich hab nix.» Lentz verschränkte die Arme vor der Brust, zuckte aber zusammen, denn auch er hatte ein paar blutige Schrammen und ganz sicher eine Menge blauer Flecke davongetragen. Außerdem war seine Lippe aufgeplatzt und begann bereits zu verkrusten.

«Nun erzählt mir gefälligst, was der Anlass war für dieses entwürdigende Gebaren.» Rasch tauchte Aleydis ein sauberes Leintuch in das Wasser, das Gerlin wie der Wind hereingebracht hatte, und tupfte damit an Ursels Handgelenk herum.

Die beiden Kinder sahen einander feindselig an und wollten schon wieder gleichzeitig losschimpfen. Gerade noch rechtzeitig hob Aleydis die rechte Hand. «Einer nach dem anderen. Ursel, du zuerst. Und wehe, ich höre ein Schimpfwort aus deinem Mund. Du solltest dich was schämen, deinem Großvater solche Schande zu bereiten.» Ganz kurz kam ihr in den Sinn, dass sie selbst, wenn man es streng betrachtete, die Stiefgroßmutter des Mädchens war – ein Umstand, der sie zuweilen zum Lachen brachte, heute jedoch keinesfalls zu ihrer Erheiterung beitrug.

Ursel schniefte ein wenig, hielt die Tränen jedoch tapfer zurück, obgleich ihr anzusehen war, dass die Blessuren ihr nun doch wehzutun begannen. «Lentz war gemein zu Marlein.»

«War ich gar … schon gut.» Der Junge duckte sich rasch.

«Zu Marlein?» Prüfend musterte Aleydis die Schramme an Ursels Stirn und tupfte etwas von der Kräutersalbe darauf, die Ells schweigend herbeigebracht hatte. Marlein war Ursels um zwei Jahre ältere Schwester. «Was ist denn mit ihr?»

«Er hat sie gehänselt, weil Marlein im Garten war und Elstern gezählt hat, und dann hat Ells gesagt, dass Elstern Unglück bringen …»

«Tun sie ja auch, diese Galgenvögel.» Ells hatte sich des Korbes angenommen und breitete die darin beförderten Lebensmittel auf der Steinplatte neben dem Ausguss aus. «Wenn Elstern sich auf dem Dach eines Hauses niederlassen, künden sie vom baldigen Tod eines Familienmitglieds.»

«Ells.» Stirnrunzelnd schüttelte Aleydis den Kopf. «Das ist reiner Aberglaube.»

«Nennt es, wie Ihr wollt, Herrin. Ich weiß, wovon ich spreche. Das Kind sollte sich von den Elstern fernhalten und sie nicht auch noch zählen oder gar anlocken.»

Seufzend wandte Aleydis sich wieder an Ursel. «Ells hat das also gesagt und was war dann?»

«Dann kam Lentz dazu. Der war im Stall bei Symon und hat geholfen, bei den Eseln auszumisten.»

«Symon hat gesagt, ich bekäme dafür einen Kanten Brot.» Wieder duckte sich der Junge, als Aleydis’ strenger Blick ihn traf, sprach aber trotzdem mutig weiter: «Ich hab zu Marlein nur gesagt, dass sie aufpassen muss, weil wenn eine Elster einen Toten ankündigt, dann zwei Elstern zwei Tote und so fort, und da war ja ein ganzer Schwarm. Ich hab nur gemeint, dass damit wahrscheinlich das gesamte Haus ausgerottet wird und sie sollte sich lieber verstecken, damit der Tod sie nicht findet.»

Für einen Moment fehlten Aleydis die Worte. «Das hast du zu Marlein gesagt?»

«Ich wollt ihr nur ein bisschen Angst machen. Ist doch alles Unsinn mit den Elstern. Kann ich vielleicht was dafür, dass die dumme Ziege … äh … dass Marlein das alles für bare Münze nimmt und gleich zu flennen anfängt?»

«Du bist so was von gemein!» Ursel schoss zornige Blicke auf ihn ab.

«Du kannst sehr wohl etwas dafür, dass du Marlein solche Angst eingejagt hast.» Aleydis suchte den Blick des Jungen. «Denn du weißt so gut wie wir alle, dass sie von sehr zarter Natur ist und sich viel schneller fürchtet als die meisten Menschen. Deshalb wirst du dich auch auf der Stelle bei ihr entschuldigen, hast du verstanden?»

Lentz zuckte mit den Schultern. «Meinetwegen. Aber es war wirklich nicht so schlimm.»

«Offenbar schon, wenn Ursel sich genötigt sah, dich dafür zu maßregeln.» Sie wandte sich wieder an das Mädchen. «Ich weiß, dass du Marlein helfen wolltest, aber künftig wirst du dazu nicht mehr deine Fäuste benutzen und auch nicht deine Zähne, und treten ist ebenfalls untersagt.»

Sie wusste genau, dass die Ermahnung nicht viel bewirken würde. Ursel war schon immer die Beschützerin ihrer älteren Schwester gewesen und auch sonst von streitbarem Gemüt. Manchmal argwöhnte Aleydis, dass dem Allmächtigen vielleicht bei ihr ein kleiner Fehler unterlaufen war und Ursel eigentlich ein Junge hätte werden sollen. Dagegen sprach allerdings ihr zartes, herzförmiges Gesicht mit den großen blauen Augen. Sie würde eines Tages eine Schönheit sein, doch wenn sich ihr Betragen nicht alsbald besserte, würde ihr dieser Umstand wohl nicht viel nützen, ganz gleich wie hoch ihre Mitgift angesetzt wurde.

Aleydis legte das Leintuch beiseite und verband die Hand des Mädchens. «Du wirst heute ohne Abendessen zu Bett gehen, Jungfer Ursel. Begib dich sofort in deine Kammer und schick mir deine Schwester herunter, damit Lentz bei ihr um Verzeihung bitten kann.»

«Marlein ist nicht oben in unserer Kammer.» Ursel bewegte vorsichtig die Hand und beäugte den Verband. «Sie ist weinend die Straße runtergelaufen, wahrscheinlich zu Mutter.»

«Also gut, Lentz, dann wirst du jetzt sofort hinüber zum Beginenhof laufen und bei Frau Jonata vorsprechen, dass du Marlein abholen sollst. Nein, keine Widerrede. Du holst sie ab und bittest um Verzeihung, und wehe ich höre später, dass du es nicht mit Anstand getan hast. Danach wirst du drei Tage lang nicht mehr aushelfen, wenn Symon den Stall ausmistet oder die Tiere versorgt, und auch nicht hier schlafen.»

«Aber …» Lentz ließ den Kopf hängen. «Na gut.» Der Junge lebte die meiste Zeit auf der Straße, denn seine und Gerlins Eltern waren arme Tagelöhner, die kaum genug hatten, um sich selbst über Wasser zu halten. Deshalb half er überall in der Nachbarschaft aus, wenn es etwas in den Ställen zu tun gab, wenn Badewasser geschleppt oder Rauchfänge geputzt werden mussten. Für seine Dienste erhielt er zumeist etwas zu essen und bei der Familie Golatti auch einen Platz zum Schlafen zwischen dem Eselsstall und dem Schweinekoben.

Kurz berührte Aleydis ihn an der Schulter. «Sei froh, dass Sommer ist und du auch unter freiem Himmel schlafen kannst. Und denk dran, dich besser zu benehmen, wenn die kalte Jahreszeit kommt.»

«Ja, Frau Aleydis.»

«Wenn Herr Nicolai zuerst von eurer Rauferei erfahren hätte, wärst du weit weniger glimpflich davongekommen. Bestimmt hätte er dir eine Tracht Prügel verpasst. Also mach nun ein anderes Gesicht und tu, was ich dir gesagt habe.»

«Ja, Frau Aleydis.»

«Mit Anstand, so wie es einem Manne geziemt.»

«Ja, Frau Aleydis.»

Der Junge trollte sich, und sie drehte sich zu Ursel um.

«Also, warum bist du noch immer hier? Sagte ich nicht, dass du in deine Kammer gehen sollst?»

«Ja, Frau Aleydis.» Eilig verschwand auch das Mädchen aus der Küche, und Augenblicke später waren ihre Schritte auf der Stiege zu vernehmen.

«Diesem Tunichtgut hättet Ihr ruhig eine kleine Abreibung mit der Rute verpassen können.» Ells hatte inzwischen die Einkäufe verstaut und begab sich nun daran, die Pastinaken, die sie am Mittag aus dem Garten geholt hatte, zu putzen und in Würfel zu schneiden, um sie der Suppe hinzuzufügen. Bereits seit dem Morgen köchelte ein fettes Stück Rindfleisch über dem Feuer.

Langsam drehte Aleydis sich zu ihr um. «Hätte ich das? Und wie sieht es mit der Abreibung aus, die du verdient hast?»

«Ich?» Erschrocken hob die Köchin den Kopf.

«Du weißt doch genau, dass du Marlein nicht mit deinem abergläubischen Geschwätz kommen sollst. Sie nimmt es sich viel zu sehr zu Herzen.»

«Das ist kein Geschwätz, Herrin, sondern nur die reine Wahrheit. Oder wollt Ihr vielleicht bestreiten, dass Elstern, Krähen und Raben seit jeher als Galgenvögel gelten?»

«Nur weil sie sich am Fleisch von Gehenkten gütlich tun.» Aleydis wandte sich zur Tür. «Wenn sie wirklich Boten des Todes wären, hätte die Stadt Köln schon lange keine Bewohner mehr. Sieh dich doch mal um, wie viele dieser Viecher innerhalb und außerhalb der Stadtmauern wohnen. Ich finde, du tust ihnen unrecht, wenn du sie für jedes Unglück verantwortlich machst.»

«Das sind sie aber, Herrin, ganz bestimmt. Schon meine Mutter hat immer gesagt, dass eine Elster auf dem Dach …»

«Ich will nichts mehr davon hören, Ells. Kümmere dich um das Essen. Ich werde wohl oder übel nachsehen müssen, ob Lentz die arme Marlein wirklich heil, und ohne erneut zu zanken, nach Hause bringt.»

«Richtet bitte Frau Cathrein und Frau Jonata meine Grüße aus.»

Aleydis nickte der Köchin friedfertig zu. «Das werde ich, falls ich ihnen begegne.»

Obwohl sie eigentlich noch andere Verpflichtungen gehabt hätte, machte Aleydis sich auf den Weg die Glockengasse hinab. Nur etwa fünfzig Schritte vom Haus der Familie Golatti entfernt befand sich ein kleiner Beginenhof, in dem neun Frauen unter der Leitung der Beginenmeisterin Jonata Hirzelin lebten und arbeiteten. Dass Marleins und Ursels Mutter eine von ihnen war, hatte Nicolai vor einigen Jahren veranlasst. Mit einer großzügigen Spende, die er alljährlich zu Weihnachten wiederholte, sorgte er dafür, dass es seiner einzigen Tochter an nichts fehlte.

Den Grund dafür hatte er Aleydis bereits kurz nach der Hochzeit anvertraut, um, wie er erklärt hatte, bösen Gerüchten vorzugreifen. Er hatte Cathrein kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag an einen Bonner Geldwechsler, ebenfalls einen Lombarden, verheiratet, mit dem er häufig Geschäfte gemacht und der die Familie regelmäßig besucht hatte. Die junge Cathrein war von dem ansehnlichen Mann sehr angetan gewesen und hatte seiner Werbung allzu gerne nachgegeben.

Im Nachhinein gab Nicolai sich die Schuld an allem, was dann geschehen war, denn er hätte, wie er zugab, genauer hinsehen müssen. Jacob de Piacenza war zwar ein angesehener Bewohner Bonns und auch in Köln wohlbekannt, doch dass er im Alter von fast dreißig noch unbeweibt gewesen war, hätte den Brautvater hellhörig werden lassen müssen. Leider hatte er aber erst eine ganze Weile nach der Hochzeit erfahren, dass Jacob ein tyrannischer und zu Gewalttätigkeiten neigender Mensch war, der seine junge Frau schikanierte und quälte, wo es nur ging. Auch die ehelichen Rechte nahm er sich grundsätzlich mit Gewalt. Nicolai vermutete, dass in Jacob eine gewisse perverse Neigung gewohnt haben müsse, die ihn zu seiner Grausamkeit veranlasst hatte.

Selbstverständlich erwartete Jacob die Geburt eines Sohnes, und als diese nach zwei Töchtern immer noch ausblieb, wurde die Tortur für Cathrein noch schlimmer. Nicolai hatte mehrfach versucht zu intervenieren, bis ihm klargeworden war, dass er damit alles nur noch schlimmer machte. Eines Tages, mitten im Winter, die kleine Ursel war gerade fünf Jahre alt, Marlein sieben und trotz ihres zarten Alters auch schon mehrfach Opfer der väterlichen Strenge geworden, hatte man Jacob aus einer Fischerreuse im Rhein geborgen. Dem Aussehen des Leichnams nach war er erschlagen und dann in den Fluss geworfen worden.

Den Mörder hatte man nie gefasst.

Nicolai hatte sich danach umgehend seiner Tochter und der kleinen Mädchen angenommen. Cathrein, durch die jahrelange Marter ihres Gemahls nur noch ein Schatten ihrer selbst, war unfähig gewesen, ihre geliebten Kinder selbst zu versorgen. Ganz zu schweigen von ihrer beständigen Furcht vor Männern, denen sie vor allem zu Beginn ihrer Witwenzeit so gut wie gar nicht gegenüberzutreten in der Lage gewesen war. Deshalb war es Nicolai ein Anliegen gewesen, sie beschützt und in einer ruhigen, geregelten Atmosphäre untergebracht zu wissen. Der Beginenhof in der Glockengasse war in dieser Hinsicht seine erste Wahl gewesen, und Frau Jonata war nur allzu gerne bereit, sich der armen, gequälten Seele anzunehmen.

Aleydis machte einen Umweg über ihren Garten und grub dort rasch ein paar Zwiebeln und junge Rübchen aus, um sie den Beginen mitzubringen. Nach kurzem Überlegen schnitt sie auch noch einen Strauß Ringelblumen, über den Cathrein sich bestimmt freuen würde. Sie hatte, seit sie im Beginenhof wohnte, ihre Freude an der Zubereitung von Kräutertränklein und -salben entdeckt, die Frau Jonata hauptsächlich an bedürftige Familien abgab und das zu Preisen, die kaum erwähnenswert waren. Viele Menschen konnten sich die teuren Arzneien aus den Apotheken nicht leisten, doch im Beginenhof in der Glockengasse konnten sie zumindest einfache Salben gegen Schürfwunden, Gliederreißen oder Hautrötungen erhalten.

Nachdem sie alle Mitbringsel ordentlich in einem Weidenkorb verstaut hatte, verließ Aleydis das Anwesen. Normalerweise wurde sie bei jedem Gang in die Stadt von einem der Knechte oder einer Magd begleitet, nicht jedoch auf dem sehr kurzen Weg zum Beginenhof, der ja beinahe in der unmittelbaren Nachbarschaft lag.

Sie kam indes nicht weit, denn als sie sich gerade nach links gewandt und ein paar Schritte die Gasse hinab getan hatte, hielt eine Männerstimme sie auf.

«Frau Aleydis? Aleydis Golatti? Seid Ihr das? Haltet ein, gute Frau!» Ein städtischer Büttel von gedrungenem Wuchs und mit einem hässlichen Wanst kam keuchend hinter ihr hergerannt.

Überrascht drehte Aleydis sich zu ihm um. Auf dem fast kahlen Schädel des Mannes standen Schweißtropfen, die er sich, als er sie erreichte, fahrig mit dem Ärmel seines Wamses abwischte. «Mats Creucher?» Sie kannte den Büttel, weil er häufig Botengänge für den Stadtrat ausführte, zu dem Nicolai enge Verbindungen pflegte. «Was willst du von mir?»

«Verzeiht, Frau Aleydis, verzeiht.» Schwer atmend blieb der Büttel vor ihr stehen. «Es tut mir so leid. Ich … wir … ähm, also …» Er blickte über die Schulter. «Ich habe schlimme Nachrichten für Euch.»

Aleydis folgte seinem Blick und sah, dass zwei weitere Büttel und ein Schöffe auf sie zukamen. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. «Was für Nachrichten?» Ihr Herzschlag hatte sich leicht beschleunigt, als sie den Schöffen erkannte – Richwin van Kneyart, der Vater ihres Lehrjungen Thonnes. Er hob schon von weitem die Hand, woraufhin der Büttel schwieg.

«Herr van Kneyart, guten Tag.» Aleydis ging auf den Schöffen zu. «Was gibt es denn so Wichtiges, dass gleich ein ganzes Aufgebot an Bütteln Euch zu mir begleitet? Oder wollt Ihr zu Nicolai? Mein Gemahl ist heute früh in Geschäften ausgegangen und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt.»

«Nein, nein, also, ja, nun …» Auch der Schöffe schien ungewöhnliche Schwierigkeiten zu haben, sich zu artikulieren. «Ich weiß, dass Euer Gemahl nicht zu Hause ist, weil …» Er zerrte am geschnürten Ausschnitt seines Hemdes, so als wäre er ihm zu eng. Schließlich hatte er sich aber doch gefangen. «Frau Aleydis, ich muss Euch die traurige Mitteilung machen, dass Euer Gemahl, der ehrenwerte Nicolai Golatti, vor einer Stunde tot aufgefunden wurde.»

«W…was sagt Ihr da?» Aus dem mulmigen Gefühl wurde Übelkeit. Alles Blut schien aus Aleydis’ Kopf und Gliedern zu weichen. Sie rang nach Atem und machte einen Schritt vorwärts.

Rasch trat van Kneyart auf sie zu, um sie zu stützen. «Es tut mir aufrichtig leid, Frau Aleydis. Euer Gemahl war ein guter Freund und … Nun ja, aber leider gibt es noch eine weit schlimmere Nachricht. Ich weiß gar nicht …»

«Schlimmer als der Tod meines Gemahls?» Aleydis brachte nur ein Krächzen hervor.

«Wir sollten lieber ins Haus gehen, gute Frau. Was wir Euch zu berichten haben, sollte vorerst nicht an fremde Ohren dringen.»

«Ich, aber …» Verunsichert sah Aleydis sich um und bemerkte erste Neugierige, die stehen geblieben waren und sie beobachteten. «Ja, selbstverständlich. Kommt herein, Herr van Kneyart.» Vollkommen unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, kehrte Aleydis in den Innenhof zurück und ließ die Männer durch die Hintertür ins Haus. Sie führte sie in die Stube und schloss die Tür. «Nun sagt mir bitte, was ist geschehen? War es ein Unfall? Krank war Nicolai nämlich nicht. Er erfreute sich bester Gesundheit und es ist ganz ausgeschlossen, dass er … Oder wurde er überfallen?»

«Nein, gute Frau.» Der Schöffe räusperte sich umständlich. «Es war weder ein Unfall noch ein Raubüberfall. Ich muss Euch eine Frage stellen und bitte Euch, sie mir nicht übelzunehmen. Es ist von äußerster Wichtigkeit für Euch, dass Ihr mir aufrichtig antwortet.»

«Ihr macht mir Angst.» Aleydis setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle, weil sie fürchtete, sich nicht mehr lange auf den Beinen halten zu können. «So fragt denn.»

«Hat Euer Gemahl sich in letzter Zeit seltsam verhalten?»

«Was meint Ihr mit seltsam?» Verständnislos starrte sie van Kneyart an.

«War er außerordentlich betrübt, hatte er Stimmungsschwankungen? Vielleicht auch apathische Anwandlungen?»

«Nein, überhaupt nicht. Er war stets heiter und voller Tatendrang. Was soll das denn alles? Warum fragt Ihr so etwas?»

«Weil wir uns Klarheit verschaffen müssen. Frau Aleydis …» Der Schöffe stockte und seufzte dann. «Euer Gemahl wurde in einem Wäldchen vor dem Hahnentor gefunden. Er hat sich an einem Baum erhängt.»

«Er … Was?» Entgeistert fuhr Aleydis von ihrem Stuhl hoch. «Was sagt Ihr da? Das ist unmöglich. Nein, vollkommen ausgeschlossen. Nicolai wäre nicht … Er hätte sich niemals … Nein, es auch nur auszusprechen, ist mir nicht möglich. Ihr müsst Euch irren.» Ihr Magen begann zu rebellieren, und um ihr Herz schloss sich eine eisige Kralle. Erhängt? Nicolai? Eine kalte Taubheit ergriff ihre Gliedmaßen.

«Frau Aleydis, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie entsetzlich es für mich ist, Euch diese Nachricht zu überbringen. Ihr wisst, was auf Selbstmord steht. Die Seele Eures Gemahls ist auf ewig verdammt. Wir dürfen ihn weder in Eurem Haus aufbahren noch ihn in geweihter Erde begraben. Er wird wie ein Mörder öffentlich auf dem Richtplatz verurteilt und für den Frevel, den er an sich selbst begangen hat, noch einmal hingerichtet. Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen soll. Auch für Euch und die gesamte Familie ist dies eine Katastrophe. Dem Gesetz nach kann das gesamte Eigentum eines Selbstmörders konfisziert werden, jedoch nur, wenn wir nachweisen können, dass Nicolai Golatti sich aus Gram das Leben genommen hat.»

«Er hat sich nicht das Leben genommen! Das kann nicht sein. Er hat mir heute früh noch ein neues Kleid versprochen und mich zur Gewandmacherin geschickt, weil es bis Samstag fertig sein sollte. Da sind wir nämlich auf dem Schallenhof zum Bankett geladen …» Aleydis’ Stimme erstarb.

«Es gab also keinerlei Anzeichen für ein Kümmernis oder einen Seelenschmerz bei ihm? Vielleicht weil … Verzeiht, dass ich das jetzt anführe, aber es muss sein. Vielleicht war er allzu betrübt, weil Ihr noch nicht guter Hoffnung seid? Immerhin liegt Eure Vermählung ein gutes halbes Jahr zurück und da … nun ja, da Ihr jung und gesund seid … Es geht das Gerücht, dass Euer Gemahl nicht mehr … dass er nicht fähig war … So etwas führt bei einem Manne nicht selten zu düsteren Verstimmungen.»

«Schweigt!» Obwohl die eisige Taubheit mittlerweile ihren gesamten Körper durchdrungen hatte, flackerte in Aleydis Zorn auf. «Wagt es nicht, meinen Gemahl auf solche Weise zu verunglimpfen. Er war durchaus Manns genug. Es gab in dieser Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten, das versichere ich Euch. Gerade gestern …» Sie starrte ihn feindselig an. «Es ist gut möglich, dass ich seinen Erben unter dem Herzen trage.»

«Das bleibt natürlich abzuwarten.» Friedfertig hob der Schöffe die Hände. «Es tut mir unsagbar leid, Euch mit solchen Fragen belästigen zu müssen, aber seht Ihr, es ist nur zu Eurem Wohle. Wenn wir Anhaltspunkte dafür finden, dass nicht etwa ein Gram für seinen Selbstmord verantwortlich war, sondern …»

«Sondern was?»

«Wenn die Möglichkeit bestünde, dass Euer Gemahl von einem Dämon besessen war oder gar vom Gottseibeiuns höchstselbst …»

«Seid Ihr verrückt geworden?» Sie schüttelte heftig den Kopf. «Nicolai ist …» Sie schluckte. «Er war ein gottesfürchtiger Mann.»

«Das war er, unbestritten. Wenn er aber durch unselige Umstände in Berührung mit teuflischen Mächten gekommen wäre, so würde Euch, einmal abgesehen von der Schande, zumindest erspart, dass Euch all Eure Habe genommen wird.»

«Niemand wird mir oder meiner Familie auch nur einen Kreuzer nehmen, Herr van Kneyart. Mein Mann wird mit allen Ehren in geweihter Erde bestattet. Denn niemals …»

«Frau Aleydis …»

«Nein! Niemals hätte er sich selbst das Leben genommen.» Sie fuhr herum, als es an der Tür klopfte und Gerlin den Kopf hereinstreckte.

«Verzeiht, Herrin, aber Marlein und Lentz sind zurück, und ich dachte …» Die Magd stockte, als sie den Schöffen und die Büttel erkannte. «Oh, verzeiht, ich wusste nicht …»

«Hinaus, Gerlin.» Aleydis blickte die Magd erbost an. «Mach die Tür zu und störe uns nicht weiter. Sorge dafür, dass Marlein und die Lehrjungen sich in ihre Kammern begeben und dort bleiben, bis ich es sage.» Ihr Ton war so schneidend, dass Gerlin erschrocken zurückwich.

«Ja, Herrin, natürlich, wie Ihr befehlt.» Sie zog eiligst die Tür hinter sich ins Schloss.

«Frau Aleydis, die Tatsachen sprechen leider für sich, so schmerzlich es auch sein mag.» Hilflos hob van Kneyart die Hände. «Ein Henkersknecht hat den Leichnam vom Baum geschnitten und zu einem Unterstand in der Nähe gebracht. Soweit mir berichtet wurde, gibt es kaum einen Zweifel …»

«Ihr habt ihn selbst noch gar nicht gesehen?»

«Nein, noch nicht. Es war mir noch nicht möglich. Es ist aber nun so, dass das Gesetz es vorsieht …»

«Ich will zu ihm.»

Erschrocken musterte der Schöffe sie. «Frau Aleydis, ihr würdet nur weitere Schande über Euch bringen.»

«Ich will ihn sehen!» Zornig funkelte sie ihn an. Sie klammerte sich an diesem Gefühl fest, um nicht von der Trauer überwältigt zu werden, die irgendwo im Hintergrund darauf lauerte, sie wie ein wildes Tier anzuspringen. «Ich will meinen Mann sehen, Herr van Kneyart. Und sagt mir nicht, das sei nicht mein Recht als Ehefrau.»

«Also gut, wenn Ihr wollt, könnte ich morgen …»

«Jetzt sofort, Herr van Kneyart. Diese Ungeheuerlichkeit kann ich nicht einen Augenblick länger als nötig auf unserer Familie lasten lassen. Führt mich zu ihm. Ich bitte Euch», setzte sie nach einem Atemzug noch hinzu.

Der Schöffe zögerte, nickte aber schließlich. «Also gut, Frau Aleydis, folgt mir. Aber seid Ihr Euch wirklich sicher, dass Ihr in der Verfassung seid, diesen schweren Gang zu tun?»

Aleydis bedachte ihn mit einem langen, ausdruckslosen Blick. «Wird es leichter, wenn ich einen Tag warte?» Auf seinen betretenen Blick hin wies sie entschlossen auf die Tür. «Gehen wir.»

Kapitel 2

Sie hatten die Breite Straße genommen und waren dann in Richtung St. Aposteln abgebogen, da der weitere Verlauf des Weges von Fuhrwerken versperrt war. Hinter dem Apostelnkloster waren sie dann erneut abgebogen und über die Hahnenstraße zum Stadttor gelangt. Von dort aus waren es nur noch ungefähr zehn Minuten Fußmarsch bis zu dem Wäldchen – einem von vielen in dieser Gegend –, in dem sich das Unglück zugetragen hatte. Die Hütte, von der van Kneyart gesprochen hatte, war ein windschiefer Unterstand, den vermutlich die Holzfäller bei schlechtem Wetter benutzten, um sich und ihre Werkzeuge vor Regen zu schützen. Er befand sich nur wenige Schritte von der ausladenden Linde mit der hässlichen Zier entfernt – der Strick baumelte noch immer von einem der kräftigen unteren Äste und schaukelte in der warmen Abendbrise leicht hin und her.

Als Aleydis den Baum erblickte, blieb sie abrupt stehen, sodass Mats Creucher, der dicht hinter ihr gegangen war, beinahe in sie hineingelaufen wäre.

Richwin van Kneyart legte ihr eine Hand auf den Arm, wohl um sie zu beruhigen und bei Bedarf zu stützen. Doch Aleydis benötigte keine Hilfe. Der Zorn über die Ungeheuerlichkeit der Anschuldigung, ihr Gemahl habe sich das Leben genommen, hielt sie aufrecht. Kurz drehte sie sich um und erschrak ein wenig, als sie sah, dass eine ganze Horde von Schaulustigen ihr gefolgt war. Unter ihnen Gassenkinder, Handwerker, Mägde und Bettler. An die dreißig Menschen hatten sich im Halbkreis versammelt, und es war gut möglich, dass ihnen weitere folgen würden, sobald sich die schreckliche Kunde verbreitet hatte. Auch Wardo und Symon, Nicolais kräftige Knechte, waren unter ihnen. Während Wardo sie mit der ihm typischen finsteren Miene musterte, in der sie höchstens den Anflug von Besorgnis zu erkennen glaubte, liefen Symon die Tränen über die feisten Wangen. Ehe sie etwas sagen oder sich umdrehen konnte, trat der Knecht auf sie zu.

«Nicht, Herrin, tut das nicht allein.» Seine Stimme war hell und beinahe schrill, fast wie die eines kleinen Jungen, und doch anders. Aleydis hatte lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, denn der Ton stand im krassen Gegensatz zu der massigen, von einer ordentlichen Fettschicht überzogenen Gestalt des Knechtes. Darunter, das wusste sie inzwischen, verbargen sich enorme Muskeln, die den hochgewachsenen Symon beinahe wie einen Koloss erscheinen ließen. Als Kind war er durch einen brutalen Dienstherrn zum Eunuchen gemacht worden und nur wenig später hatte Nicolai ihn dem Barbaren, wie er ihn nannte, abgekauft und in seinen Haushalt aufgenommen. Seitdem war Symon ihm mit Haut und Haaren und vor allen Dingen mit seinem großen Herzen ergeben.

Aleydis war dankbar, den bulligen Knecht neben sich zu wissen, als sie sich nun endlich der Hütte zuwandte. Sie mochte Symon und wusste, dass er in diesem Moment der Einzige war, der genauso unter der Situation litt wie sie selbst.

Der Schöffe ging ihnen voran und stieß die Tür zu dem Verschlag auf. Darin gab es nicht mehr als einen Tisch und zwei Bänke. Die Decke war so niedrig, dass Aleydis sie mit der Hand hätte erreichen können, wenn sie gewollt hätte. Symon musste sich ducken, um sich den Kopf nicht an den Balken zu stoßen.

Man hatte Nicolai auf eine der Holzbänke gelegt, wohl weil nur sie lang genug für den Körper war. Aleydis’ Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie das stille, wächserne Antlitz ihres Gemahls sah. Ganz still und friedlich lag er da, die Augen geschlossen, die Hände auf dem Bauch gefaltet – vermutlich hatte der Henkersknecht ihm diesen Dienst erwiesen.

Ihre Augen begannen zu brennen, doch sie zwang sich, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Hinter ihr räusperte sich Symon und sie trat einen Schritt beiseite, um ihm in der engen Hütte Platz zu machen.

«Heiliger guter Herr im Himmel!» Der Knecht bekreuzigte sich. Noch immer rannen ihm Tränen übers Gesicht.

«Nicolai.» Den Namen ihres Gemahls tonlos auf den Lippen, ging sie ganz nah an die Bank heran.

Richwin van Kneyart legte ihr rasch eine Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten, zog sie jedoch gleich wieder zurück, als ihn erst der warnende Blick des Knechtes und dann der gequälte Ausdruck in Aleydis’ Augen traf.

Still kniete sie sich neben die Bank und berührte ganz leicht die Wange ihres Gemahls. Wie sehr wünschte sie sich, er würde die Augen aufschlagen und sie so heiter wie noch am Morgen anlächeln. Wenn sie doch bloß aufwachen und feststellen dürfte, dass sie lediglich einen bösen Traum gehabt hatte! Doch Nicolai war und blieb tot; seine Haut fühlte sich kühl unter ihren Fingerspitzen an. Kein Hauch, kein lebenspendender Atem war mehr in ihm, seine Seele fort. Fort.

Die Erkenntnis war so schmerzhaft, dass sie für einen Moment keine Luft mehr bekam.

«Frau Aleydis, ich bitte Euch, Ihr müsst jetzt …»

«Nein.» Ruppig wehrte sie die Hand des Schöffen ab, die er ihr sanft auf die Schulter gelegt hatte. «Lasst mich.» Sie strich sanft über Nicolais Wange, dann hinab zu seiner Schulter. Ihr Blick wurde von den hässlichen rotbraunen Malen angezogen, die anzeigten, wo der Strick gesessen und ihn gewürgt, ja ihm vermutlich auch das Genick gebrochen hatte. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass der Hals ihres Gemahls seltsam schief wirkte.

Erneut wurde sie von einer Welle der Übelkeit erfasst, und sie hätte sich beinahe übergeben. Würgend sprang sie auf und rannte aus der Hütte. Symon und der Schöffe folgten ihr eilig.

«Herrin, ist alles in Ordnung mit Euch?»

«Frau Aleydis, es tut mir leid.» Hilflos rang van Kneyart die Hände. «Ihr hättet Euch das nicht antun sollen. Es hilft doch alles nichts …»

«Schon gut.» In dem Versuch, den Brechreiz zu überwinden, stützte Aleydis sich gegen einen Baumstamm und atmete mehrmals tief ein und aus. Dann richtete sie sich langsam wieder auf und blickte zu der immer größer werdenden Menschenmenge hinüber, die in einigermaßen respektvollem Abstand zu ihr herübergaffte. Raunen und Geflüster waren zu vernehmen und schließlich auch die ersten Rufe.

«Verbrennt den Sünder!»

«Vierteilt ihn, den Gottlosen!»

«Schande über alle Selbstmörder!»

Entschlossen wandte sich Aleydis wieder zu van Kneyart und den Bütteln um, die abwartend bei ihr standen. «Holt den städtischen Medicus her. Ich will, dass er den L… – meinen Gemahl untersucht.»

«Aber Frau Aleydis, das geht nicht so einfach. Beim Verdacht auf Selbstmord ist der Henker zuständig. Und in diesem Falle liegt die Sache auf der Hand.»

«Dann holt den Henker herbei, in Gottes Namen!» Zornig, zugleich aber auch von einer unsäglichen Erleichterung erfasst, blickte sie dem Schöffen ins Gesicht. «Er muss meinen Verdacht bestätigen.»

«Euren Verdacht? Was meint Ihr damit?» Verwundert runzelte van Kneyart die Stirn.

Aleydis straffte die Schultern. «Mein Gemahl wurde ermordet. Ich will Anklage erheben.»

***

Der gesamte Haushalt befand sich in einer Schockstarre. Aleydis hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und fühlte sich wie gerädert. Dennoch war sie schon bei Anbruch des neuen Tages auf den Beinen, schickte die müde und verschreckte Gerlin los, um von der Wäscherin die frisch gewaschenen Leinentücher zu holen. Irmel wies sie an, Wasser hereinzutragen, das Ells über dem Feuer erhitzen sollte.

Noch bevor jemand an die Frühmahlzeit denken konnte, kamen zwei Büttel mit einem Karren, auf dem sie Nicolais Leichnam transportierten. Aleydis wies sie an, ihn in der Stube aufzubahren, und entzündete eine ganze Reihe teurer Kerzen aus echtem Bienenwachs, die sie dem Vorrat in der Lade von Nicolais Wechselstube entnommen hatte. Dann machte sie sich höchstselbst daran, ihren Gemahl zu waschen und für die Totenwache vorzubereiten. Sie wollte sich dabei nicht helfen lassen, auch nicht von Cathrein, die selbstverständlich sofort zur Stelle gewesen war, als sie von Nicolais Tod erfahren hatte. Auch Krista, die Gemahlin ihres Vaters, wies Aleydis ab, woraufhin diese sich mit einer Mischung aus Verständnis und Besorgnis der beiden Mädchen annahm, die den Tod des Großvaters tränenreich beklagten.

Nachdem der erste Schreck über den vermeintlichen Selbstmord ihres Gemahls überwunden war, konzentrierte Aleydis sich nun voll und ganz darauf, ihm zu Ehren ein standesgemäßes Begräbnis vorzubereiten, und das fing bei der Totenwache an. Nachdem sie die Leichenwaschung hinter sich gebracht hatte, fragte sie bei Frau Jonata nach, ob sie die Namen von guten, zuverlässigen Klageweibern wisse. Sie sprach bei Pater Ecarius vor, dem Gemeindepfarrer, wandte sich wegen der von ihr gewünschten psalmodierenden Mönche an das Apostelnkloster und die Benediktiner von Groß St. Martin und ließ es sich auch nicht nehmen, höchstpersönlich beim Steinmetz vorzusprechen, um den Grabstein in Auftrag zu geben. Auch bei der Gaffel Eysenmarkt, der Nicolai angehört hatte, ging sie vorbei, um Formalitäten zu regeln und die Einladung zum Leichenschmaus auszusprechen.

All dies tat sie hauptsächlich, um sich abzulenken. Sie weigerte sich, Gefühle zuzulassen, denn sie fürchtete, dass sie dann nicht mehr imstande wäre, ihre Pflicht zu erfüllen. Diese bestand darin, den Mörder ihres Gemahls ausfindig zu machen.

***

Nach einer zweiten durchwachten Nacht machte sie sich am frühen Mittwochmorgen mit Symon an ihrer Seite auf den Weg zum Rathaus in der Judengasse, um in Erfahrung zu bringen, welcher der drei Gewaltrichter Kölns für ihre Klage zuständig war.

Cristan Reese, der Einzige der drei Amtmänner, der sich im Augenblick dort aufhielt, sprach ihr sein Beileid aus und verwies sie dann an Vinzenz van Cleve, ebenfalls Kaufmann in der Gaffel Eysenmarkt und wie Nicolai im Geldwechselgeschäft tätig. Aleydis hätte am liebsten geschrien, als sie erfuhr, dass sie sich ausgerechnet an ihn wenden musste. Sie kannte ihn nicht persönlich, wusste aber, dass er, oder vielmehr sein Vater, schon seit Jahren in einen Zwist mit Nicolai verstrickt gewesen war.

Es gab in Köln eine ganze Reihe von Geldwechslern. Neben den Juden gehörten dazu hauptsächlich die Lombarden, deren Nicolai einer gewesen war. Von ihnen war er der bekannteste und einflussreichste gewesen. Die Familie van Cleve gehörte zu den wenigen eingesessenen Kölner Familien, die sich als Geldverleiher hervortaten, und war Nicolais größte Konkurrenz gewesen.

«Herrin, wollt Ihr wirklich zum Neumarkt gehen?» Symons helle Stimme riss sie aus den Gedanken, als sie wieder draußen in der Judengasse standen, in der es vor Geschäftigkeit regelrecht summte. Handwerker waren dabei, die Fassade des Rathauses frisch zu kalken; schräg gegenüber erhielt ein Haus neue Fensterrahmen und Türen, aus einem anderen Gebäude wurden Möbel auf einen riesigen Ochsenkarren verladen. Hausfrauen und Mägde befanden sich mit ihren Einkaufskörben auf dem Weg zum Alter Markt oder dem Fischmarkt.

Unschlüssig blickte Aleydis einer kleinen Gruppe von Jungen und Mädchen nach, die kichernd und kreischend hinter einem ledernen Ball her rannten, den sie mit Stöcken vor sich hertrieben. Dann sah sie zu dem Knecht auf. «Bleibt mir denn eine andere Wahl?»

Symon zuckte mit den Achseln. «Ihr wisst wohl, was man über Vinzenz van Cleve sagt.»

«Nein, Symon. Was sagt man denn über ihn?»

Die dunkle, unfreundlich klingende Männerstimme ließ sie beide herumfahren.

Symon machte erschrocken einen Schritt rückwärts. «Herr … Herr van Cleve! Ich … Wir … haben Euch nicht …»

«Guten Morgen, Witwe Golatti, und mein Beileid zu Eurem Verlust.» Der Gewaltrichter richtete seine dunkelbraunen Augen auf Aleydis, ohne weiter auf den Knecht zu achten. Er war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit schwarzem, lockigem Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte, und einem akkurat gestutzten Oberlippenbart, der sich um seine Mundwinkel herum mit einem ebenfalls kurz geschorenen Kinnbart vereinigte. Er galt in Köln als gleichermaßen strenger wie gerechter Gewaltrichter.

Natürlich wusste Aleydis, was Symon hatte andeuten wollen: Vinzenz van Cleve wirkte so furchteinflößend wie sein Ruf. Er besaß eine beinahe unheimliche Ausstrahlung und tat nichts, um selbige abzumildern. Man munkelte, die Jungfer, die er einst habe heiraten wollen, sei ihm aus Angst vor seinem finsteren Gemüt davongelaufen, und die Unglückselige, die er daraufhin geehelicht hatte, habe sich nach nur wenigen Ehejahren in einem Mühlteich ertränkt. Offiziell war ihr Tod als schrecklicher Unfall behandelt worden. Ein einziger Blick in die intelligenten, beinahe schwarzen Augen des Gewaltrichters veranlasste Aleydis, sich der allgemeinen Ansicht anzuschließen, dass Vinzenz van Cleve mit äußerster Vorsicht zu genießen war. Seine düstere Miene ließ auf ebensolche Gedanken schließen, und von diesen war es nur ein kleiner Schritt zu gleichermaßen finsteren Machenschaften.

Da er aber nun einmal für ihre Klage zuständig war, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Abneigung und den Funken diffuser Furcht, der sich in ihr entzündet hatte, beiseitezuschieben. Wenn sie ihre Pflicht erfüllen wollte, musste sie diesen bedrohlich wirkenden und undurchsichtigen Gewaltrichter auf ihre Seite bringen.

«Guten Morgen, Herr van Cleve, und meinen Dank für Euer Mitgefühl.» Sie schluckte, denn für sie war es offensichtlich, dass er solches nicht im mindesten für sie empfand. «Herr Reese sagte mir, dass Ihr …»

«Richwin van Kneyart hat mir die Nachricht über Eure Klage gestern Abend bereits überbracht.» Der Gewaltrichter drehte sich um. «Folgt mir.»

«Wohin gehen wir denn?» Überrascht lief Aleydis hinter ihm her, dicht gefolgt von Symon, der wie immer dafür sorgte, dass ihr niemand, vor allem keine Bettler und Gürtelschneider, zu nahe kam.

Der Gewaltrichter warf ihr über die Schulter einen kurzen Blick zu. «Zu Eurem Haus, wohin sonst? Ihr werdet doch wohl erlauben, dass ich mir den Leichnam Eures Gemahls selbst ansehe. Falls nötig, ziehe ich auch den städtischen Medicus Burka hinzu, um zu klären, inwieweit Eure Vorwürfe gerechtfertigt sind.»

«Selbstverständlich.» Aleydis beeilte sich, zu ihm aufzuholen. «Aber der Henker hat es bereits bestätigt und ich bin sicher, Ihr werdet mir zustimmen, wenn Ihr die Male am Hals meines Gemahls seht.»

«Euch zustimmen?» Erneut traf sie sein Blick, der diesmal vor Spott funkelte.

Sie runzelte die Stirn. «Verzeiht, Herr Gewaltrichter, aber immerhin war ich diejenige, der die Male überhaupt erst aufgefallen sind. Alle anderen hatten sich schon darauf versteift, dass er sich selbst …» Sie brach ab und bekreuzigte sich.

«Reiner Zufall.»

«Wie bitte?»

«Dass Ihr zuerst darauf gekommen seid. Die Henkersknechte sind tumbe, grobschlächtige Kerle, allesamt. Denen ist die eine Leiche so gleichgültig wie die andere. Meister Bertram wäre schon selbst darauf gekommen, wenn etwas an der Leiche nicht stimmig ist.»

«Nicht stimmig?»

«Dazu braucht er gewiss nicht die Anleitung eines kleinen Püppchens wie Euch.»

«Wie war das?» Erbost eilte Aleydis an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg.

Ungehalten blieb er mitten auf der Brückenstraße stehen. «Das war doch der Kosename, den Nicolai seiner ach so jungen, hübschen Braut gegeben hat, oder nicht? Ich hatte ja nie viel Gelegenheit, Euch aus der Nähe zu betrachten, aber die Bezeichnung passt ausgezeichnet auf Euch, Frau Aleydis.»